48. MISSION MITTERNACHTSSONNE
von Thorsten OberbosselIhr blutroter Umhang wallte um ihren Körper. In der rechten Hand hielt sie den Zauberstab, der sie als eine Hexe kennzeichnete. Doch wenn sie lächelte blitzten die beiden messerscharfen Fangzähne hervor, die überdeutlich zeigten, daß sie eine Vampirin war. Lamia, die Blutmondkönigin, herrschte über Nocturnia, das Reich ohne Grenzen. Doch ihre Machtansprüche wurden immer wieder angefochten. Der letzte Angriffsversuch war jetzt vier Wochen her. Sie hatte versucht, Beverly Hills mit einem gasförmigen Ableger ihres Einbürgerungsgiftes in ein Wohnviertel der Vampire zu verwandeln. Doch jemand hatte ihre Pläne vereitelt. Zwar wußte sie, daß zwei Dunkelmondler aus Österreich gegen sie spioniert hatten. Doch die hatten die eigentliche Aktion Zuwanderung 2000 nicht mitbekommen und verraten können. Außerdem war da noch was, daß ihr sichtlich mehr Sorgen machte: Die Sonnenkinder. Es gab sie tatsächlich, jene besonderen Menschen, deren innere Magie aus der Kraft der Sonne stammte und die als natürliche Feinde aller Vampire lebten. Sie waren wiedergekehrt, um Nocturnia zu bekämpfen. Dreißig ihrer engsten Vertrauten waren bereits von ihnen aufgespürt, direkt getötet worden oder im blauen Schmelzfeuer vergangen, mit dem sie ihre wichtigsten Helfer vor Verrat absicherte. Außerdem war da diese Erbin Anthelias. Sie hatte Yanxothars Schwert, das über alle dem Element Feuer verbundenen Erscheinungen herrschte. Diese Waffe war der Alptraum aller Vampire. Wollte Lamia den eingeschlagenen Weg fortsetzen, so mußte sie an drei Fronten kämpfen, gegen die Führer der Zaubererwelt, gegen die Sonnenkinder und gegen die Hexenlady mit dem Schwert des alten Feuermeisters. Sie wünschte sich den Mitternachtsdiamanten zurück, der ihrer ersten Daseinsform Lady Nyx auf so hinterhältige und brutale Art abgejagt worden war. Denn sie verabscheute es, nur in der Defensive zu sein. Wie konnte sie herausbekommen, wo dieser so wertvolle Stein lag? Vor allem aber, wie bekam sie ihn wieder? Der Stein lag im Meer, mitten im Golfstrom, der mehr fließendes Wasser führte, als alle Flüsse der Erde . Wie tief das Meer war wußte sie auch nicht. War der Mitternachtsdiamant dann überhaupt noch zu bergen? Jedenfalls wollte sie den Kampf gegen die Sonnenkinder aufnehmen. Denn sie ging davon aus, daß diese sich nicht so rasant vermehren konnten wie die Kinder der Nacht. Fand sie heraus, wie sie die Geschöpfe töten konnte, ohne einen Artgenossen zu gefährden, mochte sie diese große Gefahr erledigen und wieder frei handeln können. Blieb nur die Hexenlady mit dem Feuerschwert. Sie mußte herausfinden, wer sie war und ob es eine Möglichkeit gab, sie einzukesseln und zu töten.
Sie dachte daran, was über die Sonnenkinder erzählt wurde. Sie beherrschten alle der Sonne entstammenden Kräfte und darüber hinaus die Macht, im Geist miteinander zu sprechen und wohl auch eine Zone geistiger unerreichbarkeit zu errichten. Außerdem strahlten sie etwas aus, daß auf Vampire wie ein Ableger der natürlichen Sonnenstrahlung wirkte. Daher waren sie für Vampire unerreichbar. Lamia lächelte. Wenn die Sonnenkinder ihre Strahlung nicht beliebig abschwächen oder gar unterbrechen konnten, solange sie lebten, ergab sich etwas.
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Die beiden Männer starrten einander an. Beide waren gleichmächtig. Auch wenn der eine, Don Vittorio Pontebianco, gerade mehr Ärger als Erfolg hatte, war dieser doch noch vermögend und unterhielt in seiner Heimat und da, wo seine Familie sich angesiedelt hatte gute Einnahmequellen. Der andere, Don Massimo Fabrini, war der drittmächtigste Mann der südamerikanischen Unterwelt. Zwar wäre er gerne eine oder beide fehlenden Stufen nach oben geklettert, wußte aber zu gut, daß die beiden über ihm rangierenden noch zu gut in ihren Sätteln saßen. Außerdem hatte Don Massimo sich mit der Beherbergung von Don Vittorio einen Risikoherd ins Haus geholt. Vittorio wurde von den Chinesen erpreßt, weil er die Daniellis mit einer illegalen Fernlenkwaffe ausgelöscht hatte. Seine sizilianischen Mitbrüder und die eine -schwester in der Cosa Nostra hatten ihn als Unruheherd eingestuft, was einer gelben Karte beim Fußball gleichkam. Hier in Montevideo, an der südamerikanischen Atlantikküste, hatte Vittorio mit seiner Yacht „Stella Victoriae“ mehr als einen Monat einen sicheren Hafen gefunden. Doch jetzt grummelte es auch in der hiesigen Unterwelt, weil nicht nur die Chinesen hinter Pontebianco her waren, sondern die Erben dreier arabischer Ölmilliardäre, die nach dem Verteilen des Erbes Vergeltung haben wollten, wie auch immer die aussah. Die Ölscheichs hatten tatsächlich eine Belohnung auf Pontebianco ausgesetzt, obwohl der ihre Verwandten nicht von sich aus umgebracht hatte. Nicht wenige Halbweltgrößen wollten dieses großzügige Kopfgeld verdienen. Nur Massimos örtliche Vormachtstellung hielt die Piranhas und Hammerhaie ab, den dicken Fisch aus den bisher so sicheren Gewässern zu holen. Don Massimo wußte auch, daß er sich bald festlegen mußte, für einen zwar noch kapitalen, aber doch schon leicht angezählten Bundesgenossen einzutreten, oder die bisher errungene Vormachtstellung zu verspielen. Deshalb hatte Massimo seinem Gast gerade ein Angebot unterbreitet, von dem er wußte, daß Vittorio es höchst ungern annehmen würde.
„eine Halbe Million Platz- und Wohnungsmiete im Monat?“ blaffte Vittorio. „Ich dachte, du hättest schon genug mit mir zusammen verdient, Massimo. Du magst hier in Montevideo zwar die Nummer eins sein, aber ich weiß noch, wie du angefangen hast. Du schuldest mir immer noch mehr als ich dir.“
„Vittorio, du kannst nicht abstreiten, daß guter Service auch gutes Geld kostet. Wenn du echt noch zwei Jahre hier in Montevideo bleiben möchtest, macht das leider eine Million und zweihunderttausend Dollar Gesamtmiete für einen sicheren Liegeplatz für dein Bötchen und eine sichere und rundum versorgte Unterbringung in meiner beschaulichen Residenz.“
„Zu viel“, knurrte Vittorio Pontebianco. „Aber ich ahne, was dich dazu treibt, mich derartig abzocken zu wollen: Die Ölscheichs haben zwei Millionen auf mich ausgesetzt, weil sie an Danielli nicht mehr herankommen können und dessen kleine Erben keinen Dunst von den verbliebenen Geheimkonten haben. Also halten die sich an mich.“
„Sagen wir es so, don Vittorio: Der Umstand, daß ich dir immer noch dankbar sein muß, hält mich davon ab, die eigentlich anfallenden Kosten zu veranschlagen. Es sind nämlich eine Million Dollar pro Monat, die der Service kosten müßte. Ich komme dir auf halbem Weg entgegen. Aber die zweite Hälfte mußt du dann gehen. Ansonsten bleibt dir ja immer noch, daß du bei anderen Leuten klingelst, wo du ja noch so viele Kontakte hast.“
„Ich habe mir sowas ähnliches gedacht, Massimo. Giovanna hat meinem Großneffen schon erzählt, daß du in letzter Zeit viel mit Leuten in Mittelost telefonierst. Vielleicht hast du auch schon ein Angebot aus Fernost. Aber die Leute da halten meine Familie ja immer noch für eine kraftstrotzende Milchkuh, die man nach belieben melken kann, sonst hätten die dir ja auch ein Angebot gemacht. Ich werde nicht den Fehler machen, deinen Geschäften im Weg zu stehen, Massimo. Aber ich werde auch nicht noch mehr Geld als nötig ausgeben. Die Daniellis haben mich so schon zu viel gekostet. In zwei Stunden bin ich mit der Stella unterwegs. Dann kannst du mit deinen neuen Freunden weiterkungeln. Vergiß nur nicht dabei, daß du leicht zwischen die Fronten geraten kannst, wenn du wem zu groß wirst. Adio Amico mio!“ sagte Don Vittorio. Er war zu lange Jäger, um zu wissen, daß er im fremden Revier leicht zur Beute werden konnte, auch wenn er genug Leute hatte, die ihn rächen würden.
„Ich kriege von dir noch fünfhundert Riesen für diesen Monat“, beharrte Massimo auf einen Teil seiner Forderung. Vittorio lachte und zückte einen Zettel aus seinem Jacket. Seine zwei Leibwächter hielten die beiden Gorillas Massimos im Auge, während Vittorio seinem Gegenüber den Zettel hinlegte.
„Das ist die Adresse einer Bank in Buenos Aires. Da habe ich vor zehn Jahren ein wenig Gold eingebunkert. Das darfst du haben, damit du und deine Familie nicht verhungern müssen. Mehr gibt’s nicht.“
„Außer deiner Familie würde dich niemand vermissen“, drohte Massimo. Das brachte die beiden Leibwächter Vittorios dazu, den grauhaarigen Mafioso von Montevideo mit ihren schallgedämpften Lugas anzuzielen. Das wiederum trieb die Wache Don Massimos dazu, ihre Magnums zu entsichern. Jetzt ging es darum, wer die Nerven behielt und nicht zuerst abdrückte.
„Dich auch nicht, Massimo. Ich hörte sowas, daß Don Giuliano schon mit den beiden großen Männern verhandelt, wie viel von deinem Territorium er abbekommt, wenn du dich zu heftig aufplusterst. Der würde dich sogar umbringen, weil er hofft, an mich dranzukommen, um dem Ölscheichs meinen Kopf hinzulegen. Deshalb werden meine Männer und ich jetzt deine gastliche Behausung verlassen und die Segel setzen. Und denk nicht einmal dran, mir unliebsame Überraschungen ins Boot zu legen oder mir die Tsching-Tschongs oder Allahanbeter nachzuschicken. Wer immer mich verfolgt kommt von dir. Wenn mir wer lästig wird, wirst du das bereuen. Also schön stillhalten und am besten keinem sagen, daß ich überhaupt hier war!“
„Einen Tag, Vittorio. Du hast einen Tag Vorsprung. Solltest du da noch irgendwo sein, wo ich wen kenne, kannst du mit Don Adone im selben Pechbad Wiedersehen feiern.“
„Und dir beim Rammeln von Teufels Großmutter zuhören, Massimo. Ich hoffe, du hast schon im Voraus deine Grabpflege geregelt. Passiert mir was … Denk an die Daniellis! Die meinten auch, mir querkommen zu müssen. Ciao Bello!“
„Einen Tag von nun an“, blaffte Massimo noch einmal. Dann sah er zu, wie sein bisheriger Gast die kleine, holzgetäfelte Bibliothek verließ. Seine Leibwächter sicherten, daß keiner ihm eine Kugel in den Rücken oder Hinterkopf schoß.
„Hängt den Peiler an die „Stella Victoriae“! Stellt den Zeitschalter auf einen Tag von nun an ein!“ befahl Massimo seinen Leuten, als die Pontebiancos im schwergepanzerten Bus zum Yachthafen abrückten.
„Wirst du den Chinaleuten oder den Scheichs sagen, wo der hinfährt?“ fragte Girolamo, Massimos Bruder.
„Wir leben im Internetzeitalter. Heute kann jeder meistbietende ein Schnäppchen machen“, sagte Massimo. Girolamo gab den Befehl weiter, den auf Saatellitenpeilung abgestimmten Codesender unter der Yacht mit einer Verzögerung von 24 Stunden scharfzuschalten. Wo immer die Yacht dann war war auch Don Vittorio.
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Anthelia hatte nach dem beinahe Debakel mit dem neuen Entomolithen erst einmal mehrere Wochen Aktionspause eingelegt. Ihre wesentliche Beschäftigung war die Schwangerenbetreuung Nadjas. Hier konnte sie ihre Erfahrungen als ausgebildete Heilerin und Hebamme einbringen, aber auch mit dem alten Wissen um die Macht der Frauen, neues Leben hervorzubringen helfen, daß die bei ihr heimlich wohnende, um fünfzehn Jahre verjüngte Mitschwester keine Angst und Verzweiflung fühlte, wenn sie daran dachte, das von ihr auf unnatürliche Weise empfangene Mädchen sicher ins Leben zu tragen.
Romina Hamton unterhielt für Anthelia die Verbindung zu Brandon Rivers, der mit ihrer ehemaligen Mitschwester Patricia Straton bei Virginia Hencock wohnte. Durch die Erweckung der legendären Sonnenkinder waren Patricia und er selbst zu Trägern des alten Sonnenkinderblutes geworden. Dafür mußte Patricia einem erweckten Sonnensohn ein Kind gebären, während Brandon, der früer mal Ben Calder und über Jahre hinweg Cecil Wellington geheißen hatte, eine erweckte Sonnentochter hatte schwängern müssen, um in ihren erlauchten Kreis aufgenommen werden zu können. Ja, auch die achso gutmeinenden Magier des alten Reiches gaben nichts ohne eine Gegenleistung heraus. Und sei es, das Enthaltung von angenehmen oder interessanten Erlebnissen diese Gegenleistung war. Das, was in der neuen Hexenlady Naaneavargia war, hielt nichts von Enthaltsamkeit. Andererseits amüsierte sie und den von Anthelia erhaltenen Anteil, daß Patricia sich darauf hatte einlassen müssen, von einem ihr völlig fremden Mann ein Kind zu bekommen. Sie hätte es wohl nicht darauf angelegt. Doch irgendwie reizte es sie, wenn sie Nadja mit langsam immer runder werdendem Unterleib sah, diese Gabe einer Frau am eigenen Leibe zu erleben, vorausgesetzt, ihr neuer Körper konnte befruchtet werden. Ihr schwebte immer noch vor, mit dem Erben Darxandrias gemeinsame Kinder zu haben, der Naaneavargia ohne es zu wollen aus der Gefangenschaft ihres Bruders befreit hatte und Anthelia ohne es zu ahnen zurück auf die Welt geholfen hatte. doch davon durfte niemand etwas wissen, solange sie keine höchst erfolgversprechende Gelegenheit bekam, diesem jungen Zauberer ihre Dankbarkeit zu zeigen. Der verbrachte gerade das letzte Schuljahr in Beauxbatons und wartete mit der ihm angetrauten Tochter der Latierre-Sippe auf das erste gemeinsame Kind. Über ihre Mitschwester Louisette Richelieu wußte Anthelia, daß da demnächst ein kleines Mädchen ankommen würde und wohl den Namen Aurore tragen sollte, die Morgenröte, der Beginn einer neuen Zeit. Anthelia/Naaneavargia wünschte den beiden viel Glück bei diesem Vorhaben. Denn der junge Zauberer sollte lernen, wie schön das Leben mit einer starken Gefährtin war. Allerdings würde sie, die neue Hexenführerin, jederzeit da sein, um den Platz an seiner Seite zu erringen und seine Kinder zu bekommen. Naaneavargia alleine hätte die Konkurrentin gnadenlos verdrängt. Anthelia alleine hätte gar Liebeszauber oder den Imperius-fluch benutzt, wenn es nur darum gegangen wäre, den Nachwuchs eines Ruster-Simonowsky-Zauberers hervorzubringen. Doch beide zusammen empfanden doppelte Dankbarkeit und wußten, daß sie ihn nur an sich binden konnten, wenn er ohne magischen Zwang bei der neuen Führerin der Spinnenschwestern bleiben würde. Sie hatte Zeit. Sie würde nicht altern. Vielleicht war es für sie auch ein Vorteil, wenn er zunächst mit einer von ihm gewollten und begehrten Gefährtin zusammenlebte. Und wenn sie nicht von ihm selbst ein eigenes Kind bekommen konnte, sprach nichts dagegen, einen seiner künftigen Söhne für sich zu begeistern und damit Sardonia einen späten Triumph zu bescheren, die von einem überheblichen und stolzen Vertreter der Latierre-Sippe abgewiesen wurde, als sie ihm ihre Gunst und ihren Körper angeboten hatte.
Ende Februar vollführte Nadja Markova zum zweiten Mal den Sanctuamater-Zauber. Anthelia lauschte, wie die in ihrer Obhut wohnende Mitschwester die verbindenden Worte sprach, die das in ihr heranreifende Leben bis zum Ende seiner Existenz ihrem Willen unterwerfen würde. Damit würde die kleine Anastasia, auch wenn sie Didos Gedächtnis behalten haben sollte, auf Gedeih und Verderb auch Anthelias Willen gehorchen, sofern die Führerin des Spinnenordens sich nicht unrettbar mit Nadja Markowa verfeindete. Passierte dies, so wußte es Anthelia, hätte sie mit der Wiedergeburtsfalle für Dido nicht nur nichts gewonnen, sondern mehr verspielt, als wenn sie Dido hätte zu Ende aufwachsen und sich gegen sie auflehnen gelassen hätte.
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„Hat der kleine miese Massimo doch echt geglaubt, mir eine Spionagemuschel unters Boot kleben zu können“, lachte Don Vittorio, als seine Bordttechniker auf Hoher See ein Programm hatten durchlaufen lassen, daß jede ungeplante Annäherung an die Yacht protokollierte. Schall und Berührungssensoren im Kiel hatten aufgenommen, wie zwei Taucher sich der Yacht genähert hatten und dort irgendwas am Boden angebracht hatten. Ein Taucher der „Stella Victoriae“ war durch die geheime Schleuse ausgestiegen und hatte nach nur fünfzig Sekunden Suche eine muschelförmige Unregelmäßigkeit gefunden. Jemand hatte einen besonderen Peilsender an das Schiff geklebt und ein haarfeines Gespinnst von Drähten um den Rumpf herum verlegt, so daß dieses als Empfangsantenne diente. Raffiniert, aber nur für jemanden, der nicht damit hatte rechnen können, wie viel abgezweigte Marinetechnik in der Yacht verbaut war. Die Muschel und ihr Funkantennengeflecht waren dann an einem Rettungsring festgemacht worden und zwanzig Seemeilen östlich von Montevideo über Bord geworfen worden. Eigentlich hatten sie vorgehabt, durch den Panamakanal zu fahren, um in den Pazifik hinüberzuwechseln. Doch Vittorio war sich sicher, daß in Panama-Stadt zu viele Augen und Ohren Massimos oder seiner guten Geschäftspartner darauf lauerten, die Yacht zu melden, vielleicht sogar, ihre Durchfahrt zu verhindern. So blieb nur das Kap Hoorn.
„Der Treibstoff reicht aus, um um das Kap zu fahren, wenn wir auf die Zusatzmaschinen verzichten“, hatte der Kapitän der Yacht dem Eigner gesagt. Dieser hatte zugestimmt.
Vier Tage später kämpfte sich das 30-Meter-Schiff durch eine tosende See. Ein Sturm der Stärke elf blies der eigentlich nur zum Vergnügen gebauten Motoryacht Tonnenweise Wasser und Gischt entgegen. Blitze heller als die Sonne schnitten durch das tosende Gewölk. Sofort danach dröhnte der Donner wie eine gewaltige Kanone. Die Bordelektronik hielt dem elektrischen Aufruhr stand, nur die GPS-Navigation schwankte. Die „Stella Victoriae“ mußte alle Zusatzmaschinen bemühen, um sich durch die rollenden Wasserberge und den brausenden Wind hindurchzuwühlen. Immerwieder krängte das kleine Schiff stark nach Backbord, dann wieder nach Steuerbord. Der Kapitän stand mit zusammengebissenen Zähnen auf der mit Panzerglasscheiben gesicherten Brücke. Immer wieder klatschten die aufgeworfenen Wassermassen gegen die beiden Frontscheiben und rauschten daran hinunter auf das Deck. Die Passagiere waren in einer mit eigener Sauerstoffversorgung versehenen Schutzkabine, die im Bedarfsfall auch als Rettungskapsel ausgeklinkt werden konnte oder sogar dem Sinken bis auf einhundert Metern Tiefe standhielt.
„Ich habe dich schon mal geschafft, auch wenn du noch so dagegen ankämpfst“, schnarrte der Kapitän. Er meinte das Kap Hoorn, daß er schon dreimal umfahren hatte, einmal als Schiffsjunge auf einem Frachter, einmal als Steuermann auf einem großen Fischereischiff und vor drei Jahren als Kapitän auf einem Tanker, der für den Panamakanal eindeutig zu groß gewesen war.
„Primärsteuerung ausgefallen. Sekundärsteuerung in Betrieb!“ brüllte der erste Offizier über das wilde Heulen, Tosen, Krachen und Donnern hinweg. Gerade schlug ein sich in zwanzig Unterzweige auffächernder Blitz vor dem Bug der Yacht ins Meer. Der ihm unmittelbar nachfolgende Donnerschlag rüttelte am Schiffskörper und den Trommelfellen der Menschen an Bord.
„Okay, Hauptsteuerung gleich wieder klar“, sagte der erste, während der Kapitän die Verbissenheit bewunderte, mit der der Rudergänger den Kurs hielt. Auch wenn der Magnetkompaß durch die Megaampere an überschlagendem Strom immer wieder herumzuckte, konnte er den Kurs noch halten. Aus dem Maschinenraum rief der Bordingenieur an und teilte mit, daß durch die Fahrt mit den Zusatzmaschinen mehr Diesel verbraucht wurde. Bei der Fahrtstufe hatten sie gerade noch für zehn Stunden Fahrt Treibstoff in den Tanks.
„Okay, alle nicht benötigten Stromquellen aus! Generatoren auf Sparbetrieb oder ganz ausschalten, um Sprit zu sparen!“ befahl der Kapitän und rief über das Bordsprechsystem „Neptuns Schatzkiste“ an, wie die Besatzung den kleinen Bunker im Schiff heimlich nannte. Vittorio war nicht sonderlich begeistert, daß der Stromverbrauch reduziert werden sollte. Doch als ihm vorgerechnet wurde, daß sie sonst in zehn Stunden hilflos auf dem wütenden Meer trieben, willigte er ein, das Licht und die Musikanlage auszuschalten und die Notfallflaschen zur Atemlufterneuerung zu benutzen. Zusätzlich sollten die bereits in der Raumfahrt erprobten CO2-Filter zum Einsatz kommen. Damit konnte die Besatzung zwei Tage ohne elektrische Luftaufbereitung durchhalten. Zu Essen gab’s da auch, wenngleich die Pontebiancos gerne richtige Menüs aßen. Als der Ingenieur vermeldete, daß er drei der vier Generatoren ganz ausschalten konnte und somit noch einmal zehn Stunden mehr Treibstoff bei gleicher Fahrtstufe herausholen konnte, atmete der Kapitän auf. Er würde in Chile neuen Diesel bunkern. Um nicht zu zeigen, welches Schiff es war hatten die Bordtechniker die Beschriftung während der Fahrt in diese Sturmhölle geändert. Jetzt war die „Stella Victoriae“ die „Dulcinea del Toboso“, die Yacht eines spanischen Hotelmillionärs. Allerdings existierte die Yacht nur in den Datenbanken der Hafenbehörden und relevanten Schiffsregistern. Sie war also genauso unwirklich wie ihre literarische Namensgeberin.
Neun Stunden ritt das kleine Schiff auf der aufgewühlten See wie auf einer Herde Rodeopferde. Doch dann machte der Rudergänger einen hellblauen Fleck zwei Strich Steuerbord voraus aus. „Wir kommen aus diesem Hexenkessel raus“, freute er sich.
„Ich kenne das. Ist ähnlich wie das Auge eines Hurrikans“, grummelte der Kapitän. Dennoch war er froh, die beiden Zusatzmaschinen für einige Minuten abstellen zu können. Sicher würde ihnen das noch mal einige Zeit erkaufen.
Wie abgeschaltet hörte der Sturm auf. Zwar war an den Wolken achtern noch zu sehen, wo sein wildes Werk wirkte. Doch die Yacht glitt auf einer unruhigen, aber durchaus beherrschbaren See. Gegen den Zweckpessimismus des Kapitäns hielt die Schönwetterzone vor. Jetzt konnten sie steuerbord voraus die südlichste Landspitze des südamerikanischen Festlandes erkennen. Sie hatten es geschafft, Wind und Strömung zu trotzen und waren um Kap Hoorn herum. Die Seeleute jubelten. Unter den zehn Mann, die das Schiff am laufen hielten waren vier, die bisher noch nie um dieses tückische Kap herumgefahren waren.
„Und noch eine Kerbe in meinen Kapitänsssäbel“, lachte der Oberkommandant der Yacht. Das kleine Schiff glitt weiterhin an der westküste entlang.
Im nächstgelegenen Hafen nahm das Schiff neuen Treibstoff und Nahrung auf. Die Generatoren konnten wieder hochgefahren werden. Die Pontebiancos trauten sich sogar an Deck, als das Schiff knapp zehn Seemeilen westlich der chilenischen Küste nach Norden schipperte.
„Was suchen wir eigentlich im Pazifik, Don Vittorio?“ wollte der Kapitän von dem Eigner wissen.
„Wir suchen die „Xian lao Wu, Kapitän. Wird Zeit, daß wir den achso stolzen Herren aus Shanghai mal kräftig auf die Finger klopfen.“
„Ähm, Wir sind Schiffsleute, gerne auch Raketenschützen und Leibwächter. Aber von Piratenaktionen steht nichts in unserem Vertrag“, sagte der Kapitän. Vittorio grinste. Wollte der alte Seebär jetzt die Heuer hochtreiben?
„Wir wollen den Frachter nicht kapern, sondern versenken. Und für Kampfaktionen gegen feindliche Schiffe bezahle ich sie und die fünf Mann aus der marine sehr gern und gut“, warf der Mafioso ein. Er deutete nach unten, wo zwei besondere Frachtgüter lagerten, echte amerikanische Torpedos. Außerdem verfügte die Yacht über zwei versteckte Abschußvorrichtungen für Harpoon-Raketen und je acht entsprechende Geschosse.
„Wozu willst du einen Reistanker versenken, Zio?“ fragte Cesare Torricelli, der Großneffe Don Vittorios.
„Weil dieser Frachter leer schon mindestens fünfzehn Millionen Dollar wert ist. Also habe ich den gekauft und kann damit machen, was ich will“, sagte Vittorio. Sein Großneffe argwöhnte, daß die Chinesen rausbekommen würden, wer ihnen den Frachter abjagte. „Genau das will ich ja haben, daß die das rauskriegen, mein Junge. Massimos Spionagemuschel piept wohl immer noch, daß wir im Atlantik herumgondeln. Wie überraschend wird es dann, wenn wir mal eben kurz vor ihrem Vorgarten Schiffeversenken spielen.“
„Wie heißt der Kahn noch mal?“ wollte Ricardo wissen. Er bekam den Namen aufgeschrieben.
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Der März des Jahres 2000 war angefüllt mit der Suche nach neuen Vampirsiedlungen. Doch in den Staaten sorgten die vom LI erfundenen VBR-Kristalle dafür, daß jeder Versuch, dort das tückische Gift als Trinkwasserzusatz oder Gasgemisch freizusetzen, wie eine besonders starke Grippe verzeichnet wurde. In Europa und Asien sah es dagegen anders aus. In einem italienischen Bergdorf hatte sich die Vampirsaat frei entfaltet. Das war erst ruchbar geworden, als ein Touristenpärchen das kleine Bergnest besucht hatte und am Tag die Häuser scheinbar leer vorgefunden hatte. Die jungen liebenden waren daraufhin zur nächstgrößeren Stadt gefahren und hatten den Vorfall bei der Polizei angezeigt. Die war dann mit mehreren Leuten in das sonst so unbedeutende Dörfchen Prato san Elmo eingerückt, wo es gerade dunkel wurde. Da waren sie aus ihren Weinkellern und dem Getreidesilo gekrochen, die achtzig ehemaligen Menschenseelen, die hier gewohnt hatten. Zum Glück für die Polizisten hatte ein gewisser Signore Montebianco gute Kontakte zur Polizei. Daher befanden sich unter den regulären Carabinieri zwanzig Zauberer aus der Behörde zur Bekämpfung bösartiger Zauberwesen, die mit Sonnensegenszaubern die Muggelwelt-Polizisten gegen die nach Blut gierenden Vampire schützten und diese dann mit magisch hochverstärkten Flammenwerfern zu erledigen. Denn der italienische Zaubereiminister hatte die Generalanweisung ausgegeben: „Töten Sie alle ungemeldeten Vampire!“ Gleichzeitig hatte er versucht, die noch im Land lebenden Hellmondvampire davon zu überzeugen, daß Nocturnia ihnen mehr schaden als nutzen würde. Jedenfalls war Prato San Elmo nach nur zwei Stunden Einsatz völlig vampirfrei, aber dafür auch halb niedergebrannt. Eine aufwendige Aktion ließ die am Einsatz beteiligten Polizisten daran glauben, daß die Dorfbevölkrerung an vergiftetem Brunnenwasser zu Grunde gegangen war. Das stimmte in gewisser Hinsicht ja auch. Um eine Verseuchung der gesamten Region zu verhindern, seien die Leichen in wenige Häuse zusammengetragen worden und die Häuser dann kontrolliert niedergebrannt worden. Die Polizisten mußten sich einer Therapierung gegen mögliche Cholera- und Typhus-Ansteckung unterziehen.
Als Nero Bellanotte, ein vor hundert Jahren vom Ministerium registrierter Hellmondvampir, sich dann als Frühwarner zur Aufspürung neu entstehender Vampire verdingte, kam es in Italien zu keinem weiteren Vorfall mit dem sogenannten Einbürgerungsgift Nocturnias.
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Sie schlichen sich an, ohne Licht, ohne Radar, ohne Funk, ganz wie ein verdeckt operierendes Kriegsschiff. Nur die guten Nachtgläser und die auf Infrarotortung gestellten Sensoren halfen, das Ziel anzuvisieren. „Und los!“ zischte Vittorio aus seinem Bunker heraus. Da ruckte es im Schiff. Der erste Torpedo war unterwegs. Knapp vor der errechneten Aufschlagzeit würde zusätzlich noch eine Harpoon abgefeuert. Vor ihnen dümpelte der stählerne Koloss, der laut offiziellem Frachterverzeichnis Altmetall und Altöl zu transportieren pflegte. Tatsächlich konnte es aber sein, daß die „Xian Lao Wu“ auch wertvollere Sachen beförderte, zum Beispiel aus den USA geschmuggelte Elektronikbauteile, die dann in den Firmen des weißen Lotos ausgewertet und nachgebaut werden konnten. Es konnten aber auch arme Bauernmädchen aus Nordkorea an Bord sein, die in den Bordellen des weißen Lotos bis zum Umfallen schuften sollten. Vittorio machte das nichts aus, wer an Bord sein konnte. Wichtig war nur, daß er den Frachter lahmlegte oder wirklich in den Tiefen versenkte.
Drei – zwei – eins- Harpoon ab!“ hörte Pontebianco den Befehl des Kapitäns. Die Fernlenkwaffe fauchte von Bord.
„Was wenn der Frachter Geleitschutz hat?“ wollte Ricardo wissen.
„Kann der dem jetzt auch nicht helfen“, sagte Vittorio.
Wie berechnet erfolgte der Überwassereinschlag der Rakete nur eine halbe Sekunde vor dem Aufschlag des Torpedos. Der Frachter ruckte und trieb nach Steuerbord. Die Harpoon hatte den Hauptaufbau mit dem Brückenhaus erwischt. Feuer schlug aus dem Oberdeck. Der Frachter wurde Hecklastig. Dort mußte der Torpedo ein Leck in die Unterseite gesprengt haben.
„Da waren die jetzt nicht drauf gefaßt“, lachte Vittorio und befahl, noch eine Harpoon abzufeuern, wobei sie jetzt gezielt auf die Wärmequelle der Maschine halten sollten. Da glommen ringsumher Lichtpunkte auf: Suchlichter von schnellen Motorbooten mit Windschutzscheiben.
„Oha, die haben echt Begleitung“, stellte Vittorio fest. Doch er mußte lächeln. Es lief doch besser, als er erhofft hatte. Die zweite Harpoon verließ den Werfer und schwirrte, einen Feuerschweif hinter sich herziehend, auf die „Xian Lao Wu“ zu.
„Und Bums!“ bemerkte Vittorio, als er auf dem Fernsehschirm der Vordersichtkamera einen Feuerball erkannte, der einen Teil des Oberdekcs in den Himmel pustete.
„Wir kriegen Besuch“, warnte der Kapitän.
„Okay, Plan Blauwalkalb anlaufen lassen“, gab Vittorio weiter.
„Verstanden“, hörten sie den Kapitän grinsen.
„Okay, runter in die „arion“, schnarrte Vittorio. Die „Arion“ war das wertvollste und am besten getarnte Frachtstück an Bord. Es handelte sich um ein Miniatur-U-Boot, mit dem alle Mann von Bord gehen konnten, ohne daß der Feind es bemerkte. Allerdings konnten sie damit gerade einmal einen Tag untertauchen.
„Du denkstt, die greifen uns an?“ fragte Ricardo einfältig.
„Nein, die werfen nur ein wenig mit Reis“, knurrte Vittorio.
Bis auf den Kapitän und zwei Bootsmannsmaate, die die beiden Raketenwerfer und das nun auch ausgefahrene maschinengewehr bereitmachten, waren alle schon in der engen Kammer der knapp fünfzehn Meter langen Zigarre, die den Namen „Arion“ erhalten hatte, nach dem Sänger der Sagenwelt, der nach einem Stoß von Bord eines Schiffes durch seinen Gesang einen Delphin dazu bekommen hatte, ihn sicher ans Land zurückzutragen.
„Blauwalkalb läuft“, vermeldete der Kapitän über die Kabelverbindung zur „Arion“. Sie hörten noch, wie die drei verbleibenen Besatzungsmitglieder an Bord des U-Bootes kamen.
„Kieltüre auf!“ befahl Vittorio leise. Da begann draußen das schwere MG loszubelfern. Etwas war in den von mehreren Infrarotlasern abgemessenen Sicherheitsradius um das kleine Schiff eingedrungen. Sofort kam gegenfeuer. Der Kapitän zeigte auf einen Bildschirm, der nur halb so groß wie der eines Laptops war. Die anderen Boote eröffneten nun auch das Feuer. Auf der „Xian Lao Wu“ brannte es nun stärker. Gerade wurde eines von zehn schnellen Booten im Feuer von Brandgeschossen gebadet. Die Besatzungen feuerten mit Leuchtspurmunition zurück. Noch eine Harpoon-Rakete fauchte los und begrub eines der kleinen Geleitschutzboote unter einem Feuerball.
„Einer weniger! Oh, jetzt werden die sauer“, zischte Vittorio, weil die Chinesen nun mit größter Entschlossenheit auf die Yacht feuerten und immer wieder von der auf Zielannäherung geschalteten Selbstschußvorrichtung aufs Korn genommen wurden. Eine weitere Harpoon schwirrte wie eine Sternschnuppe auf den Frachter zu und riß ein Leck in die Backbordwand. Da schlug eine meterbreite, weißblaue Stichflamme aus dem Leck heraus. Alle konnten sehen, wie das Schiff auseinanderbrach. Ob die Besatzung diese massive Explosion überlebt hatte war fraglich. Außerdem war an Bord der „Dulcinea“ keiner, der der Frachterbesatzung eine Träne nachweinen würde. Das Schiff brach Funken stiebend und glühenden Rauch speiend auseinander. Offenbar hatten die Chinesen Sprengstoff geladen. Der Raketeneinschlag hatte genau das Depot erwischt. Das wütende Gegenfeuer der Bootsbesatzungen verwandelte die Yacht immer mehr in ein schwimmendes Sieb. Jetzt sprangen die beiden Zusatzmaschinen an. Die „Arion“ wurde im selben Moment von zwei Abwurfvorrichtungen zugleich nach unten aus dem Leib der „Stella Victoriae“ ausgestoßen. Die Yacht feuerte nun auf Grund automatischer Programme, bis die tief im Schiffsinneren verbaute Elektronik zusammenbrechen würde oder ebenfalls eine Kammer mit explosivem Inhalt getroffen wurde. Das Trumpfas der großen Schau waren zehn aufblasbare Puppen, die unter Simulation eines Schwelbrandes an Deck erschienen und durch eingeblasene Heißluft die Wärmebildmuster lebender Menschen zeigten. Noch ein Boot der Angreifer fiel den MG-Geschossen zum Opfer. Dann hatten die noch verbleibenden Angreifer die Entfernung zum Schiff bis auf Enterhakenwurfweite unterschritten. Weiter wild schießend wollten die Chinesen an Bord springen. Da bestrich sie eine Garbe aus dem Maschinengewehr und fegte sie ins Wasser. Einer der Chinesen feuerte eine Panzerfaust auf das Brückenhaus ab. Es zerplatzte in brennenden Trümmern. Das alles sahen die Leute in der „Arion“, weil sie noch über eine dünne, immer länger ausgerollte Kabelverbindung mitverfolgten, wie das Schiff sein letztes, vollautomatisches Seegefecht austrug. Noch eine Harpoon flog davon und erwischte das am weitesten entfernte Boot. Die Besatzungen der nnächsten Boote feuerten noch einmal eine Garbe in die Aufbauten, wobei vier scheinbare Besatzungsmitglieder im Feuerhagel niederstürzten und zusammenfielen. Doch das sahen die Chinesen nicht. Denn in dem Moment pusteten mehrere Trockeneis-Nebelmaschinen derartig viele Wolken über das Schiff, daß niemand mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Dann waren die Boote allesamt auf Enterreichweite heran. „Adio mia Bella!“ zischte Vittorio und drückte persönlich einen roten Knopf in den Sockel. Die Bildverbindung erlosch. Die „Arion“ sank zwanzig Sekunden lautlos in die Tiefe. Dann krachte es ohrenbetäubend los. In dem Moment dröhnte der Elektroantrieb des mini-U-Bootes laut auf und warf das zigarrenförmige Unterwasserfahrzeug nach Backbord herum aus der Reichweite des gerade in die Luft gejagten Schiffes „Stella Victoriae“.
Die kleine Maschine des Bootes verstummte, als von oben kein Geräusch mehr zu hören war. Dann blubberte und gluckerte es. Ricardo konnte durch die winzigen Seitenluken zwei halb zertrümmerte Boote sehen, die an ihnen vorbeisanken.
„Hoffentlich haben die ihre großen Vorsitzenden in Peking und Shanghai angefunkt, wer sie da so frech beharkt hat“, zischte Vittorio ganz leise. Dann verordnete er mit einem weiteren Knopfdruck, daß niemand etwas sagen sollte, bis gesichert sei, daß niemand nach einem U-Boot suchte. Die fast wie Ölsardinen zusammengestopften Männer, sowie Pontebiancos Frau ließen ihr Boot bis auf einhundert Meter absinken. Dort pendelte der Yachtkapitän das Unterwassergefährt aus und hielt es in dieser Tiefe und Richtung. Über zugeschaltete Außenmikrofone hörten sie, wie die noch verbliebenen Boote den Schauplatz dieses blutigen Scharmützels wieder verließen. In der Ferne gluckerte und ächzte es. Dann erklangen die Dumpfen Schläge von Implosionen gefolgt vom Brodeln freiwerdender Luftmengen. Das war der Frachter, der ebenfalls sein nasses Grab gefunden hatte.
Erst nach vier Stunden hörten die Überwassergeräusche und der metallische Sterbegesang der versenkten Schiffe auf. Dennoch blieb es nicht still, von wegen stiller Ozean. Sie hörten das leise Klicken, Rasseln und andere Laute von Fischen und Meeressäugern, die mehrere Kilometer entfernt waren, aber durch die Sonaranlage gut zu hören waren. Um selbst kein Sonarziel zu bieten hatten sie alle Pumpen und sonstigen Geräte abgeschaltet gelassen. Die „Arion“ trieb dahin wie eine Planktonwolke. Weitere drei Stunden vergingen, in denen die eingepferchten Überlebenden behutsam aus aufgefüllten Sauerstoffflaschen atmeten. Dann waren sich alle sicher, daß die Chinesen abgerückt waren. Vittorio schaltete einen Ultraschallsender ein, der auf einer ganz bestimmten Frequenz eine immer wiederkehrende Folge von Tönen abstrahlte. Eine weitere Stunde später – sie hatten inzwischen die Luft im Mini-U-Boot chemisch vom CO2 reinigen müssen, dröhnte über ihnen der mächtige Antrieb eines großen Schiffes. Da erfolgte ein auf der Ultraschallfrequenz des Bootes eingehendes Signal, auf das Vittorio und der Kapitän gewartet hatten. Jetzt konnten sie wieder auftauchen.
Unter dem gewaltigen Fischerei-Fabrikationsschiff öffnete sich eine Schleuse, in die das kleine U-Boot mühelos hineinfahren konnte. Als die Besatzung das enge Gefängnis verlassen hatte gratulierte Vittorio dem Kapitän zur reibungslos geplanten Organisation. Alle auf dem gigantischen Fabrikationsschiff standen bei Pontebianco in Lohn und Brot und waren durch die Methoden der Sippe weit genug eingeschüchtert, daß niemand die Firma verlassen mußte. Denn für die Firma wurde das ganze Leben lang gearbeitet.
„Wir machen uns jetzt für ein halbes Jahr unsichtbar“, sagte Pontebianco. Während der Zeit gehen wir in eine Neufindungskur und heben genug Geld ab, um uns nicht nur neue Identitäten, sondern auch was festes an Land kaufen zu können“, sagte Pontebianco seinen Leuten. Sie nickten ihm zustimmend zu.
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Lichtläufer und seine Gefährtin Feuersängerin hatten einen Hinweis bekommen, daß in der Nähe von Basel eine weitere Fabrik für die sogenannten Solexfolien in Betrieb gehen sollte. Die im Alpenraum patrouillierenden Sonnenkinder trugen hauchdünne Masken und Handschuhe, die die Hautfarbe von Europäern imitierten. Denn ihre natürliche Hautfarbe war goldbraun glänzend. Feuersängerin war die Elementarlenkerin des Paares, während Lichtläufer sich auf die Künste verstand, die Kraft in Lebewesen und dem inneren Selbst zu vervielfachen oder gegen Feinde angewendet auch bis zum beinahen Lebensentzug abzuschwächen. Zudem konnte er Licht zwischen seinen Händen bündeln und entweder zu haarfeinen Pfeilen machen oder für Normalmenschen wie eine heiße Metallplatte wirkende Lichtkugeln formen. Dazu war jedoch das Licht von mindestens einer kleinen Flamme nötig. Er konnte aber auch am Tag auf seinen Körper treffendes Licht in sich aufsaugen und es im Bedarfsfall als Leuchtquelle oder Angriffswaffe wieder freisetzen. Feuersängerin lenkte das Feuer, aber auch die Bewegung von Wasser und konnte die Härte von Steinen und Holz verändern. Sie hatten nach ihrer Erweckung bereits zwanzig Nocturnianer zur Strecke gebracht. Jetzt, wo sie wußten, daß die Wichtigeren mit einem verheerenden Keim verseucht waren, der bei drohender Gefangenschaft ein blaues Feuer auslöste, kam es auf sie und Aroyan an, dieses heimtückische Vernichtungsfeuer zu besiegen, bevor es den Gefangenen wegfraß. Denn sie mußten herausfinden, wo Lamias Residenz lag, die Basis Winternacht. Daß dieses Versteck so hieß wußten sie von ihrer dazugewonnenen Schwester Gwendartammaya.
„Da vorne stehen die Häuser, in denen vielleicht diese Schutzhaut für die Nachtkinder angefertigt wird“, dachte Dargarrian, der Lichtläufer. Yanhannaria, die Feuersängerin, schickte ihrem Gefährten zurück, daß sie bereits das leise Lied der Elemente summen wollte, um die Kräfte in den Gebäuden zu erspüren. Wenn dort wie in den anderen Häusern der unbegüterten Menschen dieser Zeit das dumpf vibrirende gefangene Feuer ohne Flammen wirkte, daß die Unbegüterten Elektrizität nannten, konnte sie die Gerätschaften, die daraus ihre Kraft gewannen, zum Stillstand zwingen, bevor die beiden Sonnenkinder in das Überwachungsgebäude vordrangen und den hier womöglich wachhabenden Nachtsohn oder die Nachttochter ergreifen konnten. Doch zuvor riefen sie beide die Kugel der Lautlosigkeit herbei, die selbst geistige Rufe und Verbindungen unterdrückte. Als diese sich um die beiden Sonnenkinder geschlossen hatte, mochte der im Gebäude wachende Vampir wohl merken, daß ein Angriff unmittelbar bevorstand. Yanhannaria summte nun leise und außerhalb jeder modernen Tonleiter. Ihr gefährte hielt seine Hände auf sie gerichtet und konzentrierte sich, die Kraft des Sonnenlichtes durch sich in den Körper der Gefährtin zu lenken, auf daß ihre innere und greifbare Kraft vermehrt wurde. In diesem Verbund hatten sie bisher durchschlagende Erfolge erzielt. Yanhanaria fühlte den in sie einwirkenden Strom aus purer Lebenskraft. Sie schaffte es, sich die dumpf brummende Kraft in den vor ihr liegenden Gebäuden zu erspüren. Dann sang sie das Lied der ruhenden Feuer genau auf jener Schwingungszahl wiederkehrend, mit der die in dünnen Metallsträngen eingezwengte Kraft vibrierte. Dann fühlte sie, wie ihr Gesang die starke Kraft der Elektrizität ergriff und niederdrückte. Sie versiegte, wurde nicht mehr durch das Haus geleitet. rein Muggelphysikalisch erhöhte sie mit ihrem Lied einfach den elektrischen Widerstand der Leitungen auf ein zigtausendfaches. Das magische Wirkungsfeld legte alles lahm. Auf einmal verstummten die aus dieser Entfernung hörbaren Geräusche aus der Fabrik. Die Künstliche Beleuchtung erlosch, und alles, was dort an die Stromversorgung angeschlossen war, gab den Geist auf.
„Sie werden jetzt wissen, daß wir kommen“, sagte Dargarrian. Seine Gefährtin nickte. Sie ergriffen einander bei den freien Händen und gingen den kurzen Weg ins Gebäude. Für Außenstehende verschwanden sie einfach im Nichts, um keinen Moment darauf innerhalb des Hauses wieder aufzutauchen. Durch ihren Zauber gegen geistige Hilferufe wurde jedoch auch der Schall derartig gedämpft, daß nicht mal Schritte zu hören waren. Menschen in langen Überwürfen hasteten in der Dunkelheit umher, weil sie die gerade ausgefallenen Maschinen wieder in Gang setzen wollten. Doch sie hörten einander nicht richtig. Es war so, als hätte ihnen jemand dicke Wattepropfen in die Ohren gestopft. Da einige sowieso ohrenstöpsel gegen den Maschinenlärm trugen, war mit Lautverständigung nicht viel hin.
„Davorne in dem Raum ist er“, zischte Yanhannaria. Auch ihr gefährte fühlte die kalte Ausstrahlung eines Nachtsohnes. „zwinge das blaue Fressfeuer in ihm, zu schweigen, bis wir ihn sicher in unserem Versteck haben, wo du und Aroyan es endgültig aus ihm herauslösen und unschädlich machen können!“ rief Dargarrian. Denn durch die Kugel der Lautlosigkeit waren die beiden Sonnenkinder nicht im Stande, sich in Gedanken anzusprechen. Die beiden Wiedererwachten liefen nun auf die Tür zu, hinter der der Vampir wartete. Yanhannaria tastete bereits mit ihrem Spürsinn für aus der erhabenen Kraft fließende Elementarwirkungen. Sie fand jedoch nichts. Der Vampir wußte wohl, daß seine Gefangennahme unmittelbar bevorstand. Yanhannaria sang bereits ein Lied, daß alle Feuer hinter dieser Tür einschlafen ließ. Dargarrian zielte mit seinem Kraftausrichter, einer kleinen Kristallpyramide auf die Tür und summte eine magische Melodie, die die Lebenskraft in einem Feind verringerte. Damit wollte er den Feind bewegungsunfähig machen. Yanhannaria öffnete die Tür.
Sich in Krämpfen und Zuckungen wälzend lag ein hagerer Mann mit bleicher Haut am Boden. Als er die von den Sonnenkindern ausgehende Strahlung direkt spürte, schrie er laut auf. Doch der Schrei wurde von der magischen Spähre gegen laute Rufe und Gedankenbotschaften größtenteils geschluckt. Dargarrian ging vor. Yanhannaria sicherte noch einmal nach hinten, ob noch ein Nachtkind unterwegs war. Dann warf sie die Tür ins Schloß. Sie trat zu ihrem Gefährten, dabei weiterhin das Lied der ruhenden Feuer singend. Tatsächlich fühlte sie, wie das gefräßige Blaue Feuer versuchte, den Körper des in die Enge getriebenen Vampires zu ergreifen. Doch es wurde bereits schwächer. Auch ein anderes Instrument, daß mit Feuer wirkte, löste zwar aus, doch es konnte den Ertappten nicht vernichten, um ihn am Verrat zu hindern. Sich darauf konzentrierend achteten die beiden Sonnenkinder nicht darauf, daß der Vampir in seiner Agonie einen silbernen Brieföffner von seinem Schreibtisch herunterangelte. Dieser glühte unvermittelt blau auf. Eine Lichtspirale umschloß den Vampir. Die beiden Sonnenkinder erstarrten vor Überraschung, als sie mitbekamen, wie der sichergeglaubte Gefangene in dieser Leuchtspirale verschwand. Ihr Erstaunen lähmte sie einen Moment lang. Das war dann auch der entscheidende letzte Moment, in dem sie sich hätten retten können. Mit einem lauten klirren zerbrach etwas hinter dem Schreibtisch, Ein schwall grünen Dampfes zischte in den Raum hinein, hüllte die beiden Sonnenkinder in eine wirbelnde grüne Staubwolke. Sie dachten zwar noch daran, in eine Falle getappt zu sein, konnten jedoch nichts mehr tun. Der grüne Staub geriet in ihre Nasen und Münder, drang mit einem einzigen Atemzug in ihre Luftwege ein und versah dort einen gnadenlosen tödlichen Dienst. Jede Frischluft, die in diesem Raum gewesen war, wurde von den umherschwirrenden Grünstaubkörnern angesaugt und eingeschlossen. Innerhalb von nur drei Sekunden war die freie Atemluft auf die Hälfte verringert worden. Was jedoch schlimmer war, der in die Atemwege der beiden geratene Staub nahm ihnen jede Möglichkeit, wieder Luft zu schöpfen. Es war, als habe ihnen jemand Mund und Nase mit einem dicken Knebel verstopft oder ihnen ein dickes Kissen ins Gesicht gedrückt, durch das sie nicht mehr atmen konnten. Zudem entzogen die bereits eingeatmeten Grünstaubteilchen ihren Lungen die Frischluftvorräte. Sie schafften es nicht mehr, sich auf eine Flucht zu konzentrieren. Wie von einem Betäubungsmittel betroffen schwand ihnen das Bewußtsein. Sie stürzten hin und blieben liegen. Pausenlos weitere Partikel des tödlichen Staubes einatmend glitten die beiden Sonnenkinder immer mehr aus dem Leben davon. Es dauerte keinen weiteren Zehntausendsteltag, da gaben ihre Herzen auf. Aus dem Blut war über die Lungenbläschen jeder restliche Sauerstoff entrissen worden. Die Sonnenkinder blieben leblos liegen, eingedeckt von grünem Staub. Die letzten Zauber, die sie noch ausgeführt hatten, klangen mit ihrem Tod langsam ab. Das tödliche Pulver hatte sich noch nicht restlos auf Boden und Wänden verteilt. Solange es im freien Flug war, fraß es jeden freien Sauerstoffanteil auf. Das bekamen vier redliche Fabrikarbeiter zu spüren. Sie wurden zu unschuldigen Zivilopfern in einem Krieg, von dem sie bis dahin nichts gewußt und es wohl auch nicht geglaubt hatten.
Erst eine Stunde später hatte sich die tödliche Pulverbombe restlos erschöpft. An Boden, Decke und Wänden klebte jetzt etwas wie grüner, grobkörniger Sand. Er bedeckte auch alle Oberflächen innerhalb des Büros. Die sechs Leichname sahen aus, als habe wer sie mit dunkelgrünem Sand bestreut. So wurden sie auch von den Kollegen der vier gefunden, die nach dem Wiedererwachen der Stromversorgung nachsehen wollten, was mit ihrem Chef passiert war. Der Anblick der sechs Toten erschütterte sie dermaßen, daß sie erst einmal gar nichts unternehmen konnten. Erst als die Alarmanlage eine Feuerwehrtruppe und eine Polizeieinheit herbeigerufen hatte, erkannten die Arbeiter, daß hier ein schrecklicher Unfall passiert sein mußte. Doch wo war ihr Chef abgeblieben? Hatte der sich noch rechtzeitig vor dem, was den grünen Sand hinterlassen hatte, in Sicherheit bringen können?
„Die sind erstickt. Womöglich war in dem Zeug was sauerstoffbindendes drin. Sofort raus hier, falls das Teufelszeug noch wirkt“, knurrte ein Polizist. Er gab über Funk an die Feuerwehrmannschaft weiter, mit schwerem Atemschutzgerät diesen Raum zu untersuchen und festzustellen, was für eine tödliche Chemikalie es war und wie sie in diesem Raum freigesetzt worden war.
Die mit eigenen Sauerstoffgeräten geschützten Feuerwehrmänner untersuchten den Raum, nahmen Proben vom grünen Sand und begutachteten die Leichen oberflächlich. Dabei fiel einem auf, daß die Haut am Hals des einen Mannes merkwürdig golden durchschimmerte. Sofort ließ der Polizist den Anzug öffnen und erstarrte. Der Fremde war ja maskiert und trug auch noch Handschuhe. Die natürliche Hautfarbe war eine, die er in seinen zwanzig Dienstjahren noch nie so gesehen hatte. Er war als Polizeischüler mal zwei Wochen in China gewesen, um die fremde Kultur wenn nicht zu lernen oder gar zu verstehen, so jedoch ein wenig von der anderen Welt schnuppern zu können. Eine solche Hautfarbe hatte der Beamte dort jedoch nicht gesehen. Auch die indische Tönung kam nicht hin, vielleicht eine Mischung aus einer ost- und einer Südasiatischen Ahnenlinie, dachte der Ordnungshüter. Warum die beiden sich jedoch maskiert hatten wußte er nicht. Leider waren die beiden auch nicht mehr in der Lage, ihm Auskunft darüber zu geben.
Die Leichen wurden unter Einhaltung aller Quarantänevorschriften abtransportiert. Das Schweizer Militär trat auch in Erscheinung, weil womöglich eine nichtgenehmigte Chemo- oder Biowaffe getestet worden sei.
Die Gerichtsmediziner kamen alle zum selben Schluß: Die in die Atemwege hineingeratenen Partikel konnten tausendmal mehr Sauerstoff einsaugen, als sie selbst Raum ausfüllten. Wer also genug von dem Zeug in die Atmosphäre schleuderte, hatte eine verheerende Bombe zur Hand. Hoffentlich war das hier ein Versuch, der nicht zur Marktreife kommen konnte!
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„Tiefer einatmen, Mädchen. Du mußt es hinkriegen, alle Luft in dich einzusaugen, die du für dich und das Kind brauchst“, hielt Anthelia Nadja an, die murrte. Sie war verärgert, weil Anthelia sie herumkommandierte wie ein kleines Kind. Andererseits hatte sie es sich doch selbst ausgesucht, Lieber mit der zurückverjüngten Dido Pane immer dicker zu werden oder von Arcadis Leuten festgesetzt und lebendig im russischen Zauberergefängnis im höchsten Berg Sibiriens begraben zu werden.
„Weißt du denn jetzt wenigstens, wann ich die Kleine wieder aus mir rauslassen kann?“ Fragte Nadja nach der letzten Übung für heute.
„Na ja, so genau wie bei einer natürlichen Schwangerschaft kann ich das nicht sagen. Ich vermute aber, daß es zwischen dem fünften Mai und dem achten Juni passiert. In zwei Wochen weiß ich das genauer, weil ich dann erkennen kann, wie weit sich Anastasia entwickelt hat. Jedenfalls mußt du in drei Wochen zum dritten Mal den Sanctuamater-Zauber ausführen.“
„Tolle aussichten!“ knurrte Nadja. Doch dann lächelte sie. Nein, sie würde es durchhalten und sie würde die kleine Anastasia sicher im Griff haben.
„Höchste Schwester, unser Sonnensöhnchen hat mir gemailt, daß in Basel zwei von seinen neuen Landsleuten umgekommen sind.“
„Basel, Schwester Romina? Warum kriege ich das jetzt über einen so langen Umweg, wo wir da eine Schwester haben“, schickte Anthelia an Romina Hamton zurück. „Komm zu mir und bring mit, was er dir geschrieben hat!“ befahl sie mentiloquistisch. Dann verließ sie das zum Dauerklangkerker gemachte Schlafzimmer Nadjas und apparierte im Weinkeller der Daggers-Villa. Zwei Minuten später ploppte es, und Romina Hamton stand in jenem Gewölbe, in dem Anthelia vor vier Jahren und siebeneinhalb Monaten ihren zweiten Körper erhalten hatte. Sie gab der höchsten Schwester einen Zettel zu lesen. Anthelia verzog das Gesicht. Dann beauftragte sie Romina, die Muggelweltnachrichten aus der Schweiz zu verfolgen. „Ich kann doch kein Deutsch“, grummelte Romina.
„Die Schweizer auch nur, wenn sie es in der Schule lernen“, erwiderte Anthelia. „Aber Französisch kannst du, weiß ich aus sehr angenehmen Plaudereien mit dir. Also zurück an dieses Rechnerding und die französischen Nachrichtenverbreitungsbilder der Schweiz betrachten!“ kommandierte Anthelia. Sie wartete, bis Romina disappariert war. Dann schickte sie an Nadja: „Muß in die Schweiz, den Tod von zwei Sonnenkindern prüfen. Bin in zwei Tagen spätestens da! Vorräte sind für euch beide reichlich vorhanden.“ Dann mentiloquierte sie Beth McGuire, daß diese sie in drei Tagen in der Daggers-Villa aufsuchen sollte, nicht vorher.
Anthelia warf sich eine Reisetasche mit mehreren Kleidungsstücken über und reiste in zehn Apparitionen nach Genf, wo sie ihre Mitschwester Mara Kellerer aufsuchte. Diese arbeitete für das Zaubereiministerium im Besenkontrollamt, also nicht unbedingt da, wo Todesfälle aus der Muggelwelt auf den Tisch kamen.
„Interessant, unser Ministerium wollte noch beraten, ob das ein Fall für uns ist, weil die beiden ja in einer Kunststofffabrik gefunden wurden“, sagte Mara, die mit Anthelia Französisch sprach.
„Dann sind die noch bei den Muggelmedizinern?“ fragte Anthelia.
„Unsere Thanatologen haben sie jedenfalls noch nicht untersucht. Das wollen sie machen, wenn sie den offiziellen Auftrag von Monsieur Uri oder Minister Rheinquell persönlich bekommen. Wenn ich da nachhake fällt das auf, wo ich gerade die Einfuhrformalitäten für den neuen Donnerkeil 21 bearbeiten muß.“
„Dessen Eigenschaften mich natürlich auch sehr interessieren. Sieh zu, eine Kopie dieses Berichtes zu erstellen, ohne daß jemand es mitbekommt und schicke sie mir mit deiner privaten Eule zu!“
„Das arme Phinchen wird dann aber Wochen unterwegs sein“, wandte Mara Kellerer ein, die mit ihrem Grauen Haar, dem fülligen Körper und dem kastanienbraunen Gebrauchsumhang eher wie eine verwitwete Großmutter aussah als wie die Angehörige einer nicht erwünschten Hexenschwesternschaft. Anthelia nickte und versprach, die Eule erst wieder zurückzuschicken, wenn sie sich von dem langen Flug über den Nordatlantik erholt hatte. Dann verließ Anthelia das unauffälllige Haus in Sichtweite des Genfer Sees.
Im Schutze eines Unsichtbarkeitszaubers drang Anthelia nur mit der Hilfe ihrer telekinetischen Geisteskräfte in das pathologische Institut von Basel ein. Es war schon Nacht. Ein Wachmann hockte hinter seinen Bildschirmen und lauschte nebenbei dem Redefluß eines Radiosprechers, der ihm und anderen Hörern gerade den Verlauf eines Fußballspiels schilderte. Anthelia fand Quidditch spannender. Dennoch dankte sie in Gedanken der Mannschaft aus Basel, die ihren Zuschauern und Rundfunkhörern ein so spannendes Spiel bot, daß der Wachmann nicht auf jedes Geräusch achten würde.
Im eisigen Keller des Institutes stank es widerlich nach Reinigungs- und Keimverdrängungsmitteln. Anthelia war schon versucht, sich eine Kopfblase zu zaubern. Doch wenn die Zaubereiadministration der Schweiz diesen Ort bereits mit Spürsteinen überwachte würde sie sich verraten. Aus dem eigenen Geist entstehende Telekinese war schwerer zu orten. Dazu mußte jemand schon bis auf hundert Schritte mit einem darauf abgestimmten Erfassungsartefakt heran. Anthelia holte sich das Register, ohne es anzufassen. Mit Drachenhauthandschuhen zur Vermeidung von Fingerabdrücken blätterte sie das Verzeichnis bis zu den Neuzugängen durch und erfuhr, wo die beiden Leichen unbekannter Abstammung und Identität aufbewahrt wurden. Doch die Toten interessierten sie nicht. Sie wollte wissen, was diese bei sich gehabt hatten. Sie las, daß die Kleidung und die am Körper getragenen Gegenstände von einer grünen, körnigen Substanz gereinigt werden mußten, die ähnlich wie Feuerlöschschaum den freien Luftsauerstoff einschloß. Anthelia wußte, was gemeint war und rechnete damit, in jedem Augenblick von einem der Ministeriumszauberer gestört zu werden. Dann las sie, wo die Gegenstände eingeschlossen waren. Sie sah den Schrank, der mit einem zwar komplizierten, aber rein mechanischen Schloß gesichert war. Sie blickte ihn konzentriert an und fühlte, wie ihre Gedanken den Verschluß erreichten. Ein konzentrierter Wunsch, den Schrank aufspringen zu lassen erzeugte ein leises Klicken. Dann schwang die schwere Stahltür auf. Anthelia näherte sich unsichtbar dem Schrank und blickte hinein. Fast hätte sie vor Freude gejubelt, als sie die beiden kleinen Ohrringe in einer kleinen Schale sah. Also hatten die Sonnenkinder die für reisende Kraftträger angefertigten Allversteher getragen, die die lautsprachliche Verständigung mit völlig fremden Lebewesen erlaubten. Weil sie nicht wußte, ob die Ringe gegen magische Bewegungsformen gesichert waren griff sie in den Schrank hinein, darauf gefaßt, einen elektrischen Eindringlingsmelder auszulösen. In dem Fall würde sie beide Ringe nehmen und verschwinden. Doch es passierte nichts. So konnte sie einen der Ringe herausnehmen und in ihrer rechten Umhangtasche versenken. Dann schloß sie den Schrank und ging an den Tisch mit dem Verzeichnis. Dort holte sie ihren Zauberstab hervor und hielt ihn über die Liste mit den gefundenen Gegenständen. Sie löschte mit „Corrigo“ einfach den Eintrag, daß der tote Mann einen Ohrring getragen hatte. Als das passiert war lauschte sie mit ihrem Gedankenspürsinn. Keiner war gekommen, um sie auf frischer Tat zu ertappen. Doch jetzt fiel ihr ein, daß sie den Leichnam des Mannes verändern mußte, damit niemand wegen des leeren Ohrloches stutzig wurde. Sie wandte sich den Schubladen zu und ließ die richtige ohne Handanlegen aufgleiten. Sie erstarrte einen Moment in Ehrfurcht. Der Mann im Kühlfach war eindeutig ein Bewohner des alten Reiches gewesen. Wie lange hatte Naaneavargia keinen mehr davon gesehen? Sein Körper war gut gebaut. Wäre er nicht tot, und wäre er in seinem Leben kein diese widerliche Aura verströmender Sonnensohn gewesen, hätte sie ihn sicher sehr gerne auf ihr Lager gezogen und ihn so richtig … Aber der Mann war tot und damit für sie absolut unempfänglich und untauglich. Sie zielte mit dem Zauberstab auf das rechte Ohr. Verletzungen an Leichen zu verschließen war anders als lebendes Gewebe zu heilen. Doch Anthelia hatte auch die zur Aufbahrung von Toten nötigen Zauber erlernt. „Reclausa Laesio mortui!“ wisperte Anthelia, wobei sie auf das rechte, auch im Tode noch herrlich golden schimmernde Ohr deutete. Rotes Licht drang aus dem silbergrauen Stab und hüllte das Ohr des Leichnams ein. Eine Sekunde lang blieb das Licht. Dann erlosch es. Anthelia sah das Ohr an, das nun kein unnötiges Loch mehr aufwies. Das linke Ohr war ohnehin frei von Durchstichen. Schnell zog sich Anthelia wieder zurück und ließ die Schublade mit dem Toten zugleiten. Sollten sich die Ministeriumszauberer nun darum kümmern. Doch halt! Wenn sie den Toten manipulierte, dann mußte sie wohl auch den Bericht der Leichenbeschauer ändern. Denn die mochten in der diesem Volk nachgesagten Gründlichkeit jede körperliche Auffälligkeit erwähnt haben. Doch der Autopsiebericht lag nicht in der Aufbewahrungskammer. Anthelia huschte, alle Türen vor und hinter sich telekinetisch auf- und zusperrend, durch das Institut. Dabei bekam sie mit, daß der Wachmann das Öffnen und Schließen der Zugangstür zum Leichenkeller auf dem Bildschirm gesehen hatte. Er wollte gerade Alarmgeben. Anthelia apparierte gleich neben ihm und hielt ihm den Zauberstab an den Kopf. „Obleviate!“ zischte sie. Zwar war das ein ziemlich starker Zauber, aber sie mußte es riskieren. Sie veränderte das Gedächtnis des Mannes und ließ telekinetisch das in einem Stahlschrank laufende Videoband zurückspulen und neu aufnehmen. Immer noch hatte keiner die Magie bemerkt. Womöglich mußten die Zauberer erst an den Bericht über die Todesursache kommen, um zu handeln. So hatte sie die Zeit, in das Büro des zuständigen Pathologen zu kommen und den Bericht zu finden. Als sie ein quaderförmiges, kleines Gerät auf dem Tisch liegen sah konnte sie gerade noch ihre Wut verdrängen. Das Ding war ein Tonaufnahmegerät. Womöglich hatte der Leichenbeschauer alle ihm unter die Augen gekommenen Auffälligkeiten darauf aufgezeichnet. Dann nützte es nichts, nur die schriftlichen Aufzeichnungen zu verändern. Wie sie eine magielose Tonaufnahme verändern konnte wußte sie nicht. Weder Anthelia noch Naaneavargia hatten mit diesen Methoden zu tun gehabt. Dann erinnerte sie sich an etwas, was sie von Ben Calder alias Cecil Wellington gelernt hatte. Die Tonaufzeichnungsmaschinen benutzten schwache Magnetkräfte, die die auf einem durchlaufenden Band verteilten Eisenpartikel verschoben, so daß der Schall entsprechend aufgezeichnet wurde. Doch das kleine Gerät besaß kein Bandlaufwerk. Es war zwar ein Aufnahmegerät, wie sie an den Beschriftungen der kleinen Schalter erkannte. Doch es zeichnete den Schall auf einer ähnlichen Speichervorrichtung wie die Elektrorechner. Besser, der Schall wurde in Speichersignale umgewandelt und auf einer festen Speichereinheit abgelegt. Doch Speicher ließen sich löschen. Sie manipulierte mit ihrer Telekinese an dem Gerät, bis sie die Funktion „Inhalt löschen“ fand und aufrief. Es piepte zweimal, und im winzigen Elektrobildfenster blitzte die Nachricht „Aufzeichnung gelöscht“ auf. Dann machte sie noch eine kurze Aufnahme auf den Tisch trommelnder Fingerkuppen, um auch diese wieder zu löschen. Denn Cecil hatte dieser Laura Carlotti erzählt, daß elektronische Aufzeichnungen zurückgeholt werden konnten, wenn der Speicher nicht nach dem Löschen noch einmal Aufzeichnungen entgegengenommen hatte und diese dann noch einmal gelöscht wurden. Jetzt konnte anthelia die schriftlichen Aufzeichnungen korrigieren. Das war kein Akt mehr. Sie brauchte nur den Satzteil „Loch im rechten Ohrläppchen“ zusammenschrumpfen zu lassen, so daß alle dahinterstehenden Wörter zusammenrückten, als wenn dort nie was anderes gestanden hätte. Als sie diese letzte Manipulation erfolgreich ausgeführt hatte schlich sie sich, absichernd, daß der Wachmann nicht auf den sie zeigenden Bildschirm blickte, aus dem Büro hinaus und verließ das Institut so ungesehen, wie sie es betreten hatte. Erst drei Kilometer davon entfernt disapparierte sie.
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„Ich werde ihn heiraten. Wenn ihr vier und die zwei Babys nicht im Keller im Schrank wohnen wollt, seht zu, daß ihr anderswo unterkommt“, hatte Virginia Hencock Patricia Anfang April erzählt. Diese hatte keine Anstalten gemacht, ihrer Heimstattgeberin wider Willen zu widersprechen. Zum einen fühlte sie, wie entschlossen Virginia war, mit Herman Marshal Tisch und Bett zu teilen. Zum anderen war der Grund für das Verstecken erledigt. Theia Hemlock hatte auf einer rein geistigen Reise Kontakt mit Patricia Straton bekommen. Das Sonnenmedaillon hatte seine frühere Trägerin erspürt, aber auch als frühere Feindin seiner neuen und anerkannten Trägerin eingestuft. Außerdem hatte Patricia mit ihrem verbesserten Gedankenspürsinn erfaßt, daß Theia magisch hatte beeiden müssen, keinen Menschen von sich aus mehr anzugreifen und nachhaltig zu schädigen. Sie würde auch keinem verraten, daß Patricia Straton noch am Leben war. Denn dann hätte sie ja auch erklären müssen, woher sie das wußte. Die Fähigkeit, den eigenen Geist aus dem lebenden Körper zu lösen und so beliebig weit über die Erde zu reisen, gehörte garantiert zu den strengsten Geheimnissen der ehemaligen Hexenlady, die nun als ihre eigene Tochter weiterleben mußte. Daß sie als ihre eigene Tochter Theia weiterlebte war wohl das zweite strenge Geheimnis. Denn wie hätte sie erklären sollen, warum es sie nun in jüngerer Form gab. Selbst wenn sie hinging und den Zögerlichen Schwestern erzählte, daß auch deren ehemalige Mitschwester Patricia Straton noch lebte, hätte sie erklären müssen, wie das möglich war. Womöglich hätte man ihr dann das kleine, unschuldige Mädchen wegnehmen müssen, daß sie volle vierzig Wochen ausgetragen und geboren hatte. Patricia hatte erkannt, wessen zweites Leben Theia Hemlock ermöglicht hatte und welche Möglichkeiten sie dadurch erhalten hatte, wwenn schon nicht als Anführerin der Entschlossenen, dann zumindest als wertvolle Mitschwester der Zögerlichen. Nein, Theia würde Patricias wundersames Weiterleben nicht verraten. Also konnte sie ruhig ausziehen. Doch sie fühlte das in ihr wachsende Kind, für das sie, Patricia, leben sollte. Alleine konnte sie es nicht zur Welt bringen. So sagte sie:
„Dawn und ich werden uns eine andere Wohnung nehmen, wenn unsere Babys da sind, Virginia. Wir zahlen dir auch was dafür, daß du uns hilfst, sie zu kriegen, wie du ja auch Geld für die Wohnung von uns kriegst.“
„Mafia-Geld, an dem Blut klebt“, schnarrte Virginia Hencock. Patricia fühlte die Abscheu der Frauenärztin gegen die sprudelnde Geldquelle, die Brandon Rivers mit magieloser Computerzauberei erschlossen hatte.
„Weiß dein Verlobter, daß du als Junge zur Welt gekommen bist, Virginia Hencock?“ fragte Patricia ihre Heimstattgeberin. Diese verzog das Gesicht. „Und weiß er auch, warum du eine körperlich vollkommene Frau geworden bist?“ Virginia schlug die Augen nieder. „Er würde es nicht glauben oder dich für wahnsinnig erklären lassen. Dann wird das nichts mit einem eigenen Baby“, sagte Patricia.
„Du willst mich erpressen?“ fauchte Virginia.
„Liegt mir fern. Ich möchte nur, daß mein Baby und das von Dawn gesund auf die Welt kommen kann. Wenn wir unsere Kinder haben ziehen wir aus, versprochen. Keiner muß dann wissen, daß wir hier gewohnt haben, und du kannst mit deinem Erbguterforscher in diesem von einer dir damals sehr entgegenkommenden Dame gespendeten Haus und der Praxis weiterleben. Wir bleiben solange hier, bis Prunellus und Laura geboren sind. Du hast gelernt, uns dabei zu helfen. Du kriegst mehr Geld dafür, uns zu helfen, als du von den anderen Frauen kriegst, deren Kinder du zur Welt holst. Fragst du dich bei denen, woher die ihr Geld haben? Nein, das tust du nicht. Ich weiß es aber. Aber ich verrate es dir nicht. Bis Mai möchten wir hier wohnen. Du kannst Herman bis dahin jederzeit treffen und wenn du vor dem Glockengebimmel und Ringeanstecken schon mit ihm schlafen willst halten wir vier dich auch nicht davon ab. Aber erst wenn Prunellus und Laura aus Dawn und mir raus sind ziehen wir um.“ Patricia fühlte die Wut, die in ihr erwachte. Ihre Hormone trieben sie fast zur Weißglut. Auch Virginia war verärgert, vor allem, weil Patricia ihr ihre geheimen Sehnsüchte um die Ohren gehauen hatte. Natürlich wollte sie mit Herman Marshal ins Bett, vielleicht schon mit seinem Baby unter dem Herzen heiraten. Aber Patricia hatte zu viel gegen sie in der Hand. Einen Moment dachte Virginia daran, die ihr lästige wie gefährliche Mitbewohnerin umzubringen. Doch in dem Moment, wo sie das dachte, lächelte Patricia überlegen. Da erkannte Virginia, daß allein der Gedanke an Mord ihr Verhängnis werden konnte. Patricia brauchte Anthelia nur zu sagen, daß ihre heimliche Kundschafterin in der Muggelwelt gegen Anthelias Auftrag verstieß. Womöglich brachte Anthelia sie dann um, oder schlimmer, sie nahm das Geschenk zurück, daß sie Virginia gemacht hatte und lieferte sie, die dann wieder Alexander Fox heißen mochte, der Polizei aus. Alexander Fox hatte zu viel Dreck am Stecken gehabt. Sicher suchte das FBI noch nach dem Mann, der die BUS-Apparatur gebaut und Laroches Gefangene darin eingesperrt hatte. Ja, diese Hexen hatten Virginia ihr Leben ermöglicht. Sie konnten es ihr jederzeit wieder nehmen, ohne sie umzubringen.
„Gut, Ich helfe euch mit den Babys. Wenn du es schaffst, bis zum Juli eine andere Wohnung zu finden wäre ich euch vieren sehr dankbar. Denn im September wollen Herman und ich heiraten.“
„Gut, sofern Dawns und meine Schwangerschaft so verläuft wie bei allen anderen Frauen auch sind wir spätestens im Juni aus dem Haus. Dann brauchen wir eh mehr Platz. Abgemacht?“ Virginia Hencock nickte resignierend. Patricia erfaßte, daß sie es ehrlich meinte. So konnte sie nach der gerade wieder erfolgten Untersuchung zurück in die obere Etage. Sie fühlte, daß Brandon etwas wichtiges herausgefunden hatte. Doch weil sie sich auf Virginias Gedankengänge zu konzentrieren hatte war ihr das erst als Ruf und Jubel im Hintergrund eines großen Platzes vorgekommen.
„Die alte Hintertür geht noch“, dachte Brandon. Er redete mit Patricia und seiner Lebensgefährtin Dawn nur noch rein geistig. Das ging ihm schon so gut von Statten, daß er keinen Unterschied mehr empfand.
„Ah, du meins diese Zugangsmöglichkeit zu den Firmencomputern von Genialotech?“ fragte Patricia zurück. Sie fühlte, wie ihr ungeborener Sohn sich bewegte und meinte, ihn nach Essen quängeln zu hören.
„Joh, Bens Vater hat die alten Hintertüren nicht vermauert. Offenbar traut der den Programmieren immer noch nicht über den Weg. Ich komm jetzt an die Datenmanagementprogramme dran. Die haben einen Infowerkzeugkasten entwickelt, mit dem man alle Suchmaschinen überwachen kann, wenn es zu einer Liste von Suchbegriffen neue Seiten im Internet gibt. Ich habe die obere Adminebene erreicht und kann mir problemlos Kopien von dem ganzen Paket runterladen, ohne daß bei G-Tech was protokolliert wird.“
„Dann kopiere alles, wovon du denkst, daß es uns wichtig und nützlich ist auf deinen trabbaren Rechenapparat!“ willigte Patricia ein. Dawn Rivers, die kleine, jetzt noch ein wenig rundere Sonnentochter mit dem kupferfarbenen Haar, kam in das Wohnzimmer, wo Brandon seinen tragbaren Computer hatte.
„Okay, ich mach das Rückverfolgungsprogramm an und lade Arachnobot und Argos 20XX auf den Schlepptop runter. Die laufen im Hintergrund. Die machen den Rechner zwar wohl langsamer, können aber dauernd überwachen, was im Netz los ist. Ich habe sogar den Schlüsselmacher gefunden, um gültige Lizenzschlüssel herzustellen, damit keiner uns dummkommt, weil wir ein illegales Programm benutzen.“
„Sicher alles ab. Du weißt, wir müssen auf der Hut vor Entdeckung bleiben!“ sagte Dawn. Patricia hörte telepaathisch ein leises Wimmern von ihr her. Das in Dawn wachsende Mädchen fühlte Hunger, genau wie Patricias ungeborener Sohn.
„Wir essen erst mal was. Dann können wir uns weiter unterhalten“, legte Dawn fest. Brandon grummelte in Gedanken. Dann nickte er.
Nach dem reichhaltigen Essen, bei dem sich Hesperos und Brandon sichtlich zusammennehmen mußten, nicht so zuzulangen wie ihre Gefährtinnen, sicherte Brandon den nicht gerade astreinen Datenfischzug gegen Rückverfolgung ab, öffnete die von Ben Calders Vater vor sieben Jahren angelegte Hintertür auf die Laborrechner seiner Firma und kopierte die dort bereits durchentwickelten Programme. Arachnobot überwachte als eigene Suchmaschine und Antivirusprogramm als speicherresidentes Programm alle gängigen Suchmaschinen und fragte in einem festlegbaren Interval nach neuen Einträgen zu einer Liste von Stichwörtern, die einzeln oder auf einer Seite zusammen vorkommen konnten. Argos 20XX war ein Programm, daß alle elektronischen Nachrichtenverbreiter überwachte, ob irgendwo in der Welt etwas für den Anwender wichtiges passierte. Genialotech oder kurz G-Tech hatte diese Anwendung für Regierungszwecke entwickelt, entweder für die Berater des Präsidenten oder für Ermittlungsbehörden und Geheimdienste. Gerade letztere legten sicher Wert darauf, daß keiner mitbekam, daß sie die Datenflut überwachten. Daher war Argos 20XX mit einem Ip-Adressen-Simulator ausgestattet, der auch bei einer Standleitung alle zwei Sekunden eine neue Internetprotokoll-Adresse auswies. Das war genau das, was Brandon und die Sonnenkinder gesucht hatten, um Nocturnias Aktivitäten weltweit zu überwachen.
„Yanhannaria ist nicht mehr zu hören“, gedankensprach Dawn, die ihrem Gefährten nur zusah, was er machte, ohne ihm dreinzureden. Brandon fühlte die Sorge und die Angst, die seine schwangere Gefährtin erfüllte. Er fragte lautlos zurück: „Von wem weißt du das, Dawn?“
„Das Netz der Sonnentöchter hat die Verbindung mit ihr verloren. Auch Dargarrian ist nicht mehr zu hören. Sie wollten eine Fertigungsstätte erkunden, in der die für die Nachtkinder so wichtigen Schutzhäute gemacht werden.“ Brandon erfaßte mit ihren Gedanken auch die Bilder der beiden. Sie bildeten ein kongeniales Duo. Er konnte Menschen mit neuer Lebenskraft aufladen oder seinen Feinden Kraft absaugen. Sie konnte Elementarzauber und die Mentalmagischen Sachen machen. Er bekam ohne Umweg über lange Erklärungen und gesprochene Worte mit, wo die beiden zuletzt gewesen waren und aktivierte die beiden neuen Errungenschaften. Er programmierte Argos darauf, nach ungewöhnlichen Vorfällen um eine Fabrik bei Basel ausschau zu halten und setzte den Arachnobot darauf an, nach goldenen Menschen, Fabriken für Plastikfolien, rätselhaften Todesfällen und unerklärlichen Todesarten zu suchen. Wenn sie pech hatten, würde es von den vermißten Sonnenkindern keine Leichen geben.
„Jetzt sind auch Girryan und seine Gefährtin Darhannia nicht mehr da“, gedankensprach Dawn. Sie bat Brandon darum, mit ihm einen gemeinsamen Gedankenblock zu bilden. So konnte er auch in das weltweite Gedankennetzwerk der ausgesandten Sonnenkinder hineinhorchen. Er ging darauf ein und entspannte sich. Es war so ähnlich, wie die spitzohrigen Vulkanier aus den Star-Trek-Folgen das machten, nur ohne sich gegenseitig an die Köpfe zu fassen. Er glitt behutsam in Dawns Bewußtsein hinein. Sie umfing seinen Geist mit ihren Gedanken, wie sie seine Tochter Laura sicher geborgen trug. Weil dieses kleine Mädchen von ihr und ihm stammte, konnte er ja überhaupt mit den Sonnenkindern rein geistig sprechen, war er auch einer von ihnen, wenngleich er noch viel üben mußte, um mit allen von ihnen verbunden zu werden. Er atmete ruhig und sah die Bilder der noch hörbaren, also rein geistig erkennbaren Sonnenkinder und hörte die besorgten Gedanken, was mit den vier vermißten geschehen war. Ohne es groß zu merken huschten seine Hände über die Tasten des Laptops und fütterten die beiden Überwachungsprogramme mit weiteren Suchbegriffen. Argos sollte nun auch seine vieltausend virtuellen Augen auf das Geschehen um Hongkong richten, wobei Brandon von sich aus auch Begriffe wie „Triaden“ und „chinesische Mafia“ einfütterte.
„Wir müssen davon ausgehen, daß die vier Mitgeschwister erloschen sind“, hörte Brandon die Gedankenstimme von faidaria, die eine Großmeisterin in der Mentalmagie war. „Wenn sie die Nachtkinder nicht ergreifen oder töten konnten, so wurde ihr Lebenslicht ausgelöscht.“
„Aber sie können die mit Feuer wirkenden Waffen und Geräte der Unbegüterten doch unwirksam machen“, hörte Brandon die Gedankenstimme eines Sonnensohnes, der Darfaian hieß, was Licht des Himmelsfeuers oder schlicht Sonnenschein hieß.
„Ja, alles mit Feuer wirksame“, wandte ein anderer Sonnensohn ein, der Sirdargratian, Morgenrufer, genannt wurde. Brandon hörte sein Herz und das Herz seiner Gefährtin, aber auch das leise, schnelle Wummern eines kleinen Herzens, während er immer sicherer in der geistigen Verbundenheit ruhte. Er dachte und sagte nichts. Die anderen merkten garantiert, daß er mithörte. Doch sie sprachen ihn nicht an. Zumindest nannten sie nicht seinen Namen. Doch er meinte, daß seine Hände weitere Suchbegriffe eintippten wie „Tod durch Stichwaffen“, „Enthauptungen“ und „Tod durch Ersticken“. Als er die beiden über eine gemeinsame Schnittstelle fütterbaren Programme mit den neuen Suchbegriffen versorgt hatte, dauerte es keine drei Sekunden, da blinkte ein rotes Auge am rechten oberen Bildschirmrand auf. Gleichzeitig bimmelte eine synthetische Glocke und der Schriftzug „Faden erschüttert“ auf. Beide Suchprogramme hatten was gefunden. Brandon brauchte nun nur die Maus auf eines der beiden Meldesymbole zu bewegen und doppelzuklicken, um die neuesten Suchergebnisse präsentiert zu kriegen. Argos 20XX wies auf eine Pressemeldung aus Basel hin, daß die Feuerwehr und Polizei nach einem ungewöhnlichen Stromausfall einer Kunststofffabrik die Leichen von vier Werksarbeitern und zwei Unbekannten gefunden hatten. Die Mediziner hatten als Todesursache eine Art Pulver ermittelt, daß Sauerstoff band und damit ein probater Feuerlöscher, aber auch ein höchstgefährlicher chemischer Kampfstoff war. Patricia, die mit ihrem Lebensgefährten nebenan saß und doch mit im Verbund der Sonnenkinder zuhörte erfaßte im selben Moment wie Brandon, was in Basel passiert war und rief: „Grünstaub. Nocturnia hat Grünstaub und kann damit seine Feinde töten.“ Keine halbe Minute später wußten alle rein geistig vernetzten Sonnenkinder, was Grünstaub war und daß nur amerikanische, russische und die Zauberer des Commonwealth dieses heimtückische Pulver kannten. Entweder war es aus einer direkten Sprühvorrichtung ausgestreut worden oder in Form einer Bombe in den betroffenen Raum geblasen worden. jedenfalls mußte die Todesdosis mehr als zehnfach übertroffen worden sein, um die Sonnenkinder noch an der Flucht zu hindern.
„Wie kommen diese Ungeschöpfe an diese von den Begütertern dieser Tage erdachten Todesstaub?“ wollte Faidaria wissen. Brandon wagte es nun, über Dawn „Erpressung!“ als mögliche Quelle vorzuschlagen.
„Lamia muß Zugang zu einem Kenner dieses gefährlichen Pulvers bekommen haben“, vermutete Patricia, die bei den Sonnenkindern auch Gwendartammaya hieß. Darauf erfolgte ein kurzes aber wildes Durcheinanderdenken aller vernetzten Sonnenkinder, bis alle auf demselben Wissensstand waren. Brandon hatte eingeworfen, daß die Sonnenkinder zum einen wohl durch ihre eigene Ausstrahlung die Auslöser für Selbstschußvorrichtungen oder Bomben sein konnten und zum zweiten wohl nur noch in Schutzanzügen mit Eigenluftversorgung herumlaufen durften, weil der Grünstaub solange er Flog nur den Sauerstoff aus der Luft saugte aber nicht die Lebensenergie der berührten Wesen auslöschte. Die sonst zum Atmen nützliche Kopfblase war bei Grünstaub nutzlos, weil dieser bei Anhaftung an der Haut durch die Poren Sauerstoff aus dem Körpergewebe zog, ja sogar den an den roten Blutkörperchen angelagerten Sauerstoff absorbierte. Dadurch war es möglich, daß ein Träger der Kopfblase je nach Abbekommener Menge Grünstaub in weniger als einer Minute bis zu einer Stunde danach erschöpft umfiel und an Sauerstoffunterversorgung starb. Brandon war kein As in Chemie, doch soviel war ihm klar, daß dieser Grünstaub eine tausendmal höhere Bindungskraft für Sauerstoff haben mußte als jedes magielose Element. So blieb nur eine Möglichkeit, ein lückenlos den Körper umschließender Schutzanzug mit eigener Sauerstoffversorgung. Somit war die nächste Frage, wo es diese Anzüge gab. Patricia hatte zwar das Gerücht gehört, daß in Frankreich ein neuartiger Schutzanzug erfunden worden war, der gegen zwei tödliche Einflüsse zugleich schützen konnte. Doch da war ohne Verbindungen in die Zaubererwelt wohl nicht ranzukommen. Blieben nur die Muggelvorräte an ABC-Schutzanzügen und Raumanzügen. Das würde zwar in Diebstahl ausarten, sich derartige Schutzkleidung zu besorgen. Doch womöglich konnten die Hilfsmittel auch kopiert werden und die Originale bleiben, wo sie waren. Brandon wurde innerhalb einer halben Minute ausgehorcht, wo es solche Schutzanzüge geben mochte und rief über das Internet öffentlich bekannte Standorte ab, wo solche Dinge gelagert wurden.
„Ja, aber wenn die wirklich unsere erhabene Ausstrahlung als Erwecker dieser Gefahr benutzen kommen unschuldige Menschen ums Leben“, warf Faidaria ein. Brandon fragte, ob man diese Ausstrahlung nicht abschirmen konnte. Die anderen lachten. Doch dann kam Patricia auf etwas, daß keinem eingefallen war: „Im Jahr der Todesser, soweit ich das von Anthelia mitbekam, haben französische und britische Zauberer alle die, die Magie in sich hatten, mit besonderen Unterkleidern ausgestattet, die die Ausstrahlung ihrer ruhenden Magie unterdrückte. Die konnten dann aber nicht von sich aus zaubern, solange sie diese Kleidung trugen.“
„Diese Art von Unterdrückung kommt nicht in Frage“, brauste ein entrüsteter Gedanke Darfaians durch das Netzwerk. „Außerdem könnte es uns auch töten, diese Kleidung zu tragen, wenn unsere Kräfte davon unterdrückt werden. Nein, wir holen uns diese Weltraumschutzanzüge oder die Rüstungen gegen tödliche Keime und unsichtbares Todesfeuer, von denen Gisirdarias Gefährte berichtet hat.“
„So sei es“, pflichtete Faidaria ihrem Mitbruder bei. „Brandon, suche mit Darfaian die Orte in eurem Land auf, wo diese Anzüge bereitliegen!“ befahl sie dann noch. Damit war Brandon klar, daß er wohl an vorderster Front kämpfen sollte.
Behutsam entließ Dawn ihren Gefährten aus der geistigen Verbundenheit. Als er wieder ganz für sich war und denken konnte, sagte sie: „Wir beide sind wahrlich füreinander geschaffen worden, Brandon. Wenn unser Fleisch und Blut mir ebenso behutsam entsteigen kann sollte ich unseren Schöpfern großen Dank sagen.“
„Wo wir dabei sind, ihr drei“, gedankensprach Patricia: „Wir haben hier nur noch bis zum Juli Zeit. Virginia will sich selbst einen Mann nehmen und endlich eigene Kinder haben. Dafür ist hier aber nur Platz, wenn wir anderswo hinziehen. Brandon stimmte zu. Er hatte es ja über Patricia mitbekommen, wie diese Astralbraut Theia Hemlock bei ihnen in den Maserati gepurzelt war. nur wegen der hatten sie sich ja die ganze Zeit in diesem Fidelius-Zauber verstecken müssen. Brandon erkannte, daß es auch an ihm sein würde, eine neue, sichere, unauffällige Unterkunft zu finden. Geld spielte keine Rolle, wo er den Bertoloni-Clan um mehr als zwanzig Millionen Dollar geschröpft hatte, ohne daß diese Mafia-Brut dahintergestiegen war, wer ihnen die schweizer Nummernkonten leergeräumt hatte. So konnten sie sich sogar eine protzige Villa mit Wachpersonal kaufen, wenn die Sonnenkinder das für nötig hielten.
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Maximilian Arcadi war wütend. Eine solche Schlamperei war in all den Jahren seiner Amtszeit noch nicht vorgekommen. Besonders schlimm war es, weil es ausgerechnet das Arsenal der endgültigen Maßnahmen betraf, ein Lager für besonders tückische Gifte und magische Zerstörungsmittel. Jemand hatte eine Probe des tückischen Grünstaubes entwendet und noch dazu die Rezeptur angerührt. Sie war zwar nicht gestohlen worden, doch ein Zauberspursuchzauber ergab, daß die vier Pergamentrollen vom Multiplicus-Zauber berührt worden waren. Also hatte jemand die streng geheime Rezeptur für Grünstaub haben wollen. Jetzt ergab auch die Anfrage von Urs Rheinquell von vor zwei Tagen einen Sinn, ob die Ministerien, die die Grünstaubrezeptur hatten, diese wirklich gut verwahrt hatten.
„Ihr findet mir heraus, wer das getan hat und bringt ihn vor mich hin, damit ich ihn oder sie persönlich verhöre“, schnarrte der Zaubereiminister Rußlands seine Sicherheitsleute an. Sich vorzustellen, daß eine unkontrollierbare Gruppe wie der Hexenclub der schwarzen Spinne oder die Vampire Nocturnias eine der gefährlichsten alchemistischen Waffen besaßen, gefiel ihm absolut nicht.
Zehn Tage vergingen, in denen jeder und jede im Zaubereiministerium überprüft wurde, wer wann wie Zugang zur Grünstaubrezeptur und der in Geheimkonferenzen beschränkten Höchstmenge von nur zweihundert Gramm gehabt hatte. Zunächst schien es, als habe keiner der in Frage kommenden ein Motiv oder gar eine Gelegenheit besessen. Dann aber, am elften Tag, wurde Arcadis interner Sicherheitstrupp auf Iljuschin Kosigin aufmerksam, der eigentlich im Archiv für muggeltaugliche Entschuldigungen arbeitete. Eine Überprüfung ergab, daß etwas im Umfeld seiner Familie nicht stimmte. Daher wurde Kosigin zum Verhör vorgeladen. Arcadi selbst führte die Befragung durch, wobei er sich nicht scheute, auch legilimentisch in die Erinnerungen Kosigins einzugreifen. Dabei erkannte er das Gesicht von Kosigins Frau Marlenka, die scheinbar ihre Haut vom Gesicht zog und Kontaktlinsen von den Augen nahm. Doch in dem Moment, wo der Minister meinte, jetzt das wirklich wichtige zu sehen zu bekommen, verwischten die Erinnerungen des Befragten. Kosigin krümmte sich auf dem Stuhl, auf dem er saß. Offenbar hatte Arcadi eine sehr schmerzhafte Erinnerung angerührt.
„Was ist mit ihrer Frau, Iljuschin? Was hat sie mit ihren Augen und ihrer Haut gemacht?“ fragte Arcadi. Er war sich sicher, die Antwort zu kennen. Doch Kosigin schrie nur noch. Gleichzeitig meinte Arcadi, aus den Augen des befragten Flammen schlagen zu sehen. Doch das war nur eine in seine Erinnerungen eingepflanzte Abwehrmaßnahme, um feindliche Legilimentoren zu bekämpfen.
„Ist Ihre Frau Marlenka eine Vampirin? Gehört sie zu Nocturnia?“ preschte Arcadi vor. Kosigin brüllte nur noch vor Schmerz. Dann passierte es. Aus seinem Körper schlugen blaue Flammen heraus und erstickten augenblicklich seine Schreie. Die beiden Leibwächter Arcadis, die neben dem zu toben anfangenden Gefangenen bereitgestanden hatten, gerieten in die Ausläufer der blauen Flammen und loderten ebenfalls blau auf. Schreien konnten sie nicht mehr. Sie zerschmolzen. Arcadi kannte diesen furchtbaren Zauber. Schmelzfeuer war einer der tückischsten Elementarflüche, eigentlich auf Gegenstände gelegt, um als heimliche Mordwaffe bei einer bestimmten Gelegenheit wirksam zu werden. Er wußte, daß die Nocturnianer ihre wichtigsten Helfer mit diesem verheerenden Fluch belegten, um sie von freiwilligem oder unfreiwlligem Verrat abzuhalten. Daß auch gewöhnliche Menschen dieser grausamen Maßnahme unterzogen wurden war ungewöhnlich. Doch Arcadi beherrschte sich. Er hatte schon vieles mit ansehen müssen und überlebt. Als ihm Julius Andrews einen goldenen Zylinder vorlegte, der Arcadis Namen trug, hatte der Minister sich schrecklicher gefühlt als jetzt. Die beiden Leibwächter vergingen ganz im blauen Feuer, ebenso Kosigin. Auch der Stuhl, auf dem er saß, zerfiel zu Asche. Dann war der schwarzmagische Feuerspuk auch schon wieder vorbei. Arcadi wußte jetzt, was er wissen wollte. Doch nützen tat es nichts. Kosigin hatte entweder im Auftrag seiner Frau, die heimlich zur Nocturnia-Vampirin geworden war, die Rezeptur und eine kleine Probe des Grünstaubs aus dem Ministerium hinausgeschafft. Das hieß, daß Nocturnia neben dem Vampirwerdungskeim nun auch eine mörderische Vernichtungswaffe in Händen hielt und diese bereits eingesetzt hatte. Er kannte die Berichte aus Basel. Leider hatten die Ministerialbeamten einen Tag zu spät davon erfahren, daß sechs Menschen in einem Raum voller grünem Staub gestorben waren. Die Presse der Muggelwelt hatte sich drauf gestürzt. Das Zaubereiministerium der Schweiz hatte es gerade noch so drehen können, daß in der Fabrik verbotene Experimente mit einer Sauerstoffbindenden Chemikalie durchgeführt worden waren und der Büroleiter wohl an vier Arbeitern einen Versuch für zwei nichteuropäische Gäste, einen Mann und eine Frau, durchführen wollte. Dabei war jedoch wohl was schiefgegangen, und die Interessenten waren ebenfalls gestorben. Doch wo war der Büroleiter abgeblieben?
Am Abend des fünfzehnten April setzte sich Arcadi hin und schrieb einen streng vertraulichen Brief an seinen französischen Kollegen Grandchapeau, daß jetzt geklärt sei, ddaß Nocturnia hinter dem Vorfall in der Schweiz stecke und es wohl darum gegangen war, die beiden goldhäutigen Menschen zu töten, von denen er bis dahin nicht wußte, woher sie kamen. Vor allem die kleinen Kristallpyramiden, die bei den beiden Toten gefunden worden waren, machten Arcadi zu schaffen. Waren das vielleicht Magieausrichter, ähnlich wie Zauberstäbe? Zu viele Fragen, keine Antworten. Sowas mochte der russische Zaubereiminister nicht. Er bat um fünf dieser neuartigen Schutzanzüge, mit denen man sich gegen gifttige Gase und/oder Atemluftentzug schützen konnte. Hoffentlich bekam er diese auch.
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Anthelia hatte Probleme, den heimlich erbeuteten Allversteher an ihrem rechten oder linken Ohr anzubringen. Denn die rasche Regeneration ihres Körpers ließ es nicht zu, daß sie ein Loch länger als zwei Sekunden im Ohrläppchen hatte. Früher, daß wußte sie aus Naaneavargias Erlebnissen, war sie nach jeder Verwandlung in eine Spinne wieder jungfräulich gewesen. Das ging jetzt nicht mehr. Aber die Verletzungen heilten trotzdem schnell wieder zu. Erst mit Nadjas Hilfe gelang es, sofort nach dem Durchbohren des Ohrläppchens den Allversteherring anzuhängen und zu schließen. Der verwuchs jetzt mit ihrem Ohr. Aber er funktionierte hoffentlich. Das würde sie nachher noch ausprobieren, wenn sie mal eben nach Afrika reiste, wo Leute wohnten, deren Sprache sie nicht konnte. Doch es bot sich eine andere Gelegenheit.
Alicia Montesalvaje apparierte in der Eingangshalle. Nadja war wieder in ihrem Zimmer. Anthelia begrüßte die südamerikanische Mitschwester. Diese sprudelte in ihrem Heimatdialekt heraus, daß der Schamane eines am Amazonas lebenden Indiostammes einen „fliegenden Blutgeist“ über sein Dorf hatte dahinfliegen sehen und fühlen können. Von der Größe und Gestalt her war es ein Angehöriger der Nachtkinder. Ein Bekannter von mir, dessen Name ich dir nicht verraten werde, hat mit dem Indio mentiloquiert. Der meint, der gierige fliegende Blutgeist will zum Dorf der toten Bäume, einer Fläche von vor zwanzig Jahren bei einem Tropensturm umgeknickten Bäumen. Da leben Indios, die die magielosen Gerätschaften der modernen Welt mit Freuden angenommen haben, wo alle anderen noch ihr traditionelles Leben führen wollen. Aber der Schamane konnte oder wollte meinem Bekannten nicht sagen, wo dieses Dorf war. Wir nehmen an, der Vampir oder die Vampirin wird dort entweder Leute beißen oder dieses tückische Zeug freisetzen, was neue Vampire macht. Wenn das passiert, kriegen die Indios da unten mehr Probleme als damals, wo sie sich von den Eroberern Pocken, Masern und Geschlechtskrankheiten eingehandelt haben.“
„Wo ist das Dorf des Schamanen?“ wollte Anthelia wissen. Alicia, die ihre Gedanken wohl verhüllte, erwähnte die ungefähre Stelle. Dann fragte Anthelia: „In welche Richtung flog der Blutsauger?“ Alicia überlegte und erwähnte etwas von zwischen Abend und Nacht. Das hieß für Anthelia, daß sie wohl vom Dorf der Indios aus im Nordwesten suchen mußte. Doch wie weit, das wußte sie nicht. Dennoch wollte sie es wagen.
Sie schnallte sich das Schwert Yanxothars auf den Rücken und nahm auch den von Beth besorgten Bronco Millennium mit.
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Eigentlich war Brandon froh, mal aus der unmittelbaren nähe der drei Mitbewohnerinnen wegzukommen. Patricia und Dawn strahlten heftige Gefühlsschwankungen aus, wobei Patricia ihre Hormonturbulenzen damit überspielte, daß sie sich ganz auf einen angemessenen Gegenschlag der Sonnenkinder gegen Nocturnia konzentrierte. Virginia Hencock wurde immer hibbeliger. Patricia hatte ihm erzählt, daß die Eigentümerin des Hauses, in dem die vier Sonnenkinder lebten, wohl eifersüchtig auf patricia und Dawn war, weil sie seit Jahren selbst auf ein Kind hinarbeitete und sich durch die vier gestört fühlte.
Jetzt war Brandon mit seinem Schwager Hesperos unterwegs, um ABC-Schutzanzüge zu organisieren. Da die nicht an jeder Straßenecke zu kaufen waren, mußten sie in streng überwachte Gebäude der Nationalgarde Floridas hinein. Immerhin hatte Brandon herausbekommen, daß hier derartige Schutzkleidung gebunkert war.
Der in der Ausbildung befindliche halbe Sonnensohn und der nach Jahrtausenden aus magischer Konservierung erwachte Sonnensohn hatten den Mantel der Verhüllung, einen wirksamen Unsichtbarkeitszauber, gewirkt. Damit waren sie für Menschenaugen unauffindbar. Brandon hatte sogar mit Dawn und Patricia herausgefunden, daß die infrarote Wärmeausstrahlung verdeckt werden konnte. Allerdings konnten sie sich nicht gegen die Spürnasen der Wachhunde abschirmen. Dafür fehlte ihnen ein wirksames Mittel. So hörte Brandon auf einmal das laute Klatschen von Hundekrallen auf Beton, als der mit seinem Begleiter auf das ausgekundschaftete Gebäude zumarschierte. Den Kurzen Weg traute sich Hesperos nicht zu gehen, wenn er nicht wußte, wo er ankommen mußte. Brandon wirbelte herum und sah die zwei Dobermänner, die mit knapp über dem Boden gehaltenen Nasen heranpreschten. Da er in Gedankenberührung mit dem Sonnensohn war brauchte er diesem nichts zuzurufen.
Die beiden Kampfhunde waren nur noch dreißig Meter entfernt. In zwei Sekunden würden sie ihre unsichtbaren Ziele erreichen. Da flirrte zwischen Brandon und den gerade zum Angriff übergehenden Tieren die Luft. Die bbeiden Hunde wurden in ihrem Vorwärtsdrang gestoppt, als seien sie gegen eine harte Mauer gesprungen. Sie jaulten vor Schmerz. Dann hörte Brandon ein leises Wispern und fühlte etwas an seinem linken Ohr vorbeistreichen. Dann sah er, wie die beiden Hunde für drei Sekunden Männchen machten und dann wie begossene Pudel davontrotteten. In dem Moment verschwand das Flimmern auch wieder.
„Wie viele gibt es von denennoch?“ hörte Brandon Hesperos‘ Frage im Kopf.
„Kann ich nicht sagen. Moment. Ich probiere mal Dawns lebenssuchlied aus!“ schicte er zurück. Er nahm die von Dawn und Hesperos für ihn angefertigte Kristallpyramide in die rechte Hand und summte leise genug, um noch jeden Ton zu treffen ein beschwörendes Lied, wobei er sich jagende Hunde vorstellte. Damit konnte er gezielt nach den Wesen suchen, an die er gerade dachte. Er hatte das Zauberlied einmal leise gemurmelt, als auch schon weitere der scharfen Wachhunde auf ihn zuliefen. Er konnte gerade noch erfassen, daß dieser Stützpunkt zehn Dobermänner und zwanzig Schäferhunde beschäftigte, als Hesperos um sich und Brandon jenes Flimmern erzeugte, das die beiden Hunde eben zurückgeworfen hatte. Das war gerade noch rechtzeitig. Denn schon sprangen die ersten Kampfhunde vor, um die beiden unsichtbaren Eindringlinge zu fassen. Da krachten sie gegen die flimmernde Barriere, die Brandon an einen utopischen Energieschirm denken ließ. Die Hunde prallten wie gegen eine Stahlwand und jaulten. Jetzt konnte Brandon erkennen, daß die Tiere sich dabei offenbar verbrennungen an Nasen und Vorderpfoten zuzogen. Sie jaulten und heulten. Ein Nachzügler tapste immer wieder vor und zurück, bis er mit der Nase die flimmernde Barriere berührte und wie von einem Stromstoß getroffen zurückzuckte. Jetzt bearbeitete Hesperos die Tiere mit jenem Zauber, den er eben schon verwendet hatte. Wie halbbetäutbt trotteten die Dobermänner davon.
„Wie heißt die Barriere?“ wollte Brandon wissen.
„Wall der Sonnenhitze“, erwähnte Hesperos stolz. „Er wirkt wie Feuer ohne Flammen und ist so hart wie geschmiedetes Eisen. Aber er kann nur wirken, wenn der zu schützende auf der Stelle bleibt. Wie viele von den vierbeinigen Wächtern hast du noch ersungen?“ wollte der Sonnensohn wissen. Da Brandon mit ihm geistige Fühlung hielt wußte er die Antwort sofort nach der Frage. „Was kann diese Wesen ängstigen oder schwächen?“ Brandon dachte an Feuergeruch und schmerzhafte Töne im Ultraschallbereich, also für Menschenohren zu hoch. Hesperos schien darüber sehr zufrieden zu sein, denn einen Moment später hörte Brandon ihn ein anderes Zauberlied singen und fühlte urplötzlich einen starken Druck auf den Ohren, der jedoch nach wenigen Sekunden schwächer wurde. „Ich habe uns in einen Mantel des unhörbaren Schrillens gehüllt, der die Wächtertiere von uns fernhält“, telepathierte Hesperos. Dann ließ er sich von Brandon zu dem Gebäude führen, in dem die Schutzkleidung lag. Dort zeigte Hesperos ihm noch einen Trick der Sonnenkinder: Die Worte der Durchdringenden Augen. Sie berührten mit den Köpfen die Wand und konnten bei leisem Summen des Liedes unvermittelt durch die drei Fuß dicke Wand blicken wie durch Glas. Brandon dachte an Superman und seinen Röntgenblick. Zumindest konnte er nun erkennen, wo die Anzüge lagen, die sie suchten. Hesperos nahm die Hand des jungen Begleiters. Um sie herum jaulten Hunde, die die Spur der Eindringlinge gewittert hatten, aber nicht näher herankommen konnten, weil etwas überlautes im schmerzhaften Ultraschallbereich ihre empfindlichen Ohren peinigte. Wild schnappend und winselnd jagten die Hunde um ihre unsichtbaren Gegner herum. Doch diese verschwanden nun ganz. Sie gingen den kurzen Weg, direkt hinein in den Raum, in dem Brandon die gelben ABC-Schutzanzüge gesehen hatte. Dort führten sie zwanzigmal einen Kopierzauber aus, den Brandon von Patricia gelernt hatte. Hesperos besorgte dann eine Teleportation, wobei er als Absender auftrat und seine Schwester Dawn als Auffangstation diente. So konnten sie in weniger als zwei Minuten über dreißig Kopien der ABC-Ausrüstung und der an einem Kompressor anschließbaren Sauerstoffflaschen in das Haus von Virginia Hencock schicken, obwohl dieses mehrere hundert Kilometer von dieser Basis entfernt lag. Dann hatten die beiden ihre Arbeit erledigt. Brandon stimmte sich auf seine Gefährtin Dawn ein und konzentrierte sich darauf, zu ihr zurückzukehren. Er konnte noch nicht über einen so großen Abstand springen. Doch mit Dawns Hilfe gelang es, sich einfach zu ihr hinziehen zu lassen. Brandon fühlte, wie er in den Transit zwischen Ausgangs- und Zielort geriet, wie er förmlich von etwas angezogen durch das für ihn viel zu enge Gummirohr gezogen wurde und dann fast über den gewölbten Bauch seiner kleinen Gefährtin fiel.
Patricia im Nebenzimmer hatte mitbekommen, das die Operation Sonnengelb geklappt hatte. Falls die Vampire um Nocturnia nun den Grünstaub als chemische Waffe einsetzten, hatten die Sonnenkinder ein probates Mittel dagegen. Das einzige Problem war, die erbeuteten Anzüge an die anderen Sonnenkinder zu übergeben, ohne ihre Heimstattgeberin zu stören oder ihren Patienten zu verraten, daß Virginia Hencock nicht für sich alleine wohnte.
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Er stand kurz davor, die Weihe des Mannes zu erhalten. Der Schamane seines Volkes hatte ihn zu einer letzten Bewährungsprobe ausgeschickt, einen Mond lang im Urwald am undurchschwimmbaren Strom zu überleben, nur von dem zu essen, was die unbarmherzige Natur ihm bot. Immerhin hatte er ein Blasrohr und hundert in Curare getränkte Pfeile, so wie ein aus Feuerstein geformtes Messer mitnehmen dürfen, um zu jagen. Jahrtausende lang hatte sein Volk so gelebt. Auch sein Vater hatte diese wichtige Prüfung bestehen müssen, um in den Kreis der Männer aufgenommen zu werden. Doch in den letzten hundert Regenzeiten hatte sich einiges verändert. Bleichhäutige Männer waren in die unendlichen Wälder gekommen, hatten Dinge aus glitzerndem Stein mitgebracht, aber auch böse Geister, die das Volk des braunen Baches mit tödlichen Krankheiten geschlagen hatten. Außerdem waren die Bleichhäute gierig. Sie jagten mehr, als sie essen mußten. Sie schlugen mit ihren Werkzeugen aus Glitzerstein die Bäume nieder, oder machten ein gefräßiges Feuer. Die Fremden hatten wohl einen Bund mit den Geistern der Vernichtung. Denn sie geboten über eine grausame Magie, die ihre Blasrohre laut krachen ließ und starke Männer mit einem einzigen Schuß töten konnten. Die in schwarze decken gehüllten erzählten zwar immer was von einem guten Gott und dessen Sohn, der den Menschen Frieden und Miteinander abverlangte. Doch wenn die Gierigen kamen, zeigte sich bald, daß die Friedensverkünder auch nur deren willige Helfer waren. Andere Völker waren vergangen oder hatten die Geschenke der Bleichhäutigen angenommen, die Messer und Beile aus im Feuer verarbeitetem Glitzerstein, Kleidung, die den ganzen Körper bedeckte, später auch die Geräte, mit denen Stimmen und Bilder aus einer anderen Welt gehört und gesehen werden konnten. Das alles wußte der noch ohne Namen wandelnde Jüngling. Er wußte auch, daß sein Volk nur deshalb noch auf seine alte Weise leben konnte, weil die Bleichhäutigen das Dorf noch nicht gefunden hatten. Doch das konnte sich jeden Tag ändern.
Der Junge pirschte durch den Urwald. An seinen Füßen trug er Schuhe aus Wasserschweinsleder. Ein Lendenschurz aus dem gleichen Material schützte seinen Unterleib. Der Oberkörper war nackt. Der Jüngling lauschte. In der Ferne hörte er das Rauschen des braunen Flusses. Vier Tagesläufe von ihm entfernt lag sein Heimatdorf. Dorthin durfte er erst wieder zurückkehren, wenn der Mond der letzten Prüfung vorüber war. Außer seiner Kleidung trug er nur das Blasrohr, den Köcher mit den hundert tödlichen Pfeilen und das unterarmlange Messer bei sich, das er selbst hatte machen und schleifen müssen. Irgendwo flötete ein Vogel mit süßer Stimme sein Lied. Darauf antwortete das weitreichende Krächzen eines dieser bunten Vögel, die lärmend durch die Bäume flatterten. Anderswo mochten Affen in den hohen Wipfeln herumklettern. Einen davon wollte er demnächst töten und über dem Feuer braten. Er stutzte, weil in der Ferne ein Rascheln zu hören war. War das eine giftige Schlange? Er schloß für einen Moment die Augen, um genau zu hören, wo das Geräusch herkam. Behutsam wandte er sich um, eine Hand am knöchernen Griff des Messers. Da sah er die glühenden Augen aus dem dichten Unterholz hervorlugen. Seine Nase nahm den scharfen Raubtiergeruch wahr. Ein Yaguar hatte ihn entdeckt. Der Jüngling wußte, daß dieses imposante Raubtier ihn mit einem Schlag töten konnte. Aber sollte er es deshalb gleich mit einem Pfeil töten? Auch die großen Katzen hatten das Recht, hier zu leben und zu jagen wie er. Er durfte Tiere nicht töten, wenn er nicht mußte oder wenn er sie nicht im stillen Ritual fragte, ob sie ihm ihr Fleisch und ihre Haut geben wollten.
Der Wanderer zwischen Kindheit und Manneswürde beobachtete den Yaguar. Der wiederum beobachtete den Jüngling aus dem Dorf am braunen Bach. Beide belauerten sich, schätzten ein, wie gefährlich der jeweils andere war. Der Urwaldjüngling dachte an die rituelle Frage, die ihm große Schlange, der Jagdlehrer beigebracht hatte. Sollte er den Yaguar fragen, ob er ihn töten durfte? Die Raubkatze würde sicher nicht fragen, ob sie ihn töten durfte. Vielleicht fragte der Yaguar ihn auf seine Weise, ob er ihn töten und sein Fleisch essen durfte. Doch er wollte nicht sterben, nicht bevor er nicht mit Säuselnder Wind, Große Schlanges schöner Tochter, im Haus von Mann und Frau die heilige Vereinigung erlebt hatte. Er sprach leise die Worte, die dem Raubtier sagten, daß es ihn nicht töten durfte. Er hörte es anderswo rascheln und wandte den Kopf. Dabei verlor er den Blickkontakt zu dem mächtigen Räuber des Urwaldes. Das war sein Fehler. Ein lautes Knacken, ein Keuchen, und die große Raubkatze flog mit aufgerissenem Maul auf ihn zu. Der noch namenlose Jüngling erspürte den Angriff gerade noch rechtzeitig, um sich aus der Bahn zu werfen. Eine der Pranken zischte knapp an ihm vorbei und zog mit allen fünf Vorderkrallen eine Furche in die Warme Urwalderde. Warum griff der große schwarze Jäger ihn an? Er hatte ihm doch gesagt, daß er noch nicht sterben wollte! Die Raubkatze landete neben dem Jüngling, der nun, wo er sich verteidigen mußte, sein Messer freizog. Einer der beiden würde in wenigen Augenblicken tot sein. Die Geister würden entscheiden, wer es sein sollte. Fauchend kauerte der Yaguar sich hin und schlug nach dem Jungen. Dieser schaffte es gerade noch, der vollen Wucht zu entgehen. Doch eine scharfe Kralle des mächtigen Jägers schnitt durch seinen Kampfarm. Blut quoll heraus. Der Yaguar ging wieder zum Angriff über. Nur die immer wieder geübten Ausweichbewegungen verschafften dem Jungen weitere Zeit. Doch würde die reichen? Er mußte das Tier töten, um sein eigenes Leben zu bewahren. Er schaffte es, den brennenden Schmerz im Arm zu verdrängen und riß das Messer hoch. Gerade setzte der Yaguar an, ihm seine messerscharfen Zähne in den Oberkörper zu schlagen. Da raschelte es erneut, und die Raubkatze schrak zurück. Der Jüngling bebte vor Erregung. Sein Messer zielte auf den noch immer geöffneten Rachen des Raubtieres. Dieses warf sich jedoch herum und flüchtete in gewaltigen Sprüngen zurück in das Unterholz, als wenn hundert erfahrene Jäger mit gehobenen Blasrohren ihm nachjagten. Der Jüngling, von Erregung, Schmerz und auch Angst benebelt, blickte nach oben, wo das Rascheln hergekommen war und sah gerade noch die acht haarigen Beine einer riesigen Spinne im Blattwerk eines Baumes verschwinden. Eine so große Spinne hatte er noch nie gesehen. Er fühlte Angst und auch etwas wie Zweifel an seinen Augen. Sicher hatte er in den Visionen des heiligen Krautes schon Tiere und Wesen der Geisterwelt gesehen. Aber eine gewaltige Spinne war nie dabei gewesen. Außerdem hatte er seit der Weihe zum Prüfling kein Stück des heiligen Krautes gekaut. Nur der Schamane bestimmte, wann wer davon essen und die Bilder aus der anderen Welt sehen durfte. Der noch unbenannte Jüngling blickte auf die Stelle, an der gerade noch der Yaguar gekauert hatte. Was hatte diesen mächtigen Jäger in die Flucht geschlagen. Hatten die ihn schützenden Geister dem Tier gesagt, daß der Junge noch nicht sterben durfte? Jedenfalls mußte eine ihn schützende Kraft das Tier erreicht haben. Oder der Angriff war nur eine Prüfung der Geister, ob er davonlief oder in Todesangst erstarrte. Hatte er die Prüfung bestanden, weil er nicht davongerannt war? Sein Arm blutete weiter. Es brannte wie das Brennwasser der Feuerameisen, die er und sein Bruder während der Prüfung, wie viel Schmerz sie ohne zu weinen ertragen konnten über ihre Arme hatten laufen lassen.
Der Jüngling lauschte, ob die große Katze zurückkommen würde. Doch er hörte nur das laute Kreischen von Affen, das wütende Krächzen von Papageien und das ferne Plätschern des braunen Flusses. Einen Tagesmarsch noch, und er kam an den undurchschwimmbaren Strom, in dem die kleinen Freßfische wohnten, die bei großem Hunger selbst die größten Tiere innerhalb einer kurzen Weile bis auf die Knochen aufessen konnten. Der Jüngling mußte seinen Arm behandeln. Das Blut würde nicht nur die davon trinkenden Flugtiere anziehen, sondern auch andere Jäger herbeirufen, die ihn als leicht zu töten finden mochten.
Er hörte ein leises Geräusch. Es klang so, als drücke jemand mit einem Schlag alle Luft aus einem leeren Blasrohr. Das Spiel hatte er gerne gespielt, um zu sehen, wie groß die Kraft seines Atems werden konnte, den er ja brauchte, um die tödlichen Pfeile weit genug schießen zu können. Er warf sich herum, um zu sehen, wer da das laute Geräusch gemacht hatte. Vor ihm stand eine fremde Frau in einem den Körper umwehenden Ding, das wie eine besonders gemachte Decke aus Stoff bestand, der die Farbe eines nur wenige Tage alten Kindes hatte. Ihre richtige Haut war auch hell, wirkte aber wie das Sonnenlicht, daß durch die Löcher im grünen Blätterdach über dem Fluß hindurchfiel. Ihr Haar war dunkel, aber auch vom Lichtglanz der Sonne gesegnet. Es war hinter ihre Ohren zurückgestrichen. Am rechten Ohr hing ein winziger Ring aus dem glitzernden Stoff, hinter dem die bleichhäutigen Boten der Vernichtungsgeister herjagten. Ihre Augen waren weder grün wie die Blätter, noch so blau wie die Farbe, mit der der Häuptling die Zeichen des Krieges ins Gesicht malte. Der Körper, wie der Jüngling ihn sehen konnte, war sehr schlank, aber kräftig. Unter der wallenden Umhüllung konnte er die Rundungen einer fruchtbaren Frau erkennen und fühlte jene merkwürdige Regung, die ihn sonst beim Anblick von Säuselnder Wind befiel. In der rechten Hand hielt die Fremde einen Ast, der so glitzerte wie das Licht des Mondes, daß durch die Löcher im Blätterdach auf den Boden fiel. Diese Frau konnte keine Bewohnerin des großen Waldes sein. War sie vielleicht ein Geist?
Sie sprach zu ihm. Er konnte die Laute hören. Doch erst verstand er sie nicht. Als er in seiner Sprache antwortete, hellte sich das Gesicht der Fremden merklich auf. Sie lächelte ihn an. Dann sagte sie in seiner Sprache: „Schön, ich kann wirklich verstehen, was du sagst. Wie heißt du, Jüngling?“
„Ich muß meinen Namen noch verdienen, Sonnenfrau. Bist du eine Abgesandte der guten Geister, um mir zu helfen. Doch ich darf keine Hilfe annehmen, so wollen es die alten Bräuche.“
„Du willst ein Mann werden, richtig? Ich will dir nicht bei allem helfen. Ich kam nur und sah, daß die große Katze dich töten wollte. Wolltest du sterben?“
„Nein, ich habe dem großen Jäger des Waldes gesagt, daß er mein Fleisch noch nicht essen darf, weil ich noch zu wenig erlebt habe. Aber ein böser Geist hat seine Ohren zugehalten und ihn meine Antwort nicht hören lassen.“
„Das war eine Mutter. Du bist in der Nähe ihrer Kinder. Ein Jäger aus deinem Volk hat den Vater ihrer Kinder getötet. Sie hatte Angst, du wolltest ihre Kinder töten. Sie bringt sie gerade anderswo hin, weil sie weiß, daß jemand hier ist, gegen den sie nicht gewinnen kann.“
„Du?“ fragte der Urwaldjüngling. Die Fremde sagte „Ja, aber vor allem meine innere Beschützerin. Du hast sie gesehen, hat sie mir gesagt. Das wollte sie eigentlich nicht. Aber sie hat mich geschickt, um dir zumindest den Arm zu heilen, damit du weiter jagen kannst und dich bei Kämpfen mit anderen Tieren besser wehren kannst.“
„Ich wußte nicht, daß der Yaguar eine Mutter war. Sonst wäre ich gleich fortgegangen, um ihr keine Angst zu machen“, sagte der Jüngling.
„Dann hätte sie dich von hinten niedergeworfen und getötet, um sicher zu sein, daß du ihren Kindern nichts tun kannst. Ob sie dein Fleisch gegessen hätte weiß ich nicht. Du und deine Leute gehört nicht zu den Tieren, die sie sonst essen kann.“
„Du und die große Spinne gehört zusammen? Dann habt ihr mir geholfen. Aber ich darf kein Geschenk annehmen, das mich am Leben hält. Sonst darf ich nicht mehr zurück und bei den Männern wohnen und mit einer Frau meines Volkes neue Kinder machen.“
„Ich darf dich also nicht heilen, damit du weiterlebst. Möchtest du also doch sterben?“ fragte die Unbekannte. Ihre Stimme klang erheitert aber auch anregend. Der Jüngling fühlte den Widerstreit in sich. Er durfte sich nicht helfen lassen. Er durfte keine Geschenke annehmen, auch wenn es sein eigenes Leben war. Er mußte sich alles erkämpfen oder durch sein Wissen beschaffen.
„Du mußt dir alles verdienen, alles mit deinem Können und deinem Wissen erlangen. Ich verstehe. Dann biete ich dir was an, damit du dir meine Hilfe verdienen kannst. Sage mir, wo die Menschen von den toten Bäumen wohnen und vereinige dich mit mir, daß du die Wonnen des Mannseins erkennst und damit lernst, deiner Frau ein kundiger Ehemann zu sein, der keine Angst mehr vor dem Körper einer Frau haben muß!“
„Das Volk von den toten Bäumen, es ist von den Verlockungen der Bleichhäutigen Fremden verleitet worden, denen zu zeigen, wo das sonnenglitzernde Gestein in der Erde ruht. Unsere Jäger und Krieger geraten mit ihnen immer wieder in Kämpfe. Die haben die donnernden Rohre, mit denen sie winzige Todessteine verschießen können, weiter als wir mit unseren Blasrohren schießen können. Zu denen willst du hin?“
„Ich habe gehört, daß der Hauch eines bösen Geistes sie befallen hat, der sie zu Dämonen macht, die bei Nacht umherwandeln und das Blut der Menschen trinken, ohne sie zu fragen, ob sie das dürfen“, sagte die Fremde. Wenn du mir die Unschuld deiner Jungenzeit gibst und mir den Weg zu diesem von diesem Fluch berührten Volk sagst, darfst du dein Leben als von mir verdient weiterführen und weißt bei deiner Rückkehr zu deinem Volk, wie du deine eigene Frau glücklich machen kannst.“ Der Junge sah die Fremde an. Sie gehörte eindeutig nicht zu den Bleichhäutigen. Außerdem, wenn sie ein Totemtier aus der Geisterwelt besaß, das sie beschützte, dann war sie eine Abgesandte aus der Geisterwelt. Wenn ihre Haut wie die Sonne glänzte, dann war sie womöglich eine Tochter der Sonne, dem mächtigsten Geist des Himmels, der leben geben und auch wieder nehmen konnte. Sie lächelte ihn an. Er fühlte das Verlangen, mit ihr die heilige Vereinigung zu vollziehen. Doch dann war er nicht mehr unschuldig. Nur wenn er die Frau, mit der er Kinder haben wollte, in der heiligen Vereinigung berührte und sie von ihm befruchtet wurde, war es erlaubt. Es ist alles erlaubt, was beide gemeinsam wollen und keinem von beiden Schaden zufügt“, sagte die Fremde. Hatte sie seine ungesprochenen Worte gehört? Dann war sie mächtiger als der Schamane. Sie konnte ihn also zwingen, wenn sie wollte. Doch sie bot ihm ihren Leib zum Ende seiner Jungenzeit an und wollte nur wissen, wo das Volk der toten Bäume wohnte. Wenn sie eine Tochter der Sonne war, dann durfte er sie nicht beleidigen, indem er sie zurückwies. Außerdem, wenn sie ihm wirklich zeigen konnte, wie er Säuselnder Wind zur glücklichen Frau und Mutter seiner Kinder machen konnte, was die erfahrenen Jäger und der Schamane ihm nicht zeigen konnten oder durften, dann hatte er mehr zu lernen als alle Jungen, die wie er den Mond der letzten Prüfung überstehen sollten. Er sagte zu.
Die Dämmerung des Tages verging in Dunkelheit, als die beiden unterschiedlichen Menschenwesen endlich müde genug waren. Um sicher vor den Jägern der Nacht zu sein zeigte ihm die Fremde einen Baumwipfel. Sie trat hinter den Baum und stieß ein par beschwörende Laute wie Rufe aus. Da sah der Jüngling, wie die riesige Spinne hinter dem Baum hervorlief, den Baum hinaufkletterte und im Wipfel ihre Fäden spann, die zu einer festen Hängematte wurden. Danach ließ sie ein fingerdickes Seil hinunter und winkte dem Jungen mit ihren vordersten Beinen. Er ergriff das nicht klebende Seil und erkletterte den Baum. Er war froh, seinen rechtenArm wieder gebrauchen zu können. Der magische Ast der Sonnenfrau hatte die Wunde ohne Narbe verschlossen. Das hatte ihn erst gestört, weil er so nicht das Zeichen des überlebenden Jägers trug. Doch offenbar wollten die Geister, daß er erst die Manneswürde errang, bevor er sich die Zeichen gefährlicher Kämpfe verdiente. Die Spinne half ihm in den Baum hinauf. In der Ferne hörte er das klagende Jammern eines Yaguars. War das die geflohene Mutter, die aus Angst vor der Spinne ihre Kinder fortbringen mußte? Als der Jüngling ohne Namen in der Baumkrone war durfte er sich in die Hängematte legen. Die Spinne konnte zu ihm in seinen Gedanken sprechen. Er nahm diese Form der Magie als alltäglich und unbestreitbar hin. Als er lag, flog die schwarze Spinne wie mit unsichtbaren Flügeln davon. Sie war ja auch ein Wesen der Geisterwelt. Bei dem Volk des braunen Flusses galt die Spinne als Botin des Glücks und der Jagdkunst. Denn mit ihren Netzen konnte sie schnell fliegende Kerbtiere erwischen und lehrte die Jäger und Fischer Geduld, um auf die ersehnte Beute zu warten. Insofern fühlte er weder Angst noch Abscheu vor dem überlebensgroßen Tier. Sie war das Totemtier der Sonnenfrau, die ihm gezeigt hatte, was der Leib des mannes fühlen und begehren konnte und wie er seine künftige Frau berühren mußte, um ihr großes Glück zu geben. jetzt war sie verschwunden, hatte ihm ihr Totemtier zur Bereitung eines Schlafplatzes geschickt. Er hatte gelernt, daß er wohl auf Bäumen besser schlafen konnte, wenn er es schaffte, an den dort wohnenden Schlangen vorbeizuklettern. In der Ferne hörte er aus dem Schlaf schreckende Affen kreischen und flüchten. Dann überkam ihn die ganze Wucht der Erschöpfung.
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Für ein Schiff war es ungünstig, wenn es von zwei Kapitänen zugleich kommandiert wurde. Für einen Langstreckenflug ohne Zwischenlandung und Ablösung war es gesetzlich vorgeschrieben, daß drei Piloten im Cockpit waren, die sich auf der langen Strecke abwechselten, so daß immer zwei das Flugzeug führten und einer sich ausruhen konnte. Für die Lufthansamaschine auf dem Weg von Frankfurt nach Singapur waren es der Flugkapitän Ralf Bender, sein ranggleicher Kollege Hanno Kannegießer und der Copilot Simon Breitschuh. Als die Boeing 747 am Abend des 30. April vom Rhein-Main-Flughafen Frankfurt abhob, hatte Flugkapitän Bender das Kommando. Breitschuh, der kurz vor seiner Beförderung zum Kapitän stand, überwachte die Instrumente auf seiner Seite. Ihm fehlten noch fünf eigenständig durchgeführte Starts und Landungen.
„Nur nicht über den Brocken fliegen, sonst knallen wir noch in die ganzen Hexen rein, die da heute hinfliegen“, hatte Kannegießer beim Start gescherzt. Doch der Brocken oder auch Blocksberg lag sowieso nicht auf der Flugroute.
„Erreichen Reiseflughöhe, Captain“, sagte Breitschuh. Bender nickte und prüfte Kurs und Geschwindigkeit. Er fragte über Funk noch einmal an, ob auf der Höhe, die von den Piloten Flugfläche genannt wurde, weiterer Flugbetrieb herrschte. Doch für die nächsten fünfzig Minuten hatten sie freie Bahn. So schaltete Bender den Autopiloten ein.
„Wie viele Langstreckenflüge hast du schon mitgemacht?“ fragte Bender seinen ranggleichen Kollegen, der in einem bequemen Sessel saß.
„Ich war zweimal auf der Strecke Frankfurt Rio und dann noch auf drei Flügen von Frankfurt nach Los Angeles mit Zwischenhalt in New York. Asien kenne ich noch nicht“, sagte Kannegießer.
„Ist von der Sicherung her etwas bedenklich. Und Hongkong habe ich als Co mal anfliegen müssen. Das war eine heikle Sache, weil deren Landebahn fast ins Meer reinführt. Wer da zu spät bremst geht mit der Maschine baden“, sagte Bender, während Breitschuh den Funkverkehr überwachte. Zwar würde ihnen hier in dreizehntausend Metern höhe kein Sportflugzeug oder gar ein Ballonfahrer entgegenkommen. Doch das Wetter konnte zu ungeplanten Kurskorrekturen zwingen. Gerade über dem Ural war immer mit Problemen zu rechnen, weil da die Luftmassen von ost und West einander durcheinanderbrachten. Zumindest mußten sie nicht über den Himalaya, was Breitschuh etwas bedauerte.
„Okay, Hanno, dann übernimmst du in zwei Stunden. Ich fliege dann die letzte Etappe!“ sagte Kapitän Bender.
„Simon übernimmt die Landung?“ wollte Kannegießer wissen. Der Copilot straffte sich. Bender schüttelte den Kopf. „Auf der Rückreise in Frankfurt. Dann kann er der Firma auch den Bericht über die absolvierte Landung gleich frei Haus liefern.“ Breitschuh entspannte sich wieder. Auch wenn Singapur nicht Hongkong war mußte er nicht ausgerechnet am Vortag seines siebenundzwanzigsten Geburtstages auf einem asiatischen Flughafen seine fünftletzte Pflichtlandung ausführen.
Agnes Hingsen, die Kabinenchefin, brachte den drei Piloten ihr Abendessen und eine Kanne frischen Kaffee und die dazugehörigen Becher. Die Vorschrift sagte, daß jeder für den Flug zuständige Offizier etwas anderes essen und trinken mußte als sein Kollege. So konnte im Falle einer Lebensmittelvergiftung nur einer von zwei Piloten fluguntauglich werden. Bei drei zum Flug eingeteilten Offizieren war es dann eben nötig, drei verschiedene Gerichte zu servieren. So bekamen die beiden Piloten der ersten Etappe das Essen, was die Passagiere der Ersten Klasse in der kleinen Kabine hinter dem Cockpit erhielten und Kannegießer, der in seinem Ruhesessel saß, bekam das, was die knapp dreihundert Fluggäste im großen Passagierraum einen Stock tiefer bekamen. „Toll, ich kriege Tiefkühlpizza und Hamburgerbrötchen, während die Kollegen Schweinelendchen und Seelachs kriegen“, tat Kannegießer beleidigt. Die resolute Chefin aller Flugbegleiter wetterte diese Beschwerde jedoch mit einem hundertfach erprobten Lächeln ab.
„Sie sind nicht der einzige, der sich beschwert hat. Es gibt wieder ein paar an Bord, die sich über das Essen beschweren. Da müssen Sie durch, Captain Kannegießer.
„Muß wohl“, knurrte der Reservekapitän und nahm die plastikbox mit der warmen Mahlzeit entgegen.
Eine Stunde nach dem Essen übernahm kannegießer von Breitschuh die Führung der Maschine. sie flogen bereits über Rußland hinweg.
„Wann ist es bei deiner Frau soweit?“ fragte Kannegießer den jüngeren Kollegen, mit dem er auch privat gut zurecht kam.
„Jetzt hat ihre Hebamme was vom zehnten Mai gesagt. Letzte Woche war noch was vom fünfzehnten Mai im Umlauf. Aber es ist eindeutig ein Junge unterwegs, zeigt das Ultraschallbild. Da ändert sich nichts dran.““
„Dann habt ihr zwei Jungs. Das werden dann die letzten sein“, erwiderte Kannegießer verhalten lächelnd.
„Stimmt, haben die mir auch gesagt, daß die Strahlung in großen Höhen das macht, daß Langstreckenpiloten nur noch Mädchen hinkriegen sollen. Na ja, vielleicht ist Susi mit den beiden Jungs auch glücklich genug.“
„Ja, schon heftig, wie viel Radioaktivität wir uns bei unserem Beruf einfangen. Da kommt mancher Atomkraftwerksarbeiter besser weg als wir“, sagte Kannegießer, der selbst Vater von vier Mädchen war, weil er es nicht hatte wahrhaben wollen, daß er seinem Vater keinen strammen Enkelsohn bescheren konnte.
„Eigentlich müßten wir in Bleiwesten rumfliegen. Aber dann wären die Maschinen zu schwer“, grinste Breitschuh und blickte noch einmal auf die Instrumente.
„Stimmt“, gab sein Kollege Antwort. Die bbeiden wußten nicht, daß die Strahlung nicht das Problem war, mit dem sie es zu tun hatten.
Agnes Hingsen stand in der Kombüse der Boeing und überwachte die Arbeit ihrer Kollegen und Kolleginnen. Die ersten Fluggäste hatten sich bereits in ihren sesseln zurückgelehnt und nickten unter dem monotonen Summen und Rauschen von Triebwerken und Klimaanlage ein. Die hatten es gut, dachte die braunhaarige Kabinenchefin. Aber sie würde sich wohl vor der geplanten Landung auch noch mal ausruhen, um den Streß des Anflugs und des Aussteigens verkraften zu können.
„Katja, die Leute in der Reihe 30 haben noch keine Kissen. Kümmer dich bitte drum!“ kommandierte Agnes Hingsen einer gerade in der Ausbildung befindlichen Mitarbeiterin, die heute ihren ersten wirklichen Langstreckenflug erlebte. Die junge blonde Flugbegleiteranwärterin bestätigte pflichtgemäß und besorgte die kleinen Kissen für die, die den großteil der Reise verschlafen wollten. Keiner von ihnen bemerkte, daß bereits seit einer Stunde, unter dem gleichbleibenden Geräusch der Maschine unhörbar, unsichtbar und geruchlos etwas aus den Belüftungsdüsen entwich, was nicht an Bord eines Passagierflugzeuges gehörte. Kein Besatzungsmitglied und erst recht kein Passagier merkte, daß mit jedem Atemzug ein unheilvoller Wirkstoff in Lungen und blutbahn geriet. Mit jedem Atemzug nahm die Konzentration des tückischen Stoffes im Körper zu. Die verhängnisvolle Dosis war bereits erreicht, als die Maschine östlich von Moskau dahinflog. Für die Leute an Bord gab es nun kein Entrinnen mehr.
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Anthelia hatte es genossen, den Knaben zum Mann zu machen. Zudem hatte sie auf diese Weise nicht nur mal eeben den Allversteher getestet, sondern auch erfahren, wo das Volk der toten Bäume wohnte und mit wem es so in Verbindung stand. Sie verabscheute die Goldgier. In ihrem Namen waren bereits ganze Völker ausgerottet worden. Jetzt würde auch die Natur diesem ungezügelten Gewinnstreben zu weichen haben. Wenn die vom Volk der toten Bäume wirklich mit Garimpeiros, wie die brasilianischen Goldsucher genannt wurden, gute Geschäfte machten, was würde aus diesen Gierschlündern, wenn die von den Indiofrauen, an denen sie sich schadlos hielten, noch den Kuß der ewigen Nachtkinder bekamen? Sie kehrte mit hilfe des Flugzaubers zu dem Baum zurück, in dessen Wipfel sie den Besen und das Schwert mit Haltefäden festgemacht hatte. Sie verwandelte sich zurück in ihre menschliche Erscheinungsform und wartete, bis der von ihr beglückte Indiojunge eingeschlafen war. Mit einer gewissen Routine wusch sie ihren Körper von den Spuren seiner ersten bewußt abgegebenen Saat frei. Selbst wenn sie im Moment wohl nicht empfangen konnte wollte sie es nicht darauf anlegen, daß sie das Kind eines noch namenlosen Jungens anfüttern mußte, bevor sie es womöglich abtreiben mußte. Sie löste den Besen und das Schwert aus den reißfesten Halteschlaufen und schaffte es, darauf aufzusitzen. Sie stieg im Rosselini-Raketenaufstiegzwischen den ausladenden Ästen des Urwaldbaumes nach oben und durchbrach damit das seit Jahrmillionen ständig erhaltene Blätterdach. Sie orientierte sich an den Gestirnen, die hier oben ungefiltert und erhaben klar vom Himmel glänzten. Dann flog sie los. Der Millenniumbesen war schon ein hervorragendes Fluggerät, sowohl für langsamen Flug wie für Hochgeschwindigkeitsjagden geeignet. Sie brauste einige Minuten lang mit mehr als zweihundert Stundenkilometern dahin, bis sie die ersten nicht tierhaften Gedankensplitter wahrnahm. Sie bremste ab und durchquerte behutsam die Wipfeletage des Dschungels. Eine Schlange schnellte aus einem Baumwipfel auf sie zu, verfehlte sie jedoch und stürzte ab. Pech für das Tier, hakte Anthelia diesen Vorfall in Gedanken ab.
Das Vorhaben, lautlos zu landen mißlang, weil aufgescheuchte Affenhorden und Vogelschwärme einen Heidenlärm veranstalteten und kreischend, zeternd und schrillend davonstoben. So ließ Anthelia es, lautlos zu landen und ging in einem weiteren Baumwipfel nieder. Dort wurde sie wieder zur schwarzen Spinne und band den Besen fest. Dabei hörte sie, wie die Affen und Vögel in den Nachbarwipfeln flüchteten. Die Tiere spürten die ihnen fremde Kreatur und die Gefahr, die davon ausging. Doch das war Anthelia jetzt egal. Wenn wer aufgescheucht worden war, dann sollte der oder die sich ruhig umsehen. Tatsächlich empfing sie in ihrer Spinnengestalt die Gedanken von fünf Männern, die vom unnatürlichen Lärm alarmiert worden waren. Es waren fünf von zehn knapp einen Kilometer entfernt lagernden Goldsuchern. Anthelia band sich selbst fest an den Baumwipfel. Wenn die Gierschlünde da unten nach jemandem suchten, dann sollten die eben suchen. Keiner von denen würde auf die Idee kommen, die Bäume hochzuklettern.
„Sicher ’n Yaguar“, grummelte einer der Männer im brasilianischen Portugiesisch. „Seid drauf gefaßt, das Biest abzuknallen!“ fügte er noch hinzu.
„Und wenn’s Makashas Leute sind, die uns abmurksen wollen, um uns alles wegzunehmen?“ Fragte ein zweiter Mann.
„Wird der nicht wagen, weil Don Vigo weiß, daß wir in dieser Gegend sind. Abgesehen davon sind die Wilden Meister im Rumschleichen. Die machen keine Affen wild.“
Anthelia bedachte die suchenden Männer mit Verachtung. Die lobten die Schleichkunst der Indios, nannten sie sogar Wilde, und trampelten und redeten dabei so laut durch den Urwald, daß sie auf mehrere Meilen gehört werden konnten. Makasha war der Häuptling des Stammes, von dem ihr Geliebter vom Nachmittag erzählt hatte.
„Heh, da is‘ was“, zischte einer der Männer. anthelia konnte es nur verstehen, weil er es in dem Moment ja auch konzentriert dachte. Dadurch wußte sie auch, daß der Goldsucher nicht sie meinte, sondern zwei Schatten. Sie konzentrierte sich. Ja, sie fühlte es, diese eindeutige Ausstrahlung, die ihr einerseits gefiel, sie andererseits aber auch warnte.
„Ah, Olivaro und seine Goldgräber“, hörte sie eine laute Männerstimme. Die Gedanken klangen dumpf wie hinter dicker Watte. Das war die natürliche Gedankendämpfung von Vampiren. Jetzt war es amtlich, dachte Anthelia.
„Wantannapeh, doch auf dem Kriegspfad?“ fragte der Mann, der Olivaro hieß. Der Vampir lachte und erwiderte, daß die Goldgräber noch was zu bezahlen hätten, dafür daß sie den letzten Tag alle Mädchen zwischen fünfzehn und zwanzig in ihr Lager verschleppt hatten.
„Deine Leute und Makasha haben genug dafür gekriegt, daß meine Leute sich die angeschwollenen Hörner abstoßen konnten, Wantannapeh. Don Vigo zahlt doch immer reichlich, jetzt wo wir bei euch auch die netten grünen Steinchen gefunden haben.“
„Ich spreche nicht von den knisternden grünen Blättern, auf denen draufsteht, daß sie was wert sind, Olivaro. Du hast meine Tochter genommen, ihr sogar weh getan, weil sie nicht so wollte wie du. Die Abmachung war klar, daß ihr nur die nicht von unseren jungen Männern geforderten Mädchen haben dürft, wenn sie achtzehn Regenzeiten alt sind. Ihr habt aber meine Tochter und die Nichte von Makasha genommen, bevor ihre versprochenen Männer sie nehmen durften. Dafür bezahlt ihr noch was.“
„Deine Blasrohrband aus der Steinzeit kann die Pusterohre wieder runternehmen. Falle ich um, gibt’s keine Sekunde später zwei Kilo Blei in eure Schädel. Ja, und du mit der Flinte denk nicht mal dran, auf mich zu feuern. Bringt ihr einen von uns um, plätten wir hundert von euch. Wir sind fünf. Das überlebt euer Dorf nicht. Wir pusten aber nur eure Männer und die alten Weiber und Hosenscheißer um. Die Mädels kriegt dann Don Vigo für seine Sammlung exotischer Bienen. Das weißt du zu gut. also zieht euch zurück!“ Dann gab Olivaro noch einen rüden Spruch von sich, daß die um ihre jungfräulichen Ehefrauen geprellten Jungen ja warten könnten, bis die von den Goldsuchern beschlafenen Mädchen deren Kinder groß genug hatten. Auch wenn der Vampir die wüsten Bemerkungen des Goldsuchers nicht alle verstand mochte ihm klar sein, daß der Glücksritter nicht bereit war, für seine Gelüste mehr zu bezahlen. Dabei wußte der Garimpeiro nicht, daß die sich lautlos vor ihm versammelnden und seine Leute umschleichenden Indianer kein Geld mehr haben wollten. Anthelia fing die gedämpften Gedanken von zwanzig jungen Frauen und gerade erst erblühenden Mädchen auf. Eines davon sagte: „Du hast mich blutig gemacht, Olivaro. Dafür will ich jetzt dein Blut und die anderen auch.“ Der Glücksritter stieß einen Schwarm verwirrter Gedanken aus. Daß seine unfreiwillige Geliebte sich mit den Männern gegen ihn stellte wollte ihm offenbar nicht in den Kopf.
„Ach, du kleine Dschungelnutte willst mich umbringen?“ lachte Olivaro.
„Entweder das, oder dich in ihr Land herüberholen, das Land der Nacht. Ihr großer Geist hat uns gestärkt. Wir sind jetzt ihre Kinder.“
„Habt ihr eine Dschungelgöttin angebetet, und die hat euch gesagt, daß ihr uns ihr opfern sollt“, lachte Olivaro. Seine Männer waren auch amüsiert.
„Nein, wir dürfen dich und deine Leute leersaugen, bis auf dich, Olivaro und den Mann, der den Kasten mit den fernen Stimmen benutzen kann. Ihr sollt ihn herrufen, diesen Don Vigo, der euch in unser Land geschickt hat.“
„Sagt eurem Schamanen, das Zeug, was der euch zu schlucken oder zu kauen gibt ist nicht gut für eure Köpfe“, lachte Olivaro. Da griff die, die ihn angesprochen hatte ihn an. Anthelia drückte sich noch mehr gegen den Baum. Wenn die Vampire ihre Präsenz so spüren konnten wie sie die der Blutsauger, dann bekam sie womöglich gleich Besuch. Doch zunächst bekam sie nur mit, wie Olivaro von zwei Frauen gepackt wurde. Seine Männer wurden von den herangeschlichenen Kriegern überfallen. Sie feuerten. Doch Geschosse, die nicht aus Silber oder Gold bestanden und zudem auch nicht mit Vampirabwehrzaubern belegt waren, wurden von den zähen Körpern der Blutsauger wie Mückenstiche hingenommen. Schmerzen fühlten sie nur, wenn sie mit Feuer, alter Eiche oder Sonnenlicht in Berührung kamen oder von Sonnenzaubern getroffen wurden. Die einzigen nichtmagischen Mittel, einen Vampir im direkten Kampf zu töten waren brennende Gegenstände oder scharfe Klingen, mit denen sie enthauptet wurden. Sowas hatten die Goldsucher dabei. Drei Mann zogen ihre Macheten und teilten tödliche Hiebe aus. Tatsächlich verlor einer der Vampire dabei seinen Kopf. Doch die gesamte Dorfbevölkerung war unterwegs. Die fünf Mann wurden von zwanzig Vampiren überwältigt und davongeschleppt. Die hundert weiteren Dorfbewohner, darunter zwanzig junge Frauen, zogen leise weiter, um das Lager der Garimpeiros zu überrennen. Die Goldgräber und Diamantensucher waren Anthelia gleichgültig. Nur wenn es den Vampiren gelang, einen ranghohen Bewohner des Landes, ob Kaufmann oder Schwerverbrecher, in ihr kleines Dorf zu locken und ihn zum Vampir zu machen, konnte ganz Brasilien zu einer Provinz Nocturnias werden. Das mußte Anthelia unbedingt verhindern. Die eine Vampirin, die Olivaro Vergewaltigung vorgeworfen hatte, kannte Lamia. Denn sie hatte von einer „Sie“ und dem Land der Nachtkinder gesprochen. Doch die war gerade dabei, mit ihrer Schwester den gefangenen Goldgräber soweit leerzusaugen, daß dieser nur noch überlebte, wenn er dafür das Blut eines Vampirs trank, um sich zu verwandeln. Anthelia beschloß, das Dorf der Vampire mit Brandwaffen zu vernichten. Das Schwert alleine reichte nicht aus, es sei denn, sie beschwor an diesem Ort einen Vulkanausbruch herauf. Damit würde sie zwar durchschlagenden Erfolg erzielen, aber auch mehrere tausend Quadratmeilen unschuldigen Urwaldes in Staub und Asche verwandeln. Nein, das ging auch anders. Sie brauchte ja nur die Häuser im Dorf anzuzünden. Da war im Moment niemand. Sie wollte gerade zur Hexe werden, als sie von unten die gierigen Gedanken zu ihr hinaufkletternder Vampire vernahm. Die konnten sich noch nicht in Fledermäuse verwandeln. Das mußte ihnen errst beigebracht werden, erkannte Anthelia. Aber was wollte sie denn überhaupt? Sie wollte mindestens einen nicht vom Schmelzfeuer oder einer eingepflanzten Sprengvorrichtung unantastbaren Vampir fangen. Wenn da schon vier von denen freiwillig zu ihr hinkamen … Sie löste die Haltefäden und begann ein kleines aber reißfestes Netz zu spinnen, das sie um sich herum auslegte. Mit den Instinkten der Spinne legte sie genug klebrige Fäden aus, um mindestens einen Vampir damit einzufangen. Von dem Indiojungen aus dem Volk vom braunen Bach wußte sie, wo dessen Dorf lag. Dort wollte sie den Gefangenen hinbringen. Die frage war nur, welchen der vier? Als der erste von denen die achtzig Meter bis zu ihr hinaufgeturnt war zog sie an einem Faden und ließ das Netz auf ihn niedersausen. Der Vampir geriet hinein und verhedderte sich sofort in den strammen Klebefäden. Das Netz schloß sich immer enger um ihn. Anthelia verknotete den stärksten Haltefaden an dem Besen. Da kamen die drei anderen Vampire.
„Ein Spinnennetz? So groß gibt’s sowas nicht“, stieß einer der noch frei beweglichen Blutsauger aus.
„Euch gibt’s doch auch nicht wirklich!“ rief Anthelia, die innerhalb einer Sekunde ihre menschliche Gestalt angenommen hatte. „Oder wer glaubt schon an blutsaugende Geister?“
„Du gleich, du verfluchtes Weib“, stieß der Vampir aus, der schon eingesponnen war. Da hatte Anthelia schon Yanxothars Schwert freigezogen. Sie wußte, daß sie die Magie der Klinge bei Vampiren nicht voll entfesseln mußte. Die Berührung oder eine Verletzung reichten schon, um einen Vampir mit der geballten Kraft des Feuers zu vernichten. Sie schwang das Schwert blitzschnell im Kreis. Dabei traf es zwei der Blutsauger am Oberkörper. Laut schreiend verglühten die beiden Vampire in orangeroten Stichflammen. Der dritte Vampir fühlte die Nähe einer tödlichen Gefahr und bekam die Tode seiner Artgenossen mit. Er ließ sich in die Tiefe fallen, um der ihm geltenden Vernichtung zu entgehen. Womöglich dachte er, daß ihm nichts passieren konnte. Doch auch ein Vampir konnte nicht aus beliebiger Höhe auf den Boden schlagen. Aber der Blutsauger wolte auch nicht bis ganz unten. Er bekam eine Liane zu fassen und fing sich daran ab. Anthelia nahm es zur Kenntnis. Ihr war wichtiger, mit dem Gefangenen davonzufliegen. Sie steckte die mächtige Waffe wieder fort und saß auf dem Besen auf. Sie stieß sich von der wippenden Unterlage ab und zog den Vampir hinter sich her. Der versuchte noch, sich aus der seidenen Umhüllung zu befreien. Doch es gelang ihm nicht.
„Meine Leute werden dich leersaugen und aus deiner Haut eine Kriegstrommel machen“, zeterte der gefangene Vampir Wantannapeh, der mächtigste Krieger des Volkes.
„Dazu müßten sie erst einmal das Fliegen lernen. Das dauert mir zu lange“, erwiderte Anthelia und beschleunigte den Besen. „Bis dahin weiß ich, wie du ein Blutsauger wurdest und ob du weißt, wo deine Königin ihr Schloß hat.“
„Du kennst unsere Königin. Ihr Blut fließt in uns. Aber du wirst von mir nichts erfahren.“
„Ich habe die Macht über das Feuer, gerade fliege ich mit dir durch die Luft, ich kann die Kraft der Erde beschwören, dein Dorf zu zerstören und weiß, wo der nächste Flußlauf ist, um dir dein langzähniges Schmutzmaul sauberzuwaschen. Am besten sagst du mir gleich, wo Lamia, deine neue königin, ihre geheime Festung hat, Blutsauger.“
„Was willst du mir tun. Mich umbringen? Das versuch mal!“
„Offenbar warst du da gerade nicht wach genug. Ich habe zwei deiner Gefährten mal eben im Vorbeigehen getötet“, erinnerte Anthelia ihren Gefangenen daran, wie stark sie war. Der Vampir erkannte, wie schlecht er gerade dran war. Er versuchte, sich aus den Spinnenfäden zu lösen. Doch der Besenflug machte jede Bewegung zu einer wilden Pendelei. Anthelia merkte, daß der Vampir sich und sie damit leicht umbringen konnte. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, genau das zu tun. So sagte sie erst einmal nichts, bis sie den braunen Bach erreicht hatte, einen der vielen kleinen Zuflüsse des Amazonas. Sie ging in den Sinkflug. Der Vampir fühlte, daß etwas mit ihm passierte, was ihm nicht gefiel. Anthelia sank weiter und durchstieß im Langsamflug das Blätterdach der Urwaldbäume. „Nein, was ist das? Was machst du?“ schrie der Vampir in seiner Muttersprache, die Anthelia nur dank ihres neuen Ohrrings verstand.
„Nun, da du mir nicht sagen willst, was du weißt, kann ich dich auch gleich in den Fluß da unten werfen. Hoffentlich hast du genug Kraft, ans Ufer zu schwimmen.“
„Nein, was ist das. Ich kann …“ röchelte der Vampir. Anthelia flog immer tiefer und blieb nun über der Flußmitte. Der Gefangene stöhnte und wimmerte. Ihm schwand die Kraft. Dann hörte sie seine Gedanken. „Ich weiß nicht, wo sie wohnt. Ich weiß nur, daß sie meine Herrin ist. Ich weiß nicht, wo sie wohnt! Bitte, nicht in das Wasser! Es bringt mich um!“
Anthelia nahm wieder höhe und flog einige hundert Meter über dem Blätterdach dahin.
„Wie bist du zu ihrem Diener geworden?“ wollte Anthelia wissen. Der Vampir wollte erst nichts sagen. Doch als sie wieder tiefer ging rief er: „Es war der Meister der Luft. Er hat uns mit der Kraft erfüllt. Ein Krug fiel vom Himmel und ließ den Geist frei.“
„Kannst du sie gerade erreichen? Hört sie dich?“ wollte Anthelia von dem Vampir wissen.
„Nein, sie schläft. Sie hört mich nicht. Ich kann nicht zu ihr rufen. Sie schläft.“
„Dein Pech!“ Grummelte Anthelia leise. Dann flog sie so schnell wie sie mit der Last konnte, bis sie weit voraus den mächtigen Amazonas als im Mondlicht blinkendes breites Band ausmachen konnte. Der Vampir brüllte, weil er nun trotz der großen Höhe fühlte, wie wieder etwas an seinen Kräften zehrte. Anthelia zeigte ihre Gnadenlosigkeit, die sie Menschen gegenüber zurückgestellt hatte. Sie zog den Zauberstab und richtete ihn auf das Halteseil: „Aggregato Diffinducto!“ rief sie. Mit einem lauten knall riß das Seil durch. Der Vampir im Netz stürzte in die tiefe, mitten hinein in die Fluten des Amazonas. Wenn ihn die Nähe zum fließenden Wasser nicht tötete, dann entweder der direkte Kontakt damit oder die Wucht des Aufschlages. Anthelia vertat keine Sekunde mit Mitleid oder Reue. Sie löste den Rest des Spinnfadens mit zwei Diffindozaubern und flog nun in Richtung des Dorfes dahin, wo die Vampir-Indios wohnten. Sie wollte nur wissen, ob die Bewohner direkt oder durch das Verwandlungsgift verändert worden waren. Danach würde sie das Dorf zerstören. Hatte sie nicht vorhin behauptet, daß sie die Kräfte der Erde anrufen konnte? Hier draußen waren sicher keine Spürsteine platziert.
Auf dem Flug zum Dorf dachte sie daran, daß die Kombination aus Zerreiß- und zersprengzauber von Julius Latierre benutzt worden war, um Naaneavargias Netze zu zerreißen. So ging es tatsächlich, erkannte sie.
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„Hunderttausend Mark sind ein bißchen wenig, dafür, daß ich Ihnen einen Virensprüher eingebaut habe“, sagte der Mann im blauen Überwurf zu der Frau im schwarzen Hosenanzug. „Tun sie da noch mal eine halbe Million dabei. Dann kriegt das keiner mit, wie die Leute in der Boeing sich die Krankheit eingefangen haben, mit der sie das saubere Singapur aufmischen.“
„Wir waren uns einig, junger Mann, daß Sie für die Arbeit mit hunderttausend Mark gut bedient sind. Außerdem, wer behauptet was von einem Killervirus. Das ist nur ein Schlafmittel, daß die Passagiere und Besatzung für drei Stunden außer gefecht setzt, lange genug, um Panik in der Flugüberwachung auszulösen und kurz genug, um die Leute noch heil in Singapur landen zu lassen“, sagte die Frau und sah ihren Verhandlungspartner an.
„Neh, is‘ klar, Madame. Ich habe das Ding eingebaut. Für’n Betäubungsgas ist das zu wenig in dem Druckfläschchen. Also kann’s nur ein Biokampfstoff sein, mit dem Sie die dicken Bankbonzen hier und in Singapur richtig durcheinanderbringen. Sie haben sicher das Gegenmittel und wollen es für teuer Geld verkaufen, damit keine Epidemie ausbricht. Da ist eine Halbe Million für mich sicher nicht zu wenig Honorar.“
„Du kleiner Handlanger willst mich erpressen? Mich, die Königin Nocturnias?“ fragte die Frau in Schwarz. „Also gut, du hast recht. Wir haben durch deine großzügige Mithilfe was in die Maschine eingebaut, daß eine besondere Wirkung hat. Singapur wird ein wichtiger Stützpunkt des Reiches ohne Grenzen. Du willst mehr? Kannst du haben“, säuselte die Auftraggeberin. Der Mechaniker rechnete damit, daß die andere eine Waffe ziehen und ihn mal eben über den Haufen schießen würde. Doch die Fremde machte keine Anstalten, eine Waffe zu ziehen. Sie sah den Mechaniker an, der mit seinem Monatslohn unzufrieden war. Dieser blickte in die Augen der Fremden und fühlte, wie etwas ihn lähmte. „Du hast deine Schuldigkeit getan und mir geholfen, eine neue Dimension unserer Macht zu erreichen.“ Der Mechaniker erkannte, daß er gerade mehr als zu hoch gepokert hatte. Die Auftraggeberin würde ihn gleich umbringen. Er sagte schnell, daß er beim Einbau der verbotenen Vorrichtung Fotos davon gemacht hatte und diese an einem sicheren Versteck deponiert hatte, das einer seiner Bekannten aufsuchen sollte, wenn ihm ein bedauernswerter Unfall zustieß.
„Wo denn?“ fragte die Auftraggeberin. Der mann grinste und sagte, daß er nicht so dumm sei, seine Lebensversicherung aus der Hand zu geben. Da traf ihn der Blick der Augen der Dame in Schwarz. Er fühlte, wie etwas fremdes in seinen Kopf eindrang und er nicht mehr in der Lage war sich zu bewegen. „Wo sind die Fotos! Verrate es deiner Herrin Lamia!“ hörte er mit Ohren und Geist die Stimme der Unheilvollen. Er hörte sich wie ein Schlafwandler antworten, daß er die Fotos im Boden seines Schlafzimmerschrankes verbaut hatte. Er konnte sich nicht dagegen wehren, das zu sagen. Dann hörte er die Stimme der Auftraggeberin: „Du warst nicht zufrieden mit dem, was wir dir zahlen wollten. Schade! Ich hätte dich gerne mit mehr belohnt als diesen läppischen hundert Riesen. Aber wer so gierig ist könnte uns gefährlich werden, ob als Mensch oder Mitbürger“, knurrte die Frau im schwarzen Hosenanzug. „Dann gibst du mir eben alles und kriegst nichts heraus.“ Bei diesen Worten fühlte der korrupte Flugzeugmechaniker, wie der Rest seines Willens erlosch. Er fühlte weder Angst noch Verzweiflung, als die unheimliche Frau auf ihn zuging und dabei messerscharfe Fangzähne fletschte. Er fühlte, wie ihm der Überwurf vom Körper gezogen wurde. Dann spürte er, wie sich die Unheimliche auf ihn warf, ihn zu Boden riß und ihm den Kopf zur Seite stieß, um freie Bahn zu haben. Der schmerzhafte Einstich der beiden Fangzähne rüttelte noch einmal an seinem Bewußtsein. Doch er konnte sich nicht mehr dagegen wehren. Wenige Minuten später lag er völlig leblos am Boden. lamia erhob sich mit bluttriefendem Kinn und grinste dämonisch. „Ich hätte dich vielleicht zum Mitbürger gemacht. Aber wer so dreist ist hat das nicht verdient“, zischte sie dem von ihr leergesaugten zu. Dann wischte sie sich das mit der Zunge nicht zu erreichende Blut aus dem Gesicht. Sie blickte auf ihre mit der Solexfolie überzogenen Hände und nickte. Sie würde keine Fingerabdrücke hinterlassen. Sie eilte lautlos wie ein Schatten ins Schlafzimmer des Getöteten und fand das Brett unter dem Kleiderschrank. Sie löste es mit ihren übermenschlichen Kräften ab und steckte den zum Vorschein kommenden Umschlag sicher fort. Dann rollte sie den Leergesaugten in den mit Blut besudelten Wohnzimmerteppich ein, lud sich beides auf den Rücken und disapparierte. Sie brachte die blutleere Leiche zu einem treuen Mitbürger, der sich darauf verstand, leergesaugte Menschen restlos verschwinden zu lassen.
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Anthelia wartete in sicherer Höhe über dem Lager der Goldgräber, bis sämtliche Insassen entweder tot oder verschleppt worden waren. Sie wußte, daß hier ein weitreichendes Funkgerät stand. Hatte sie dies zerstört kam keine Meldung mehr in die sogenannte Zivilisation durch. Sie wartete, bis auch der letzte Vampir in Richtung seines Dorfes unterwegs war. Dann landete sie genau in der Mitte des Lagers. Die Zelte der Goldgräber standen offen. Leichen von bärtigen Männern lagen herum. Die Blässe im Gesicht und das verkrustete Blut auf ihren schmutzigen Hemden machte deutlich, was ihnen widerfahren war. Anthelia suchte und fand die ausgefahrene Funkantenne, die die auf Kurzwelle gesendeten Signale über die dichten Wipfel hinweg in die Welt schleudern konnte. Sie war auf der Hut, ob nicht der eine oder andere der hier herumliegenden zum neuen Dasein als Vampir erwachen würde. Als sie sicher war, daß ihr niemand in den Rücken fallen würde betrat sie die Bretterbude, in der das an einem Dieselgenerator hängende Funkgerät stand. Anthelia mußte es restlos zerstören, um sicher zu gehen, daß in der Zeit, die sie für ihren Vernichtungsschlag brauchte, niemand um Hilfe rufen konnte. Sie zog den Zauberstab, trat drei Schritte zurück und rief „Confringo!“ Mit einem lauten knall zerplatzte die Funkanlage und zertrümmerte dabei auch einen Teil des Generators. Danach kappte sie mit dem Schwert Yanxotahrs einfach die Antenne und setzte die Baracke in Brand. Danach saß sie wieder auf ihrem Besen auf und flog davon.
Das Volk der toten Bäume hatte seinen Namen daher, daß der Urwald es bisher nicht geschafft hatte, die Gerippe vor Jahrzehnten niedergefallener Bäume zu überwuchern und neue Urwaldriesen aufwachsen zu lassen. So konnte Anthelia in der großen Lichtung das aus fünfzig Hütten bestehende Dorf erkennen, in dem die Vampire gerade mit ihren Opfern zu gange waren. Sie mußte bis zum Morgen warten, bis der Himmel sich erst grau und dann immer röter färbte. Die Vampire taten etwas, was Anthelia schmunzeln ließ. Sie gruben sich und ihre neuen Gefährten unter den Hütten in den Boden. Sie wühlten sich wie Regenwürmer immer tiefer in die erde. Doch so tief war der Erdboden im Urwald nicht, wußten die Blutsauger, daher hatten sie zum Schutz vor der Sonne Felle um sich gewickelt, durch die kein Funke Tageslicht hindurchdrang. Als die Sonne schließlich ihre ersten Strahlen über die Wipfel der noch lebenden Bäume reckte, begann Anthelia ihr Vernichtungswerk.
Eine Stunde brauchte die Hexenlady, um das Dorf drei mal im Flug zu umkreisen und dabei alle möglichen Steine mit einem Zauber zu belegen. Danach landete sie. Die Vampire waren erstarrt. Echte Gedanken fing sie nicht von ihnen auf. Auch fühlte sie die sonst so starke Präsenz ihres Daseins nicht. Sie hätte behaupten können, die Dorfbewohner seien alle tot und begraben. Doch letzteres war nur ungenügend, dachte Anthelia. Sie nahm einen Stein aus der Dorfmitte und besang ihn mit altaxarroi’schen Zaubersprüchen, bis der Stein rot glühte und auf derselben Tonhöhe zu summen begann, wie Anthelia/Naaneavargia. Sie saß wieder auf ihrem Besen auf und stieg genau so hoch, wie der halbmesser des von ihr beflogenen Kreises war. Dann hob sie feirlich den rot glimmenden, aber nicht heiß gewordenen, summenden Stein an und sang langsam und auf der Tonhöhe des Steines bleibend eine letzte, die entscheidende Zauberformel herunter. Sie stupste dabei den Stein zwölfmal mit ihrem Zauberstab an. Dann stieß sie einen einzigen kehligen Laut aus und ließ den Stein in die Tiefe fallen. Sofort nahm sie mehr Höhe und sah, wie der stein einem Meteoriten gleich glühend in den Boden schlug. Es war, als habe ein unsichtbarer, einen Kilometer großer Hammer auf den Boden aufgeschlagen. Staub und Splitter wirbelten auf. Die toten Bäume knickten endgültig ab und zersplitterten, als sie von dem Aufruhr in der Erde zermalmt wurden. Gewaltige Spalten klafften auf. Gestein flog aus dem Boden heraus. Dann rutschte die Masse aus Erde und Felsgestein von außen nach innen und ballte sich zu einem Berg zusammen, der jedoch keine fünf Sekunden blieb. Dann sank der Berg in die Tiefe. Dabei knickten selbst die mächtigsten Urwaldbäume wie Streichhölzer ab und schlugen im Fallen andere Bäume zu Boden. Die Zone der Zerstörung breitete sich jedoch nur zweihundert Meter über das Dorf hinaus aus. Da kam die von Anthelia beschworene Macht endlich zur Ruhe. Was in diesem Moment in der Erde gesteckt hatte, war gnadenlos zerrieben und zerquetscht worden. Das Dorf existierte nicht mehr. Statt seiner lag eine graubraune Trümmerwüste da, über der sich eine mächtige Staubwolke erhob. Anthelia war zu hoch geflogen, um noch Gedanken zu erheischen. Vielleicht war das auch gut so. Denn sie dachte an Linda Knowles, die die Todesschreie der Entomanthropenlarven fast in den Wahnsinn getrieben hatten. Das mußte sie wirklich nicht selbst erleben. Es gab ja schon genug selbsternannte Wohltäter und Einfühlsame, die ihr Wahnsinn unterstellten, zumindest aber Größenwahn zuerkannten.
„Dein Experiment mit dem Vampirdorf ist mißlungen, Lamia. Ich werde dich und deine Basis Winternacht finden und dann genauso dem Erdboden gleichmachen“, schwor Anthelia, während sie über dem von ihr vollbrachten Zerstörungswerk kreiste wie ein Adler, der seine Beute sucht. Erst als Anthelia sicher war, daß dort unten nichts mehr leben konnte, flog sie davon.
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Die Passagiere des Flugs Frankfurt – Singapur schliefen oder lasen im Licht der Kabinenbeleuchtung. Agnes Hingsen patrouillierte durch die große Touristenklasse und prüfte, ob alle Passagiere wohl auf waren. Sie stieg die Treppe zur ersten Klasse im Buckel des Jumbos hinauf und sprach im Flüsterton mit den Fluggästen, nahm Getränkebestellunen entgegen oder teilte Zeitungen in verschiedenen Sprachen aus. Drei Chinesen flogen dieses Mal in der ersten Klasse mit. Sie waren sehr reich gekleidet. Was die Passagiere beruflich taten betraf sie nicht. Doch sie mußte immer wieder daran denken, welche heimlichen Machthaber sie auf diesem oder anderen Flügen schon betreut hatte. Für sie war nur wichtig, daß die Fluggäste sich nicht unanständig oder gar den Flug gefährdend aufführten. Wenn sie überlegte, daß sie als kleine Stewardess auf Touristenflügen nach Mallorca angefangen hatte, wo die Passagiere sich bereits vor der Landung heftig betrunken hatten, war sie jetzt besser dran. Zehn Kolleginnen und zwei Kollegen nahmen ihr die Arbeit ab, und wenn die Passagiere schliefen, dann waren sie am genügsamsten.
Es mußte wohl gegen ein Uhr Bordzeit sein, als Agnes Hingsen merkte, daß irgendwas nicht stimmte. Sie fühlte sich so merkwürdig durstig. Außerdem meinte sie, daß ihr das gedämpfte Licht in der Kabine unerträglich hell wurde. Zudem empfand sie ein dumpfes Pochen in ihrem Oberkiefer, als habe ihr der Druckwechsel leichte Zahnschmerzen bereitet. Sowas hatte sie bisher nie gehabt.
„Muß das hier so hell sein?“ knurrte ein teuer gekleideter Mann in der zweiten der großzügig voneinander entfernten Sitzreihen. „Mir tun die Augen weh“, grummelte er noch und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Agnes Hingsen prüfte, ob die Kabinenbeleuchtung wirklich zu hell war. Es waren doch nur die wenigen Lampen an, die bei einem Nachtflug eingeschaltet zu bleiben hatten, wenn der Großteil der Passagiere den Flug verschlafen wollte. Doch jedes Licht blendete sie selbst schon fast wie die Sonne. Bei dem Gedanken an das Tagesgestirn überkam sie ein merkwürdiger Widerwille, als wolle sie bloß nichts mehr damit zu tun haben. Darüber erschrak sie. Denn sie reiste ja sonst gerne in den Süden, nutzte ihre zum Arbeitslohn spendierten Freiflugmeilen, um mit ihrem Mann nach Ägypten, Andalusien oder auch mal nach Bali zu fliegen. Für diesen Sommer war bereits ein Urlaub am Strand von Malibu gebucht. Doch der Gedanke daran widerte sie an, sich in die grelle, heiße Sonne zu legen und sich davon braten zu lassen. Sie meinte, es auf ihrer Haut schon widerlich brennen zu fühlen.
Zwei Passagiere wachten aus dem Schlaf auf, als habe ein innerer Wecker geläutet. Einer von ihnen verlangte auf Englisch was zu trinken. Die Kabinenchefin mußte sich konzentrieren, nicht zu gefühlsmäßig zu reagieren. Als sie fragte, was er denn haben wolle sagte er, daß ihm nach einer Bloody Mary sei. Frau Hingsen nickte. Sie sah die Begierde in den Augen des Fluggastes, der die ihm geliehene Schlafdecke von sich warf.
Weitere Passagiere erwachten wie von einem unhörbaren Signal geweckt. Auch Agnes Hingsen fühlte sich immer hibbeliger, als habe sie die ganze Kanne Kaffee, die sie den drei Flugoffizieren gebracht hatte, ganz alleine und auf ex in sich hineingeschüttet. Außerdem fühlte sie den Durst zunehmen. Dabei dachte sie jedoch nicht an Cocktails oder Mineralwasser, sondern an bluttriefende Steaks. Als sie die junge Auszubildende sah, die gerade mit einem Tablett mit Gläsern und einer Flasche Rotwein die Treppe hinaufturnte, ertappte sie sich dabei, wie sie einen Moment auf den faltenlosen Hals der jungen Kollegin starrte, als wolle sie gleich hineinbeißen. Wieso fühlte und dachte sie so? Doch diese Frage versank unter dem immer stärker werdenden Bedürfnis, in die Nacht hinauszugehen und ihre Begierden zu stillen. Die dumpfen Schmerzen in ihrem Oberkiefer nahmen weiter zu.
Einer der Stewards beugte sich über eine junge, schlafende Frau. In seinem Gesicht lag Wollust. Agnes Hingsen sah ihn und stieß ihn ruppig zurück. „Die ist nicht für dich!“ knurrte sie den Mann an, der verärgert seine Chefin ansah. Dabei sah sie deutlich, daß seine oberen Eckzähne ein wenig überstanden. In seinen Augen funkelte die Gier. Doch irgendwas hielt ihn davon ab, seine Chefin anzufallen. Sie sah ihn auch nicht so an, als sei er das, was sie jetzt haben wollte. Etwas an oder in ihm verdrängte den aufgekommenen Durst, zu dem jetzt auch noch unbändiger Hunger dazukam. Die schlafende Passagierin erwachte wie die anderen und starrte den Flugbegleiter an. In ihren Augen lag erst Begierde. Doch dann schüttelte sie sich, als habe ihr der Steward gerade ein Stück verfaultes Fleisch unter die Nase gehalten.
Überall in der Maschine schraken die Passagiere aus dem Schlummer hoch und beschwerten sich über das Licht. Einer sprang sogar auf und zerschlug eine der wenigen Lampen mit der bloßen Faust. Das löste eine Kettenreaktion aus. Weitere Männer gingen auf die Bordbeleuchtung los. Die Flugbegleiter versuchten, sie daran zu hindern. Dabei kam es zu einer immer heftiger ausartenden Prügelei. Obwohl es eigentlich so aussah, als könnten die zierlichen Stewardessen mit den aufgebrachten Männern nicht fertig werden, schafften die es doch, die gegen die Kabinenlampen losstürmenden Männer mit gezielten Faust- und Handkantenschlägen zurückzutreiben. Agnes Hingsen versuchte lautstark, die aufkommende Gewaltorgie zu unterbinden. Doch sie wollte ja selbst kein Licht mehr haben. Es wurde ihr zu hell. Auch die Geräusche der Triebwerke und Klimaanlage wurden unerträglich. Die Aggression steigerte sich immer weiter. Dabei konnte Agnes an sich selbst die unheilvolle Umwandlung bemerken, die jeden Moment mehr und mehr vollendet wurde. Sie fühlte erst, daß ihre oberen Eckzähne immer länger wurden. Dann kam noch dieser unbändige Drang, in die Nacht hinauszugehen. Ihr Rest von Verstand gebot ihr gerade noch, keine der Türen zu öffnen. Das wäre in dieser Höhe auch nicht gegangen, weil sie die Türen gegen den Kabineninnendruck nach innen hätte anziehen müssen, um sie dann nach außen wegdrücken zu können. Als sie jedoch sah, wie gleich sieben Männer eine Notausgangtür mit Tritten und Schlägen bearbeiteten, erkannte sie, daß diese Tür wohl nicht lange würde standhalten können. Die Lage an Bord wurde immer gefährlicher.
Die drei Piloten bekamen erst etwas von den Unruhen mit, als die Passagiere der ersten Klasse an die Cockpittür bollerten und einer die Tür aufriß. Bender sprang aus dem Ruhesessel. Er fühlte sich merkwürdig hibbelig und hungrig. Doch als der unerlaubt ins Cockpit eindringende Mann ihm seine Fäuste entgegenstreckte kam noch unbändige Wut dazu. Der da drang in sein Revier ein. Der wollte ihn umbringen? Das würde er ihm nicht erlauben. Die beiden anderen Flugdeckoffiziere sprangen ihrem Kollegen bei, als dieser gleich mit drei Passagieren aneinandergeriet.
„Bring uns runter, Pilot. Wir müssen raus hier“, knurrte einer der drei und versuchte, Bender am Hals zu packen. Doch dieser stieß den Eindringling gegen die beiden anderen und warf sie aus dem Cockpit. Das ließen sich die nachfolgenden Männer nicht gefallen. Im Nu brach auch im hochempfindlichen Flugdeckbereich eine wilde Rauferei los. Die Passagiere wollten in die Nacht hinaus, hatten Hunger und Durst. Doch die drei Flugoffiziere widerten sie an. Sie konnten ihnen nicht bieten, was sie haben wollten. Ein Faustschlag zertrümmerte die Hauptinstrumentenkonsole. Funken stoben. Warntöne klangen auf. Noch hielt der Autopilot die große Maschine auf Höhe und Kurs.
Die Schlacht in den Kabinen nahm derweil an Heftigkeit zu. Der Drang, die Maschine zu verlassen trieb die Männer und Frauen zur Raserei. Auch Agnes Hingsen wollte jetzt aus der Maschine. Sie kämpfte sich einen Weg zur Treppe frei und wollte hinauf, um die drei Piloten anzuhalten, zu landen, wie auch immer das gehen sollte. Dabei geriet sie in die Meute gegen das Cockpit vorrückender Männer und Frauen. Die drei Flugoffiziere kämpften wie Berserker, um die sie bestürmenden Leute zurückzudrängen. Denn trotz des auch in ihnen aufwallenden Verlangens, dieses immer enger werdende Aluminiumgehäuse zu verlassen, wußten sie, daß sie sich damit umbrachten, wenn sie es in dieser Höhe verließen.
Doch gegen die Übermacht kamen auch die mit immer größerer Kraft und Entschlossenheit fechtenden Piloten nicht an. Sie wurden aus der Steuerkabine gezerrt und im Gang der ersten Klasse zu Boden geworfen. Zwei Männer versuchten, die Maschine nach unten zu drücken. Doch der eingeschaltete Autopilot ließ keine manuelle Steuerung zu, solange er arbeitete. Vor Wut droschen die Cockpitstürmer auf alles ein, was an Instrumenten und Geräten in Reichweite war. Kurzschlüsse und Alarmmeldungen, Funkenwolken und Rauch trieben die Männer jedoch zurück. Eine unbändige Angst vor dem Feuer schlug sie in die Flucht. Doch es war zu spät. Die Maschine flog zwar noch auf Autopilot. Doch die schweren Beschädigungen der Elektronik hatten einen Brand ausgelöst, der die Steuerkabine ausfüllte. Es war nur noch eine Frage von Minuten, wann die mehrfach verbauten Stromleitungen für die automatische Steuerung unterbrochen wurden. Ab da war das Flugzeug den geltenden Naturgesetzen ausgeliefert.
Der Wille, in die Nacht hinauszuziehen und einen immer dränngenderen Durst zu stillen ließ die Fluggäste weiter gegen die Türen und auch gegen die Fenster schlagen. Kleine Kinder schrien vor Angst. Ihre Eltern beachteten sie nicht, weil auch sie von dem unheilvollen Keim befallen waren, daß sie unbedingt in die Nacht hinaus mußten. Dann gelang, was eigentlich nicht sein durfte. Fünf Männer schafften es, eine der Notausgangtüren gegen den vorherrschenden Innendruck zu öffnen. Sofort entstand ein starker Sog, der die zwei vordersten Passagiere ins Freie zog. Der laute Flugwind quälte die überempfindlich gewordenen Ohren der anderen. Der Druck fiel ab. Ebenso drang eisige Kälte in die Maschine ein. Doch davon spürten die außer Kontrolle geratenen Männer und Frauen nichts. Einige sprangen sogar durch die aufgebrochene Tür hinaus und verschwanden in der eisigen Finsternis zwischen Himmel und Erde. Der zunehmende Druckabfall bewirkte, daß auch die anderen Notausgangstüren aus ihrer Verriegelung gezerrt und hinausgeworfen werden konnten. Das Druckausgleichssystem kam nicht dagegen an. Sauerstoffmasken fielen aus den Bereithaltungsfächern über den Sitzen herab. Die Passagiere kämpften jedoch weiter um jeden Meter Richtung Freiheit. Die verhängnisvolle Saat, die in den Männern und Frauen aufgegangen war, machte sie immun gegen die Eiseskälte und auch gegen den Sauerstoffmangel. Weitere Passagiere sprangen hinaus in die Nacht, wurden vom rasend schnellen Luftstrom gepackt und davongewirbelt. Agnes Hingsen sah noch, wie ihre junge noch nicht ganz mit der Ausbildung fertige Kollegin gerade einem kleinen Jungen auf die Beine half. Dieser lächelte sie an. Dabei zeigte er seine beiden neu gewachsenen Zähne. Doch auch die junge Flugbegleiteranwärterin grinste und zeigte die bbeiden dolchartigen Fangzähne.
Auch wenn die Verwandelten gegen die Kälte gefeit waren, so zwang sie der Sauerstoffmangel dazu, immer langsamer zu handeln. Sie konnten nicht ersticken, weil ihre neue Beschaffenheit sie bei Luft- und Nahrungsmangel wie scheintot erstarren ließ. Die ersten, die bereits wie in Zeitlupe handelten, wwaren zwei Männer, die gerade auf einen der aufgebrochenen Notausgänge zuwankten. Der unbändige Drang, in die Nacht zu springen trieb sie jedoch weiter. Agnes Hingsen hockte am Boden neben dem erstenKapitän, dessen Arme ungesund verdreht waren. Doch dem Piloten machte das offenbar nichts aus. Er funkelte die Fluggäste an, die ihm zu nahe kamen. Auch ihm waren die beiden mörderischen Fangzähne gewachsen. Agnes erkannte, daß sie alle einer unheimlichen Kraft zum Opfer gefallen waren, einer Kraft, die aus Menschen Vampire machte. Sie fühlte die Gier, das Blut von Menschen zu trinken. Doch hier an Bord gab es keine Menschen mehr. Selbst die Säuglinge, die bisher mit Muttermilch und Babykost zufrieden waren, hatten ihre ersten Zähne bekommen, zwei lange, bleiche Reißzähne, die ihnen über die süßen, weichen Lippen ragten.
Die Maschine schlingerte auf Grund der durch die offenen Türen schießenden Luft. Der Druckabfall hatte dem Feuer den Sauerstoff geraubt. Doch es hatte bereits genug Schaden angerichtet. Gerade schloß die entscheidende Leitung zur Avionik kurz. Der Autopilot verlor die Kontrolle über die Maschine. Der Jumbojet geriet immer stärker ins Trudeln. Während die Passagiere und Besatzungsmitglieder durch Kälte und Luftmangel mehr und mehr erstarrten, begann das mächtige Verkehrsflugzeug, aus seiner sicheren Flughöhe abzusinken. Noch liefen die vier kraftvollen Triebwerke. Doch ohne die Führung durch den Computer oder die Piloten kam die Maschine nicht mehr in die ideale Fluglage zurück. Sie rollte mal nach backbord, mal nach Steuerbord. Hier oben war nichts, wo sie hätte gegenstoßen können. Doch mit jeder Schlingerbewegung verlor die Maschine gleich mehrere Dutzend Meter Höhe. Die irdische Schwerkraft zog sie immer weiter nach unten. Mehr als zehn Minuten lang kämpfte die führerlose Maschine noch gegen ihren Untergang. Dann geriet sie endgültig in eine tödliche Abwärtsspirale.
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Lamia hoffte darauf, die neu erwachenden Bürger zu fühlen, bevor die Verwandlung vollkommen war. Doch als sie merkte, wie etwas ihren Geist erschütterte, wußte sie, daß irgendwas an ihrem Plan gründlich fehlgeschlagen war. Sie versuchte, Kontakt mit irgendwem aufzunehmen, der durch ihr Blut neu entstanden war. Doch außer von den ihr schon bekannten Nachkommen erhielt sie keine Antwort.
Als sie am nächsten Morgen über das Internet erfuhr, daß eine vollbesetzte Passagiermaschine östlich des Urals aus bisher unerfindlicher Höhe abgestürzt war, erkannte sie, daß ihr Vorhaben gescheitert war, neue Bürger in Singapur landen zu lassen. Arnold Vierbein meinte dann noch dazu:
„Ich fürchte, unser Gas hat zu schnell gewirkt und bei den Leuten im Flugzeug einen unstillbaren Drang ausgelöst, hinauszugehen. Kann sein, daß dabei alles mögliche kaputtgeschlagen wurde.“
„Du meinst, wir können das vergessen, das Gas in Flugzeugen anzuwenden.“
„ich habe es schon erwähnt, daß wir erst einmal einen Bodenversuch mit mehr als hundert Leuten machen müssen. Aber du meintest ja, ein Flugzeug sei ein geniales Versuchsobjekt. Wenn du Leute auf engem Raum zusammensperrst, die sich gegenseitig belauern oder unbedingt hinaus wollen, dann ist das für alle gefährlich. Hoffentlich kriegen die nie raus, was in der Maschine passiert ist.“
„Sie ist beim Aufprall in Brand geraten und ausgebrannt, bevor die Rettungskräfte nahe genug herankamen. Im Übrigen verbitte ich mir jede impertinenz, Arnold Vierbein“, schnarrte Lamia. Daß ihr ein derartiger Fehler unterlaufen war machte sie wütend. Es war ein Fehler, gleich alle Passagiere auf einmal vampirisieren zu wollen. Sicher hätte es gereicht, wenn ein oder zwei Leute eingebürgert worden wären, um ganz besonnen die weitere Zuwanderung nach Singapur einzuleiten. Das wußte sie jetzt. Doch es brachte ihr nichts ein. Dann erinnerte sie sich an die Weißheit der Naturwissenschaftler: Es gab bei neuen Versuchen keine Fehlschläge, nur unerwartete Ergebnisse, aus denen wiederum gelernt werden konnte, sofern diese überraschenden Ergebnisse die den Versuch durchführenden nicht sofort umbrachten.
„Gut, dann führen wir eben die Aktion Frühlingserwachen schon jetzt durch“, grummelte Lamia. Sie würde in zwei Stunden in die Blutumwälzung zurücksteigen, um neues Einbürgerungspulver zu erzeugen.
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Anthelia lud alle ihr loyalen Schwestern aus Europa, Nord- und Südamerika und Australien ein. Die einzige asiatische Vertreterin war die japanische Hexe Izanami Kanisaga.
„Schwestern, die Verzögerung beim Erhalt einer so wichtigen Information wie der Tod von zwei eindeutig fremdrassischen Menschenwesen darf nicht noch einmal geschehen“, eröffnete Anthelia die Vollversammlung mit einem Tadel und sah vor allem Mara Kellerer aus der Schweiz an. „Denn wenn da irgendwer mit Grünstaub hantiert und wenn die legendären Sonnenkinder wahrhaftig existieren und bei ihren Aktionen den Tod finden, dann geht uns das alles unmittelbar was an. Schwester Romina unterhält Kontakt zu einem in den Staaten lebenden Vertreter der Sonnenkinder, der nebenbei auch eine Zeit lang als mein direkter Kundschafter in der Welt der Magielosen tätig war. Nur deshalb wissen wir, daß Nocturnia eine Falle für ihre mächtigsten Feinde ersonnen hat. Sie läßt die Sonnenkinder in die Nähe ihrer Bürger. Diese verschwinden dann mit Hilfe vorbereiteter Zauber wie Portschlüssel, und eine Ladung Grünstaub wird freigesetzt. Dieses Pulver kann mit Fug und Recht als heimtückisch bezeichnet werden. Denn dagegen hilft keine Kopfblase. Wer von Grünstaub berührt wird, dem wird durch die Haut das zum Leben wichtige Oxygen entrissen, aus dem Blut, aus dem Körpergewebe. Der Betroffene erstickt mehr oder weniger schnell. Ich frage euch: Woher weiß Lamia, wie Grünstaub hergestellt wird, denn selbst wir, die wir über gute Beziehungen verfügen, kamen ja bisher nicht in den Besitz der Rezeptur oder gar der Zutaten.“
„Herr Rheinquell sagte was, daß jemand in Arcadis Ministerium das Rezept gestohlen und sich die Zutaten beschafft haben soll. Zumindest wurden wir von den Russen gewarnt. Bedauerlich, daß Schwester Vera nicht mehr dort wohnt“, sagte Mara Kellerer. Anthelia bestätigte, daß es bedauerlich war. Beth McGuire nickte und sagte, daß Lady Roberta Sevenrock bereits mit russischen Schwestern Kontakt aufgenommen habe. Denn die Grünstaubfallen könnten auch gegen Hexen und Zauberer eingesetzt werden.
„Kommt die aber früh drauf, oder rückst du damit jetzt erst raus, weil dir deine zweite Chefin das erlaubt hat?“ wollte Albertine Steinbeißer aus Deutschland wissen.
„Shwester Albertine, ich habe dir nicht das Wort erteilt. Aber weil deine Frage berechtigt ist sehe ich von einer Bestrafung ab“, zischte Anthelia und wandte sich Beth zu.
„Die weiß, daß ich nicht nur für sie arbeite, höchste Schwester. Deshalb bekomme ich doch nur das mit, was sie dir auf die eine oder andere Art zu wissen erlaubt. Ich kann da nichts für. Wenn ich mehr erfahren will, darf ich am Ende wie Hyneria in Windeln machen.“
„Was willst du dann noch …“ bei uns hatte Albertine wohl verächtlich sagen wollen. Doch Anthelia brauchte sie nur anzublicken, um sie verstummen zu lassen.
„Das für alle werten Schwestern, die meinen, sich meinen Kopf zerbrechen zu müssen, ohne daß ich das ihnen ausdrücklich abverlange: Jede hier hat ihren Wert. Erst ich und nur ich bestimme, wann eine von euch ihren Wert verliert. Llegt es nicht darauf an, daß ich das eines Tages feststellen muß! Mir ist bekannt, warum Schwester Beth von Roberta Sevenrock geduldet wird und warum sie die Reihen der entschlossenen Schwestern Nordamerikas führen darf. Denn trotz all ihrer Hingezogenheit zu den bereits häufig fragwürdig gewordenen Zaubereigesetzen empfindet Roberta es als nützlich, daß es uns gibt. Natürlich wird sie das niemals offen zugeben, weil sie dann nämlich gleich ihre Vorrangstellung aufkündigen oder mich offiziell als ihre Nachfolgerin vorschlagen müßte. Doch die Affären um die Zaubereiminister Pole und Wishbone haben ihr wohl klargemacht, daß eine von allen Ministeriumsparagraphen freie Einsatzgruppe mehr zum Erhalt als zur Zerstörung der Zaubererwelt beitragen kann. Das denke ich nicht nur, um unsere Sache zu rechtfertigen. Das erschließt sich mir aus der Tatsache, daß Schwester Beth bisher nicht in die unangenehme Lage gekommen ist, als Tochter fremder Eltern völlig neu aufzuwachsen, wie es Hyneria Swordgrinder widerfährt und wie es auch Lavinia Thornbrook widerfahren ist. Denn ihr alle dürftet wohl begriffen haben, daß die echte Lysithea Greensporn mittlerweile selbst einer gesunden Tochter das Leben geschenkt hat und daher keine Zeit dafür hat, als Tochter ihrer eigenen Cousine ihre zweite Kindheit zu durchleben. Sicher hätte Roberta Sevenrock es sehr begrüßt, wenn ich an Stelle Selene Hemlocks neu zur Welt gekommen wäre. Aber eben auch darum, weil sie gehofft hat, von dem zu profitieren, was sie in ihrem eigenen Gutdünken als nützliche Dinge aus Sardonias Zeit ansieht. Doch worum es hier und jetzt geht, das ist die Geschwindigkeit, mit der wir alle wichtige Sachen erfahren, bevor jemand von uns in eine so tödliche Falle hineintappt, wie sie den Sonnenkindern in Basel aufgelauert hat. Hast du von unserem Kundschafter noch was neues erfahren?“ Wollte Anthelia von Romina wissen.
„Nur, daß sie sich wohl mit Schutzkleidung eindecken, Raumanzüge oder ABC-Schutzkleidung.“ Einige Hexen machten „Häh?!“ andere nickten verhalten. Anthelia wies Romina an, die beiden Schutzausrüstungen zu beschreiben. Dann sagte die Führerin des Spinnenordens:
„Somit sind die Sonnenkinder in der Lage, ihren Fortbestand zu erhalten und weiter gegen Nocturnia vorzugehen, sofern Lamia nicht auf drastischere Mittel zurückgreift. Was ich vorhabe ist, daß wir die Basis Winternacht finden. Ich vermute, sie liegt an einem der Pole, da ich es in den Gedanken einer Vampirin kurz habe sehen können, daß das geheime Hauptquartier in einer weiten Eiswüste liegt. Bleibt also zu ergründen, an welchem der Pole.“
„Der Nordpol liegt nicht auf Festland“, sagte Albertine Steinbeißer, als ihr durch Nicken das Wort erteilt wurde. „Um den Nordpol herum fließen Meeresströmungen. Die dürften für eine Vampirfestung ziemlich ungemütlich sein. Grönland ginge vielleicht. Oder dann die Antarktis, also der Kontinent, der den Südpol umgibt.“
„Viel zu viel möglicher Raum. Wir müssen etwas finden, um es genauer einzugrenzen“, sagte Anthelia.
„Soll ich die Sonnenkinder darauf ansetzen?“ wollte Romina wissen. Anthelia überlegte kurz. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, sie würden darauf bestehen, diese Festung alleine auszuheben. Außerdem müssen wir noch etwas anderes klären: Lamia ist eine Körperwanderin. Ähnlich wie der Benutzer eines Horkruxes oder ein orientalischer Dibbuk kann sie beim Tod ihres derzeitigen Körpers in einen neuen überwechseln. Lamia und Nyx sind also identisch. Da dies so ist, nützt es nichts, diesen einen Körper zu töten. Sie würde in den nächsten ihr genehmen Körper überspringen, wohl den einer Vampirin, die sich auch mit der Muggelwelt auskennt.“
„Interessant“, warf Albertine ein. „Könnte es dann nicht sein, daß Lamia und Elvira Vierbein ein und dieselbe Person sind? Immerhin hat Elvira Vierbein die Solexfolien miterfunden.“ Anthelia hätte sich fast vor den Kopf geschlagen, weil ihr diese so klare Lösung nicht selbst eingefallen war. Um nicht den Eindruck zu machen, hier und jetzt auf etwas offensichtliches gestoßen werden zu müssen sagte sie ruhig:
„Seitdem Elvira Vierbein bei dem Versuch, Zachary Marchand zu ihrem Sohn zu machen gescheitert ist und trotzdem entkommen konnte habe ich den Verdacht, daß sie Lamia ist. Doch wie erwähnt nützt es nichts, sie zu töten, solange es genug von ihr abhängige Vampire gibt. Sie hat trotz der Entwendung immer noch Kontakt mit dem Mitternachtsdiamanten. Erst wenn dieser endgültig entkräftet ist oder es keine Kinder Lamias mehr gibt, in deren Haut sie schlüpfen kann, dürfen wir sie töten und hoffen, sie endgültig aus der Welt zu schaffen.“
„Der Mitternachtsdiamant liegt irgendwo draußen im Meer und wird jede Minute wohl mehr und mehr zugeschüttet oder abgetrieben“, wandte Beth ein. Dann schlug sie vor, Lamia nicht zu töten, sondern wie es damals Volakin geschafft hatte, in eine Erstarrung zu zwingen, damit sie nichts mehr anstellen konnte. Sie sah Romina und Albertine an und blickte dann Anthelia fragend an: „Dürfen wir flüssigen Stickstoff benutzen, um sie mit einem Schlag einzufrieren, wenn wir wissen, wo sie ist?“
„Das wird nichts nützen, Schwester Beth“, sagte Anthelia. „Sie kann dann aus dem erstarrten Körper in einen neuen übergehen. Außerdem müßte irgendwer die Gefrierung aufrechterhalten. Aber es gibt etwas, daß wir anwenden können. Dazu müßten wir aber nach Ägypten oder den Sudan. Kennt ihr die Seelenschlinger?“ Die anwesenden Hexen zuckten zusammen. Anthelia nickte und fuhr fort: „Zur Zeit, da ich mein erstes Leben führte, hieß es, daß es in Ägypten fünf Stück davon gibt. Es sind in Stein gebannte Geisterwesen, ähnlich wie Nachtschatten. Doch ihre Gier ist unbegrenzt. Wenn sie einen körperlosen Geist wittern, greifen sie mit unsichtbaren Fangfäden nach ihm, schnüren ihn ein und verleiben ihn sich ein. Je mehr körperlose Geister ein Seelenschlinger vertilgt hat, desto weiter reicht sein Einfluß. Magier, die dem Gott Seth gedient haben, haben Menschen auf diesen Steinen geopfert. Wurden ihre Seelen vom Körper frei, verschlang der Seelenschlinger sie sofort. Die alten Magier konnten sich an der dunklen Kraft der Steine dann mit frischer Körperkraft aufladen oder ihre Zauber vervielfältigen. Soweit ich von meiner Tante Sardonia erlernte wurden diese Steine von den Pharaonen und den ihnen treuen Magiern eingesammelt und in der Wüste vergraben, da wo angeblich der Gott Osiris von Seth getötet worden sein soll. Leider haben wir keine Verbindung nach Ägypten und dem angrenzenden Sudan. Aber wenn wir wissen, wo Basis Winternacht ist, werde ich mit zweien von euch dort hinreisen und mit mir bekannten Zaubern der Erde nach den schwarzen Steinen suchen.“
„Seelenschlinger sind unberechenbar. Wenn sie Hunger haben strahlen sie eine bösartige Kraft aus, die Leute dazu treibt, andere umzubringen oder sich selbst zu töten, damit der Schlinger die dem Körper entweichende Seele fressen kann“, wandte Beth McGuire ein. „Sie sind daher schlimmer als Horkruxe oder ein Basilisk im Keller. Das möchtest du nicht wirklich, höchste Schwester.“
„Von möchten oder gar wollen habe ich kein Wort gesagt“, erwiderte Anthelia. „Wir müssen dieses Mittel anwenden. Ja, und mir ist die verheerende Kraft der Seelenschlinger auch bekannt. Wohl deshalb wurden sie ja wohl in der Wüste vergraben, womöglich noch mit Zaubern umgeben, die lebende Menschen von den Orten fernhält, an denen diese Steine ruhen“, sagte Anthelia. „Deshalb dürfen wir sie ja auch erst suchen, wenn wir die Basis Lamias gefunden haben. Ich werde noch einmal alles nachschlagen und in meine Erinnerung zurückrufen, was ich über die meßbare Beziehung zwischen führenden Vampiren und ihren Untergeordneten finden kann. Wir treffen uns dann zur Walpurgisnacht wieder hier. Bis dahin haltet die Augen und Ohren offen und vor allem, meldet rechtzeitig, wenn euch etwas ungewöhnliches bekannt wird! Danke für eure Mithilfe!“
Die Versamlung löste sich auf. Anthelia wartete, bis alle verschwunden waren. Dann atmete sie auf. Die Idee, jemanden in flüssigen Stickstoff einzufrieren könnte auch ihr zum Verhängnis werden. Doch sie konnte dann nicht sterben. Sie würde einfach nur die Zeiten überdauern, bis jemand sie wieder auftaute. Das konnte dann genauso unwürdig sein wie die Gefangenschaft in der Felsenfestung Ailanorars.
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Darfaian, einer der älteren Sonnensöhne, fühlte sich in diesem Aufzug unwohl. Das Zischen der Ventile, durch die ihm frische Luft zufloß, der gelbe Kunststoff, der seinen Körper umschloß und der Druckbehälter auf dem Rücken, der den nötigen Sauerstoff bereithielt waren nichts für einen Krieger aus Altaxarroi, und ebensowenig für einen Hüter der Kraft, als der er großgezogen und ausgebildet worden war. Doch dieser Aufzug mußte sein. Zusammen mit seiner Gefährtin Miridaria hatte er das Gebäude bei Turin unter Beobachtung. Dort konnten weitere dieser Schutzhäute gefertigt werden. Bisher hatten sie sich nicht den jetztzeitigen Trägern der Kraft offenbart, die hier lebten. Sicher waren diese daran interessiert, die Brut der Nachtkinder zu stoppen. Doch die Sonnenkinder mußten ihre angeschlagene Ehre wiederherstellen. Denn daß vier von ihnen von heimtückischen Fallen getötet werden konnten, die von Nachtkindern aufgestellt worden waren, durfte nicht ungeahndet bleiben.
„Wenn wir noch näher herangehen erspürt der Sohn der Blutmondkönigin unsere Ausstrahlung. Dann müssen wir ihn sofort angreifen“, dachte Miridaria.
„Ist er in diesem lauten Haus?“ wollte Darfaian wissen.
„Das Lied der Lebendigkeit reicht dort hinein. Ich konnte die Unbegüterten erspüren. Einer von ihnen ist kalt wie Eis. Das muß dieser Roberto Goldoni sein, der diese Fertigungsstätte befehligt. Er ist ein Nachtkind.“
„Dann holen wir ihn uns. wir errichten die Kugel des umfassenden Schweigens. Dann lasse ich das schwingende, flammenlose Feuer in diesem Haus einschlafen“, dachte Darfaian seiner Gefährtin zu.
„Wir müssen ihn direkt erstarren lassen. Hilf mir, das Lied des starken Sonnenlichtes direkt zu ihm hineinwirken zu lassen. !“
die beiden Sonnenkinder rückten vor. Zuerst legten sie um sich eine Kugel aus Magie, die einen Kilometer weit jeden überlauten Ton und jeden frei von Geist zu Geist dringenden Gedanken unterdrückte. Dann sang Darfaian einen Zauber, der alle dem Feuer verbundenen Kräfte erstarren ließ. Damit setzte er die gesamte Elektrizität außer Kraft. Jetzt gingen sie den kurzen Weg direkt zu dem Vampir, der in seinem abgedunkelten Büro saß. Miridaria versuchte, ihn mit einem Ruf der Gefangenschaft zu binden, während Darfaian gegen das in dem Blutsauger lauernde Vernichtungsfeuer ankämpfte. Als der Vampir versuchte, einen silbernen Brieföffner auf dem Tisch zu ergreifen ließ Miridaria diesen mit den Worten der Bewegung davonfliegen und mit Wucht in den Aktenschrank einschlagen. Dabei entstand um den Gegenstand ein blaues leuchten. Keinen Moment später war der Brieföffner mitsamt dem Schrank verschwunden. Der Vampir, der nicht mit der vollen Wirkung des lähmenden Zaubers getroffen worden war, erkannte, daß er jetzt schleunigst davonlaufen mußte. Da ereilte ihn die Vernichtungskraft des Schmelzfeuers. Denn Darfaian hatte diesen tückischen Fluch nicht ganz niederringen können. Es mochte an dem Helm liegen, der seine Worte nicht klar und deutlich nach draußen dringen ließ. Doch als der Sonnensohn verärgert nach dem Schließmechanismus tasten wollte, um den Helm zu öffnen, explodierte eine Wolke aus grünem Staub in den Raum hinein. Die beiden Sonnenkinder erkannten, daß sie hier nichts mehr zu suchen hatten. Das grüne Todespulver umschloß sie. Doch es konnte keine freie Hautpartie berühren oder durch die Atemwege in die Lungen der beiden eindringen. Miridaria und Darfaian konnten nichts anderes mehr tun, als zu verschwinden. Sie hatten zwar keinen Erfolg erzielt, aber dafür hatten sie überlebt.
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Lamia steckte immer noch in der Blutumwälzung. Arnold Vierbein hätte am liebsten den Stecker herausgezogen und die ganze Sache mit flüssigem Stickstoff überflutet. Doch dann wäre er keine Sekunde länger am Leben geblieben, wußte er.
Am dritten Mai um 14.00 Uhr Weltzeit, wie sie an allen Orten der Antarktis galt, pingelte der elektronische Alarm, der immer dann losging, wenn eine der Solexfolienfabriken gestürmt wurde. Arnold lief sofort in die fensterlose Leitzentrale hinüber und sah auf der elektronischen Landkarte, daß die Fabrik bei Turin angegriffen worden sein mußte. also hatten diese Zauberer oder die Sonnenkinder auch diese Fabrik gefunden. Er ärgerte sich erst. Doch dann dachte er, daß die Angreifer es bitter bereuen würden, wenn sie auch nur einen Atemzug lang Zeit dazu hatten. Dann mußte Roberto gleich im unterirdischen Magazin der Basis Winternacht herauskommen. Er schaltete die Überwachungsmonitore auf den Bereich. Zwar würde dieses Ding, daß Lamia Portschlüssel nannte, erst eine wilde Bildstörung produzieren, doch die würde gerade drei Sekunden vorhalten. Ja, da flimmerte das Bild auch schon. Dann zuckten grelle Blitze über die Mattscheibe hinweg, die zu lautlosen Lichtexplosionen wurden. Arnold blickte nicht hin. Erst als die drei Sekunden vorbei waren wagte der Vampir es, den Monitor anzusehen. Im Auffanglager, das Lamia mit verstärkten Eisentüren verschlossen hatte, stand ein Aktenschrank. Aus einer Tür ragte der Griff eines Brieföffners heraus. Solche Brieföffner gehörten seit Februar zu den Standardbüroartikeln für die Leiter der Solexfolienfabriken. Damit konnten sie flüchten, bevor ihnen jemand zu nahe kam. Doch warum war dieser Schrank aufgetaucht. Arnold blickte auf die elektronische Karte. Das rote Blinken sagte ihm, daß das alle zehn Sekunden für zwei Millisekunden ausgestrahlte Signal, daß an einen von den Russen gekaperten Satelliten geschickt wurde, nicht mehr gesendet wurde. Das passierte nur, wenn der Fabrikleiter ertappt worden war, die Fabrik ohne Strom war oder vollständig zerstört wurde. Wenn sie pech hatten waren alle drei Unannehmlichkeiten auf einmal geschehen.
Arnold dachte daran, daß kurz nach dem Verschwinden des Brieföffners die Grünstaubbombe auslöste, sofern jemand mit einer Ausstrahlung ähnlich der Sonne näher als fünf Meter an sie herangekommen war. Dann lebten die Angreifer jetzt nicht mehr.
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Sie fühlte die langsam erwachenden Geschöpfe der Nacht. Gleich würde die Abenddämmerung vollends erlöschen. Dann würde diese kleine Ansiedlung südlich von Kyoto zu einem menschenfeindlichen Leben erwachen. Die Führerin der Spinnenschwestern hatte sich mit Hilfe von Schminke, Frisurzaubern und hautfreundlichen Klebestreifen das Aussehen einer Japanerin zugelegt. Sie verwünschte einmal mehr, keine praktischen Selbstverwandlungszauber mehr an sich ausführen zu können. Jetzt sah sie aus wie eine jüngere Schwester Izanami Kanisagas. Beide trugen dunkle Kleidung, selbst wenn das die im Dunkeln exzellent sehenden Vampire nicht beeindrucken würde. Der Stab des dunklen Wächters, den Izanami Anthelia beschafft hatte, war nach bald fünf Jahren in seine alte Heimat zurückgekehrt. Hoffentlich würde er Anthelia auch im Land der aufgehenden Sonne gute Dienste leisten. Der unter einer schalldurchlässig gezauberten Mütze versteckte Allversteher-Ohrring ließ Anthelia so fließend Japanisch sprechen, als sei sie in diesem Land geboren und aufgezogen worden.
„Sie wachen auf, Schwester Izanami“, zischte Anthelia und ließ ihre linke Hand an den Griff des Schwertes gleiten, das sie in einer Drachenhautscheide auf dem Rücken trug.
„Weißt du, wie wir einen der Vampire einfangen können?“ fragte Izanami.
„Ich habe die Vorbereitungen getroffen, Schwester. Ich muß nur den Menschennamen eines Vampires wissen, am besten einer Vampirin, da ich stark vermute, daß Lamia zu ihren Töchtern eine besonders starke Verbindung aufbaut. Ah, das Nachtleben nimmt seinen Lauf.“ Anthelia deutete mit dem silbergrauen Zauberstab auf eines der Häuser, die den rechteckigen Platz umstanden. Sie fühlte die von allen Seiten zu ihr hinwehenden Gedanken wie eine kalte Brise, die immer stärker wurde. Die Ruhe vor dem Sturm war vorbei.
Izanami zog ein ebenfalls auf dem Rücken getragenes Schwert mit leicht gekrümmter Klinge und einer rasiermesserscharfen Schneide. Das Katana, die Hauptnahkampfwaffe der Ninjas und Samurai, glühte rot auf. Anthelia bewunderte die Waffe, die vor fünfhundert Jahren von einem japanischen Feuermagier für den letzten Krieger der Sonne geschmiedet worden war, bevor die Heerschar des dunklen Wächters alle magischen Samurai in einer letzten Schlacht hinweggefegt hatte. Der Zauberschmied hatte die Waffe im Feuer eines aktiven Vulkans geschmiedet und mit Beschwörungen der irdischen und himmlischen Glut aufgeladen und gehärtet. Damit war es ein entfernter und eher schwächlicher Verwandter von Yanxothars Klinge, die alle irdischen und der Sonne entströmenden Feuer bündeln und in gewissen Grenzen beherrschen konnte. Izanamis Schwert glühte nun orangerot. Es reagierte auf die Geschöpfe, die ihre Kraft aus der nächtlichen Dunkelheit bezogen. Die japanische Hexe zielte mit dem Katana auf eines der Häuser. Die Klinge blitzte kurz weiß auf. Von dort kam tatsächlich ein Feind. Anthelia zog eine kleine Schachtel aus ihrem dunklen Trikot, daß ihre makellose Figur nachzeichnete. Sie öffnete die Schachtel und entnahm ihr einen runden Stein und eine silberne Nadel. Dairon hatte bei der Erschaffung des Seelenmedaillons einen Rubin in Vampirblut getaucht und solange Beschwörungen darauf gesprochen, bis das Blut restlos in den Stein eingesaugt worden war. Sowas konnte Anthelia jetzt nicht ausführen. Dazu war keine Zeit. Doch wenn ihr gelang, mit dem erbeuteten Blut eines Vampirs dessen Menschennamen in den Stein zu ritzen, konnte sie den Vampir einen vollen Mondzyklus lang befehligen. Dann hätte sie einen neuen Stein erschaffen müssen.
Aus den Häusern kamen die Vampire. Es waren erst zehn. Dann waren es zwanzig. Sie rochen das frische Blut. Doch sie fühlten auch die Nähe einer tödlichen Gefahr. Deshalb gingen sie erst daran, die beiden Hexen zu umzingeln. Weitere neue Nachtkinder verließen ihre Verstecke. Es war unheimlich anzusehen, wie die Vampire in einfacher Unterkleidung aus den niedrigen Hauseingängen hervorlugten und dann wlautlos wie Schatten auf den Platz traten. Die Situation war für die beiden Hexen höchst bedrohlich. Izanami trug unter ihrem Kimono einen Drachenhautpanzer, um alle Formen körperlicher Gewalt von sich fernzuhalten. Anthelia blieb so kühl und gelassen, als beobachte sie lediglich ein gefahrloses Naturschauspiel. Dann ruckte ihr Kopf nach rechts und faßte eine junge Frau ins Auge. Ihre Gesichtszüge waren Asiatisch. Doch ihre Haut war fahl wie helle Asche. Die Vampirin erkannte, daß die eine Fremde sie musterte und versuchte, Anthelia mit ihrem bannenden Blick zu fesseln. Doch die Führerin der Spinnenschwestern wetterte den magischen Angriff mit der in ihr gebündelten Kraft zweier Seelen und dem Gedanken an einen Blick in die Sonne ab. Die Vampirin schrak zurück. Anthelia tastete mit ihrem Gedankenspürsinn nach ihr und schaffte es, den Menschennamen der jungen Frau zu erfahren, Satomi Takahashi. Die anderen Vampire rückten vor. Izanami zielte mit dem Katana auf jeden. Weiße Funken stoben aus der Klinge, die keine Stoßspitze besaß. Die Vampire schraken zurück, als die Funken sie trafen. Doch die hinter Izanami wartenden Blutsauger sahen ihre Chance, vorzurücken. Sie liefen los, ohne einen verräterischen Laut zu verursachen. Es fehlten nur noch zwanzig Meter zwischen ihnen und er japanischen Hexe. Anthelia zischte nur: „Von hinten!“ Izanami wartete, bis ein Vampir versuchte, sie zu packen. Weil er dabei mit größerer Geschwindigkeit zulangte, als die Panzeraura der bezauberten Drachenhautkleidung es zuließ, prallte seine bleiche Hand einen halben Meter vor Izanami ab. Diese wirbelte herum. Pfeifend schlug ihre Klinge einen Bogen und erwischte den Angreifer präzise am Hals. einen winzigen Sekundenbruchteil lang meinte Anthelia, in einem blendendweißen Blitz ein Skelett stehen zu sehen. Dann flog der qualmende Kopf des Vampirs von der Wucht des Hiebes getrieben zurück. Einer der anderen Vampire bekam den abgetrennten Schädel gegen die Brust und zuckte zusammen, als habe er sich an dem Kopf verbrannt. Der enthauptete Vampir fiel schwarzen Rauch absondernd in sich zusammen. Von ihm blieb nur verkohlte Haut übrig. Anthelia Nutzte die Schrekcsekunde der Vampire und apparierte neben Satomi Takahashi. Die Vampirin griff Anthelia sofort an. Diese stieß sie mit der von ihrem Zauberstab verstärkten Telekinese einfach zu Boden. Sie schaffte es, die Blutsaugerin auf den Boden zu drücken. Doch da tauchten gleich drei weitere Vampire auf. Anthelia wirbelte mit ausgestrecktem Stab herum. Die drei Blutsauger wurden wie von einer gewaltigen Faust getroffen zu Boden gerissen. „Avada Kedavra!“ rief anthelia. Der grüne Todesblitz traf den ersten, der versuchte, sich wieder aufzuraffen. Er fiel zurück. Sein Fleisch löste sich und zerfloß. Zurück blieb nur das blanke Gerippe. Die beiden anderen Vampire wollten gerade hochschnellen, als Anthelia jedem einen Sonnenlichtspeer in die Brust trieb. Das war für die beiden Blutsauger genauso tödlich wie der unverzeihliche Fluch. Um sich weitere Vampire vom Hals zu halten zog Anthelia einen drei Meter durchmessenden Flammenring, der auch Satomi mit einschloß. Diese sprang nun mit gefletschten Zähnen auf Anthelia zu. Diese ließ sich umwerfen. Doch dann riß ihre vom Zauberstab ausgerichtete Willenskraft die Vampirin wie mit einer unsichtbaren Riesenhand von ihr weg nach oben und wirbelte sie einmal herum. Mit einem dumpfen Schlag wurde sie der Länge nach auf den Boden gedrückt. Der Kreis aus Flammen hielt die noch nicht flugfähigen Vampire sicher zurück. So griffen sie Izanami an, die mit ihrem Schwert außerhalb des Feuerringes stand. Sie stieß Kampfschreie aus und ließ ihr Schwert wie ein weißer Blitz in die Reihen der Vampire schlagen. Jetzt wußte Anthelia es endgültig, woher das Schwert Izanamis seinen Namen „Blitz in der Dunkelheit“ hatte.
Im Magischen Feuerschein schoß Anthelia magische Seile auf die Vampirin ab und ließ sie darin einschnüren. Nur die Halspartie ließ sie frei. Satomi wälzte sich nun herum. Doch Anthelia hatte ihre lange silbernadel schon bereit und warf sich über die gegen ihre Fesseln ankämpfende Blutsaugerin. Mit einem blitzartig geführten stoß rammte sie der Vampirin die Nadel tief in den bis dahin unversehrt gebliebenen Hals. Also war sie wirklich dem verheerenden Vampyrogen erlegen. Jetzt quoll bleiches Blut aus der kleinen Wunde. Anthelia preßte den Stein auf die Wunde und rollte ihn solange darauf, bis dieser vollständig vom Vampirblut getränkt war. Dann ritzte sie mit der silbernen Nadel den Menschennamen in den Stein ein. Um die zeitweilige Bindung so fest sie konnte zu machen benutzte sie die japanische Lautschrift. Dann rief sie eine altdruidische Bannformel, in die sie Satomis vollständigen Namen einfügte. Der Stein glühte nun rot auf. Das auf ihm gesammelte Blut wurde von ihm eingesaugt wie Wasser von einem Schwamm. Die Gefangene Vampirin schrie auf und zuckte zusammen. Anthelia wiederholte ihre Bannformel, die aus Dairons Zeit stammte, und die auch Sardonia gekannt hatte. Anthelias Rechnung ging auf. Da die Vampirin noch ganz frisch war, hatte Lamia ihr noch keine Selbstvernichtungszauber oder -sprengkörper in den Leib treiben können. Doch wenn die Blutmondkönigin gerade in der Nähe war, so würde sie die Überwältigung einer ihrer neuen Töchter sicherlich mitbekommen und reagieren. Anthelia hoffte, daß sie dadurch Lamias geheime Basis orten konnte.
„Du bist mir nun unterworfen, Satomi“, sagte Anthelia auf Japanisch. „Du gehörst jetzt mir und wirst tun, was ich dir sage. Bleib liegen und warte auf meinen nächsten Befehl!“ Die Hexe steckte den Stein, den sie bei Ausruf des Befehls hochgehalten hatte wieder fort. Ihre Hand war weder naß noch klebrig. Der Stein hatte alles an Vampirblut in seiner unmittelbaren Nähe in sich eingeschlossen.
Izanami und ihr Schwert „Blitz in dunkler Nacht“ räumten in diesen Sekunden gnadenlos unter den Vampiren auf. Zwölf Nachtkinder fielen unter den tödlichen Streichen. Die meisten von ihnen verloren ihre Köpfe und verkohlten dann innerlich. Zwei wurden in der Körpermitte geteilt. Die beiden Hälften fielen schwarz qualmend zu Boden und zerfielen zu Asche. Einige der Vampire versuchten, durch Anthelias Feuerring zu springen. Doch die magischen Flammen ließen sie wie Zunder auflodern und verbrennen, ohne daß sie einen Laut des Schmerzes oder Todes von sich geben konnten. Die anderen Vampire flüchteten, da sie es einsahen, gegen diese beiden Feindinnen nicht bestehen zu können. Da sie noch nicht wie ihre erfahrenen Artgenossen zu Fledermäusen werden und davonfliegen konnten, rannten sie in ihre Häuser und warfen die Türen zu. Sie würden sich wohl dort verkriechen, wo sie auch Schutz vor den Sonnenstrahlen gefunden hatten. Außer Satomi war nach einer halben Minute kein Vampir mehr auf dem Platz.
„Wir haben was wir wollten, Izanami. Das Faß!“ befahl Anthelia. Sie ließ den Feuerring zusammenfallen und lauschte. Die Vampire hockten in tiefen Kellern in Schränken und Vorratskammern und hatten Angst. Izanamis Schwert glühte jedoch noch hellorange. Es witterte Satomi.
Izanami steckte das Schwert zurück. Sie zog ihren Zauberstab und rief den aus dem Westen erlernten Apportationszauber. Daraufhin materialisierte sich ein zwei Meter hohes, bald ebensobreites Stahlfaß und polterte hohl nachklingend zu Boden. Anthelia holte den Stein wieder hervor und hielt ihn der gebannten Vampirin hin. „Steig in das Faß!“ befahl sie. Sie lauschte, ob nicht eine andere Gedankenstimme als die Satomis der Gefangenen einen anderen Befehl zutragen würde. Doch im Moment schien Lamia nicht in der Nähe zu sein. Womöglich konnte sie auch nicht alle ihre Neuschöpfungen im ersten Ansatz beherrschen. Wichtig war nur, daß diese nicht gegen sie aufbegehrten. Anthelia löste die schon gut angebrochenen Fesseln um Satomi und sah, wie diese wie an langen Fäden gezogen aufstand. Sie stakste zu dem gerade vor ihr liegenden Fass und schlüpfte ohne weitere Verzögerung hinein. Izanami klappte den Deckel zu und verschloß diesen sicher.
„Locomotor Faß!“ Riefen die beiden Hexen dem stählernen Behälter zu. Dieser erhob sich und schwebte hinter den beiden Hexen her zu einem Flugteppich, den Louisette in der Gestalt ihres Bruders dem ägyptischen Händler Bashir abgekauft hatte. Anthelia bedauerte es einmal mehr, daß Vampire sich nicht auf eine Apparition mitnehmen ließen, weder bei Bewußtsein noch ohnmächtig. So mußten sie ihre Gefangene durch Bewegungszauber und ein Flugartefakt transportieren. „Fliege zu unserem Ausgangspunkt zurück und erwarte mich dort!“ dachte Anthelia Izanami zu. Dann befahl sie, den Bannstein in der Hand haltend: „Bleibe im Faß, bis ich dir befehle, wieder herauszukommen, Satomi Takahashi!“ Dann sah sie zu, wie Izanami mit dem Flugteppich abhob und davonflog.
In Japan gab es immer wieder Erdbeben. So war es für Anthelia/Naaneavargia kein Problem, dieses Dorf mal eben von den Mächten der Erde vertilgen zu lassen. Doch sie mußte erst den Tag abwarten. Immer wieder versuchten Vampire, ihre schützende Deckung zu verlassen und sich anzuschleichen. Doch Yanxothars Klinge löschte sie mit seinem Feuer schneller aus, als sie noch einen Gedanken fassen konnten. So erledigte Anthelia dreißig weitere von nur noch vierzig Vampiren. Die zehn verbliebenen blieben in ihren geschützten Räumen. Zumindest dachten sie, daß sie dort sicher waren.
Als der Morgen graute bereitete Anthelia/Naaneavargia die alte Anrufung der Kraft der Erde vor. Eine Stunde nach Sonnenaufgang flog Anthelia ohne Besen über den Dorfplatz und warf den bezauberten Stein ab, dessen Aufschlag die Gewalt der Erde freisetzen und das ganze Dorf zusammendrücken und im Erdboden verschwinden lassen würde. Dabei löste Anthelia jedoch nicht nur die Erdbebenmessgeräte der Muggel, sondern auch die auf größere magische Entladungen ausgelegten Spürvorrichtungen der japanischen Zaubererwelt aus. Das merkte sie, als unvermittelt mehrere Dutzend Besen am Horizont auftauchten. Sie disapparierte aus dem freien Fall heraus. Wohl gerade noch rechtzeitig war sie entkommen.
„Du hast das Dorf mit einem Erdbebenzauber zerstört, höchste Schwester? Das hätte ich dir sagen sollen, daß unser ehrenwerter Zauberrat überall im Land große Steine bezaubert hat, die jedes nicht von der Natur erzeugte Erdbeben melden, allein schon, um das zu vergelten, was du gerade gemacht hast“, sagte Izanami, als Anthelia in dem vor Apparierspürern abgesicherten Bereich eingetroffen war. Die oberste Spinnenschwester grummelte, daß sie das jetzt wohl wisse und wohl bis auf weiteres keine magischen Erdstöße in Japan mehr hervorrufen würde.
Mit dem Flugteppich ging es über den Pazifik nach Osten. Einen Tag später landete der Teppich in einem Haus, daß die beiden Spinnenschwestern für das Verhör der Gefangenen vorbereitet hatten. Anthelia hatte altaxarroi’sche Gedankenkraftverstärkungszauber in die Wände gewirkt und an mehreren Stellen den Namen Lamia und den Namen „Elvira Vierbein“ in die Wände eingraviert und mit ihrem eigenen Blut und einem Spürzauber Dairons aktiviert.
Als die gefangene Vampirin aus dem Stahlfaß kletterte war es draußen schon dunkel. Den Stein in der Hand fragte Anthelia, ob sie wisse, wo Lamia sei. Satomi wußte davon jedoch nichts. So ging Anthelia die zweite Stufe ihres Plans an und sprach die alten Zauber „Stimme der Erde“ und „Ruf durch das Nichts“, mit dem sie eine Gedankenverbindung zwischen der Vampirin und ihrer Meisterin räumlich orten wollte. Sie befahl Satomi, nach Lamia zu rufen, weil sie hatte fliehen müssen, da mehrere auf Besen fliegende Männer ihre neuen Verwandten umgebracht hatten und sie nur mit einem der Autos im Dorf hatte davonfahren können.
Der Ruf erreichte jedoch nicht die gewünschte Zielperson. Schlief diese? Anthelia konnte sich denken, daß die Herstellung des Vampyrogens eine Menge Kraft kostete. Sie bereitete sich darauf vor, mehrere Nächte mit der Gefangenen zubringen zu müssen.
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„Leute, es bringt nichts, andauernd die Fabriken zu stürmen, wenn die nichts dahaben, was verrät, wo diese Lamia sitzt“, meinte Brandon, als er und seine drei Gefährten von dem fehlgeschlagenen Angriff erfuhren.
„So, Jüngling. Wie meinst du denn, den Ort zu finden, an dem die Königin lebt?“ hörte Brandon die Stimme Darfaians, der sich um den verdienten Respekt gebracht fühlte im Kopf. Wieder war Brandon in geistige Verbundenheit mit seiner Gefährtin Dawn getreten. Wieder hörte er ihr Herz, seines und das der gemeinsam gezeugten Tochter, die wohl Mitte bis Ende Mai zur Welt kommen würde.
„Wie weit kann ein Vampir dieser Nocturnia-Königin von seiner Herrin weg sein, ohne ein Relais, also einen Verbindungskameraden zwischen sich und sie zu setzen?“ wollte Brandon wissen.
„Wir können uns um die ganze Erde verständigen, weil wir uns zusammenschließen können“, gedankenantwortete Faidaria. Brandon hatte es mittlerweile heraus, wie herum die beiden Teile eines zusammengesetzten Hauptwortes wie übersetzt werden mußten. Darfaian hieß also heller Himmel, während Faidaria Licht des Himmels hieß.
„Richtig, wir können einen Verbund bilden, weil wir alle die Kraft und das gemeinsame Dasein in uns tragen, auch Gwendartammaya und Ilangardian oder Patricia und Brandon nur durch das mit uns geteilte Fleisch und Blut zu uns dazugekommen sind“, erwiderte Darfaian. Doch die Kinder der Nacht können gerade nur soweit von ihrem Blutahnen entfernt mit ihrem inneren Selbst zu ihnen sprechen, wie sie Anteile des anderen Blutes in sich tragen und dieser Anteil in hundert Tausendschritten je Anteil. Sie hat bestimmt nicht jedem die Hälfte ihres Blutes zu trinken überlassen, um die Bindung mit ihren Kindern zu vollziehen. Daher kann sie ihre Kinder wohl nur in ihren Gedanken rufen, wenn sie gerade dreihundert Tausendschritte von ihr entfernt sind, oder wenn beide sich auf einander einstellen, das Dreifache.“
„Sagen wir lieber das zehnfache, weil Lamia überstarke Zauberkräfte hat und noch dazu den Mitternachtsdiamanten mit sich herumgetragen hat“, warf Patricia ein, die ebenfalls in den Gedankenverbund einbezogen war. Brandon ging also von gerade einmal zehntausend Kilometern aus, die die wichtigsten Vampire von ihrer Herrin entfernt sein durften. Wenn es eine Hierarchie gab, konnten auch Ketten gebildet werden, womit dann wieder ein die ganze Erde umspannendes Netz entstand. Damit war es nicht so einfach, das Zentrum zu finden. Doch Brandon hatte eine andere Idee:
„Wir können davon ausgehen, daß Nocturnia in dicht besiedeltem Gebiet doch irgendwann auffällt. Also kann das Hauptquartier nur an einem Ort liegen, wo in mehreren hundert Kilometern kein anderer Mensch herumläuft. Wenn die so sehr gegen die Sonne sind, kann ich Südamerika, Afrika und Australien mal aus der Rechnung herausnehmen. Fließendes Wasser können sie nicht vertragen. Damit fällt die Nordpolregion auch aus. Was bleibt dann noch übrig?“ Patricia lachte in Gedanken. Doch Darfaian fragte mißmutig, was diese Erkenntnis einbrachte.
„Das wir alle Stationen und Militärbasen auf dem antarktischen Kontinent überprüfen, ob da in den letzten Monaten was ungewöhnliches passiert ist, und sei es, daß eine Routinemeldung verspätet gemacht wurde“, sagte Brandon.
„Oder das eine neue Forschungsbasis entstanden ist oder neues Personal eingetroffen ist“, spann Patricia den Faden weiter.
„Genau das“, erwiderte Brandon. ich lasse meine zwei elektronischen Kundschafter mal auf die ganzen Daten los“, gab er weiter.
„Es bringt uns nur etwas, wenn wir einen der Blutsauger fangen und verhören können und über ihn an Lamia herankommen“, gedankenknurrte Darfaian. Doch Faidaria erkannte wohl mehr, weil sie über ihre Nichte mit Brandon besser verbunden war als die anderen.
„Das Wissensgerät Ilagardians ist geduldig und kann alle anderen nicht verschlossenen Behälter von Wissen ergründen. Damit können wir es vielleicht doch schaffen, wenn wir keinen der Blutsauger verhören können.“
„Ich zweifel am Erfolg solcher Sachen. Ein seelenloses Ding soll uns helfen, unsere Erzfeindin zu finden“, schickte Darfaian zurück. Doch Brandon war entschlossen. Das war genau das, was ihm lag und womit er sich auskannte. Dieser alte Sonnensohn hatte doch keine Ahnung, was mit heutigen Computern und dem Internet alles ging, wo sämtliche Daten abrufbar waren, über Jahrzehnte zurück, wenn es sein mußte.
„Lasst ihn suchen. Er hat mir und meinen Mitschwestern damals mit so einem Vorgehen geholfen, einen gefährlichen Feind zu jagen und dessen Stützpunkt zu finden“, schlug sich Patricia auf Brandons Seite. Darfaians Einwand verhallte. So ging Brandon Rivers daran, Arachnobot und Argos 20xx darauf anzusetzen, ausschließlich nach Berichten über die Forschungsbasen der Antarktis zu suchen. Kam dabei nichts greifbares herauskonnte er immer noch Abbitte leisten und eine zeitlich unbegrenzte Jagd auf die Vampire befürworten. Doch wenn die nachwuchsen wie die Köpfe der Monsterschlange Hydra war das ein aussichtsloser kampf.
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Der Befehl ihrer Herrin war eindeutig. Sie brauchten unbedingt Salamanderpulver und das Blut von einem jungfräulichen Drachenweibchen. Was Lamia in St. Petersburg hatte beschaffen können war verbraucht. Wenn sie neuen Grünstaub machen wollten, um die restlichen Sonnenkinder in tödliche Fallen zu locken, brauchten sie diese beiden wichtigen Bestandteile, zu denen dann noch Grünspan, und andere, wesentlich leichter zu beschaffende Zutaten gehörten.
Die Dunkelheit war ihre Beschützerin, Mondbeter und Schattensänger hatten mal zur Sicherheitstruppe der russischen Zaubererwelt gehört und kannten sich aus. Doch als Vampire hatten sie ihre nach außen wirksamen Zauberkräfte eingebüßt. Sie konnten nur noch als Fledermäuse fliegen oder Menschen mit ihrem hypnotischen Blick bannen.
„Ich rieche keine Wachen“, knurrte Mondbeter. Er blickte auf das windschiefe Haus, in dem der Zaubertrankbraumeister Ilja Borzow sein Labor unterhielt. Sicher hatte der die gesuchten Ingredenzien da.
„Ist der Panscher denn zu Hause?“ wollte Schattensänger wissen. Er schnüffelte. Dann durchbohrte sein Blick die fast vollkommene Dunkelheit, die nur durch die mehrere hundert Meter weit weg stehenden Straßenlampen von St. Petersburg gestört wurde.
„Ich höre und rieche keinen“, flüsterte Schattensänger. Sie rückten für Menschenohren unhörbar vor, horchten auf irgendwas, was mit Magie zu tun haben könnte. Zumindest fühlten sie keine sie abstoßende Ausstrahlung. Dieser Leichtsinnige hatte keine Abwehrmaßnahmen ergriffen. Jeder Interessent konnte sich dem Haus nähern. Erst fünf Meter von der Tür entfernt spürten die beiden Vampire ein leichtes Kribbeln. Das kannten sie schon. Es war ein Apparitionsschutz, der nur dem Träger eines bestimmten Blutes erlaubte, ins Haus hineinzuapparieren. Schattensänger nahm einen kleinen Silberbrocken aus der Tasche seiner pechschwarzen Lederjacke und hielt den Brocken einen Zentimeter von der Tür entfernt. Das Stück Silber begann leise zu summen und erwärmte sich.
„Doch nicht so einfältig“, grummelte Schattensänger und zog den Silberbrocken zurück. „Er hat den Vorhang von Bakunin vor die Tür gezogen“, bemerkte er noch. Mondbeter suchte bereits eines der Fenster ab und schüttelte den Kopf. „Zum Sonnenaufgang noch mal! vor dem Fenster hängt auch ein Bakunin’scher Vorhang.
„Prüfen wir alle Fenster“, zischte Schattensänger. Sie lauschten auf Geräusche von innerhalb des Hauses. Für die beiden Vampire war es ein leichtes, bei großer Dunkelheit und großer Entfernung vom Rauschen und Brummen von Muggelweltverkehrsstraßen den Herzschlag jedes Menschen innerhalb eines Hauses zu hören, aber auch nur, wenn dieser Mensch nicht in einem Klankerker hockte. Daran mußte Schattensänger zumindest denken, als er rechts um das Haus herumging und jedes Fenster mit dem Frühwarnsilber prüfte. Auch die Hintertür war mit jenem Einbruchsabwehrzauber verhüllt, den der seit einem Jahrhundert in Durmstrang magische Kampfkunst und Gegenwehr unterrichtende Goran Bakunin erfunden hatte. Wer versuchte magielos durch diesen Vorhang zu gelangen, wurde mit dem fünffachen der Kraft zurückgeworfen, mit der er vorzudringen versuchte. Wer mit Magie gegen den Vorhang vorging mußte froh sein, wenn ihm nur der Zauberstab aus der Hand geprellt wurde. Schlimmsten falls konnte einem der eigene Zauber als schmerzhafter Rückstoß den ganzen Zauberstabarm verbrennen. Die Vampire wußten, daß es gegen diesen Zauber nur ein Mittel gab, den Erzeuger selbst vor sich herzuschieben, so daß der Vorhang für einen Moment durchlässig wurde.
„Wir müssen übers Dach und den Kamin rein“, knurrte Mondbeter für Menschen nicht zu hören. Schattensänger nickte und trat einige Schritte zurück. Dann versank er in die transformative Trance, die einem Vampir half, die Verwandlung in eine menschengroße Fledermaus zu schaffen, sofern er bereits lange genug Vampir war, um diesen Gestaltwandel zu schaffen. Auch Mondbeter versenkte sich in diesen so wichtigen Zustand. Die Verwandlung setzte ein. Eine halbe Minute später flogen die beiden Blutsauger um das Haus herum. Das Flattern ihrer lederartigen Flughäute mochte im Haus gehört werden können. Doch die beiden Vampire vernahmen nichts, was auf eine Reaktion deutete. Sie überflogen das Dach und näherten sich dem Kamin. Ihre empfindlichen Nasen schnüffelten. Aus dem Schornstein drang nur der Geruch erkalteten Rauches. Dort drinnen brannte im Moment kein Feuer. Auch konnte hier oben auch kein Bakunin’scher Vorhang errichtet werden, da dieser Rauch zurückhielt und aufstaute. Das war der wirkliche Schwachpunkt dieses Abwehrzaubers. So konnten die Vampire, nachdem sie wieder menschliche Gestalt angenommen hatten, durch den Schornstein in das Haus hinuntergleiten. Schattensänger landete als erster auf einem kalten Rost. Lautlos schlüpfte er aus dem Kamin. Keine fünf Sekunden später folgte ihm Mondbeter. Doch kaum trat Schattensänger auf den zerschlissenen Teppich des Wohnraumes, schrillte es überlaut los. Gleichzeitig leuchtete der Teppich so hell auf, daß die lichtempfindlichen Nachtgeschöpfe die Augen zukneifen mußten. Da flogen drei Türen auf, und je zwei Mann stürmten in den Wohnraum. Sie trugen die Umhänge der russischen Abwehrtruppe gegen feindliche Zauberer und Zauberwesen und hielten ihre Zauberstäbe kampfbereit in den Händen. Als Mondbeter versuchte, trotz der Augen und ohren peinigenden Beeinträchtigung vorzuspringen, fauchten zwei silberne Lichtfächer auf ihn zu und trafen ihn. Die Macht der beiden Zauber schleuderte ihn gegen den Baksteinsims. Schattensänger wirbelte schneller als eine Katze herum und entkam zwei hellen Lichtentladungen, die laut krachend in die Wand einschlugen. Er wollte vor, einen der wegen des hellen Lichtes schwer zu erkennenden Gegner anspringen, als von der Decke ein stählernes Netz fiel und den Vampir einschnürte. Silberne Funken stoben aus dem Netz. Der Blutsauger fühlte, wie etwas in der Fangvorrichtung ihm die Körperkraft raubte.
Schattensänger berappelte sich von seinem Rückschlag und fuhr laut fauchend aus der Hocke heraus auf die beiden Zauberer los, die ihn mit einem doppelten Mondlichthammer bedrängt hatten. Da klatschte auch über ihm ein stählernes Netz von der Decke und wickelte ihn ein. Silberne Funken stoben in alle Richtungen, als der zweite Eindringling bewegungslos gemacht wurde.
„Das ihr zwei es wagt, hierherzukommen ist schon dreist. Aber dann soll uns auch recht sein“, sagte einer der Zauberer. Er sprach Russisch mit georgischem Akzent.
„Uns war klar, daß ihr darauf anspringt, wenn es irgendwo Zutaten für Grünstaub zu holen gibt. Habt ihr und eure verfluchte Anführerin echt gedacht, wir würden uns vor lauter Ärger andauernd irgendwo hinbeißen, daß ihr uns das Rezept geklaut habt?“ wollte ein anderer Zauberer wissen, der vom Tonfall her aus Sibirien stammte.
„Nocturnia!“ riefen die beiden Vampire. Blaue Blitze zuckten krachend aus den Körpern und zersprühten zu knisternden Funken. Die sechs Zauberer lachten.
„Das war wohl ein Satz mit x, ihr zwei. Wir haben die Netze nicht nur mit Mondfrieden aufgeladen, sondern auch mit dem Feuerfänger, der magisches Feuer aufsaugt und löscht. Eure Schmelzfeuer-Selbstvernichtungsvorkehrung greift da nicht. Jetzt haben wir euch“, sagte der Georgier. Dann trat ein spitzbäuchiger, hellgelockter Zauberer vor und sah die Gefangenen an.
„Ihr seid verhaftet. Ich freue mich schon darauf, den Standort eurer verfluchten Räuberhöhle herauszufinden.“
„Du wirst diese Nacht nicht überleben, Arcadi. Deine Zeit geht heute noch zu Ende“, stieß Schattensänger eine düstere Prophezeiung aus.
„Nein, ist schon klar“, grummelte der russische Zaubereiminister und sah die beiden gefangenen Vampire an. Seine Brille erwärmte sich. Er hatte sie mit dem Sonnensegen bezaubert. Deshalb fing sie die hypnotische Kraft der Vampiraugen ab. Schattensänger zuckte mit dem Kopf zurück.
„Du stirbst gleich, alter Dickbauch“, fauchte Mondbeter und versuchte noch einmal, an den maschen des Netzes zu zerren, doch der diesem eingewirkte Mondfriedenszauber schwächte ihn wieder. Da fing der Gefangene plötzlich zu schreien an. Es war ein langgezogener, schriller Ton. Sein Kumpan schrie daraufhin auch laut los. Arcadi hielt sich einen Moment die Ohren zu. Doch dann kam ihm eine höchst alarmierende Erkenntnis: „Raus hier, die haben noch was in sich!“ Rief er und sprang durch die noch offene Tür zurück. Sein Leibwächter folgte ihm. Doch die vier anderen Zauberer standen da, als drohe ihnen keine Gefahr. Daß sie sich da völlig irrten bekamen sie eine Sekunde später zu spüren. Da war es jedoch zu spät, noch zu verschwinden. Mit einem dumpfen Doppelknall explodierten die beiden Vampire wie übergroße Knallfrösche. Die Explosionswucht war so stark, daß das ganze Wohnzimmer verwüstet wurde. Die vier Zauberer flogen von den beiden Druckwellen gepackt mit solcher Wucht gegen die Wand, daß Rückgrat und Hinterkopfknochen brachen wie hauchdünnes Glas unter einem niedersausenden Schmiedehammer. Sie waren auf der Stelle tot. der eben noch hell leuchtende Teppich ging in hundert Fetzen, die Qualm und Ruß versprühten. Dann brannten die Holzbohlen und die Deckentäfelung.
Arcadi rieb sich die Ohren. Er hatte es gerade noch geschafft, mit seinem Leibwächter in das steinerne Gewölbe zu springen, in dem Borzow sein Labor hatte. Der zweifache Explosionsknall hatte seine alten Ohren aarg gebeutelt. doch das ignorierte Arcadi. Er hatte gute Heiler zur Hand, die ihm helfen konnten, kein anhaltendes Pfeifen in den Ohren zu erleiden. Was wichtiger war, daß war, daß er gerade soeben noch einer tödlichen Falle Nocturnias entgangen war. Außerdem wußte er jetzt, daß die Abgesandten dieser Vampirbande bedenkenlos ihre Existenz beendeten, wenn das in ihnen eingepflanzte Schmelzfeuer sie nicht erledigte. Wer und wo immer diese Lamia war, sie hatte Zugriff auf nichtmagische Sprengmittel. Die beiden Vampire hatten mit ihren schrillen Rufen wohl einen magielosen Zünder ausgelöst, um bloß nicht verhört werden zu können.
Arcadi wollte gerade seinem Leibwächter mit einem Handzeichen bedeuten, nach den vier Mitstreitern zu sehen, als ihm unverkennbarer Brandgeruch in die Nase stach. durch den Gewölbezugang kroch grauer Qualm, und ein irrlichterndes rotes Licht zeigte ihm, daß im Wohnzimmer Feuer ausgebrochen war.
„Raus hier!“ rief Arcadi. Es war schon unheimlich, die eigene Stimme so zu hören, als habe er sich dicke Pfropfen in die Ohren gesteckt. Sein Leibwächter nickte und rannte auf Arcadi zu. Beide eilten durch eine kleinere Tür zu einem Kleiderständer. Sie legten zeitgleich ihre Hände daran. Sofort umwirbelte sie eine blaue Lichtspirale. Dann waren die beiden Zauberer verschwunden. Eine halbe Minute später apparierten zwanzig Brandbekämpfungszauberer vor dem Haus. Einer versuchte, mit einem Sprengfluch die Tür zu öffnen und wurde vom magischen Rückstoß zehn Meter zurückgeschleudert. Die anderen schickten Sprengzauber gegen die Wände. Damit brachen sie sich einen Zugang ins Haus selbst frei. Von neuer Luft genährt schlugen ihnen gleißende Flammengarben entgegen. Doch die Flammengefrierzauber ihrer Umhänge bewahrten sie vor einem grausamen Tod. Die Feuerbekämpfer hielten unverzüglich mit blauleuchtenden Brandlöschzaubern und armdicken Kaltwasserstrahlen auf die Flammen. zischend schrumpften die Flammen sich windend und dampfend zusammen. Es dauerte nur zwei Minuten, da war das Feuer gelöscht. Es hatte das Wohnzimmer komplett unbewohnbar gemacht. Der eingang zum steinernen Gewölbe war stark verrußt. Doch an die in luftdichten Fässern gelagerten Zaubertrankzutaten hatte das Feuer noch nicht gerührt. Auch so würde Borzow einen großen Batzen Gold als Entschädigung fordern, weil das russische Zaubereiministerium sein Haus als Falle benutzt hatte.
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Arnold Vierbein nickte nur, als er auf seinem Bildschirm zwei rote Punkte aufblinken und dann wieder verschwinden sah. Mondbeter und Schattensänger in St. Petersburg hatte es errwischt. Drei Stunden später zeigte das Suchtruppüberwachungsprogramm den Totalverlust eines dreiköpfigen Beschaffungstrupps in Norddeutschland, wo sie die Drachenblutvorräter einer gewissen Hulda Weidenstock plündern wollten. Arnold nickte. Die Zauberstabschwinger waren doch keine Schlafmützen. Als die ersten Sonnenkinder vom Grünstaub erledigt worden waren hatten sie sofort erkannt, daß die Vampire oder wer immer bald Nachschub benötigen mochte. So waren sämtliche Bezugsquellen sofort unter Überwachung gestellt worden.
„Das hättest du dir denken können, Elly“, grummelte Arnold. „Aber der Größenwahn Lamias hat dir den Verstand vernebelt.“ Arnold stieg in die geschützten Räume hinunter, die kein rotblütiger Mensch betreten konnte. Hier lag sie in der Blutumwälzungsanlage. Bekam sie in diesem Zustand überhaupt mit, wenn ihre Abkömmlinge den Geist aufgaben? Die Frage beschäftigte Arnold Vierbein mehr als die Angst, einen weiteren Wutausbruch seiner Herrin aushalten zu müssen.
Als er sah, daß Lamia immer noch langsam atmend an den pulsierenden Schläuchen hing wußte er, daß sie wirklich gegen alle äußeren Einflüsse abgestumpft war. Womöglich waren St. Petersburg und Ginstermoor auch zu weit fort, um die mentalen Todesschreie der Mitbürger zu hören.
Der promovierte Biochemiker, der nur wegen seiner Mithilfe zur Erfindung der Solexfolie das fragwürdige Vorrecht erhalten hatte, ein Sohn der Nacht zu sein, zog sich in die Überwachungszentrale zurück und blickte auf die LCD-Monitoren, die den Bereich um die Basis Winternacht zeigten. Der elektronische Kalender zeigte den 10. Mai 2000. Die lange Südpolarnacht war gänzlich über das weite eisige Land herabgesunken. Es würde Monate dauern, bis die Sonne wieder aufging. Hier, knapp zwanzig Kilometer vom geographischenSüdpol entfernt, hielten es jetzt nur noch Pinguine und die Kinder der Nacht aus. Zwanzig zweiertruppn, zehn in der Luft und zehn am Boden, umkreisten die Anlage in zwei Kilometern entfernung. Lamia hatte wegen der ganzen Elektronik auf eine Apparitionsabwehr verzichtet. Wer hier in die Basis hineinploppte löste einen auf Menschenkörpertemperaturen abgestimmten Eindringlingsalarm aus, wenn nicht gerade wieder irgendeine Überprüfungsgruppe die Station auf ihre wissenschaftliche und finanzielle Existenzberechtigung abklopfte. Wer außerhalb solcher Prüfungstermine hier hereinkam wurde mit einer raffinierten Sprinkleranlage begrüßt, die statt Wasser flüssigen Stickstoff abregnete. Vampire konten selbst die kälteste Temperatur schadlos überstehen. Versuche mit rangniederen Mitbürgern hatten das gezeigt. Die Körperzellen waren absolut frostsicher, ebenso das weiße Vampirblut. Arnold fragte sich, ob er nicht lieber zwei Jahrhunderte in flüssigem Stickstoff verschlafen wollte, statt für die Frau in der Umwälzmaschine Wache zu stehen. Anfang Juni wollte Lamia wieder aus der Anlage steigen. Bis dahin sollte der Vampirgasangriff auf Shanghai erfolgt sein. Nachdem das Experiment mit dem Jumbojet ein Reinfall geworden war wollten sie es jetzt wissen. Eine den Triaden nahestehende Im- und Exportfirma sollte ein Faß mit dem Gas auf dem Landweg nach Shanghai bringen und angeblich von dort nach Japan verschiffen, als Geschenk für eine gegen die japanische Regierung gerichtete Terrororganisation. Daß das Faß bereits in Shanghai durch einenGPS-gestützten Zünder aufgesprengt wurde wußten die Chinesen nicht. Dagegen machen konnten sie dann auch nichts mehr.
„Eisflieger fünf sieht Motorschlitten aus nordwest anfahren“, hörte Arnold die Gedankenstimme eines Mitbürgers. Da er mit den Führern der Eiswachen Blut ausgetauscht hatte, konnte er zumindest ohne Funk mit den Patrouillen in Verbindung bleiben.
„Wie viele Leute sind im Schlitten?“ fragte Arnold auf mentalem Weg zurück.
„Drei Mann. Viel zu lauter Motor“, kam die Antwort zurück.
„Wieder melden wenn Schlitten im gelben Kreis fährt!“ schickte Arnold zurück. Er fragte sich, warum jetzt ein Motorschlitten in dieser Gegend herumfuhr. Fünf Minuten später bekam er die erbetene, wenn auch nicht wirklich erwünschte Meldung, daß der Schlitten nur noch fünfhundert Meter von der Basis entfernt war. Arnold blickte auf den entsprechenden Monitor. Ja, da konnte er die Scheinwerfer des Motorschlittens erkennen. Es war eher ein Schneemobil, ein Fahrzeug mit geschlossener Kabine. „Habe fremden Schlitten auf dem Bildschirm. Bereithalten für Abwehrmaßnahme!“ schickte Arnold seinen Truppen zu. Er sah auf die Anzeige für Routinetermine. In einer halben Stunde war der tägliche Statusreport fällig. Doch keiner hatte sich angesagt, die Basis zu besuchen. Er schaltete den Funk ein und nahm das Mikrofon. Strom, auch wenn er sehr schwach war, verursachte bei Vampiren ein spürbares Kribbeln, wenn sie näher als die mit der Voltzahl malgenommenen Zentimeter an eine Leitung herankamen. Doch Arnold Vierbein hatte sich daran gewöhnt. Er wählte per Tastatur den Standardrufkanal und rief den herankommenden Schlitten an. Sofort bekam er eine Antwort: „Hier Dr. Richter und Dr. Kuhlmann vom Wegenerinstitut. Möchten unbedingt die von Ihnen gefundenen Bohrkerne aus dem Untereissee übernehmen“, sagte eine Stimme von atmosphärischem Rauschen unterlegt. Arnold überlegte. Die Namen sagten ihm nichts. Doch er konnte nicht alle Polarforscher der Welt kennen. Er nicht, aber der Computer schon. So tippte er schnell die erwähnten Namen ein und ließ ein Suchprogramm ablaufen, das alle in der Polarforschung arbeitenden Wissenschaftler namentlich und fachrichtungsbezogen auflisten konnte. Keine zwei Sekunden später kam die Meldung
Namen nicht im Verzeichnis. Tippfehler?
Er gab die Namen noch einmal ein, wobei er den Namen Kuhlmann ohne h also Kulmann tippte. Wieder fand der Computer keinen passenden Eintrag. So fragte Arnold über Funk, von wem beim Wegenerinstitut sie denn geschickt worden seien. Den Namen fütterte er auch in seinen Rechner ein. Wieder kam die Meldung, daß der Name nicht im Register geführt war. Er tippte ein, daß die leitenden Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Institutes ausgegeben werden sollten. Der gesuchte Name war nicht dabei, und der Datenstand war bis auf zwei Tage aktuell.
„Sie kommen ein wenig unangemeldet, die Herren. Ihr Chef hätte ruhig bei uns anrufen können. Wir haben eine Satellitentelefonnummer.“
„wir wurden erst heute Morgen informiert, daß in den von Ihnen gesicherten Proben womöglich prähistorische Mikroorganismen enthalten sein können. Unser Chef will, daß das sofort überprüft wird.“
„So, will ihr Chef das?“ schnarrte Arnold. „Ich muß mit meinem Vorgesetzten sprechen und Sie anmelden. Bitte bleiben sie solange im Schlitten. Wir haben die Auflage, die Türen nur dann zu öffnen, wenn wir zu angemeldeten Expeditionen aufbrechen oder vorangemeldeten Besuch einlassen wollen. Energiesparen, Sie wissen schon.“
„Das wurde uns mitgeteilt“, sagte die Stimme aus dem Funk. Arnold verzog das Gesicht. Es gab keine solche Vorschrift in dieser Basis. Wenn dem Schlittenhund da draußen das mitgeteilt worden war, dann glaubte der, besser lügen zu können als Arnold Vierbein. Also stimmte da irgendwas nicht. „Falsche Forscher kommen zu uns. Will wissen, was die wollen. Dann erledigen!“ schickte er an die Überwachungstruppen draußen auf dem Eis.
Arnold schaltete die Abbruchautomatik für die Blutumwälzung ein. Das konnte ihm zwar gehörige Schwierigkeiten bereiten, mußte aber sein. Die Schläuche hörten zu pulsieren auf. Ein schwacher Stromstoß durchfuhr die in der Anlage liegende Lamia. Dann lösten sich die Infusionsnadeln von kleinen Vorrichtungen angehoben aus der Haut der Vampirin.
„Was fällt dir ein. Ich war noch nicht soweit!“ fauchte Lamia. Doch dann erkannte sie, daß es wohl wichtig war. Sie setzte sich auf und fragte nach dem Grund für das vorzeitige Aufwecken. Sie knirschte mit den Zähnen und apparierte mit ihrem obersten Helfer in der Überwachungszentrale.
„Was wollen drei Schwindler mitten im eisigen Niemandsland von einer Forschungsstation?“ fragte Arnold seine Herrin.
„Kann ich dir sagen, die hunderttausend Dollar Bargeld, die wir gemäß letzter Routineabsprache erhalten haben, um unsere Angestellten zu bezahlen. Prüf mal, ob du noch funken kannst!“ Arnold prüfte das Funkgerät. Außer auf dem Kurzstreckenkanal hatte er auf allen anderen Frequenzen ein überdeutliches Störsignal. Jemand blockierte seine Nachrichtenverbindungen.
„Dann kommen die ausgerechnet zu uns“, lachte Arnold Vierbein. Lamia lachte auch. Dann befahl sie: „Laßt die drei alle zu uns rein, aber keinen mehr raus.“
„Bürger?“ fragte Arnold.
„Nur wenn ich weiß, wie wichtig die sind. Falls nicht, dann nur Futter“, erwiderte Lamia.
Arnold gab die Anweisung, die Außentür zu öffnen, um die drei einzulassen. Er funkte sie an und gab grünes Licht, daß sie die Station betreten durften. Als dann drei in dicken Daunenmänteln und Kapuzen vermummte Männer dem Schlitten entstiegen und durch die kälteabweisende Außentür gestapft waren, fühlte Arnold Lamias Erregung. Entweder würden sie gleich eine raffinierte Räuberbande festnehmen oder wichtige Wissenschaftler, deren Namen sie noch nicht gespeichert hatten, zu neuen Bürgern machen.
Als die drei durch die ebenso kälteabweisende Innentür hereinkamen wartete Lamia bereits in der Aufmachung einer Labortechnikerin und begrüßte die unangemeldeten Besucher. Diese stellten sich als Richter und Kuhlmann, sowie ihren Fahrer Petersen vor. Lamia gab ihren Decknamen als Mitarbeiterin der Forschungsstation an und blickte den dreien in die Augen. Einer nach dem anderen erstarrte unter dem magischenBlick der Vampirkönigin. Zwei Minuten vergingen mit einem unhörbaren Verhör. Die Blutmondkönigin konnte in die Gehirne der drei hineinsehen wie durch die Scheiben eines Aquariums. Dann sagte sie zu Arnold: „Kleine Banditen ohne irgendwelchen Wert für uns. Steck sie in die Boxen!“
„Bist du dir sicher, daß die drei nicht vermißt werden, Herrin?“ wollte Arnold wissen.
„Nicht in den nächsten zwei Monaten. Die wollten sämtliche Stationen hier ausrauben und sich dann mit dem geklauten Geld und wichtigen Medikamenten nach Südamerika absetzen. Die vermißt keiner“, bekundete Lamia und hielt die drei weiterhin unter magischer Blickkontrolle. Arnold nickte und gab sechs Mitbürgern mit einem Wink zu verstehen, daß die drei zu neuen Blutspendern für Lamias Umwälzanlage werden sollten. Endlich mal wieder ausgewachsene, kerngesunde Männer, statt ausgehungerter Straßenkinder, dachte Arnold.
„Ihr buddelt den Schlitten ein!“ befahl Lamia den draußen patrouillierenden Vampiren. Diese rückten sofort mit Hacken und Schaufeln an und zogen den Motorschlitten weit genug von der Basis fort, um ihn unter Eis und Schnee zu vergraben. Zunächst holten sie aber alle Treibstoffvorräte heraus, um die Station weiter beheizen zu können, wenn mal wieder ein offizieller Besucher anrückte. Was die Vampire nicht mitbekamen war, daß jemand unter den Schlitten einen auf Zufallsfrequenzen gestellten Peilsender eingebaut hatte, der alle zehn Sekunden ein kurzes Positionssignal an einen um den Südpol kreisenden Satelliten funkte.
Die drei Männer erwachten aus der magischen Hypnose, als sie splitternackt in nischenartige Aussparungen hineinbugsiert wurden. An Ihren Armen und Beinen waren Kanylen befestigt. „Mist, was ist das gewesen?! Scheiße! Was macht ihr da mit uns?!“ brüllte der, der angeblich Doktor Richter geheißen hatte. Doch die sechs bleichgesichttigen Männer gingen nicht darauf ein. sie fesselten die Gefangenenen und winkten einer Frau in weißem Kittel, die mit drei Packungen Seniorenwindeln anrückte und die drei mit der Routine einer Altenpflegerin oder Krankenschwester wickelte.
„Eh, Leute, was soll das hier werden?!“ schimpfte Petersen und versuchte, sich gegen die Fesseln zu wehren.
„Ihr habt unsere Herrin dabei gestört, unser mächtiges Pulver zu machen. Dafür dürft ihr ihr jetzt helfen, frisches Blut dafür zu kriegen“, sagte die Frau unbeeindruckt und sah dem angeblichen Motorschlittenführer Petersen in die Augen. „Ganz ruhig. Dann ist das nicht so schlimm! Ganz ruhig!“
„Eh, Leute, wir wollten nur die Kohle und dann wieder abrauschen. Daß hier eine Horrorhöhle ist wußten wir nicht“, lamentierte Richter. Als die Pflegerin, die sich eher als eine Magd sah, ihm einen Schlauch in den Mund schob und diesen mit einigen Klammern befestigte konnte er nichts mehr sagen. Sich zu bewegen schaffte er auch nicht mehr. „So, ihr drei. Seid froh, daß euer armseliges Gaunerleben noch einen Sinn hat. Womöglich helft ihr mit, hundert neue Bürger zu begrüßen.“ Sie lächelte und zeigte dabei ihre dolchartigen Vampirzähne. Die drei Gefangenen stießen Schreckens- und Wutlaute aus, versuchten, sich gegen die an Armen und Beinen festgemachten Schellen zu stemmen oder herumzuwälzen. Doch da setzte die Blutumwälzmaschine bereits ein.
„Die drei sind ordnungsgemäß angeschlossen“, meldete die Wärterin an Arnold Vierbein, der nun die neuen Zugangswege freischaltete. Lamia versank bereits in der Trance, in der sie wochenlang eigenes Blut absondern und frisches Blut dafür zugeführt bekommen konnte. Wann das Blut der drei gescheiterten Banditen bis zum letzten Tropfen in Lamia hineingewandert war konnte sich Arnold locker ausrechnen. Zudem konnte er ausrechnen, daß mit der daraus gewinnbaren Essenz des Vampyrogens im flüssigen Zustand mindestens eintausend, im gasförmigen Zustand dreihundert Menschen umgewandelt werden konnten. Er war zufrieden mit sich. der Motorschlitten wurde gerade unter einer drei Meter dicken Schnee- und Eisschicht begraben. Den würde hier niemand mehr vermuten. Die drei Waffen der männer hatte er sicherstellen lassen, um neue Bürger damit auszurüsten, wenn sie in die weite Welt geschickt wurden.
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Anthelia konnte ihren Mitschwestern zum angesetzten Treffen an Walpurgis einige Neuheiten verkünden. Sie hatte zusammen mit Louisette und den britischen Bundesschwestern die menschlichen Handlanger eingekreist, die Lamia geholfen hatten, das Vampirwerdungsgas zu transportieren. Allerdings hatte Lamia mitgedacht und den bereits einmal von ihr beeinflußten Erwin Maddox dazu verleitet, auf den offenen Pazifik hinauszufahren. Dort war seine Luxusyacht explodiert, keine überlebenden. Anthelia war im Grunde eine halbe Woche zu spät gekommen. Dennoch hatte sie etwas in den Hinterlassenschaften des nach außen hin so anständigen Maklers finden können, ein Protokoll von Transportgutüberwachungsmarkierungen, sogenannten RFID-Chips. Diese Überwachungsvorrichtungen waren in einem verschwiegenen Hafen bei Feuerland erstmalig abgerufen worden und dann in regelmäßigen Abständen den Atlantik hinauf bis nach New York. Von dort hatte ein Flugzeug die Fracht nach Los Angeles gebracht. Die Protokolle waren ausgedruckt und im Tresor von Maddox Sommerhaus in Vancouver verplombt worden. Anthelia hatte dann im Alleingang herausgefunden, welches Schiff die Ware transportiert hatte. Der letzte Schritt war, zu prüfen, wo genau die Ware hergekommen war. Hierzu mußte sie den Kapitän des Schiffes und den Verbindungsmann in Feuerland aufsuchen. Das konnte sie jedoch nicht angehen, weil Nadja die ersten Vorwehen verspürt hatte, fast einen Monat früher als berechnet. Da sie jedoch nicht von Nadja sprechen wollte, sagte sie, daß sie den Kapitän des Frachters erst verhören konnte, wenn das Schiff von einer Pazifiküberquerung zurück sei. Denn sie wolle kein Aufsehen erregen.
Satomi hatte inzwischen mit Lamia gedankliche Verbindung erhalten. Doch als Lamia fühlte, daß ihr jemand nachspürte, hatte sie Satomi mit einem alten Fluch getötet, den Anthelia/Naaneavargia zu gut kannte: Das Lied des Bluthenkers. Damit konnten die der Mitternachtsseite zugetanenen Zauberer und Hexen ihre eigenen Kinder und Kindeskinder töten.
„Sie weiß vielleicht, daß wer nach ihr sucht, aber nicht genau wer. Außerdem suchen ja auch die Sonnenkinder nach ihr. Das bringt sie nicht darauf, daß ich auch hinter ihr herjage. Es wird wohl in einem Wettlauf ausarten, wer sie zuerst stellt“, beschloß Anthelia ihren Bericht. Dann hörte sie sich an, was die anderen zu sagen hatten. Nocturnias Versuche, kleine Vampirnester zu gründen scheiterten immer wieder, wenn ruchbar wurde, daß die Bewohner eines Dorfes sich fremdartig verhielten. Mittlerweile konnten die Heiler das von Eileithyia Greensporn mitentwickelte Umkehrgebräu auch in anderen Ländern herstellen. Als Luisette die Lage in Frankreich schilderte sagte sie noch: „Das Ministerium Grandchapeaus hält den Deckel auf alle Aktivitäten gegen Nocturnia. Die sind froh, daß sie im Moment das trimagische Turnier in Beauxbatons haben. Zumindest ist den Vampiren der Zugang zu Grünstaubzutaten verwehrt worden. Mehr konnte ich nicht erfragen, weil das zu auffällig gewesen wäre. Ich kann mich da nur auf Kantinengeflüster beziehen.“
„Feiern sie dann auch Walpurgis mit den Gastgruppen?“ Fragte Beth McGuire. Louisette bejahte es.
Als die Besprechung beendet war las Anthelia den schriftlichen Bericht, den Louisette für sie alleine ausgefertigt hatte. Daraus entnahm sie, daß Julius Latierre mit Pina Watermelon, der Tochter einer britischen Schwester aus der Gruppe der zögerlichen, den Flug machen durfte und seine Frau Mildrid es ausdrücklich gefordert hatte, daß er diese Feier mitmachte. Soweit Louisettes Nichte ohne direkte Nachfrage vermeldete, erwarteten die Latierres ihr erstes Kind in den nächsten Tagen. Anthelia nahm das als für sie nur rein privat wichtige Nachricht zur Kenntnis. Zum einen konnte es bei Nadja Markowa auch jeden Tag losgehen. Zum anderen galt es, den Weg des Vampirwerdungsgases zu seinem Ausgangspunkt zurückzuverfolgen. >
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Faidaria schickte ein „Aufpassen, begüterter Mann in Morgenrichtung!“ an ihren Gefährten Aroyan. die bbeiden für die Region Osteuropa und Westasien eingeteilten Sonnenkinder hatten erfahren, daß es in dieser Gegend des Kaukasus ein Dorf gab, dessen Bewohner offenbar seit einer Woche keinen Kontakt mehr mit der Außenwelt pflegten. Gisirdaria hatte es ihnen auf dem Weg des inneren Sprechens mitgeteilt. Das Dorf hatten sie gefunden. Doch sie wollten es erst bei Tageslicht betreten, weil sie sich nicht zu sehr auf ihre Sonnenkindausstrahlung verlassen wollten, wenn es gegen vielleicht hundert Menschenblut trinkende Nachtkinder ging.
„Bist du sicher, daß ein Begüterter da ist, kein Nachtkind?“ wollte Aroyan wissen. Seine Gefährtin nickte. Dann erfaßte sie mit ihren geübten Spürsinnen zwei weitere Geistesquellen, die von ihrer Schwingungsart her eindeutig auf mit der Kraft begüterte Menschen hinwiesen. Was sie dachten konnte sie nicht erfassen. Nur wenn sie sie ansah und Blickkontakt herstellte war dies möglich. Immerhin verrieten ihr die Schwingungen, daß es drei Männer waren, die wohl genauso an dem Dorf interessiert waren wie die Sonnenkinder.
„Wir ziehen uns nach Abendrichtung zurück“, befahl Aroyan nur für seine Begleiterin vernehmbar. Diese nickte und nahm ihren Mann bei der Hand. Sie gingen zu Fuß. Sicher wären sie schneller gewesen, wenn sie den kurzen Weg gegangen wären. Doch das hätten die Begüterten vielleicht mit einem Spürgerät entdecken können.
„Bei den großen Ahneltern. Sie folgen uns“, gedankenknurrte Faidaria, als sie erspürte, daß die drei Männer ihnen nachgingen, ja sogar näherkamen. Dann tauchten vor ihr in der Abendrichtung weitere drei Männer auf, deren Gedankenschwingungen auf die Kraft schließen ließ.
„Womöglich haben sie unsere eigene Ausstrahlung erkannt und können ihr folgen“, knurrte Aroyan. Ihm war nicht danach, Kontakt mit den Jetztzeitbegüterten aufzunehmen. Denn obgleich seine Gefährtin es ihm noch nicht hatte sagen wollen wußte er, daß sie sein Kind trug. Es durfte nicht als Gefangener überneugieriger und in Versuchung führbarer Nachkömmlinge der großen Rasse aufwachsen.
Als nun noch drei Frauen in Mittags- und drei Männer in Mitternachtsrichtung vom Kurzen Weg heruntertraten wußten die beiden Sonnenkinder, daß sie entweder unverrichteter Dinge verschwinden oder sich der Entdeckung preisgeben mußten. Da fühlten sie etwas auf sich niedersinken, das wie ein hauchdünnes, aber unendlich schweres Stück Stoff um ihre Körper glitt. Das war kein greifbares Netz. Doch die beiden wußten, daß ihnen der kurze Weg durch Raum- und Zeit verschlossen worden war.
„Sie sollen uns nicht fangen, nicht, wo mein Sohn in dir heranwächst“, schnarrte Aroyan. Faidaria schmunzelte. Hatte er ihre andere Ausstrahlung doch als das erkannt, was es war, auch wenn sie alle Gedanken daran vor ihm verhüllen konnte.
„Deine und meine Tochter wird nicht als Gefangene der Jetztzeitigen aufwachsen oder mir vor ihrer eigenen Lebensfähigkeit aus dem Leib gerissen“, gedankenschnarrte Faidaria. Dann sah sie eine Frau und zwei Männer herankommen, jene holzhaltigen dünnen Kraftausrichter in den Händen, die die Jetztzeitbegüterten benutzten.
„Seid uns gegrüßt, Sonnenkinder“, sagte einer der Männer in der Sprache, die in dieser Gegend gesprochen wurde. Die Allversteher-Ohrringe halfen den beiden Sonnenkindern dabei, jede von lebenden Wesen gesprochene Sprache zu verstehen und für diese auch verständlich zu antworten.
„Du weißt, wer wir sind, Träger der Kraft?“ fragte Faidaria. Ihr Gefährte ballte die linke Faust. Mit der rechten umklammerte er den pyramidenförmigen Kraftausrichterkristall.
„Wir konnten es erahnen, als wir herausfanden, wie eure Feinde, die auch unsere sind, die Falle stellen konnten, in der vier von euch erstickt sind. Auch wir kennen die Geschichte, daß es Träger der Sonnenkraft geben soll. Ich bin Valentin Mogorov, Mitarbeiter im Amt für verständigungsfähige Zauberwesen“, stellte sich der Mann vor, der die beiden begrüßt hatte. Dann stellte er seine beiden Begleiter vor. Die Frau hieß Lara Andropova und war eine ausgebildete Heilerin. Ihr war es zu verdanken, daß die russischen Ministeriumszauberer die Ausstrahlung der Sonnenkinder orten konnten.
„Wir wollen sehen, was mit dieser Ansiedlung geschehen ist. Sollten dort Nachtkinder erwacht sein, so müssen wir sie bekämpfen. Doch wir müssen den Tag erwarten, weil sie dann in ihren Häusern vor dem großen Licht des Himmelsvaters sicher sind“, sagte Faidaria an Lara Andropova gewandt, die ein goldenes Armband mit bleichen Kristallkugeln am rechten Handgelenk trug.
„Wir sind auch hier, um dieses Dorf zu überprüfen. Wo habt ihr eigentlich die gelben Anzüge her? Ich erkenne sie als die von den Magielosen benutzten Schutzrüstungen gegen unsichtbare Gifte, Strahlen und Krankheitskeime“, wandte sich Mogorov an Aroyan, der immer noch seinen Kraftausrichter bereithielt.
„Das betrifft euch nicht“, knurrte Aroyan. Aus seinem Kraftausrichterkristall drang ein sanftes Glühen, ein Zeichen, daß der Sonnensohn kurz davor stand, einen aus gefühlsmäßiger Unbeherrschtheit entspringenden Zauber freizusetzen.
„Wenn ihr die Sachen von Magielosen stehlt betrifft uns das schon“, erwiderte ein anderer Mann hinter Aroyan. Faidaria blieb ruhig und sagte ganz entschlossen:
„Wir haben es genausowenig nötig, Dinge zu stehlen wie ihr. Die Unbegüterten konnten ihre so nützliche Rüstung gegen unsichtbare Gefahren behalten.“
„Klären wir später“, erwiderte Mogorov und wies seinen Mitarbeiter an, den Zauberstab herunterzunehmen. Daß Aroyan seinen Magieausrichter noch bereithielt nahm der Russe offenbar nicht so ernst.
„Gleich erstrahlt das erhabene Himmelsfeuer. Seine Kraft treibt die ungeschützten Kinder der Nacht in dunkle Verstecke oder verbrennt sie“, sagte Faidaria, die bisher ihren Namen nicht genannt hatte.
„Das Dorf werden wir absuchen. Sie bleiben bei meinen Leuten hier“, befahl Mogorov. Aroyan widersprach ihm. „Wir sind von den großen Ahnmüttern ans Licht dieser Welt gebracht worden, um gegen die Brut des Mitternächtigen Herrschers zu kämpfen. Wir werden diese Brut auslöschen. Ihr kehrt zu euren Behausungen zurück und beschränkt euch darauf, sie gegen dieses Gezücht des von Dunkelheit erfüllten Königs alter Zeit zu verteidigen!“ befahl Aroyan. Die Zauberer, die mittlerweile einen dichten Ring um die Sonnenkinder geschlossen hatten, lachten nur.
„Seid ihr denn so viele, daß ihr uns diese Arbeit abnehmen könnt?“ lachte ein großer, breiter Mann mit rotem Haar. „Ich brauche nur einen zauber zu wirken, und ihr seid beide nackt. Dann kann euch der Grünstaub der Vampire locker die Luft abdrehen, wenn ihr deren Zünder mit eurer Aura auslöst.“
„Du drohst mir, jetztzeitiger Träger der erhabenen Kraft?“ fragte Aroyan sehr verärgert. Faidaria erspürte, daß es gleich zu einem unnötigen und blutigen Kampf kommen würde, wenn sie nicht eingriff.
„Unser Auftrag ist älter als euer. Nur deshalb sind wir erwacht, um die Bedrohung Nocturnia zu beenden. Wir wollen weder mit euch noch mit den Unbegüterten dieser Zeit kämpfen. Also laßt uns in Frieden unseres Weges und unseres Auftrages nachgehen!“
„Erst gebt ihr zwei eure Kristalldinger ab, die wohl eure Zauberstäbe sind“, sagte der Rothaarige. Lara Andropova, die mit ihren bbeiden Kolleginnen vom Amt für verständigungsfähige Zauberwesen still dabeigestanden hatte rief schnell: „Die dame hat recht, daß Nocturnia sich freuen würde, wenn wir die beiden oder die uns außer Gefecht setzen, Gregori. Also laßt die beiden es probieren!“
„Wir haben auch einen Auftrag, Lara. Der Auftrag lautet, alle nicht von uns selbst ausgehende Magie zu erforschen und unter Kontrolle zu bringen“, sagte der Rotschopf. Faidaria merkte, daß er jetzt wohl Aroyan angreifen würde. „Wir werden euch erst die Zauberkristalle wegnehmen und dann entkleiden. Ihr könnt gegen so viele von uns nichts tun. Expelliarmus!“ Beim letzten Wort flog aus Gregoris Zauberstab ein scharlachroter Blitz auf Aroyan zu. Dessen Kristall erglühte in einem blauen Licht, daß sich im selben Moment zu einem weißen Glühen verstärkte, als der Entwaffnungszauber ihn erreichte. Der rote Blitz prallte auf und wurde zu einem roten Lichtball, der wild zitternd auf der weißen Glut aus Aroyans Kristall tanzte, bis aus der weißen Glut ein fingerdicker Lichtstrahl wurde, der den scharlachroten Lichtball geradewegs auf den Zauberstab Gregoris zurücktrieb. Gregori argwöhnte einen gelungenen Gegenstoß und senkte seinen Zauberstab. Doch wie an einem starken, sich aufwickelnden Faden flog der rote Leuchtball immer noch auf den Zauberstab zu. Gregori zeigte mit dem Stab nach oben. Der Lichtball sprang hoch und landete federnd auf der Zauberstabspitze. Der weiße Lichtstrahl aus Aroyans Kristall wurde noch heller. Da blähte sich der rote Lichtball auf und umschloß den Zauberstab Gregoris. Dann knallte es. Der Lichtball hatte sich einfach aufgelöst. Gregori hatte statt eines Zauberstabes nur noch verkohlte Holz- und Faserreste in der Hand. Ihm selbst war jedoch offenbar nichts zugestoßen.
Faidaria fühlte den Angriffswillen der anderen und rief schnell zwei altaxarroi’sche Zauberwörter, nach denen wie aus dem Nichts silbern leuchtender Dunst sie umgab. Die anderen riefen bereits neue Zauber auf. Doch da erreichte der silberne Dunst die Umstehenden und ließ sie in der Bewegung erstarren. Aus den Zauberstäben sprühten blaue, rote und weiße Funken. Doch mehr geschah nicht. Die Männer und Frauen standen nur da wie versteinert. Tatsächlich aber hatte Faidaria den Hauch der Handlungslosigkeit beschworen, der alle sie umzingelnden Feinde erstarren ließ, bis sie sie freisprach.
„Das ist sehr anstrengend gewesen“, sagte Aroyan.
„Fang nicht damit an, mich überzubehüten, Aroyan. Ich trug schon ein Kind, da warst du noch ein unberührt schlummerndes Ei im inneren Nest deiner eigenen Mutter“, grummelte Faidaria. „Dieser Hauch zehrt auch von der Kraft der Feinde. Sonst hätte ich ihn nicht wirken können. Leider ist er gegen Nachtkinder unwirksam, weil deren Blut von dunkler Kraft verdorben ist. Jetzt komm! Wir wollen im Licht unseres erhabenen Urvaters die schlafenden Nachtkinder suchen, wenn hier wirklich welche sind.“ Aroyan, der fünfzig Sonnen jünger war als seine Gefährtin, hatte ihrem Willen und ihrer Entschlossenheit nichts entgegenzusetzen. Während der silberne Dunst von den erstarrten Feinden eingeatmet und verinnerlicht wurde, gingen die Sonnenkinder mit geschlossenen Schutzhelmen in das Dorf hinein. Sofort fühlten sie die kalten Finger der feindlichen Ausstrahlung. Doch die Nachtkinder waren in ihren Häusern. Die wohl noch herumfliegenden Keime konnten ihnen in den gelben Schutzanzügen nichts anhaben. Da davon auszugehen war, daß die neuen Nachtkinder noch nicht mit dem verderblichen Schmelzfeuer behaftet waren, ergab sich eine gute Gelegenheit, ein oder zwei mitzunehmen und über sie eine Gedankenverbindung zu Lamia herzustellen, um sie zu zwingen, ihren Aufenthaltsort preiszugeben.
Sie steckten zwei der neuen Vampire in lichtdichte Säcke. Noch lag die Sperre des kurzen Weges auf ihnen. Doch das war ihnen erst einmal unwichtig. Denn wenn sie die Blutsauger mitnehmen wollten, konnten sie die nicht auf den kurzen Weg mitnehmen. Sie luden sich im Tageslicht mit genug Kraft auf, um die übrigen Vampire mit gezielten Sonnenlichtspeeren zu töten. Dann schleppten sie die beiden Gefangenen mit Hilfe des Liedes der Erleichterung fort.
Nachdem sie sich auf einen Flug mit den beiden Gefangenen eingestimmt hatten wandte sich Faidaria an die gebannten Hexen und Zauberer und sprach die Worte der Freisprechung, wobei sie die entscheidenden Worte so langsam sprach, daß die Feinde erst in der zehnfachen Zeit der Spruchdauer wieder aus der geistigen Erstarrtheit erwachten. Das würde in fünf Tausendstel Tagen sein. „Ihr könnt hören und erinnern, was ihr erlebt habt. So sei euch gesagt, daß wir nicht eure Feinde sind. Wir haben nur die Brut Nocturnias Abgetötet, bis auf vier. Zwei nehmen wir mit uns, die beiden anderen sind für euch und eure Anführer, um zu ergründen, wie das tückische Gift zu bekämpfen ist, dem sie ihre unerwünschte Änderung zuzuschreiben haben. Wir verlassen euch nun. Folgt uns nicht nach! Wir müßten euch sonst dauerhaft in tiefen Schlaf versenken, um uns vor euch sicher zu fühlen“, sagte Faidaria den Gebannten. Sie übernahm einen der gefangenen Vampire auf die Schultern und überließ den anderen ihrem Gefährten. Dann marschierten sie einige Dutzend Meter, um im Sichtschutz eines alten Baumes die Kraft des freien Fluges wachzurufen. Sie schwebten erst, dann jagten sie vom Baum weg nach oben, um dann mit dreifacher Laufgeschwindigkeit davonzufliegen.
Als die durch die Zauberformel festgelegte Zeit verstrichen war, hörte die geistige Lähmung auf. Die Hexen und Zauberer konnten sich wieder bewegen.
„Die sind heftiger drauf als wir ahnen konnten“, knurrte Gregori und sah auf seine leere Hand. „Das nächste mal müssen wir ohne Vorwarnung draufhalten.“
„Das soll Minister Arcadi befinden“, sagte Mogorov. Lara Andropova lächelte kalt und erwiderte:
„Damit würdet ihr Nocturnia einen großen Gefallen tun, wenn ihr sie fangt oder umbringt. Warum sollen die sich nicht für uns Finger und sonst was verbrennen? machen wir doch, was diese Frau gesagt hat! Schützen wir nur unsere Häuser und warten ab, wer diese Partie gewinnt.“
„Daran merkt man, daß Sie kein Schach im Blut haben“, knurrte Gregori. „Ein wahrer Meister des königlichen Spiels überläßt nicht den Figuren die Partie, sondern führt diese.“
„Woher wollen Sie nicht wissen, ob nicht wir die Figuren sind, Gregori, alles kleine, unbedeutende Bauern?“ fragte Lara Andropova.
„Das muß ich mir von einer Hexe nicht sagen lassen, der zu kämpfen verboten ist“, knurrte Gregori. Mogorov gebot Einhalt.
„Sie hat aber insofern recht, daß wir nicht wissen, ob wir eine nicht von uns angefangene Schachpartie zu Ende spielen können oder das versuchen sollten. Wenn die Sonnenkinder wirklich irgendwo auf der Erde geschlafen haben wie diese Schlangenbrut des wirrköpfigen Halbbluts Voldemort, dann wissen wir nicht, wer und was sie aufgeweckt hat. Der oder die kann oder können mächtiger sein als wir. Deshalb war es dumm, den Mann anzugreifen. Wenn er jetzt davon ausgeht, daß wir immer seine Feinde bleiben, wird er niemals auf die Idee kommen, uns mehr von sich und seinem Volk zu erzählen. Soviel zum guten Schachspieler. Sie haben sich selbst wie ein störrischer Bauer benommen, der geradeaus marschiert, möglichst zum gegnerischen Endfeld hin. Jetzt wissen wir zwar, daß die Sonnenkinder existieren. Aber wir haben zunächst keine Möglichkeit, mehr über sie zu erfahren, wie sie entstanden sind, von wem sie beauftragt wurden und wo sie Jahrtausende verschlafen haben. Immerhin haben sie Zugang zu Magielosentechnik, was wiederum darauf hindeutet, daß sie mit den Magielosen ein Bündnis haben. Auch das kriegen wir jetzt erst einmal nicht raus.“
„Lara und die anderen Heiler haben doch die Sonnenkindaufspürarmbänder gemacht. Damit können wir die jederzeit einkreisen, wenn wir wissen, wo sie demnächst hinwollen.“
„Und mit denen in eine Grünstaubfalle reinrennen?“ fragte Lara. „Wir haben zwar alle bekannten Quellen für die Zutaten verschlossen. Aber wir wissen nicht, wie viele Nocturnia noch hat und ob die nicht in Amerika, England oder Deutschland an das Zeug herankommen, was sie brauchen. Nein, ich bleibe dabei, daß wir uns diese Partie ansehen und nicht hineinfuhrwerken sollen.“
„Und warum haben wir uns denen dann genähert?“ wollte Gregori wissen. Mogorov und Andropova wechselten einen bedauernden Blick. Dann sagte Mogorov: „Weil wir die Möglichkeit schaffen wollten, mit diesen Leuten zusammenzuarbeiten. Wir wissen nicht, wie viele es von denen gibt. Was wir jetzt wissen ist, daß sie wohl einige Zauber können, gegen die unsere Kampf- und Fangzauber gnadenlos abstinken. Das ist wohl der einzige positive Erfahrungswert, den wir mitnehmen dürfen.“
„Und zwei gnädigerweise am Leben gelassene Vampire“, knurrte Lara. „Vielleicht kann man den Prozeß umkehren. Die Kollegen in den Staaten berichten, daß der von den Laveau-Leuten entwickelte Vampirblutresonanzkristall die Verwandlung beendet und die Keime wie gewöhnliche Krankheitserreger von den Abwehrstoffen des Körpers vertilgt werden können.“
„Ja, aber die Amerikaner sind genauso Geheimniskrämer wie wir“, brummte Gregori. „Die rücken keinen dieser Wundersplitter raus, weil die wissen, daß wir die dann nachzüchten wollen.“
„Deshalb müssen wir herausfinden, ob wir den Prozeß nicht mit unseren Mitteln umkehren können. Auch dazu reichen vielleicht zwei Vampire. Die Tötung der anderen könnte ich zwar als Mord bezeichnen. Aber wenn es eindeutig Vampire waren fallen sie ja gemäß Arcadis Dekret unter nichtmenschliche, feindliche Zauberwesen, mit denen wir einen Überlebenskampf ausfechten, was man auch Krieg nennen kann. Suchen wir diese zwei, die uns die beiden Sonnenkinder gnädigerweise überlassen haben!“
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„Eng!“ hörte Brandon eine hohe Stimme wie aus einem Tiefen Keller. Er fühlte Patricias Unbehagen. Auch Dawn fühlte es. Doch sie blieb ruhig.
„Der sohn meines Bruders empfindet Patricias inneres Nest als zu eng, weil es sich darauf vorbereitet, sich zu öffnen und ihn dem Licht des großen Himmelsvaters entgegenzutreiben. Ich werde an deiner und meiner Tochter wohl noch einen halben Mond länger tragen, da ich ja nicht so schnell älter werde und daher mein Blut ihr Wachsen langsamer macht.“
„Da freut sich die nette Tante Doktor aber, wo die mich schon immer so komisch anguckt, weil ich dich und deinen Bruder mitgebracht habe“, dachte Brandon Rivers.
„Die Frau dort unten soll froh sein, daß sie ihr Leben als Gebärerin führen darf. Dunkle Kraft ist in ihren Körper gedrungen, um zu verändern, was die Kraft der Schöpfung ihr ursprünglich verwehrt hat. Ich möchte nicht hier sein, wenn dieser von Dunkelheit verformte Körper neues Leben nährt“, gedankengrummelte Dawn. Patricia, die gerade mit einer Vorwehe zu ringen hatte, bekam von diesem Gedankenaustausch zwischen Brandon und Dawn nichts mit. Brandon verstand jedoch, warum sie hier bei Virginia untergetaucht waren. Virginia, wie immer sie früher mal geheißen haben sollte, war auch nur eine Kundschafterin Anthelias. Offenbar war es ein transsexueller mann gewesen, der sich im falschen Körper gefangen gefühlt hatte. Anthelia hatte ihm wohl den Wunsch erfüllt, eine vollwertige Frau zu sein, wenn er oder sie schön für die höchste Hexenschwester die sogenannte Muggelwelt beobachtete. Aber Anthelia kam nicht mehr an dieses Haus heran, weil die Aura der Sonnenkinder gegen dieses verfluchte Medaillon wirkte, mit dem Anthelia ihn damals behext hatte. Das war vorbei. Patricia hatte wohl Höllenqualen durchleiden müssen, um von ihren bösen Taten freigesprochen zu werden, während er Höllenqualen erlitten hatte, um von Anthelias Bezauberung gereinigt und er selbst zu werden. Doch Ben Calder war offiziell tot oder verschollen. Das machte ihm Patricia immer wieder klar, wenn er die sichere Zuflucht verlassen wollte und sie ihn anhielt, kleine Selbstverwandlungszauber an seinem Haar und Gesicht vorzunehmen.
„Hast du keine Angst vor der Geburt deines Kindes?“ wollte Brandon wissen.
„Dann mmüßte ich vor dem Kind selbst Angst haben. Sicher wird es weh tun. Sicher werde ich mich dabei sehr anstrengen müssen, um ihm ans Licht zu helfen. Doch ich wußte es, daß ich nur so mithelfen kann, daß wir gegen die Brut des Schattenfürsten bestehen können. Außerdem bist du ja bei mir. Oder hast du Angst vor dem, was du mir zu tragen anvertraut hast?“
„Nein, habe ich nicht“, sagte Brandon ganz ehrlich. Zwar war ihm am Anfang mulmig gewesen, mit einer Jahrzehnte älteren Frau ein Kind zu haben, wo er von einigen ja selbst noch für eines gehalten werden mochte. Doch im Laufe der vergangenen Monate hatte ihm die Vorstellung immer besser gefallen, was von ihm stammendes in dieser Welt zurückzulassen. Das er das erwartete Mädchen Laura nach Cecils verwehrter Liebe Laura Carlotti nennen wollte lag daran, daß er in seiner Zeit als Cecil Wellington eben erlebt hatte, was Liebe war und auch die ersten körperlichen Erfahrungen mit anderen Frauen gemacht hatte, doch nie mit ihr, Laura Carlotti, oder wie immer sie jetzt heißen mochte. Auch sie lebte jetzt ein fremdes Leben, allerdings nicht durch Magie, sondern wegen dem, was ihr Vater für das FBI getan hatte. Für sie war es sicher besser, daß Cecil Wellington nicht mehr da war und ihr eines Tages über den Weg laufen konnte. Immerhin wollten die Bertolonis ihn ja deshalb entführen, weil dieser Vampir Campestrano ihnen was erzählt hatte, er könne sagen, wo die Carlottis jetzt wohnten.
„Was macht die Suche nach den Eislandbehausungen?“ wollte Gisierdaria, die in der Muggelwelt Dawn Rivers hieß, von ihrem jungen Gefährten wissen.
„Arachnobot hat was über einen Typen ausgebuddelt, der in Australien und Afrika lebende Forschungsgruppen herauszufinden versucht hat, um die abzuziehen, also ihnen was wegzunehmen, Geld, Medikamente, wertvolle Forschungsunterlagen. Ich komme leider nicht an die echt interessanten Seiten ran, wenn ich nicht will, daß uns die Hoover-Jungs oder die Bauernburschen aus Virginia auf die Bude rücken. Das Rückverfolgungsabschirmprogram geht gegen zivile Server zwar ganz gut, aber mit der CIA oder dem FBI möchte ich mich nicht wirklich anlegen, solange ich mit denen auf demselben Erdteil bin.“
„Wenn wir wissen, wo diese vom Mitternachtsstein vergiftete Nachttochter haust können wir mit Laura zu einem anderen Ort, wo wir uns gegen menschliche Feinde schützen können“, sagte Dawn. Brandon sah sie an und lächelte. Mit ihr würde er auch auf den Mond ziehen. Es war nicht dieselbe jungenhafte Liebe wie zu Donna Cramer oder dieselbe immer inniger werdende Hingabe zu Laura und erst recht nicht die reine Leidenschaft, es mit einer Frau zu tun. Das hier war eine ganz andere Beziehung. Doch sie beide verband etwas, etwas, das erst noch ans Licht kommen mußte.
Brandon umarmte seine kleine, nun noch rundere Angetraute und küßte sie. sie rutschte auf seinen Schoß und lehnte sich an ihn. Er fühlte die Verbundenheit mit diesem Wesen, dessen Körper und Seele er durchdrungen hatte und dessen Seele ihn befreit hatte. „Wird Zeit, daß Prue endlich rauskommt“, hörten sie Patricias Gedankenstimme. „Ah, du weißt um Virginias Geheimnis. Reibe ihr das aber nicht unter die Nase. Sie ist jetzt eine vollwertige Frau, wie du ein vollwertiger Mann bist, Brandon Rivers.“ Brandon bestätigte den Erhalt dieser Anweisung. Dann hörte er mit den Ohren ein Trompetensignal. Das war Argos 20XX. Offenbar hatte das Medienüberwachungsprogramm was interessantes aufgestöbert. Dawn rutschte von Brandons Schoß herunter und setzte sich in ihren gemütlichen Sessel, ohne daß Brandon was sagen mußte. So konnte er schnell zu seinem Rechner hin und auf das Auge am rechten Bildrand klicken.
„Dorf im Kaukasus entvölkert. Zweihundert Menschen spurlos verschwunden!“ Brandon las für Patricia und Dawn mit, was er ermittelt hatte.
„Mutterschwester Faidaria sagt mir gerade, daß sie und ihr Gefährte zwei Gefangene haben, aber diese nicht über den kurzen Weg mitnehmen können. Die Jetztzeitbegüterten haben versucht, sie aufzuhalten. Doch es ist nicht gelungen. Sie fliegen zur geschützten Behausung und werden dort am Abend ihrer Ortszeit eintreffen“, hörte Brandon Dawns Gedanken. Dann fragte er Arachnobot nach diesem Dorf. Außerdem hatte die elektronische Internetüberwachungsspinne noch ein paar interessante Daten aufgetrieben. Da ging es um den bereits ausgekundschafteten Typen, der einsame Forschungsbasen heimsuchte. Der wurde seit einigen Tagen vermißt. Ein durch Zufall aufgestöbertes Netzwerk der detroiter Unterwelt war voll mit Spekulationen, ob er und seine zwei Kumpane am Südpol verschollen waren oder nicht. Denn da wollten sie zuletzt hin. Das war doch mal ein Anfang, dachte Brandon. Denn wenn die drei nicht wieder auftauchten, waren sie entweder verunglückt oder umgebracht worden. Falls letzteres, war die Frage, ob von Gaunern oder Vampiren?
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Faidaria kämpfte gegen den Widerstand des Vampirs, der noch nicht wußte, daß er einer war. Dann schaffte sie es, einen inneren Hilferuf auszulösen. Die Ausstrahlung der Sonnenkinder schmerzte den neuen Blutsauger sichtlich. Mitten in der Nacht fühlte Faidaria, wie die ständigen Hilferufe beantwortet wurden. Es war, als wäre gerade jemand aus langem Schlaf aufgeschreckt worden. Wut und Panik fluteten zu Faidaria zurück. „Nein, stirb! Du sollst sterben!“ hörte Faidaria die höchst erregte Gedankenstimme einer Frau. War das Lamia? Wer sollte es sonst sein. „Ich befehle dir, hör auf zu leben!“
„Du bleibst hier“, schnarrte Faidaria, als sie spürte, wie der von ihr gepeinigte Vampir ihr zu entgleiten begann. Dann hörte sie die ersten Worte einer dunklen Anrufung. Sofort sperrte sich Faidaria gegen weitere Gedankenströme und sprang zurück. Da erstarrte der Vampir, der sich bis dahin hin und hergeworfen hatte. Seine Haut verfärbte sich schwarz und rieselte in knochentrockenen Fetzen von ihm ab. Er schrumpfte zusammen. Sein Fleisch löste sich in stinkenden Qualm und schwarze Asche auf. Am Ende lag auf der hölzernen Bank ein total verkohltes Skelett.
„Sie hat das Lied des Bluthenkers gesungen“, schnarrte Faidaria ihrem Gefährten zu. Dieser sah den anderen gefangenen Vampir an. Auch dieser wurde gerade von einer Art unsichtbarem Feuer verzehrt.
„Der Bluthenker. Das kann sie nur von ihm selbst gelernt haben“, schnaubte Aroyan. Nur das Leben verachtende Geschöpfe töten ihre eigenen Kinder aus purer Bosheit.“
„Es war keine Bosheit, sondern Überlebensangst. Sie spürte, daß ich über dieses arme Wesen zu ihr durchdringen wollte. Ihre direkten Anweisungen, zu sterben konnte er hier nicht erfüllen, weil der wille zu überleben bei den Nachtkindern größer ist als ein in das innerste Selbst wirkender Befehl. So mußte sie ihm das Lied des Bluthenkers in den Kopf singen, um über eine große Entfernung die dunkle Vernichtungskraft zu wecken“, seufzte Faidaria. Sich vorzustellen, daß eine Mutter ihr gerade erst zur Welt gekommenes Kind umbrachte, um selbst weiterzuleben, machte ihr, die gerade im dritten Mond ein Kind trug sichtlich zu schaffen. Trotz ihres über hundert Sonnen zählenden Lebens konnte sie es nicht einfach so abschütteln, daß Lamia ihre eigenen Kinder sofort tötete, wenn sie aufgespürt wurde. .
„Wenigstens wissen wir jetzt, daß diese beiden aus Lamias Blut heraus entstanden sind“, warf Aroyan ein. „Damit ist zumindest bestätigt, was Darfaian schon vermutet hat. Sie mußte mehrere unschuldige Menschen ihres Blutes berauben, um diese hinterhältige Vergiftung in die Welt zu tragen.“ Dem konnte Faidaria nicht widersprechen.
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Sie quängelte und plärrte. Anthelia hielt die kleine Anastasia auf ihren Armen. Das gerade erst wieder zwei Minuten auf der Welt lebende Mädchen schrie allen Unmut und alle Angst hinaus. „Weiß sie noch alles?“ wollte Nadja in Gedanken wissen, als Anthelia die Geburtsmaße notierte.
„Ja, aber sie bereut, daß sie dich angegriffen hat. Sie weiß, daß du sie nur beschützen wolltest und wäre noch weiter gerne in deiner warmen Obhut geblieben“, schickte Anthelia zurück. Die Niederkunft hatte sieben Stunden gedauert, während der Nadja zwischen den Presswehen den Sanctuamater-Zauber zum vierten und letzten mal gewirkt hatte. Heute, am siebzehnten Mai, hatte sie ihre auferlegte Pflicht erfüllt und die kleine Anastasia ans Licht der Welt zurückgebracht. Das kleine Mädchen erlebte alles wie einen bedrückenden Traum. Sie kam mit der großen weiten Welt noch nicht zurecht, hatte vieles wohl verdrängt, was sie früher erlebt hatte. Doch die Erinnerungen waren da und würden sich alle wieder entfalten. Nur jetzt war sie an Nadja gebunden.
Anthelia erfuhr von Louisette, daß Julius‘ und Mildrids Tochter am zweiten Mai zur Welt gekommen war. Anthelia rührte das an. Dieser Tag stand für viele Ereignisse, vor allem aber dafür, daß Tom Riddle seinen letzten schweren Fehler begangen hatte und daß sie, Anthelia, unverhofft zur eigenständig handlungsfähigen Hexe zurückverwandelt worden war. Insofern war dieser besondere Tag auch Anthelias dritter Geburtstag. Den vierten hatte sie dann am zehnten Oktober zu feiern, wo sie und Naaneavargia eins geworden waren und damit einander geholfen hatten, bewußt handlungsfähig weiterzuleben.
„Was passiert jetzt mit mir, höchste Schwester. Willst du mich weiter hier verstecken?“ wollte Nadja wissen.
„Nur wenn du es willst, Nadja. Ansonsten kannst du jederzeit nach Rußland zurück und den von dir und mir entwickelten Lebenslauf vorweisen.“
„Ja, aber sie wurde im Erfassungsbereich von Thorntails geboren“, sagte Nadja und deutete auf die immer noch quängelnde Anastasia.
„Dieses Haus steht doch unter Fidelius-Zauber. Das verhindert die Registrierung. Du kannst also getrost behaupten, die Kleine in einem Krankenhaus der Muggel bekommen zu haben“, sagte Anthelia. Anastasia hörte zu quängeln auf und drehte ihren Kopf zu Anthelias Oberkörper. „Hunger!“ hörte Anthelia die Gedanken des kleinen Mädchens. Sie grinste und gab Nadja das Baby. Dann zog sie sich zurück, um die durch die Niederkunft unterbrochenen Nachforschungen zu vollenden. Mittlerweile wußte sie, wo das Schiff die Ware entgegengenommen hatte und nicht nur diese eine Ladung. Weitere Protokolle zeigten, daß auch eine Ladung in Richtung China geschickt worden war. Nur wurde diese nicht so häufig registriert.
„In drei Tagen weiß ich, wo euer Versteck liegt. Und dann fange ich mir einen Seelenschlinger und lasse ihn deine verfluchte Seele aufsaugen, bevor sie anderswo unterschlüpft“, schwor Anthelia in Gedanken. Doch Lamia würde sie nicht hören. Noch nicht.
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Panik und Wut, Haß und Verzweiflung wühlten ihren sonst so kalten Verstand auf. Sie hatte es körperlich gespürt, wie eines ihrer Kinder, vom Gedankenfluß her gerade erst mit seinem neuen Sein vertraut gemacht, von übermächtigen Qualen erschüttert wurde. Das war eindeutig die Kraft der Sonnenkinder, die den neuen Sohn fast getötet hätte. Dannhatte sie es gefühlt, wie sich etwas über den gepeinigten Verstand des neuen Bürgers zu ihr hintasten wollte. Da wußte sie, daß der neue Sohn nur deshalb mit ihr in Verbindung treten durfte, um eine geistige Brücke zwischen einem der Sonnenkinder und ihr zu bilden. Sie mußte den Neubürger töten. Direkte Geistesbefehle reichten nicht. Da fiel ihr das Lied des Bluthenkers ein. Als sie es sang, zuckte die fremde Kraft zurück. Also kannte wer immer sie zu finden versucht hatte das Lied auch. Immerhin hatte sie damit beide sie aus der Umwälzungstrance wachrüttelnden Kinder töten können. Doch jetzt war sie wach. Sie fühlte, wie ihr Körper, ihre Arterien und Venen, regelrecht durchgewalkt wurden. Ihr Blut floß hinaus. Frisches Menschenblut floß in sie zurück, um von ihrem Körper zu weißem Vampirblut gemacht zu werden. Es fühlte sich unangenehm an. Sie wußte, daß sie diese Prozedur nicht im wachen Zustand aushalten konnte. So konzentrierte sie sich wieder auf die ihren Geist schützende Trance. Doch das in ihr walkende Werk der Umwälzanlage störte ihre Konzentration. Sie betätigte den Schalter, der die Anlage stoppte und entspannte sich. Dann stellte sie die Anlage so ein, daß sie in fünf Minuten wieder anspringen sollte. Sie hoffte, daß die Sonnenkinder nicht darauf verfielen, jeden neuen oder alten Bürger solange mit ihrer blanken Anwesenheit zu quälen, daß sie immer wieder aufwachte. Erst als sie diesen Gedanken aus ihrem Kopf verbannen konnte gelang es ihr, in die so wohltuende Trance zurückzukehren. Als die teuflische Umwälzmaschine wieder zu arbeiten begann, gab sich Lamia ganz der verrinnenden Zeit hin.
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„Wir kommen nicht an sie heran. Sie tötet ihre eigenen Geschöpfe, wenn wir versuchen, über sie an sie heranzukommen“, beschwerte sich Darfaian im rein geistigen Verbund aller Sonnenkinder.
„meine Suche läuft noch. Ich habe die Spur von wem aufgenommen, der am Südpol verschwunden ist“, schickte Brandon zurück. Faidaria erwiderte darauf: „Wir müssen sie selbst erreichen. Wenn sie stirbt, ist der Einfluß des Schattenfürsten fort. Sie steht mit allen ihren Kindern in Verbindung.“
„Genau deshalb könnt ihr nur ihren Körper umbringen“, schaltete sich Patricia Straton in die mentale Unterhaltung ein. „Sie hat sich nach der Vernichtung ihres ersten Körpers einen neuen, ihrem Geschlecht angehörigen Körper ausgesucht, ist mit einer ihrer Blutstöchter eins geworden. Das wird sie so oft machen, wie es Töchter von ihr gibt. Und wir wissen nicht, wie viele es davon gibt.“
„Und wir können sie vielleicht nicht alle umbringen, weil sie es merkt, daß wir auf sie Jagd machen“, gab Dawn zur Antwort.“
„Sind die Russen noch hinter euch her?“ wollte Brandon von Dawns Tante Faidaria wissen.
„Wenn du diese übereifrigen Leute mit den hölzernen Kraftausrichtern meinst, so haben sie unsere Spur verloren. Doch Aroyan sagt, daß unsere erhabene Ausstrahlung ihnen sagen kann, wenn wir in ihrer Nähe sind. Wenn sie das weitersagen, stören sie uns bei allem, was wir vorhaben.“
„Dann soltet ihr euch alle verstecken, bis wir wissen, wo die Basis Nocturnias liegt“, schlug Patricia vor. Die anderen Sonnenkinder beschwerten sich, daß sie nicht in die Welt zurückgekehrt seien, um sich zu verstecken und die vier, die bereits gestorben waren nicht umsonst ihr Leben gegeben haben sollten. Dagegen war schwer zu argumentieren, erkannte Patricia. Als die über Dawn und Hesperos errichtete Verbindung zu allen anderen beendet war sagte sie mit körperlicher Stimme zu Brandon:
„Die wollen es nicht anders, Brandon. Die werden jetzt von zwei Seiten bedrängt, von den Vampiren und von den Ministeriumszauberern. Wenn die meinen, damit noch was gewinnen zu können, dann glauben die auch noch an den Regenbogenvogel. Autsch, Prue, ist gut, ich merk, daß du noch bei mir bist!“
„Vielleicht solltest du nicht Prue zu ihm sagen, weil er dann nicht weiß, ob du nicht lieber ein Mädchen haben wolltest. Du willst ja auch nicht Pat gerufen werden, weil das auch ein Jungenname ist.“
„Das was Virginia bekommen hat kannst du auch kriegen, Jungchen. Vorher lerne ich noch, wie eine Hexe ihr ungeborenes Kind einer anderen Frau zum Weitertragen unterschieben kann. Dann kannst du den kleinen Boxer zu Ende ausbrüten.“
„Das verbiete ich dir, Patricia. Er bleibt ein Mann und wird an meiner Seite erst Laura und dann noch ihren Bruder in das Leben hineinführen“, schnaubte Dawn. „Du wurdest von den dunklen Taten deines früheren Lebens freigemacht, um uns zu helfen, das Übel Nocturnia zu beseitigen. Verfalle nicht in die alten Untaten zurück!“
„Er hätte das sowieso keinen Tag durchgehalten, was ich jetzt schon siebenunddreißig Wochen am Stück aushalten muß“, grummelte Patricia Straton. Doch dann erkannte sie, daß alles lamentieren eh nichts brachte. Sie hatte das Sonnenmedaillon an sich genommen und dafür nun den Preis zu zahlen. Tröstlich war nur, daß Daianira alias Theia Hemlock ähnliches hatte durchmachen müssen, und zwar von beiden Seiten aus. Das gab ihr eine gewisse Genugtuung.
„Ist sicher, daß Lamia so eine Art Dämonin ist, die von einem Wirtskörper zum nächsten wechseln kann?“ fragte Brandon.
„Eindeutig. Anthelia hat es mir mitgeteilt, als ihr beide bei Virginia unten wart, um nachsehen zu lassen, ob du deine Kleine echt erst einen Monat nach meinem Kleinen an die Luft drücken mußt.“
„Sie ist verstimmt, weil sie Angst hat, ihr geschenktes Leben nicht mit eigenem Fleisch und Blut vollenden zu dürfen, solange wir hier wohnen“, sagte Dawn Rivers. „Aber ich habe ihr begreiflich machen können, daß sie der Welt einen großen Gefallen erweist, wenn sie uns lange genug Obdach gibt, bis auch ich meine erhabene Pflicht als Lebensgeberin erfüllt habe.“
„Wie erhaben, für drei zu fressen und das davon übrigbleibende unter sich zu lassen“, knurrte Patricia. Dann lächelte sie wieder. „Aber du hast recht, daß das schon eine besondere Erfahrung ist. Ob ich sie zweimal machen möchte weiß ich erst, wenn Prunellus endlich einsieht, daß es außerhalb von meinen Eingeweiden mehr zu sehen und zu lernen gibt.“
„Das besprich am besten mit meiner Mutterschwester Faidaria, ob es das wert ist, sowas zweimal zu durchleben“, verwies Dawn Rivers ihre Schwägerin an ihre altehrwürdige Tante.
„Lieber nicht, die frau ist mir zu schulmeisternd“, knurrte Patricia Straton. Damit war das Thema fürs erste wieder abgehakt.
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Faidaria hielt sich mit ihrem Gefährten zurück, als Darfaian alle Sonnenkinder dazu anstacheln wollte, Lamia gezielt alle Kinder abzujagen, damit nur sie übrigblieb. Auch ihre Schwestertochter Gisirdaria, die in der anderen Welt Dawn Rivers hieß, hielt sich zurück. Brandon sollte mit Hesperos zusammen Jagd auf amerikanische Vampire machen. Doch Hesperos hatte sich gegen den Altvorderen Darfaian durchgesetzt, daß Brandon dort, wo er war am besten aufgehoben war. Dabei hatte er eine Bemerkung gemacht, die Darfaian zu Denken gegeben hatte: „Es ist doch für uns ein Segen, daß er diese Maschine bedienen kann, die das Wissen der Unbegüterten zusammentragen und geordnet wiedergeben kann. Das war ja vorher nicht sicher, bis Patricia die Idee hatte, die empfindlichen Geräte durch eine mit der Kraft der Mitternacht durchdrungenen Schale zu umschließen. So kann unsere Heimstattgeberin ihr helfen, mein Kind zu gebären, wie sie meiner Schwester helfen kann, ihr Kind zu bekommen.“
„Zauber der Mitternacht? Verwerfliche Idee. Aber womöglich etwas, was ich im Gedächtnis behalten muß“, hatte Darfaian dazu gesagt.
Am Tag, den die Jetztzeitleute den zwölften Mai nannten, erschütterten Patricias Schmerzensgedanken den Verbund der Sonnenkinder. Doch es waren auch Gedanken der Hoffnung. Alle weiblichen Sonnenkinder schlossen sich zusammen, um ihr beizustehen, als sie in einer Zeit von vier Zwölfteltagen ihren Sohn ans Licht der Welt brachte.
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Der kleine Prunellus sah vom Haar her aus wie sein Vater. Doch die Augen waren bereits bei seiner Geburt dunkelgrün gewesen, so wie die seiner Mutter. Es fehlte nur jener leichte Graustich, wenn der gerade einmal fünfzig Zentimeterlange Menschenjunge seine Augen öffnete. Welche Hautfarbe er haben würde wußte keiner. Im Moment war er noch ganz rot von der anstrengenden Reise ins eigene Leben. Dawn freute sich für ihren Bruder, der stolz war, endlich einen eigenen Sohn zu haben. Brandon, der krampfhaft versucht hatte, Patricias Schmerzwellen aus seinen Gedanken fernzuhalten, hatte sich unter Kopfhörer gesetzt und eine CD von Madonna gehört. Ja, Cecils Begeisterung für diese wandlungsfähige, provokante Sängerin war bei ihm hängen geblieben. Auch die erwartete das zweite Kind. Aber wie sie das erste bekommen hatte war ja auch immer diskutiert worden, ob auf natürlichem Weg oder per Kaiserschnitt. Vielleicht hätte Patricia das auch lieber so gehabt. Doch dann hätte sie den Ärzten erklären müssen, wer sie war. jetzt war es auch egal. Prunellus war da. Patricia hatte Brandon zwei Stunden nach ihrer Niederkunft scherzhaft gefragt, ob „Nelly“ ein besserer Kosename für den Kleinen wäre. Er hatte darauf geantwortet, daß es tatsächlich auch Jungen gab, die sich Nelly nennen ließen, weil sie mit Nelson oder anderen Namen nicht so warm wurden, auch wenn Nelly wie Sascha, Alex oder Tony für beide Geschlechter passen konnte.
Als der kleine Prunellus bereits eine Woche und zwei Tage auf der Welt war bimmelte der Suchalarm für Arachnobot. Das Programm war von Brandon in den letzten Wochen um einige Anteile erweitert worden, daß es auch Übersetzungsprogramme anzapfte, um wichtige Daten zu erfragen.
„Ein Typ aus Kanada hat sich mit einem Satellitenpeilsender an die drei drangehängt, die am Südpol verlorengegangen sind. Der hat deren Schlitten verwanzen lassen“, sagte Brandon zu Patricia. Diese fragte ihn, was das für sie zu bedeuten hatte. Brandon druckte eine Karte aus, die der besagte Gangster seinem Kumpan per E-Mail zugeschickt hatte.
„Hoffentlich sind sie dir nicht draufgekommen“, seufzte Patricia Straton.
„Habe ich auch erst befürchtet, als ich rausbekam, daß Arachnobot auch E-Mail-Server abklopfen kann. Dank der CIA und NSA dürfen in Amerika ja keine Verschlüsselungsprogramme auf E-Mails verwendet werden. Deshalb liegen die E-Mails da rum wie Ansichtskarten. Kannst du Anthelia mal mitteilen, daß ihre Hexenschwestern sich besser nicht mehr über E-Mail an uns wenden möchten.“
„Zur Sache“, holte Patricia den Computerenthusiasten Brandon zum eigentlichen Thema zurück. Brandon zeigte ihr und Hesperos auf der Karte, wo ein gewisser Motorschlitten herumgefahren war. Dann deutete er auf einen roten Punkt. „Seit anfang Mai steckt der Schlitten da Fest. Die Letzte Bewegung führte ihn zu dieser Forschungsstation, die von mehreren internationalen Gesellschaften mitfinanziert wird. Schade, daß das jetzt erst durchs Netz gegangen ist. Aber wenn der Schlitten erst zu der Station hingefahren wurde und dann keine hundert Schritte davon entfernt stehengelassen wurde, dann heißt das doch, daß die drei Gangster die Station wohl erreicht haben. Also warum sind die nicht mit dem Schlitten wieder weggefahren?“
„Frage erst einmal, warum dieser dubiose Mensch, der den Schlitten – wie nanntest du es? – verwanzt hat, das überhaupt getan hat“, bemerkte Hesperos, der bereits ahnte, worauf Brandon hinauswollte.
„Die Antwort habe ich. Der Typ ist ein Konkurrent der drei vermißten Gangster und wollte wissen, wo die gerade zugeschlagen haben. Weil der Schlitten seit bald einem Monat nicht mehr weitergefahren ist weiß er nicht, ob das Ding verunglückt ist oder die drei den Sender doch bemerkt haben und sich einen anderen Schlitten genommen haben. Der wollte „stiller Teilhaber“ von denen sein, was für mich heißt, daß der die bei einer sich bietenden Gelegenheit erpressen wollte, so wie das mit dieser sizilianischen Mafia-Sippe war, die mit einer chinesischen Konkurrenzfirma Probleme gekriegt hat.“
„Ja, verstehe“, sagte Hesperos. „Menschen sind immer noch neugierig und auch ungesund habgierig. Beides weckt Erfindergeist und Ehrgeiz. Gut, dann frage ich jetzt, warum dieser Schlitten immer noch dort stehen soll?“ wollte Hesperos wissen.
„Dazu müßte ich an Satellitenfotos von der Gegend rankommen. Aber ich muß dazu erst eine Hintertür in einem der Wetterüberwachungsnetzwerke finden. Das kann ich nur ganz behutsam tun.“
„Also, der Schlitten fährt zu der Station hin, bleibt da stehen und wird nicht weggefahren. Haben die Verbrecher ihn als Austausch für einen anderen Schlitten zurückgelassen?“ fragte Patricia nun. Brandon überlegte. Daß Gangster, die eine einsame Station überfielen und ausplünderten einen guten Motorschlitten daließen war höchst unwarhscheinlich. Es sei denn, sie hatten den Schlitten unrettbar beschädigt. Interessant war es auf jeden Fall. Jetzt wollte Brandon mehr darüber wissen.
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Es dauerte fast zwei Wochen länger, als Anthelia gedacht hatte. Denn die Vampire hatten es geschickt angestellt und ihre tückischen Transporte von fünf verschiedenen Orten der Antarktis aus losgeschickt. Sie hatte jedoch nicht aufgegeben und einen gemeinsamen Ausgangspunkt gesucht, der von den fünf Abholorten gleichweit entfernt und so unauffällig wie möglich zu erreichen war. Hier zeigte sich, daß Naaneavargia in ihrem eigenen Leben auch eine Großmeisterin der Geometrie war. Denn ohne einen Computer kam die Hexenlady auf den Schnittpunkt aller vom Südpol errechneten Wege zu den Schiffsanlegern. Jetzt kam der gefährlichste Teil, wie Anthelia/Naaneavargia befürchtete. Sie mußte die verbotene Stelle in der Wüste finden, um einen der Seelenschlinger zu bergen. Das in Stein gebannte Geisterwesen mochte dann sicherlich großen Hunger haben und seine zur Tötung treibende Magie ausstrahlen. Dagegen mußten Anthelia und die beiden von ihr ausgewählten Schwestern Mara Kellerer und Kathleen Thornhill sich wappnen, bevor sie es wagen konnten, die Sperrzauber um das Land der Seelenschlinger zu brechen.
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„Ich habe mal den Brenn- und Treibstoffbedarf für die Station nachgeprüft“, sagte Brandon eine Woche nach der entscheidenden Unterhaltung mit seinen Mitbewohnern. Dawn fühlte nun, daß auch sie jederzeit niederkommen würde. Bis dahin wollte Brandon alles von ihm aus klärbare ergründet haben.
„Und was ist an diesen Sachen so bemerkenswert?“ wollte Hesperos wissen. Brandon erwähnte, daß diese ausgewählte Station nur ein Drittel soviel Heizöl und Generatordiesel bezog wie andere Stationen dieser Größe. Lebensmittel wurden zwar regelmäßig bezogen, und jetzt kam es, nicht für eine Besatzung von zwanzig Mann ausreichend, sondern für eine von siebzig Leuten, als wenn irgendwo in der Station noch wer heimlich untergebracht war. Das fiel aber auch nur auf, wenn die Daten aller Lieferungen zusammengezählt wurden. Wer immer da saß bestellte bei vier verschiedenen Lieferanten, um den Anschein zu erwecken, nicht mehr zu verbrauchen als nötig war.
„Also, wir haben es mit einer angeblichen Forschungsbasis zu tun, in der die Leute keinen elektrischen Strom und keine Heizung brauchen und dafür mehr essen und trinken“, faßte Patricia zusammen. Prunellus schlief gerade ein. Der Kleine hatte sich nach den ersten Tagen auf der Welt damit abgefunden, nicht mehr in Patricias warme Unterkunft zurückzukehren.
„Vampire sind kälteunempfindlich und kommen ohne Licht besser klar als mit Licht.“ Brandon nickte. „Wenn da in einer geheimen Station wirklich arglose Menschen wie Milchvieh gemolken werden, um genug Blut für dieses Vampyrogen zu bekommen, brauchen die ja doch sowas wie Futter, damit sie brav weiter Blut spenden können. Schon ein abartiger Gedanke, Menschen wie Nutzvieh zu halten.“
„So abartig nicht. Gibt genug Geschichten aus der Zukunft, wo Außerirdische Menschen deshalb züchten oder wo die Bewohner einer total überbevölkerten Erde sich gegenseitig auffressen, weil nichts anderes mehr da ist … Ich seh’s ein, nix für junge Mütter“, sagte Brandon. Patricia funkelte ihn dunkelgrün mit leichtem Graustich an.
„Du kannst belegen, daß die anderen dieser Eislandhäuser mehr von diesem Brenn- und diesem Kraftmacherstoff brauchen, aber dann nicht so viel zu essen und zu Trinken erhalten?“ fragte Hesperos. Brandon nickte und teilte mehrere Datenblätter aus, die seine Vermutung stützten.
„Dann stellt sich die Frage, wie wir es herausbekommen?“ wollte Dawn wissen.
„Erst mal die anderen benachrichtigen!“ legte Hesperos fest. Das sah brandon ein.
Wenige Minuten später war das rein geistige Netzwerk errichtet. Brandon überspielte gewissermaßen alle von ihm gesehenen und gelesenen Sachen aus seinem Gehirn in die Gehirne der verbliebenen sechsundvierzig Sonnenkinder. Darfaian, der anfangs nicht so überzeugt war, daß eine reine Computersuche was einbringen würde, empfand das Ergebnis als Glückstreffer. Patricia fragte nur, warum die Polizei oder die Geheimdienste noch nicht auf den erhöhten Lebensmittelverbrauch im Vergleich zum niedrigeren Brenn- und Treibstoffbedarf gekommen waren.
„Weil sie bisher keinen Grund dazu hatten“, erwiderte Brandon darauf. „Ich habe die Basis ja auch nur deshalb überprüft, weil dieser Motorschlitten da herumgestanden hat. Mehr nicht.“
„Gut, weil sonst hätten die Ministeriumszauberer ja sicher dieselben Schlüsse gezogen, wo die mit solchen Muggelweltbehörden Verbindung haben“, bemerkte Patricia dazu.
„Wir müssen herausfinden, ob dort wirklich jene geheime Festung ist. Ich werde dort alleine hingehen“, teilte Darfaian allen anderen mit. Seine Gefährtin erhob Einspruch. Doch er betonte, daß er allein dort hingehen mußte, weil wenn es die geheime Festung war, die Ausstrahlung der Sonnenkinder alle Vampire vertreiben würde und zudem alle elektronischen Bauteile überlasten würde. Denn, jetzt habe er es begriffen, wenn in dieser Station wirklich das Zentrum der dunklen Vereinigung lag, hatten sie vielleicht auch Unterlagen, wer in der Welt noch mit diesen Nachtkindern zu tun hatte. Brandon warf ein, daß einige der Lieferservices angeblich auch mit zweifelhaften Firmen zu tun hatten.
„Ich gehe dort hin und werde es auskundschaften. Wenn es wirklich die Festung Nocturnias ist, so kann ich allein Erfolg haben. Denn das, was ich machen kann und machen muß, würde jeden zu sehr beeinträchtigen.“
„Du bist der älteste und erfahrenste von uns. Wir dürfen dich nicht abhalten“, gedankenknurrte Hesperos. Aroyan fügte dem noch hinzu: „Womöglich willst du etwas tun, was eigentlich gegen unsere Handlungsweise ist, nicht wahr, Darfaian?“
„Ich werde tun, was ich tun muß“, schickte Darfaian zurück. „Damit eure Kinder weiterleben und ihr den Jetztzeitigen helfen könnt, neue Auswüchse der Nachtkinder zu verhindern, bevor noch mehr unschuldige Menschen sterben müssen. So will ich Ilagardians Wissen nutzen und dem Übel auf den Grund gehen. Ich benötige Vorbereitungszeit, um die Gepflogenheiten der Jetztzeitigen zu erlernen. Gisirdaria, du und dein Anvertrauter sollt nur mir helfen, die nötigen Kenntnisse zu erlangen. Ihr anderen haltet euch bereit, notfalls in großer Zahl gegen die Nachtkinder Nocturnias vorzugehen!“
„Wir können dich nicht abhalten. So sei es“, gedankenseufzte Aroyan. Keiner wußte, was Darfaian vorhatte. Er sagte nur noch: Ilagardian oder Brandon, Über deine Angetraute wirst du mir dein ganzes Wissen über die Station und alles geben, wie die Jetztzeitigen miteinander sprechen. Ich nenne dieses Unternehmen“Mission Mitternachtssonne“. Denn wenn mein Werk erfolgreich ist, wird unser erhabener Vater Himmelsfeuer mit Freuden auf dieses Gebiet niederschauen, weil ein großes Übel von der Welt verschwunden ist. Damit die Nocturnianer nicht wissen, daß wir ihre Festung suchen, mögen alle anderen weiter ausschwärmen, um die Blutsauger zu jagen. Aber hütet euch vor dem grünen Staub! So wollen wir beginnen!“
„Mission Mitternachtssonne“, dachte Brandon. „Was für ein Name für eine Entscheidungsschlacht gegen Vampire, die die Mitternacht als ihre Stunde sahen und die Sonne als natürlichen Feind fürchteten.
Brandon fühlte, daß Darfaian alle Anderen zurückdrängte. Würde das jetzt eine Art vulkanische Geistesverschmelzung mit der dazwischengeschalteten Gisirdaria alias Dawn Rivers? Doch vorerst wurde da nichts draus. Denn eine gedankliche Schmerzenswelle brandete von Dawns Geist zu Brandon und trennte die gerade aufkommende Verbindung.
„Du hast was von Beginn gesagt, Darfaian. Das hat jemand ganz nahe bei mir wohl als Anweisung aufgenommen“, seufzte Dawn und hielt sich den Unterbauch. Patricia kam hinzu und half Brandon, die kleine, fast zur Unbeweglichkeit angeschwollene Dawn Rivers zu Virginia hinunterzubegleiten. Eigentlich war die kleine Laura erst für den zehnten oder zwanzigsten Juni erwartet. Doch wenn sie nur zwei Wochen nach ihrem Cousin Prunellus auf die Welt wollte, dann solte es wohl so sein. Brandon hatte ein wenig Angst, daß was schiefgehen würde. Denn nun, wo es um sein eigenes Kind ging, konnte er sich nicht mehr abschotten wie bei der Geburt seines Neffen Prunellus.
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Die Unterbrechung durch die drei Gangster und der Angriff auf zwei neue Kinder von ihr hatten Lamia in ihrem Zeitplan zurückgeworfen. War ursprünglich geplant, Anfang Juni aus der Umwälzung zu steigen, hatte sie nun den 16. Juni als Termin erwählt, um Basis Winternacht wieder zu verlassen. Bis dahin sollte Arnold Vierbein alle Angelegenheiten regeln. Sie hatte den Perfiden Einfall gehabt, nicht mehr mit Grünstaub zu hantieren, sondern mit Plastiksprengstoff, und auch die Portschlüssel wegzulassen. Wurde einer ihrer wichtigen Mitbürger mehr als zehn Sekunden von der peinigenden Sonnenkinderstrahlung getroffen, so sollten die Bürger im Stil von Kamikaze-Bombern in die Luft fliegen und dabei mitnehmen, wer immer im Umkreis war. Sie bedauerte es, daß sie nicht an die Formel für das Tausendsonnenfeuer kam, von dem ihr der die Wächterseele des Mitternachtsdiamanten berichtet hatte, daß dies der einzige Stoff sein mochte, der den Stein zerstören konnte. Mit dem Wissen von Elvira Vierbein hatte sie erfahren, daß auch die Muggel versuchten, diesen von der Natur unerwünschten Stoff herzustellen. Nur nannten die magielosen Wissenschaftler es Antimaterie. Das wäre überhaupt das Druckmittel, um die Sonnenkinder im großen Stil zu dezimieren. Doch auch mit ihren kleinen Sprengstoffpaketen mochten die einen oder anderen Sonnenkinder draufgehen. Natürlich würden dabei auch wichtige Bürger Nocturnias ihr Leben lassen. Doch wenn zehn oder zwanzig von ihnen starben, um hundert oder tausend neuen einen sicheren Platz auf der Welt zu erkämpfen, dann war es das wert. Eine Ameisenkolonie ging ja ähnlich vor. Was zählten hundert gefallene Krieger, wenn über eine Million Kolonisten dadurch neue Futtergründe oder den Schutz vor Feinden erkämpften.
Die wichtigsten Bürger Nocturnias waren per Telefon zu erreichen. Lamia wollte jedoch ohne Arnolds Argwohn zu erregen vorgehen. Der war ihr in den letzten Monaten zu rücksichtsvoll geworden. Offenbar mochte er seine Rangstellung nicht oder verabscheute es, daß Lamia im Körper seiner geliebten Frau wohnte und ihn befehligen konnte. Doch sie brauchte ihn noch. Nur mit ihm konnte sie die Solexfolienproduktion weiterführen, um alle künftigen Neubürger gegen das Sonnenlicht zu schützen.
Alle die bereits einen Sprengkörper im Leib trugen bekamen von Lamia ein kleines aber tückisches Schmuckstück, einen Ring, der aus Gold und kristallisiertem Vampirblut bestand und bei Annäherung eines oder mehrerer Sonnenkinder eine fluktuierende Stromspannung erzeugte, die wiederum den Zünder für den Sprengkörper auslöste.
In mehreren nächtlichen Sitzungen pflanzte sie denen, die bereits Sprengstoffpakete im Körper trugen, die entsprechenden Zünder mit ein. Da Vampire durch körperliche Gewalt keine Schmerzen mehr fühlten, konnte sie ganz rigoros die Bauchdecken ihrer ausgewählten Kamikaze-Bürger öffnen oder in den inneren Geschlechtsorganen ihrer weiblichen Artgenossen herumstochern, um den wasserdichten Zünder anzubringen. Allerdings wählte sie nur jene Vampirinnen aus, die keine so bedeutenden Rollen spielten. Ihr war nämlich bewußt, daß der Tag kommen konnte, wo sie den gerade bewohnten Leib verlassen mußte, um in den nächsten Körper umzuziehen, dessen Seele mit sich zu vereinigen hatte und dadurch noch mehr Macht erhalten würde. So würde sie von Körper zu Körper wandern wie ein orientalischer Dibbuk. Allerdings würde der nächste Wirtskörper nicht so rasch altern wie der eines solchen dämonischen Geisterwesens.
Als sie gerade in der Schweiz einem ihrer bei Genf lebenden Mitbrüder eine Sprengladung in die Bauchhöhle eingepflanzt und diese dann mit einem Zusammenfügungszauber vernäht hatte, fühlte sie, wie eines ihrer Kinder gerade in den Einflußbereich der Sonnenkindstrahlung geriet. Sie lauschte gespannt. Noch war die Strahlung wohl erträglich. Doch dann wurde sie stärker und stärker. Dann erscholl in ihrem Kopf ein kurzer Aufschrei. Dann war die Verbindung weg. Das konnten die Sonnenkinder unmöglich überlebt haben, dachte Lamia. Dann setzte sie ihre Rundreise durch Europa, Afrika und Asien fort, um ihre Bombenidee zum Erfolg zu führen.
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Brandons Kopf brummte so wild, als sei er an diesem 29. Mai 2000 neu zur Welt gekommen. Die Eindrücke hatten ihn fast bewußtlos gemacht. Einmal hatte er sogar geglaubt, seine eigene Tochter zu sein, die halb im Mutterleib steckte. Doch dann war er wieder er selbst geworden. Jetzt lag die kleine Laura Stella in den Armen ihrer Mutter und ließ sich umsorgen. Brandon konnte nur in einer Ecke sitzen und sich den schweren Kopf halten.
„Gut, die Wochenbettphase noch, und dann solltet ihr was neues gefunden haben“, zischte Virginia.
„Du kriegst noch früh genug deinen Kerl dazu, dich auch so rund zu machen wie ich das mit Dawn geschafft habe“, knurrte Brandon. Jetzt daran erinnert zu werden, daß sie hier nicht mehr wohnen durften kam ein wenig unpassend. Fast hätte er Virginia um die Ohren gehauen, daß sie ja froh sein durfte, einen voll funktionierenden Körper zu haben. Andere „Transen“ hätten da nicht so viel Glück. Doch Dawn fühlte das wohl und hatte ihm zugedacht, sich nicht mit Virginia zu streiten, wo sie gerade erst gemeinsam einem kleinen Menschen auf die Welt geholfen hatten.
Offenbar war die Hormon- und Schmerzachterbahn für Brandon, Dawn und auch Patricia so heftig gewesen, daß sie von den anderen Sonnenkindern nichts mitbekamen. Erst als Faidaria über ihre Nichte mitteilte, daß in den letzten Tagen fünfzehn Sonnenkinder bei ihren Einsätzen getötet worden waren, erstarrte Brandon. Wie war das möglich gewesen? Konnte es auch sie treffen?
„Ich habe es nicht mitbekommen, wie es geschieht. Ich hörte nur die Benachrichtigungen, daß wieder eine Fabrik gefunden worden war. Weil Darfaian ja gemeint hat, daß es Lamia mehr zusetzt, wenn ihre Abkömmlinge ihr ihre Schmerzen mitteilen, wurde nicht die Kugel des umfassenden Schweigens benutzt. Deshalb bekam ich die gedanklichen Todesschreie der sterbenden Mit. Es waren nur die Männer, die vormarschierten, um den Blutsauger zu stellen. Eine unserer Mitschwestern hat nur noch was von einem lauten Knall geschickt, bevor sie aus Trauer die Verbindung verlor.“
„Verdammt, dann haben sich diese Monster auf unsere Ausstrahlung eingepeilt und einen Bombenzünder darauf abgestellt wie bei dieser Grünstaubnummer“, schickte Brandon zurück. Dawn wolte wissen, wer alles noch lebte. Als sie erfuhr, daß ihr ältester Vetter unter den toten war weinte sie hemmungslos. Laura Rivers schrie, weil sie die Angst und Trauer ihrer Mutter mitverspürte. Brandon nahm die Hand seiner Gefährtin und sagte: „Dieses Weib benutzt die Kamikaze-Taktik. Selbstmordkommandos. Die Taktik funktioniert solange, wie wir unsere Ausstrahlung nicht abschirmen können. Du mußt mit Laura in ein besseres Versteck und da bleiben, während Hesperos und ich hier die Stellung halten.“ Zur antwort erhielt Brandon eine schallende Ohrfeige. „Du wirst mich begleiten, wo immer ich mit deiner und meiner Tochter hingehe. Du wirst mir helfen, noch einen Sohn zu bekommen. So verlangt es deine und meine Pflicht. Erst wenn ich von jedem Geschlecht ein Kind von dir habe, darfst du diesen Blutsaugern gerne nacheifern und dich selbst töten. Aber solange ich noch keinen Jungen von dir in die Welt getragen habe bleibst du gefälligst mit mir am Leben“, schrillte Dawn ihren Gefährten an. Dieser schrumpfte beinahe unter dieser harten Reaktion. Das war heftig und unmißverständlich.
„Sie kommen nicht zu uns, sondern lauern dort, wo wir sie suchen“, meinte Patricia dazu, die gerade den kleinen Prunellus unter einer Stillschürze verborgen hielt.
„Wenn die die Kamikaze-Taktik benutzen braucht einer von diesen Bombenvampiren nur über das Haus hier wegzufliegen und Bumm!“ stieß Brandon aus.
„Magische Ausstrahlungen können abgeschirmt werden, wenn die ihnen entgegenwirkenden Kräfte eingesetzt werden. Diese Fluchthelfer in Frankreich und England haben ja immerhin mehrere hundert Muggelstämmige aus England hinausgeschmuggelt.
„Ja, mit sogenannten Antisonden, die die Magieaura von Zauberkraftträgern überlagert“, erwiderte Brandon, was hier eh jeder wußte.
„Ja, und diese Vorrichtungen liegen in den Zaubereiministerien. Da kommen wir vier nicht heran, Dawn und ich im Moment sowieso nicht, weil wir die Kleinen haben.“
„Und Brandon bleibt auch bei mir. Sonst werde ich ihn mit dem Lied der Verbundenheit in meiner Nähe halten.“
„Soll das jetzt Liebe sein oder die Angst darum, mit einem einzigen Kind zurückzubleiben?“ fragte Patricia.
„Beides womöglich. Denn ich will den, der mit mir einen sehr schönen langen Tag erlebt hat, nicht aus Undankbarkeit meinen Feinden zum Fraß vor werfen. Ja, und ich möchte mit ihm noch ein Kind haben, vielleicht sogar zwei von jedem Geschlecht. Denn ich fühlte, daß er wahrhaftig mit mir verbunden ist. Stirbt er, stirbt auch ein wichtiger Teil von mir. Somit liebe ich ihn wie mein eigenes Leben. Hoffe darauf, daß Hesperos es ebenso für dich empfindet!“ Patricia sagte und dachte darauf nichts mehr.
Als Brandon am Abend mit seiner Gefährtin im Bett lag nahm sie ihn auf eine rein geistige Reise mit durch ihr Leben. Zwar hatte er schon vieles von ihr mitbekommen, als sie in der Säule der Sonnenkinder miteinander zusammengefunden hatten. Doch jetzt, in Ruhe und ohne die Wogen zu- und abnehmender Leidenschaft, verstand er besser, warum ihn diese Frau für den ihr zugedachten Vertrauten hielt.
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Die Sonne stand schon fast senkrecht am Himmel. Die Luft flimmerte über den weiten Sand- und Geröllflächen. In diesen Teil der Wüste verirrte sich kein gesunder Mensch, wenn er nicht was wertvolles suchte oder vergraben wollte.
Anthelia hatte, um sich Zugang zu einer geheimen Bibliothek der ägyptischen Zaubererwelt zu verschaffen Mara Kellerer, die neben den in der Schweiz gesprochenen Sprachen noch Arabisch und hebräisch spprechen konnte, durch Vielsaft-Trank als italienischen Zauberer ausgegeben. Die Vorlage war ein bereits angegrauter italienischer Lebemann gewesen, dem Anthelia ein paar kurzweilige Stunden geschenkt hatte. Daß sie ihm nach dem leiblichen Vergnügen einige Haare stiebitzt hatte war dem Mann nicht bewußt geworden. Mara hatte bei der ersten Verwandlung gemeint, daß es sich schon seltsam anfühle, den Körper eines Mannes zu fühlen, der kurz vorher mit Anthelia geschlafen habe. Diese meinte darauf, daß Mara deshalb keine wilden Träume von ihr haben würde, da Haare zwar den Körper, aber nicht die Erinnerung des betroffenen nachbilden konnten.
Fünf Tage hatte es gedauert, bis Anthelia alle stückweise erhaltenen Informationen zu einem Gesamtbild zusammengesetzt hatte. Dann erst hatten sie sich gegen die bösartige Ausstrahlung der Seelenschlinger gewappnet. Anthelia hatte Naaneavargias Wissen ausgenutzt, Haß- und Mordgierzauber zurückzudrängen, bevor sie in den Geist des Opfers einsickern konnten. Hierzu hatte sie sich einmal mehr als Edelmetalldiebin betätigen und heimlich je zwei Kilogramm Silber aus verschiedenen Städten Afrikas, Spaniens und Frankreichs beschafft. Mit Hilfe des Mondes und der Kräfte der Erde hatte sie einen viermal stärker wirksamen Aura-Calma-Zauber in die aus den Barren geformten Tiaren eingewirkt. Durch das Blut jeder der drei waren die magischen Schmuckstücke so bezaubert worden, daß keine das Blut der anderen beiden vergießen würde, sobald sie die Tiara trugen.
Der fliegende Teppich glitt nun auf eine unsichtbare Begrenzung zu. Sie umschloß einen fünfhundert mal fünfhundert Armlängen umfassenden Bereich wie mit einer Kuppel. Wer dagegenstieß wurde zeitlos darum herumgeleitet und bekam nicht mit, daß er eine magische Barriere berührt hatte. Um nicht ständig um den abgeriegelten Bereich herumgelenkt zu werden mußten sie nahe genug davor landen, um zu zaubern, aber noch weit genug, um nicht in die Raumverrückung hineinzugeraten.
„Jetzt runter!“ kommandierte Anthelia. Mara befahl es dem Teppich auf Arabisch. Der schlicht wirkende, eher behäbig fliegende Teppich senkte sich auf den hell glänzenden Sand. Die Hexen waren froh, ihre Gewänder mit Gleichwärmezaubern belegt zu haben, um nicht in dieser Hitze auszudörren.
„Wissen wir, mit welchen Meldezaubern die Ägypter den Bereich gespickt haben?“ wollte Kathleen wissen, der die Sache nicht so geheuer war.
„Darüber sagen die Schriftrollen nichts“, sagte Mara. Anthelia nickte. „Da wir sie nicht mitnehmen durften bleibt uns nur, es darauf anzulegen.“
„Es gilt, den unsichtbaren Dom nicht komplett niederzureißen, sondern nur einen Durchgang zu schaffen“, sagte Anthelia. „Wenn es danach aussieht, daß der gesamte Schutzwall einstürzen könnte brechen wir die Mission hier ab und suchen im Sudan weiter.“
„Und wenn uns die Ägypter erwischen wird’s eng“, knurrte Kathleen. Sie hatte von Mara gehört, daß vorwitzige Hexen, die in die Angelegenheiten der Zauberer hineinfuhrwerkten, ihr restliches Leben als Ziegen, Kamelstuten oder Eselinnen verbracht hatten. Das war nicht gerade das, worauf Kathleen es anlegte. Anthelia war über diese schwebende Drohung erhaben. Ihr konnte kein Verwandlungszauber mehr was anhaben.
„Das ist es“, zischte Anthelia. Sie hielt ihren Zauberstab so, daß er nach unten wies. „Hier ist eine scharfe und stark bebende Trennung in den Linien der Erde.“ Die drei Hexen stellten sich nun bereit, um den aus den alten Schriftrollen erlernten und von Mara und Anthelia betonungsmäßig korrekt nachempfundenen Öffnungszauber zu wirken.
Sie brauchten eine Minute, um die richtige Tonlage und die genau aufeinander abgestimmte Zauberstabbewegungsabfolge zu treffen. Als das geschah trat auch prompt die Wirkung ein. Vor ihnen flimmerte die Luft noch stärker. Es sah so aus, als färbe sich alles vor ihnen in einen grünlich-violetten Nebelhauch um. Kleine Wirbel entstanden und kreisten um den Punkt, auf den die drei Hexen ihre Magie fokussierten. Der grünlich-violette Dunst verdichtete sich, wallte zu einer ovalen Wolke, deren Ränder immer wieder in tanzende Schwaden auseinanderflossen. Jetzt sangen die drei Hexen so ton- und Taktgleich, daß es wie eine einzige Stimme klang. Das war auch eine Wirkung der gemeinsamen Zauberei. war sie einmal in Gang gekommen, glich sie ihre Quellen an, quadrierte die Kraft gemäß der Anzahl der Ausführenden. Nun ragte vor ihnen eine mehr als dreißig Meter hohe Nebelwand auf. Doch der Dunst floß immer weiter auseinander. Anthelia fühlte, wie die Sperre sich gegen die Eindringlinge wehrte. Etwas darin war aus lebendiger Kraft entstanden. Womöglich war der Zauber an die Kraft der Seelenschlinger gekoppelt. Was genau stimmte konnte Anthelia im Moment nicht ergründen, weil sie sich mit den beiden anderen in magischer Konzentration befand. Sie fühlte, wie ihre Kraft mit den Energien der beiden Schwestern zusammenfloß und in das unsichtbare Hindernis eindrang. Der Dunst verbreitete sich immer weiter und bildete eine wild wabernde Säule, die mehr als vierzig Meter breit war und mehr als hundert Meter in den Himmel ragte. Die drei Hexen waren so sehr auf den gemeinsamen Zauber konzentriert, daß sie nicht mitbekamen, wie von drei seiten her schnelle Flugteppiche anflogen, auf denen jeweils fünf Zauberer saßen. Mit einem nun in der Tonhöhe steigenden Singsang trieben die drei den Öffnungszauber zu seinem Höhepunkt. Der Nebel klaffte unten auseinander und schuf einen ovalen Durchgang. Als dieser breit genug war rannten die drei Hexen hindurch. Da landeten die drei Flugteppiche. Die fünfzehn in blaue Tücher gehüllten Zauberer sprangen herunter und liefen auf die grünlich-violett schimmernde Toröffnung zu. Sie mußten das Tor wieder schließen, bevor die drei Ungehörigen womöglich noch einen der hier vergrabenen Seelenschlinger ausgraben und mitnehmen konnten. Sie wollten gerade mit der Wiederherstellung des unsichtbaren Doms beginnen, als es über sie hereinbrach. Es war kein Zauber, den die drei Hexen angewendet hatten. Es war ein Gefühl von Wut und Haß, ja und auch von der Lust, irgendwen oder irgendwas zu töten. Die fünfzehn Männer wußten, was hier lauerte. Doch sie hatten vor lauter Eile nicht daran gedacht, sich dagegen schützen zu müssen. Außerdem hatten sie wohl auch geglaubt, die Macht der vergrabenen Seelenschlinger habe im Lauf der Jahrtausende so stark nachgelassen, daß diese erst wieder gefüttert werden mußten, um eigenständig nach Beute zu suchen. Dies erwies sich nun als tödlicher Trugschluß.
Anthelia fühlte, wie der unter ihrem weißen Kopftuch sicher aufliegende Schutzreif erzitterte und sich erwärmte. Hoffentlich wurde die Tiara nicht so heiß, daß sie sich in die Kopfhaut und durch die Schädeldecke brannte! Anthelia konnte die Gedanken von Geisterwesen nicht lesen. Doch sie spürte mit der in ihr wirkenden Magie der Tränen der Ewigkeit, daß etwas ungestümes versuchte, sie zu packen und nur durch einen mächtigen Schutz zurückgedrängt wurde. Doch da waren noch Gedanken, die nicht Kathleen oder Mara gehörten. Männer, Zauberer, die hier aufgetaucht waren. Sie wollten den für eine Stunde offenen Durchlaß vorzeitig schließen. Dann wären sie drei mit den vergrabenen Seelenschlingern eingesperrt und würden doch irgendwann den Schutz verlieren.
Die ägyptischen Magier gerieten jedoch in die Ausstrahlung der Seelenschlinger. Diese hatten Hunger. Sie mußten frische Seelen einsaugen. Die Zauberer waren ungeschützt. Sie fühlten die Wirkung der tödlichen Kraft. Anthelia zog die beiden Mitschwestern mit sich. Da rief einer der Zauberer was und zielte auf Kathleen. Anthelia warf sich zwischen ihn und die Bundesschwester. Somit bekam sie den Zauber voll ab, aber nicht zu spüren. Laut krachend zerbarst ein violetter Blitz an ihrem Körper. Der Zauberer erstarrte. Da flog ihm von der Seite ein Fluch entgegen, der ihm den rechten Arm verdorren ließ. Anthelia erkannte, daß die Ägypter gleich in einer wilden Zauberschlacht entbrennen würden. telekinetisch ließ sie die beiden weit genug vom Tor entfernt landen. Da ging die Zauberschlacht auch schon in die Heiße Phase über. Wild zuckten Blitze und Lichtstrahlen hin und her. Die Männer beharkten sich in Mehrfachduellen. Krachend prallten Zauber gegeneinander und verursachten gefährliche Querschläger. Dann rief einer der Zauberer die auch in Ägypten geächteten Worte: „Avada Kedavra!“ Anthelia drückte ihre beiden Schwestern in den Sand. Doch der grüne Blitz galt keiner von ihnen, sondern einem wild mit Flüchen schleudernden Kameraden. Der Todesfluch ereilte ihn mit lautem Brausen. Er fiel um. Anthelia spürte es förmlich, wie ein vorschnellender Fangarm aus dem Boden stieß. Sie sah für einen Sekundenbruchteil eine geisterhafte Erscheinung über dem Leichnam, bevor diese zu einer weißen Kugel verdichtet wurde, die in den Boden hineinfuhr. Da fiel auch schon ein zweiter der Männer. Anthelia fühlte eine gewisse Schuld am Tod und dem gnadenlosen Schicksal der beiden. Sie hatte das verbotene Tor geöffnet. Die Männer wußten, was dahinterlag. Doch es half ihnen nichts. Jetzt riefen vier weitere Ägypter „Avada Kedavra!“ Vier weitere Leichen, die kurz von den aus den Körpern zu entfleuchen versuchenden Seelen überflogen wurden, bevor diese gnadenlos zusammengestaucht im Boden verschwanden. Mit jedem neuen Opfer wuchs die Ausstrahlung der Seelenschlinger. Mit jedem neuen Opfer erhitzten sich auch die Tiaren der drei Hexen, die ihnen bis dahin Schutz vor dem gierigen Zugriff boten.
„Das geht voll schief, Mädels“, stieß Kathleen auf Englisch aus. Sie zerrte bereits an ihrem Kopftuch, wohl um das immer heißer werdende Schutzartefakt loszuwerden. „Kathleen, wenn du es wegwirfst bist du die nächste, die gefressen wird!“ rief Anthelia und riß Kathleens Hände telekinetisch zur Seite weg. Doch sie fühlte auch, daß ihr Kopf immer heißer wurde. Die sich aneinander reibenden Zauberkräfte schieden Hitze ab. Jeder tote Zauberer verstärkte diese Hitze.
„Verdamm mich, das Ding wird immer heißer. Wenn ich das nicht abmache brennt sich das durch meine Kopfhaut“, stöhnte Mara. Da fiel der nächste Zauberer. Anthelia sah seinen für einen Moment freikommenden Geist, bevor dieser verschlungen wurde. Sie hatten keine Zeit, einen Seelenschlinger auszugraben. Anthelia fühlte die Hitze unerträglich werden. Sie mußte entscheiden, was zu tun war. Sie wünschte sich, jenen Zauber zu können, der den Drang zum Töten unterband. Doch den konnte nur, wer in seinem Leben noch keinen Menschen getötet hatte. Insofern war sie absolut unfähig, diesen hilfreichen Zauber zu lernen.
„Rückzug nach draußen. Aktion gescheitert!“ kommandierte Anthelia. Da fielen gerade wieder zwei Zauberer um. Die Leichen blieben im Sand. Ihre Seelen wurden vom Weg in die Nachwelt heruntergerissen und verschlungen. Ein grausameres Ende als das konnte sich selbst die an Grausamkeiten gewöhnte Anthelia/Naaneavargia nicht vorstellen.
„Wie kommen wir hier raus, ohne von einem von denen da umgeflucht zu werden?“ schrie Kathleen. Anthelia gab die Antwort in Form einer unsichtbaren Stoßwelle, die die noch verbliebenen Zauberer wie Dominosteine umwarf. Dann rief Anthelia mit nach draußen deutendem Zauberstab ein arabisches Wort. Der von ihnen benutzte Flugteppich sauste herbei. Die drei sprangen auf. Anthelia befahl auf Arabisch die Gefahrenflucht. Dann warf sie sich flach auf den Teppich, der über die sich gerade erst wieder regenden Zauberer hinwegpreschte und durch das Tor hinausraste. Anthelia wirkte noch den Plurimagines-Zauber und erschuf auf diese Weise dutzende von Abbildern.
Erst hundert Meter über dem Tor hörte die sengende Hitze der Tiaren auf. Die dumpfen Kopfschmerzen verflogen innerhalb von Sekunden.
„Die anderen sind noch in der Kuppel!“ zeterte mara.
„Ja, und da werden sie auch bleiben“, knurrte Anthelia. Sie war wütend, warum hatten diese Idioten sich nicht abgesichert, bevor sie ihr nachgehetzt waren? Die wußten es doch am besten, was ihnen blühen würde.
„Können wir das Tor wieder zuschlagen?“ wollte Kathleen wissen, die genauso eiskalt ihre Chancen abgewogen hatte.
„Nein, die Ausstrahlung war jetzt schon sehr hoch. Wenn die Seelenschlinger ihre Opfer alle bekommen haben sind wir selbst mit den Schutzreifen nicht mehr sicher. Hoffen wir, daß in der Stunde, die es offensteht kein anderer meint, durch das Tor hinein zu müssen.“
„Dann ist Lamia nicht zu besiegen, weil wir keines dieser Ungeheuer gegen sie einsetzen können?“ wollte Mara wissen.
„Womöglich geht es nur mit einem dauerhaften Schlafzauber, der ihren Geist im Körper gefangenhält. Vielleicht geht es auch mit dem Incapsovulus-Zauber“, erging sich Anthelia in vagen Hoffnungen.
„Toll, dann habe ich mir für nichts und wieder nichts die Frisur ruiniert“, schnarrte Kathleen.
„Besser nur die Frisur als deine unsterbliche Seele“, fauchte Anthelia zurück.
„Für manche Frau ist das gleichwichtig“, blaffte Mara. Anthelia gemahnte alle zur Ruhe. Sich gegenseitig anzufauchen würde den gerade nach außen wirksamen Seelenschlingern wohl nur neue Kraft geben.
„Woher wußten die, wo wir waren und was wir gemacht haben?“ fragte Kathleen nach einer halben Minute Schweigen.
„Weil wir den Öffnungszauber gewirkt haben. Sicher liegen im Bereich um die verbotene Zone Spürsteine, die auf diesen einen Zauber festgelegt sind. Wer angemeldet das Tor öffnet hat nichts zu befürchten. Womöglich brauchten die Ägypter auch, um unsere Spur zu finden“, mutmaßte Anthelia.
„Okay, höchste Schwester. Wir haben heute was wichtiges gelernt: Sachen, die von anderen verbuddelt werden, sollten besser verbuddelt bleiben.“
„Sagt das Lamia, die ja nur des Mitternachtsdiamanten wegen besteht“, erwiderte Anthelia. Dabei mußte sie daran denken, daß wenn Pandora sich an diesen Vorsatz gehalten hätte, sie niemals ihr zweites Leben hätte anfangen können. Das gleiche galt für die Stimme Ailanorars, die in gewisser Weise auch vergraben wurde, um vergraben zu bleiben. Ohne Julius Latierre wäre Naaneavargia niemals freigekommen. Es kam also wirklich darauf an, wer was warum vergrub oder ausgrub.
Nach zehn Minuten, ohne daß sie den Hauch eines Verfolgers mitbekommen hätten, landete Anthelia den Teppich wieder. Sie rollten ihn zusammen. Mara konnte ihn mit in die Schweiz nehmen. Zuvor prüften sie, wie heftig die Erhitzung ihrer Tiaren sie beeinträchtigt hatte. Tatsächlich waren die Haare direkt unter den silbernen Reifen stark versengt. Anthelia ließ die Haare ihrer Mitschwestern erst ganz ausfallen. Dann rieb sie die blanke Kopfhaut der Schwestern mit Diptam aus der vorsorglich mitgeführten kleinen Heilertasche ein. Dann warteten sie fünf Minuten, bevor Anthelia die Haarpracht ihrer Mitschwestern wiederherstellte. Sie selbst konnte sich die Haare nicht ausfallen lassen. Doch mit den üblichen Abtrennzaubern konnte sie sich ihre dunkelblonden Haare abtrennen. Ihre Kopfhaut war unversehrt. Das konnte an der Unverwüstlichkeit der Tränen der Ewigkeit liegen. Anthelia atmete auf. Das Haar würde nachwachsen. Bis dahin mußte sie eben mit einer jungenhaften Kurzhaarfrisur zurechtkommen. Doch wie hatte sie gesagt? „Besser deine Frisur als deine unsterbliche Seele.“
Wieder zurück in der Daggers-Villa fand Anthelia/Naaneavargia Zeit, sich über ihre eigene Anmaßung zu ärgern. Sicher hatten die Ägypter diesen neuralgischen Bereich mit Spürzaubern gespickt. Sicher war irgendwo eine Einsatztruppe stationiert, die bei den ersten Anzeichen, daß wer die verbotene Zone betreten wollte, hinflog um den verbotenen Akt zu beenden. Doch offenbar waren die Spinnenschwestern zu schnell ans Ziel gekommen. Sicher hatte keiner der Einsatzzauberer den Kampf überlebt. Würden die Ägypter es weitermelden? Falls ja konnte Cartridge den Burgfrieden als gebrochen verkünden. Sie wollte aber erst Lamia unschädlich machen oder zumindest dafür sorgen, daß Nocturnia keine wirkliche Macht mehr besaß. Erst dann konnte sie, wenn es denn sein mußte, gegen übereifrige Ministeriumstruppen kämpfen.
Das Schreien von Anastasia machte ihr lautstark klar, wofür es sich zu leben lohnte, um jungen Hexen eine bessere Welt zu erschließen, und sei es in einem jahrzehntelangen Prozeß der behutsamen Umgestaltung. Merkwürdigerweise regte das Geschrei der kleinen Anastasia ihren Geschlechtstrieb an. Wollte sie jetzt echt losziehen, um sich auch noch schwängern zu lassen? Das wohl nicht, aber nach der erfolglosen Aktion in der ägyptischen Wüste mußte sie jetzt eine wirksame Ablenkung haben. Erst wenn sie ihrem Körper gegeben hatte, was dieser nun haben wollte, konnte sie wieder klar denken und nach einem anderen Mittel suchen, um Basis Winternacht auszuheben und Lamia dabei zu entmachten.
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In den kommenden Tagen und Nächten verstarben noch zwei weitere Männer aus der Riege der Sonnenkinder. Darfaian und Faidaria hatten die Anweisung ausgegeben, sich bis auf weiteres nicht mehr an der Jagd auf Solexfolienfabrikanten zu beteiligen. Brandon hatte über ein geschicktes Internetmanöver hinbekommen, daß die nun sechs amerikanischen Sonnenkinder auf eine ausgediente Luxusyacht gehen konnten, um damit auf den offenen Atlantik hinauszufahren. Da Patricias Überleben derjenigen, vor der es am meisten zu verheimlichen war, eh bekannt war, spielte es nun wirklich keine Rolle mehr. Da die Rivers‘ und Stratons ja Geld wie Heu hatten konnten sie genug Lebensmittelvorräte für ein halbes Jahr an Bord nehmen. Sie fuhren am 25. Juni hinaus auf den Atlantik und drangen in den Golfstrom ein. Sollte wirklich ein Kamikaze-Bomber der Vampire die Staaten überfliegen, so würde er bei der Menge Fließwasser Probleme haben, sein Ziel zu erreichen, so Patricias vermutung. Da Hesperos sich mit selbstfahrenden Booten auskannte und Brandon genug über Seefahrt in der teuren Oberschule Cecil Wellingtons mitbekommen hatte, benötigten sie auch keine Besatzung. Lediglich die elektronik mußte mit den bereits erprobten Methoden Sonnenkindausstrahlungssicher gemacht werden.
Darfaian lernte von Brandon alles nötige, um die Mission Mitternachtssonne durchzuführen. Brandon kam noch auf die Idee, daß in Umlauf gesetzt werden sollte, daß es keine Sonnenkinder mehr gab. Dem stimmten die noch überlebenden zu.
Zehn Tage nach dem Auslaufen der Privatyacht, die Patricia auf den Namen „Lady Sunrise“ getauft hatte, war Darfaian sicher, seine einsame Mission durchzuführen.
„Ich möchte mich von euch verabschieden. Sollte ich den richtigen Ort tatsächlich erreichen, so werdet ihr nichts mehr von mir hören.“
„Wenn du sie umbringst wandert sie in einen neuen Körper aus“, warf Dawn ein.
„Ich bin sicher, daß sie das nur kann, wenn sie dazu genug Kraft hat“, schickte Darfaian zurück. „Und falls sie wiederkehrt, so haltet ihr unrühmliches Reich in festen Grenzen!“
„Du willst uns nicht erzählen, wie du es anstellen möchtest?“ wollte Aroyan wissen, der als einer der wenigen einem Selbstmordvampir entgangen war, weil er gleich nach Wahrnehmung der Präsenz den Zauber gegen alle Feuerentfaltung gewirkt hatte.
„Es ist besser, wenn ihr das erst wißt, wenn meine Mission scheiterte“, erwiderte Darfaian.
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Anthelia hörte von explodierenden Vampiren. Das galt vor allem den Sonnenkindern. Wie viele von denen waren dabei gestorben? Patricia würde ihr das sicher verraten. Von ihr wußte sie über Mentiloquismus, daß sie ihren Teil der Abmachung mit den Sonnenkindern erfüllt hatte. Sie hatte einen Sohn zur Welt gebracht, den sie Prunellus nannte. Anthelia dachte an die rein mentalen Zwiegespräche mit Pandora. Ihre Familie mochte den Buchstaben P. Phyllis, Paige, Petra, Peter, Pauline, Phoebus, Phoebe, Philemon und Philomena, Petula und Pygmalion, all die Namen hatte es schon in der Ahnenreihe gegeben, die sich von Pandoras Ahnmutter Priscilla Worthington herleitete.
Anthelia las noch einmal die Bücher über Geistersperren nach. Einmal hatte Medea von Rainbowlawn es geschafft, den Geist eines alten Trunkenboldes in einem Weinfaß gefangenzusetzen, daß sie mit Geistersperrzaubern berunt und besprochen hatte. Ja, warum nicht gleich so! dachte Anthelia mit einer gewissen Wehmut, weil wegen dieser so späten Erkenntnis fünfzehn wackere Zauberer hatten sterben müssen, deren Tod sie absolut nicht gewollt hatte. Sie besorgte ein großes Eichenholzfaß. Dieses beschrieb sie mit den richtigen Runen. Weil die Zauber so nachhaltig waren mußte sie zwischen den einzelnen Formeln mehrere Stunden verstreichen lassen. So war ihre Lamia-Geisterfangvorrichtung erst zwei Tage später einsatzbereit. Jetzt konnte Anthelia sich der Feindin nähern. Die beinahe in ihrer eigenen Vernichtung geendete Expedition zu den Seelenschlingern hatte sie inspiriert, die Sperrzauber zu einem Magneten für den Geist einer bestimmten Erscheinung zu machen. Sie hatte die Namen Nyx, Griselda Hollingsworth, Lamia, die blutmondkönigin und Elvira Vierbein geborene Walker in das Faß geschrieben. In den USA hieß es, wenn etwas tödliches auf einen lauerte oder bereits unterwegs war, daß auf dem betreffenden Etwas der Name des Ziels stehe. Wie wahr war es in diesem besonderen Fall!
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Der Motorschlitten schrabbte über den steinharten Schnee. Der Mann in der Kabine trug eine Daunenjacke und entsprechende Hosen und besonders wärmeisolierende Unterkleidung. Dennoch keuchte und zitterte er. Er hatte die Bordheizung auf maximale Stärke hochgedreht. Doch ihm war kalt. Gunnar Fredericksson, so nannte er sich, war hochgewachsen und besaß weizenblondes Haar.
Was dem einsamen Motorschlittenfahrer noch mehr zu schaffen machte als das, was ihn zittern ließ war die Dunkelheit. Weit über sich sah er das Kreuz des Südens, daß den Südseefahrern damals wie heute als Wegweiser diente. Der südlichste Punkt der Erde lag nicht mehr weit entfernt. Rumpelnd und schabend pflügte der Schlitten sich durch die nächtliche Eiswüste. Windböen warfen Schnee und Eiskristalle gegen die Windschutzscheibe des Motorschlittens. Der blonde Mann wußte, daß er in dieser eisigen Einöde rettungslos verloren war. Zwar hatte er Proviant mit. Doch wenn ihm dieses lärmende Fahrzeug den Dienst versagte, war er verloren. Dem Tod geweiht war er zwar auch so. Doch sein Sterben sollte einen wichtigen Beitrag liefern. Im Eis und Schnee zu verrecken war für ihn absolut sinnlos. Er dachte an die Berichte von Captain Scott, der als erster Engländer versucht hatte, den Südpol zu erreichen und von dem Norweger Amundsen überholt worden war. Dieser Expeditionsleiter war mit vier Mann auf dem Rückweg elendiglich im Eis umgekommen. Das alles wußten die Menschen, weil Scotts Tagebuch gefunden worden war. Von ihm, Gunnar Fredericksson, würde niemand mehr eine Aufzeichnung finden, egal ob er hier oder am ausgewählten Ziel sterben würde.
„Ich hätte sie nicht so harsch zurückstoßen sollen“, dachte der einsame Motorschlittenfahrer. Fünfzig Jahre war er mit ihr zusammen gewesen. Drei Kinder hatte sie von ihm bekommen, alles Jungen. Einer von denen war vor kurzem in eine Explosion geraten. Seine Gefährtin war darüber traurig gewesen. Doch er hatte sie zurückgestoßen, als sie von ihm verlangt hatte, diese Reise nicht zu machen. Doch er mußte sie machen. Von ihm hing nun alles ab, der Sinn seines Lebens, der Schutz der Menschen und nicht zuletzt ob die Macht des dunkelsten Herrschers aller Zeiten ungehindert wachsen konnte. Er hatte es keinem der anderen Leute erzählt, daß er auf einem Himmelfahrtskommando war. Nein, kein Himmelfahrtskommando, sondern eine Selbstmordmission. Er wollte jene mit der gleichen Unerbittlichkeit treffen, die ohne Rücksicht auf eigene Getreue seinen Sohn und andere unersetzliche Männer ums Leben gebracht hatte.
Im Licht der Scheinwerfer erstreckte sich die blau-weiße Eiswüste. Sie hatte es schon zu der Zeit gegeben, als der große Erdteil noch da war. Sein junger Berater – Lehrmeister wollte er ihn auch in Abwesenheit nicht nennen – hatte ihm jedoch erzählt, daß es hier vor Mehreren millionen Jahren warm genug war, um große Bäume und Büsche wachsen zu lassen und daß hier mächtige Echsen gewohnt hatten, von denen heute immer noch versteinerte Knochen gefunden werden konnten. Das war alles in einer anderen Welt, getrennt durch eine Zeitmauer aus Jahrmillionen. Für ihn solte nur das zählen, was in den nächsten Stunden passieren würde. Er schaltete die Funkanlage ein. Sicher hatten sie ihn schon gesehen. Denn er fühlte eisige Finger über seinen Kopf und seinen Körper hinwegstreichen. Damit stand für ihn fest: Hier war er richtig. Hier mußte er hin. Hier würde sich sein Schicksal erfüllen.
Die Stimme aus dem Lautsprecher klang blechern und wurde von Knacklauten durchsetzt. Der Mann, der sich Gunnar Fredericksson nannte nahm das Mikrofon und drückte die Sprechtaste: „Mein Name ist Gunnar Fredericksson vom königlichen Polarerkundungsdienst. Ich wollte zu unserer Station bei zwanzig Grad West, bin aber vom Weg abgekommen. Mein Treibstoff geht aus.“ Er wartete. Wieder meinte er, kalte Finger überstrichen sein Gesicht und seinen Körper. Er fühlte es regelrecht in seinem Unterhemd erzittern. Kälte brandete durch seinen Körper. Er fühlte sich schwach. Doch jetzt war er so nahe am Ziel.
„Doktor Gunnar Fredericksson? Sie haben doch vor zehn Jahren in Stockholm über die Elastizität Alpiner Gletscher veröffentlicht, richtig?“ wurde er über Funk gefragt.
„Nein, das war vor acht Jahren in Malmö und handelte von der Relation des Meersalzgehaltes über den Zeitraum eines Polarjahres gemessen am Nordkap“, berichtigte der Farer den Mann am Funk.
„Oh, dann habe ich Sie mit einem anderen Fredericksson verwechselt“, lachte die Stimme aus dem Lautsprecher. „Doktor Schuster. Ich bin hier für die Wetterballons zuständig. Glaciologie liegt auch eher bei meiner Kollegin Vera Duncan.“
„Unabhängig davon, Sir, könnenSie mir mit Benzin aushelfen, damit ich noch zu meinem eigentlichen Ziel komme?“
„Wir haben noch genug. Sind gestern erst mit neuem Treibstoff versorgt worden. Kommen Sie zu uns!“
Der Mann im Schlitten bedankte sich und gab Gas. Keine zehn Minuten später hatte er die Station vor sich. Sie wirkte genauso, wie er sie beschrieben bekommen hatte. Er zog die Kapuze fest über den Kopf und stieg aus. Ob sein Schlitten auch auf Ewig hier stehenbleiben würde? Wenn es nach denen da drinnen ging sicher nicht. Denn er stellte einen der wichtigsten Koordinatoren der Antarktisforschungseinrrichtungen dar. So einen würden sie garantiert wieder zurückschicken, um in ihrem Sinne weiterzumachen. Zudem hatte er noch einen Köder, um sicherzustellen, daß sie ihn auch wirklich nicht dabehalten wollten. Er würde einwerfen, daß es wohl mehr Leute als Betten in der Station gäbe, da er von vier Lebensmittelfirmen gehört habe, die die Station belieferten. Wenn er schon mal da war, wollte er das klären, so seine vorbereitete Behauptung.
Die klirrende Kälte war nicht das, was ihn wirklich zittern ließ. Eigentlich war er jeder Temperatur gewachsen, ob Gluthitze oder Eiseskälte. Dennoch zitterte er sichtbar.
Ein Mann empfing ihn an der inneren Tür der Wärmeschleuse. Er war froh, seine Stiefel auf der rüttelnden Fußmatte schneefrei bekommen zu haben. Er sah dem Mann ins Gesicht, hütete sich aber davor, ihm zu tief in die Augen zu blicken. Denn in seinem Zustand war er so gut wie wehrlos.
„Ah, Doktor Fredericksson“, begrüßte der Mann ihn. Sein Gesicht wirkte rosig. Aber irgendwie konnte er nicht lächeln. Doch der einsame Schlittenfahrer nahm es gefaßt zur Kenntnis.
„Meine Kollegin Vera Duncan möchte sie in der Zentrale sprechen. Unsere Jungs tanken in der Zeit Ihren Schlitten voll und legen noch ein Faß Benzin in den Laderaum“, kündigte der jung wirkende, kraftstrotzende aber auch Überlegenheit ausstrahlende Mann an. Jetzt erkannte der Mann, der sich Gunnar Fredericksson nannte, daß es der mann vom Funkgespräch war.
Die Zentrale war ein großer Raum voller Elektronik und LCD-Monitoren. Eine Frau in einem blauen Kittel saß auf einem Sessel. Sie wirkte hier wie eine Königin auf ihrem Thron. Vielleicht bildete sich der Besucher das auch nur ein, weil er ja damit rechnete, eine ganz bestimmte Frau hier anzutreffen. Jedenfalls klappte es bisher, daß keiner ihn für etwas anderes hielt als er selbst von sich behauptete.
„Willkommen in unserer bescheidenen Station, Doktor Fredericksson“, sprach die Frau ihn auf schwedisch an. Zumindest vermutete der Besucher es. Denn er konnte die Sprache nicht von sich aus. Doch eine winzige Vorrichtung die er sich zur Sicherheit ins Rechte Ohr gelegt hatte, half ihm, jede menschliche Sprache zu verstehen und in dieser auch zu antworten. So erwiderte er in fließendem Schwedisch, daß er sehr erfreut sei, daß eine Engländerin seine Muttersprache konnte.
„Ich bin Amerikanerin. Aber da, wo ich herkomme leben viele schwedische Einwanderer. Außerdem mag ich die Bücher von Astrid Lintgren und habe deshalb die Sprache gelernt, in der sie ursprünglich geschrieben wurden“, setzte die Frau im Sessel die Konversation fort. Der Besucher nickte behutsam. Er durfte das kleine goldene Ding nicht aus dem Ohr fallen lassen. Sonst konnte er die angebliche Muttersprache nicht mehr.
„Wir bekommen selten so hohen Besuch“, setzte die Frau die Unterhaltung fort. Der Besucher nickte erneut. Dann kam er gleich zur Sache, daß er Treibstoff bunkern würde und dann zur eigentlichen Basis weiterfahren wolle. Dann tat er so, als ob er sich auf etwas besinne und fragte, ob es stimmte, daß die Station für zwanzig Leute ausgelegt war. Sie bestätigte es. „Oh, da muß dann in der Abstimmung der Zulieferer was verkehrt sein. Ich wollte schon anfragen lassen, ob Sie nicht zu viele Lebensmittel und zu wenig Treibstoff beziehen. Denn nach den Unterlagen beziehen sie Lebensmittel für siebzig Personen. Hier am Pol ist jedes Kilogramm Ware gleichbedeutend mit zehn Kilogramm Treibstoff. Daher wunderte ich mich, daß ihre Stiftung so viel Geld ausgeben soll, wo Sie nur zwanzig Leute hier sind.“ Er beobachtete die Frau genau. Sie tat zwar unbeeindruckt. Doch bei der Erwähnung des merkwürdigen Lebensmittelverbrauchs hatte ihr rechtes Auge kurz gezuckt. Der Besucher tat so, als habe er das nicht gesehen.
„Nun, die Kälte hier macht hungrig. Und wir waren einmal lange vom Nachschub abgeschnitten. Daher bestellen wir immer mehr als wir gerade wirklich verbrauchen. Die meisten Sachen sind ja Konserven. Und was tiefgekühlt werden muß, das können wir ja in die größte Kühltruhe von Mutter Natur legen.“
„und hoffen, daß die Pinguine es Ihnen nicht wegfuttern“, scherzte Fredericksson. Er fühlte, wie der Blick der Frau ihn abtastete. Dann sah er, wie sie dem Mann zunickte. Der verließ den Raum.
„Dann ist Ihr Irrweg ja doch noch für was Nütze“, sagte sie und blickte den Besucher an. Dieser gab sich der Kraft hin, mit der er angesehen wurde. Es kribbelte auf seiner Haut. Er dachte an den Auftrag, den Gunnar hatte und daß er schnellstens noch zur anderen Station wollte und dort noch einmal nachprüfen lassen wollte, ob übermäßig viele Lebensmittel geliefert worden wären. Der Blick, der ihn festhielt, drang tief in ihn ein. Doch soeben schaffte er noch, nur das zu denken, von dem er wollte, daß es jeder wußte. Er war sich jedoch nun sicher, am Ziel zu sein.
„Nun, wenn Ihr Schlitten wieder aufgetankt ist können Sie Ihren Verwaltungskollegen gerne bestellen, daß unsere Stiftung genug Geld hat, um ein ganzes Baseballstadion mit warmen Mahlzeiten zu versorgen. Tun Sie das für mich?“
„Ich glaube Ihnen nicht. Sie lügen“, preschte Fredericksson vor. „Sie unterhalten hier mehr als eine Forschungsstation. Worum geht es? Heimlicher Rohstoffabbau? Jagd auf geschützte Tiere?“
„In gewisser Weise alles beides. Wir bauen hier einen wichtigen Rohstoff ab und müssen zwischendurch auch anderswo geschützte Tiere jagen“, erwiderte die unheimliche Fremde. Ihr Blick verstärkte sich. Der Besucher kämpfte gegen die Kraft an. Doch er war nicht mehr so stark wie sonst. Das sollte ja auch so sein. Denn sonst wäre seine Mission gescheitert. Am Rande des Willensverlustes stieß er noch aus: „Was immer Sie da gerade mit mir anstellen, es wird nicht funktionieren.“ Ein lautes Lachen war die Antwort.
„Du bist sehr stark. Irgendwie komme ich nicht so richtig zu dir durch. Aber das nützt dir nichts. Du wirst das machen, was ich dir sage, entweder so oder auf andere Weise“, schnarrte die Unheimliche. Der Besucher stemmte sich noch einmal gegen den in ihn einströmenden Einfluß an. Er durfte nicht zusammenbrechen. Sie durfte nicht wissen, was er plante. Gerade so konnte er noch den Gedanken vorschieben, daß er aufspringen und dieses Weib da niederschlagen würde. „Du zitterst ja noch! Verstehe, dir ist es hier drin noch zu kalt, obwohl wir für Gäste gerade bei zehn Grad Celsius bleiben. Aber gleich wird dir nicht mehr kalt sein. Du bist groß, du bist stark. Du wirst mein Bote bei den anderen Bürokraten sein, die meinen, uns auskundschaften zu müssen“, säuselte die Unheimliche. Der Besucher vermeinte, ihre Stimme auch in seinem Kopf zu hören. Noch kämpfte er. Sie durfte ihn nicht überwältigen, nicht so einfach. Er hatte zu viel riskiert, sich zu sehr geschwächt, um einfach so unter der Macht ihres Blickes zusammenzubrechen. Sie streckte die rechte Hand aus. Leise glitt der Reißverschluß der Daunenjacke auf. Der blonde Mann zitterte noch mehr. Da drückte die Hand, die seine Jacke geöffnet hatte, seinen Kopf zur Seite. Er sah noch einmal in die Augen der Unheimlichen. Sie glühten vor Begierde. Dann fühlte er den Schmerz am Hals. Wie zwei kräftig zustoßende Dolche drang sie mit ihren Zähnen in seinen Hals ein. Sein Unterhemd erbebte, als die Unheimliche anfing, sein Blut in sich einzusaugen. Hoffentlich stimmte, was er gelernt hatte. Hoffentlich kam sie nicht darauf, ihm ihr eigenes Blut zu trinken zu geben, so daß er einer von ihrer Art wurde.
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Arnold Vierbein starrte auf den blonden Mann. Irgendwas an ihm strömte Kraft und Verheißung aus, als umgebe ihn ein Kraftfeld, an dem er sich nach Belieben aufladen konnte. Er hatte die Anweisung erteilt, den Motorschlitten aufzutanken. lamia wollte diesen Besucher um jeden Preis zu ihrem Diner machen. Doch der stemmte sich gegen ihren Blick. War das noch normal, wo Lamia mehrmals so stark war wie er oder Dark Velvet. Dann warf sie sich über den Besucher und biß zu. Er würde also ein neuer Bürger werden, einer wie er. Eifersucht loderte in dem Vampir auf. Denn er hatte die Gier seiner Gefährtin und Herrin verspürt. Ein unbändiges Verlangen, den Lebenssaft dieses starken Mannes in sich einzusaugen, ihn von sich trinken zu lassen und dann seine Herrin zu werden. Nachher würde dieser schwedische Sesselpupser noch ihr Vorzeigebegleiter und er, Arnold Vierbein, durfte dann nur noch die Schlappen hinterhertragen oder die Schlafzimmertür von außen zudrücken. Der Vampir, der in seinem Menschenleben ein nüchtern denkender Wissenschaftler gewesen war, fühlte, daß seine Frau, die vom Geist der entkörperten Lady Nyx besessen war, immer berauschter wurde. Irgendwas an dem Besucher trieb sie, immer wilder an ihm zu saugen. Doch wenn sie zu viel von ihm trank, ohne ihm von ihrem und seinem, Arnolds, Blut abzugeben, würde er sterben und tot bleiben, nicht wie in den lächerlichen Horrorfilmen, wo gebissene Menschen automatisch selbst zu Vampiren wurden. Das mochte für Werwölfe und Zombies gelten, aber die Vampirwandlung war ein Akt der Gegenseitigkeit und der gegenseitigen Hingabe.
Arnold bemerkte, daß seine Herrin noch wilder saugte. Er fühlte jetzt keine Eifersucht mehr, sondern Furcht. Was passierte da? Irgendwas lief nicht normal ab. Er wollte schon durch die Tür, seine Herrin zurückreißen. Doch die Tür war verschlossen. Natürlich. Der Schwede sollte nicht entwischen können. Doch Lamia hatte den Schlüssel. Sie wollte mit ihrem Gast, Opfer und Neubürger allein sein. Neubürger?! Nein! Sie ging zu weit. Sie wollte ihn nicht weiterleben lassen. Sie saugte ihn ganz aus. Arnold fühlte die Furcht in sich steigen. Was hatte der Fremde an sich gehabt, daß einen Vampir derartig berauschen und überwältigen konnte? Arnold nahm anlauf, um die Tür einzurennen. Er mußte da hinein. Lamia alias Elvira Vierbein war nicht mehr Herrin der Lage. Er fühlte, daß gerade irgendwas mordsmäßig schiefging. Warum er das fühlte wußte er nicht. Vielleicht war es die kurz aufgeflackerte Eifersucht, der große Blonde könnte ihm den Platz streitig machen. Er rannte auf die Tür zu und durchbrach sie wie ein Rammbock eine Papierwand. „Lamia, Herrin, lass ab! Das ist eine Falle!“ rief er. Warum er an eine Falle dachte wußte er nicht so recht. Aber das und nur das konnte es sein. Doch Lamia hörte nicht auf. Sie schlürfte besessen das aus der Halsschlagader pulsierende Blut. Arnold sah den Besucher immer bleicher werden. Und er sah noch was, ein triumphales Lächeln, kurz bevor seine Augen brachen und der abrupte Blutverlust ihm den Garaus machte. Lamia trank das ihr so freiwillig dargebotene Blut bis auf den letzten Tropfen. Sie ließ erst ab, als sie nicht den kleinsten Tropfen mehr erwischte. Sie bog ihren Kopf zur Seite und sah Arnold an: „Er war uns geweiht worden. Jemand wollte uns was gutes tun. Es prickelt richtig in mir.“
„Du Vollidiotin, der war ein Köder“, stieß Arnold aus. Doch Lamia lachte. Sie trat von dem leergesaugten Menschen zurück. Einen halben Meter, einen ganzen Meter. Dann war sie zwei Meter entfernt. In dem Augenblick flimmerte es kurz um den Körper des Toten, als fiele gerade ein elektrisches Feld funkenstiebend in sich zusammen wie bei einem abgeschalteten Röhrenfernseher. Doch Arnold hatte keine Sekunde mehr, über dieses Phänomen nachzudenken. Denn in diesem Augenblick überstrahlte ein greller gelbweißer Feuerball alles andere. Er hörte den mentalen Todesschrei, wie damals, als Nyx den Mitternachtsdiamanten verlor. Dann war die gelbweiße Lohe bei ihm und hüllte ihn ein. Er fühlte die ungeheuerlichen Schmerzen, wie sein Fleisch innerhalb einer Sekunde restlos verbrannte. Dann riß ihn etwas fort. Er raste durch die Gänge, verfolgt von der gelbweißen Flamme, die ihn gerade entkörpert hatte. Sie traf auf weitere Nachtkinder, die augenblicklich im gelbweißen Feuer vergingen. Da hörte für Arnold Vierbein die Welt zu existieren auf. Er erlosch in einem Inferno aus gelbweißem Feuer und schrillen Todesschreien. Der gelbweiße Flammenball durchdrang alle Wände. Die Elektronik spielte verrückt und fiel aus. Doch die Anzeigen blieben unversehrt. Weiter und weiter dehnte sich der Feuerball aus. Er brauchte die im Haus befindlichen Vampire nicht einmal zu berühren. Sie gingen auch so in gelbweißen Flammen auf. Es war, als habe die Sonne einen Teil ihrer glühenden Oberfläche über diese Basis ergossen. Doch die Glut wirkte nur auf die Bürger Nocturnias. Je mehr von ihnen vergingen, desto stärker wurde die Vernichtungswoge. Die Kraft, aus der sie gespeist wurde, vermehrte sich mit jedem von ihr berührten Vampir. Sie pflanzte sich fort und übersprang nun Kilometer. Das verfluchte Fleisch und Blut Lamias geriet in einen immer weiter ausufernden Feuerstrudel der Vernichtung. Für Menschenohren unhörbar schrillten die geistigen Todesschreie durch das Raum-Zeit-Gefüge. Doch sie schrillten nur eine Sekunde. Dann war es für einige Sekunden wieder stumm. Doch die Zerstörungswoge brandete weiter. Sie raste für alles, was nicht das verfluchte Blut Lamias in sich hatte unschädlich um die Welt. Wo sie neue Nahrung fand, gewann sie auch weiter an Schwung. Nur eine Minute brauchte die Vernichtungskraft, um den ganzen antarktischen Kontinent vampirfrei zu brennen. Denn hier waren ausschließlich Kinder Lamias stationiert gewesen. Die in der Luft fliegenden Fledermäuse zersprühten in einem gelbweißen Blitz. Asche rieselte nieder und verteilte sich im eisigen Wind zu unsichtbarem Staub.
In der zweiten Minute fuhr die tödliche Woge bereits über Südamerika, Südafrika und Neuseeland hinweg. Dort fand sie ebenfalls Opfer, die sie noch schneller laufen ließen. Nach der dritten Minute war die für Menschen unbemerkbare Kraft über den afrikanischen Kontinent hinweg. Allerdings machte sie einen Unterschied, ob ein Vampir Lamias Blut in sich trug oder nicht. So blieben einige Dunkelmondler verschont. Sie spürten nur, daß eine mächtige Kraft an ihnen rüttelte und fühlten den tausendfachen Tod. Gerade wollten zwei chinesische Hafenarbeiter ein tonnenschweres Stahlfaß von einem Eisenbahnwagen herunterholen, da zerbarst dieses mit ohrenbetäubendem Getöse in einem gelbweißen Feuerball. Die Arbeiter starben im Hagel der glutheißen Splitter. Da auf dem Zug noch andere explosive Güter gelagert waren, führte die Detonation des Fasses zu einer unaufhaltsamen Kettenreaktion. Kesselwagen gerieten in Brand und explodierten. Brennende Flüssigkeiten und glühende Gase schossen über den Zug und verwandelten ihn in eine Schlange aus orangerotem Feuer. Weitere Wagen explodierten. Neue Gasgemische reagierten unter der Wucht der Explosion und führten zu Folgedetonationen. außer den Arbeitern, die gleich in der ersten Hundertstelsekunde ihr Leben verloren, kam jedoch kein weiterer Mensch zu Schaden. Und die weltweite Vernichtungswelle lief weiter. Wo sie auf Spuren Lamias traf blitzte es auf. Weitere von ihr erschaffene Vampire verglühten in einem Augenblick, wo sie vorher schon erstarrt waren, weil ihre Herrin ihren letzten lauten Schrei ausgestoßen hatte. In der vierten Minute der Vernichtung überquerte die Welle die Donau. Eine Minute später brandete sie über die Elbe hinweg. Fabrikhäuser, in denen die Solexfolien produziert wurden, gerieten in Brand, weil dort postierte Nocturnianer auf einmal explodierten. Nur wo Nocturnianer keinen Sprengstoff am Körper trugen entlud sich die Zerstörungskraft nur in einem laut fauchenden gelbweißen Feuerstoß. Nach sechs Minuten Laufzeit gelangte die unsichtbare Vernichtungsfront nach Skandinavien und Kanada. Dark Velvet, eine Patin Lamias, fühlte es, wie es sie packte. Dann verglühte sie laut schreiend in jenem gelbweißen Feuer. Nach sieben Minuten schlug die unsichtbare Woge über dem Nordpol zusammen. Vier Schamanen der Inuit brachen zusammen, als eine unbändige magische Entladung eine Verbindung zwischen Himmel und Erde erschuf. Da über der Nordpolregion der monate lange Tag herrschte, hätte es wohl jeden gefreut, der in dieser Sekunde dort gewesen wäre. Denn es sah ganz so aus, als forme sich zunächst eine Kilometer durchmessende Kuppel aus Sonnenlicht, die dann zu einer rasant nach oben wirbelnden Spirale wurde, die genau in die bleiche Nordpolarsonne hineinglitt und von dieser immer schneller aufgesaugt wurde. Dann ergoß sich eine Kaskade goldener Funken aus dem Himmel auf die Erde. Danach war es vorbei. Der von der Sonne gespeiste Vernichtungsbrand war in die Sonne zurückgekehrt.
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anthelia hatte die Idee verworfen, die Basis mit mehreren Schwestern anzugreifen. Die Sache mit den Seelenschlingern hatte ihr erneut klargemacht, wie schnell gute Mitschwestern sterben konnten. Gegen Hallitti hatte sie nicht alleine kämpfen können. Gegen Bokanowski hatte sie die Entomanthropen eingesetzt. Auf der Jagd nach dem Mitternachtsdiamanten war ihre Miterweckerin Pandora Straton umgebracht worden. Bei der Vernichtung Volakins hatte sie zu spüren bekommen, daß auch sie nicht unverwundbar war. Doch wenn es jetzt gegen die von Iaxathans schwarzem Stein beeinflußte ging, dann sollte es nur zwischen ihr und der Vampirin entschieden werden.
Das schwere Eichenfaß zum Südpol zu bringen war eine Aktion, die drei Tage dauerte, weil das Faß nicht in einer Apparitionsabfolge mitgenommen werden konnte. So blieb mal wieder der fliegende Teppich. Nadja hatte sie eine Nachricht hinterlassen, daß wenn sie in fünf Tagen nicht wieder zurück sei, sie mit der kleinen Anastasia nach Kaliningrad reisen sollte, um dort das neue Leben weiterzuleben. Das Anastasia schon die Gedanken einer halbwüchsigen Hexe denken konnte hatte Anthelia mitbekommen. Doch der Sanctuamater-Zauber zwang sie dazu, wie ein gewöhnlicher Säugling nach Zuwendungen zu schreien, weil das von ihrer Mutter so verlangt wurde. Auch interessant, zu beobachten, was ihr, Anthelia, beinahe widerfahren wäre.
Auf dem Flug in den eisigen Süden hatte sie genug Zeit, über die bisher erreichten Etappenziele und Niederlagen nachzudenken. Der Vorstoß zu den Seelenschlingern war nicht durch die internationale Zaubererwelt gegangen. Offenbar hatten die fünfzehn Ägypter nicht weitergemeldet, auf wen sie getroffen waren. Gut, das Anthelia einen Unortbarkeitszauber über sich und die anderen gelegt hatte, während sie hin und wieder zurückflogen. So wirkte auch keine Rückschaubrille. Auch jetzt hatte sie den Unortbarkeitszauber über den Teppich gesprochen.
Die Reise verlief abgesehen von einem Sturm, durch den sie hindurchfliegen mußte, störungs- und ereignislos. Als sie bereits in der Nähe der angepeilten Station war, die im Umkreis von zehn Meilen um den Schnittpunkt der fünf Wegstrecken arbeitete, fühlte Anthelia auf einmal einen wuchtigen Stoß wie von einer glutheißen Ramme. Sie schrie auf und fiel fast vom Teppich herunter. Doch dann war es auch schon vorbei. Sie zitterte erst. Dann beruhigte sie sich wieder. Der Angriff hatte nicht ihr gegolten. Sie war nur in seinen Ausläufer geraten oder nur deshalb überhaupt davon berührt worden, weil sie eine bestimmte Eigenschaft hatte. Welche das war fiel ihr sofort ein. Dairons dunkler Rest, der in ihrem Körper feststeckte, das was von der sich entladenden Kraft des Seelenmedaillons verblieben war, der Hauch des Vampirseins, zu schwach, um sich entfalten zu können, empfindlich genug, um auf die Magie der Sonne zu reagieren. Die Magie der Sonne? Hatten die Sonnenkinder etwa …? Sie befahl dem Teppich die höchste Fluggeschwindigkeit.
Als sie einen Kilometer vor der Station war sah sie ihn schon von weitem, einen unbemannten Motorschlitten. Warum stand dieses Schneevehikel frei vor dem Hauptgebäude des festen Forschungslagers? Laut ihrer Nachforschungen unterhielten die Leute hier vier von diesen Kraftantriebsschlitten. Doch die standen in einem beheizbaren Schuppen, damit die Motoren nicht festfroren. Also mußte der Schlitten einem Besucher gehören oder gehört haben. Anthelia ließ den Teppich landen. Sie lauschte auf mentale Ausstrahlungen. Doch da war nichts. Argwöhnisch flog sie noch näher heran. Sie lauschte weiter. Immer noch kein einziger Gedankenfetzen. Sie sah, daß neben dem Schlitten ein Faß auf einem Zugschlitten lagerte, aus dem ein Schlauch in den Motorschlitten führte. Eine durchsichtige Flüssigkeit tropfte aus dem Schlitten heraus und bildete eine große, schillernde Laache auf dem Boden. Anthelia erkannte das Zeug. Das war Benzin, der aus Petroleum gewonnene Stoff, der den Antriebsmaschinen der Magielosen ihre Kraft gab. Dann erkannte sie neben den Faß zwei dunkle Brandflecken auf dem Boden. Sie landete neben dem Schlitten und untersuchte den Boden. Es sah so aus, als hätten hier drei Menschen oder menschenähnliche Geschöpfe gestanden und seien von einer mörderischen Hitze eingeäschert und verdampft worden.
Anthelia ließ den Teppich noch einmal aufsteigen und um die Basis herumfliegen. Dann landete sie genau vor dem Zugangstor. Sie wendete den Mentijectus-Zauber an, um wie mit durch Wände und Türen blickenden und tastenden Augen und Ohren in das Hauptgebäude zu blicken.
Sie erkannte nur leere Räume. Das was ihr auffiel waren Brandflecken im Boden, die die Umrisse von menschnlichen Füßen oder menschlichen Körpern boten. Doch es sah nicht nach einem verheerenden Feuer aus, das hier getobt hatte. Ihre Gedankenfühler überstrichen einen Kellerraum, der durch mehrere Türen abgesichert war. Was sie dort fand entsetzte sie, die doch so viel grauenhaftes erlebt oder bewirkt hatte. Hunderte von Menschen, meistens abgemagerte Kinder, waren in Nischenartigen Fächern neben- und übereinander aufgereiht. Sie hingen an Schläuchen, die aus Armen und Beinen ragten. Auch hatten sie Schläuche in den Mündern. Sie waren wie große Säuglinge in Windeln gewickelt. Da Mentijectus nur die Bild- und geräuschhaften Eindrücke und mögliche dunkle Zauber wiedergab, konnte sie nicht riechen, wie weit die in den Nischen eingelagerten Menschen in ihren Ausscheidungen lagen. Sie erkannte jedoch, was diese Ansammlung zu bedeuten hatte. Hier waren Lamias Blutspender für die Massenproduktion des Vampyrogens zusammengepfercht gewesen. Daß sie alle tot waren wußte Anthelia schon, weil keine Gedanken mehr von ihnen ausgingen. Sie ertastete auch den Raum, in dem eine Maschine stand, in die ein einziger Mensch oder Vampir hineinsteigen konnte. Darin hatte Lamia also ihre Blutopfer entgegengenommen, sich selbst zum Bestandteil dieser grauenvollen Apparatur gemacht, die den Keim des Vampirismus ohne den üblichen Weg über Beißen und Bluttausch verbreiten konnte. Doch wo war Lamia?
Endlich ertastete sie die Steuerzentrale. Aus zertrümmerten Rechnern drang Qualm heraus. Die Geräte mußten in einem Augenblick zerstört worden sein. Anthelia sah einen toten Mann am Boden liegen. um ihn herum zeichneten sich zwei große Brandflecken ab. Die Tür zur Zentrale war regelrecht zerfetzt worden, als habe ein Riese seine Wut an der dicken Tür ausgelassen.
Anthelia prüfte, ob um das Haus ein Apparitionswall errichtet war. Tatsächlich war dort eine Absicherung. Sie prüfte die Tür auf versteckte Fallen oder Flüche. Dann öffnete sie sie telekinetisch. Ihre eigene Körpertemperatur wurde zurückgehalten, weil sie gleichwarm bezauberte Kleidung trug. Jetzt betrat die Hexenlady die geisterhaft leere Festung, die bereits jetzt als Gruft der hundert Toten zu sehen war.
Sie passierte die Korridore, in denen die Brandflecken von spontan verkohlten Menschenwesen oder Vampiren zeugten. Als sie in der Zentrale war sah sie die wenigen Reste eines Zauberstabs neben der völlig fortgebrannten Erscheinung vor dem toten Mann. Sie untersuchte den Toten genau. Sie sah die beiden Einstiche an seinem Hals und wußte, daß ein Vampir ihn ausgesaugt hatte. Dann stutzte sie, als sie die Kleidung des Toten telekinetisch entfernte. Von der Halspartie abwärts hatte der Mann eine goldene Hautfarbe besessen, wie die Bewohner Altaxarrois. Das hier war ein toter Sonnensohn. Doch kein Vampir konnte sich einem Sonnenkind nähern und ihn auch gar nicht berühren oder gar sein Blut trinken. Dennoch hatte ein Vampir ihn gebissen und wohl auch leergesaugt, weil der Goldton der Haut ausgebleicht wirkte. Anthelia tastete mit ihren Händen nach den Kleidungsstücken. Da durchfuhr sie ein kalter Schauer, der ihren Körper erbeben ließ. Die Kälte kam von der Unterkleidung und war eindeutig magischer Natur. Sofort prüfte sie mit einem Zaubererkenner aus dem alten Reich und sah eine Wolke aus schwarzen Punkten, die um die Unterkleidung des Toten wallte. Doch die schwarzen Punkte wurden immer weniger. die Quelle der magischen Kälte versiegte. Sie erkannte, was passiert war. Der Sonnensohn hatte sich vor seinem Eintritt in die Festung mit dem Hauch der Mitternacht umgeben, einer Aura, die genauso wirkte, wie die eines Dementors. Damit hatte der Sonnensohn seine eigene Ausstrahlung genauso verhüllt, wie Anthelia ihre eigene Körpertemperatur.
„Du hast sie damit gereizt, dein Blut zu trinken. Als sie aus dem Zauber herauswar hat sich deine darin liegende Kraft mit voller Wucht entladen und ein Vernichtungsfeuer entfacht, das alle ihrer Art ergriffen hat“, sprach Anthelia in der Sprache des alten reiches.
„Warnung! Nur noch drei Minuten bis X!“ dröhnte auf einmal eine verzerrte Frauenstimme aus versteckten Lautsprechern. Anthelia lauschte. Ja, ein ganz leises Brummen war noch zu hören, obwohl hier im Raum alle anderen Stromerzeuger ausgefallen waren. Ihr war sofort klar, was hier vorging. Irgendwo außerhalb des Hauptgebäudes war ein geheimer Mechanismus eingebaut, der gerade die letzten Minuten bis zu einer Selbstzerstörungsschaltung herunterzählte. Anthelia wußte nicht, ob diese Vernichtungsanlage noch funktionierte. Doch sie mußte es nicht darauf ankommen lassen. Sie beschwor die Flugmagie aus dem alten Reich und jagte im Tiefflug durch die eben noch zu Fuß durchwanderten Gänge. Sie entfuhr der großen Schutztür wie ein aus seiner Gefangenschaft entweichender Dschinn aus der Flasche und jagte zu ihrem Flugteppich zurück. Sie warf das Eichenfaß herunter und kommandierte dem ägyptischen Flugartefakt, mit höchstmöglicher Geschwindigkeit davonzufliegen. Doch der Teppich regte sich nicht. Die Kälte der Antarktis hatte seine Fasern gefrieren lassen und ihn somit unbewegbar gemacht. Anthelia fluchte und warf aus dreißig Metern entfernung einen Feuerball auf den Teppich. Dann disapparierte sie. Fünf Kilometer entfernt wartete sie ab, was passierte. Tatsächlich konnte sie in der Richtung, wo die Basis gestanden hatte, mehrere Feuersäulen in den Himmel schießen sehen. Aus den Säulen wuchsen glühende Rauchpilze. Dann filen die Flammensäulen wieder zusammen. Fünfzehn Sekunden später hörte Anthelia die weit entfernten, dumpfen Donnerschläge schnell hintereinander erfolgender Explosionen. Es war tatsächlich passiert. Basis Winternacht hatte sich selbst vernichtet. Anthelia wäre fast in diesen infernalischen Vorgang hineingeraten. Doch nun galt es, zu prüfen, wie sich diese Vernichtungsaktion auf das gesamte Gefüge Nocturnia auswirkte. Hatte Lamia die explosive Freisetzung der Sonnenmagie im Blut des Toten als Geist überstanden und war in eines ihrer Kinder umgezogen? Oder hatte ihre Vernichtung wahrhaftig wie eine Kettenreaktion alle von ihrem Blut erschaffenen Artgenossen ausgelöscht? Falls ja, würden die anderen Vampire weitermachen oder Nocturnia als ausgelöscht hinnehmen? So oder so wußte Anthelia, daß die Zaubereiministerien der Welt in dem Moment, wo sie von Nocturnias Vernichtung erfuhren, gegen den Orden der schwarzen Spinne vorgehen würden, sobald dieser sich regte. Darauf mußte sich Anthelia nun einrichten. Vielleicht konnte sie den Burgfrieden beibehalten. Denn es gab immer noch genug Gefahrenherde, die für beide Gruppen übermächtig groß werden konnten. Die Führerin des Spinnenordens war jedoch nicht so naiv zu denken, daß sich ein Mr. Vane oder ein anderer Strafverfolgungszauberer damit anfreunden würde, daß eine von den Ministerien nicht zu beherrschende Gruppe ihre eigenen Vorstellungen von Vorherrschaft umsetzte. Hatte sie gerade eben das Ende des Friedens mit Cartridge, Güldenberg und Schacklebolt miterlebt? Das lag wohl nicht zuletzt an dem, was sie in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten unternahm. Zunächst würde sie sich zurückziehen, ihren Schwestern befehlen, ihr Leben ganz normal fortzuführen. Erst wenn sie wußte, was aus Nocturnia geworden war, würde sie planen, wie es weitergehen konnte. Vielleicht würden die Ministerien die Sonnenkinder suchen. Denn diese standen auch als Vertreter einer großen Macht aus der Vorzeit. Was würden diese nun tun? Das mußte sie nicht kümmern, solange sie keinem von denen näher als fünfhundert Meter kam.
Sie disapparierte, um in sechzig großen Sprüngen durch Süd- und Mittelamerika in ihren eigenen geheimen Unterschlupf zurückzukehren, die alte Daggers-Villa fünf Meilen von der kleinen Stadt Dropout entfernt.
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Die „Lady Sunrise“ trieb frei in den Fluten des Golfstroms. Patricia und Hesperos hatten eine zehn Schiffslängen umfassende Sphäre erzeugt, die einfallende Radarsignale schlucken konnte. Sie hätten auch einen Unfunkstein nehmen können. Doch der hätte die Bordelektronik womöglich gestört und die über Satellitenschaltung geführte Digittalverbindung zum Internet unmöglich gemacht. Die war aber nötig. Denn gerade fingerte Brandon die letzten Einzelheiten über den Kauf einer knapp einen halben Kilometer durchmessenden Koralleninsel nordöstlich von Australien. Warum sollten die Sonnenkinder nicht ihr eigenes kleines Land haben, daß sie notfalls gegen Nocturnia absichern konnten?
„Bingo, wir haben den Zuschlag!“ verkündete Brandon. Seine Frau machte „Schsch“, weil die beiden Babys gerade so schön schliefen. Patricia war bei ihrem Gefährten Hesperos auf der Kommandobrücke. Brandon würde ihn gleich ablösen. So kam er um den Wickeldienst an Laura und Prunellus herum.
Unvermittelt fühlten alle an Bord eine mächtige Woge aus Kraft aber auch Trübsal. Für zwei Sekunden hielt diese alle überflutende Kraft vor. Dabei sahen alle einen goldenen Lichtbogen, der sich aus Süden nach norden spannte und dann wie ein zurückschnellendes Gummiband nach Norden unter den Horizont zurücksprang. Die vier bereits erwachsenen Sonnenkinder riefen einander. Dann empfing Dawn eine Gedankenbotschaft von Faidaria. „Darfaians Selbst ist gegangen und hat seine Feindin und ihre Kinder in das Nichts gestürzt. Er muß ihr sein Leben gegeben haben, um sie von innen her zu vernichten. Das war ihm nicht gestattet.“
„Du meinst, er hat ihr sein Blut überlassen, weil dessen Kraft sie umbringt. Aber sie hätte ihn nicht auf zehn Schritte in der Nähe ertragen“, schickte Dawn zurück.
„Es ist aber so. Ich weiß nicht, wie er das hinbekommen hat. Ich fürchte jedoch, daß er hierzu die uns verbotenen Mächte der Mitternacht gerufen hat, um ihr sein wahres Sein zu verhüllen, um sie dazu zu bringen, seinen Lebenssaft zu trinken, der erst seine vernichtende Macht entfesselte, wenn sie aus dem Bereich der geweckten Kraft heraus war“, gedankenseufzte Faidaria. Dawn meldete ihrer Tante, daß Brandon eine kleine Insel gekauft hatte, auf der ihre Familie unterkommen würde und auch alle Sonnenkinder, die gerade nicht im Einsatz waren Erholung oder Zuflucht finden konnten. „So werden wir uns zurückziehen. Denn wenn Darfaians Opfer alle Kinder der vom schwarzen Stein vergifteten verbrannt hat, so wird man uns nicht mehr als eigenständige Gruppe erdulden. Wir ziehen uns zurück. Da ich nach Darfaian die älteste bin, befehle ich dies.“ Diese nur auf Gedankenweg geäußerten Worte hallten in den Köpfen der mithörenden Sonnenkinder nach. Patricia und Brandon sahen sich an. Beide wußten, daß sie diesen Vorgang ermöglicht hatten. Sie hatten Darfaian aufgeweckt. Wenn er wirklich die Vampirpest ausgelöscht hatte, dann nur wegen ihnen beiden. Doch Patricia hatte die Sonnenkinder nicht aus freien Stücken gesucht, sondern hatte ihrem Ruf folgen müssen. Dennoch hatten die beiden diese Gruppe magischer Menschen aufgeweckt. Patricia hätte das Sonnenkraftmedaillon auch einfach nur wegwerfen müssen, um Ruhe zu haben.
„Ihr habt die Worte unserer Ältesten gehört. Fahren wir zu der Insel und machen sie zu unserer neuen Heimstatt!“ wiederholte Hesperos die Anweisung seiner Tante Faidaria. Die vier nickten einander zu.
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Auf der Fahrt zu der kleinen ergatterten Insel fing Patricia einen im Telegrammstil gehaltenen Gedankenspruch Anthelias auf. Die Führerin des Spinnenordens hatte die Basis Winternacht auch gefunden, war aber wohl zehn Minuten nach dem großen Vernichtungsschlag erschienen. Sie hatte nur noch tiefgefrorene Trümmer gefunden und ebenso getötete Menschen in Nischen, die wohl als Blutspender für Lamia gedient hatten. Unterlagen über Nocturnia hatte sie keine sichern können. „Bereite mich nun auf neue Lage vor. Entweder auf neuerliche Unstimmigkeiten mit Zaubereiministerium oder Fortführung der Koexistenz“, hatte Anthelia noch übermittelt. Patricia erwähnte, daß die Sonnenkinder sich einstweilen zurückziehen würden. Wohin, das erwähnte sie nicht. Virginia würde aber nun in Ruhe und für sich alleine das Haus nutzen können. Damit war Anthelia einverstanden.
Obwohl sie keine mit allen Salzwassern gewaschenen und sturmgestählten Seeleute waren, schafften Brandon und Hesperos es, die „Lady Sunrise“ um das berüchtigte Kap Hoorn herumzusteuern. Brandon erschuf in der Zeit, wo der automatische Pilot den Kurs beibehielt Phantomflüge nach Sydney und Port Darwin, um die Anreise der Neuinsulaner in den Datennetzen stattfinden zu lassen. Mit dem von den Bertolonis abgezweigten Millionen kauften sie in Australien Saatgut für Gemüse- und Obstsorten ein. Dann ging es zu der eigentlich unbedeutenden Insel knapp achthundert Kilometer nordöstlich Australiens, die der Staat Australien als Privatgelände verkaufen oder verpachten wollte. Brandon war etwas enttäuscht, als er den kleinen Felsen aus den Wogen des Pazifiks auftauchen sah. kein Südseestrand mit Palmen. „Und keine Hulamädchen“, fing er Patricias Gedanken auf, die seine Enttäuschung mitgekriegt hatte.
„Ist nicht mein Tanz“, erwiderte Brandon. Dann erkannte er das Plateau auf dem Felsen. Das war breit genug, um mehrere größere Blockhäuser hinzubauen. Wie sie das Holz beschaffen wollten mußte Brandon noch austüfteln, solange der Treibstoff der Yacht den Generator für den Rechner in Gang hielt. Doch Brandon erahnte, daß seine Rechnernutzungszeiten in der Zukunft arg beschnitten sein würden. Robinson 2000, tolle Aussichten!
Die übrigen Sonnenkinder trafen ein. Faidaria hatte vorausgedacht und mit ihrem Gefährten einen großen Sack eingeschrumpfter Baumstämme aus Rußland und der Ukraine mitgebracht. Davon wurden die ersten vier Blockhäuser gebaut. Mit Erdumwälzungs- und Steinverformungszaubern wurde um das Dorf der Sonnenkinder eine Mauer hochgezogen. Über die Insel wurde ein unsichtbarer Dom gespannt, der ein fünftel so hoch war wie die Insel lang war. Dieser Dom ließ die Insel so erscheinen, daß nur ein Haus wie eine Villa darauf zu sehen war. Sie zogen mit Goldbarren einen Zaun aus Sonnenlichtmagie um den Strand. Kein feindlicher Zauber und keine dunkelmagische Kreatur konnte durch diesen Zaun hindurch. Danach nannten sie die Insel Ashtaraiondroi, Insel der Sonne.
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