038. HEIMLICHE BEGEGNUNGEN
von Thorsten Oberbossel„Ich wurde eingeladen, als Vertreterin der Temps mit Ministerin Ventvit zusammen um die Welt zu reisen und mit ihren Amtskollegen zu reden, was die mir über das erzählen wollen oder dürfen, was dieser Vengor und dieser Pickman angerichtet haben“, sagte Millie ihrem Mann beim Frühstück am neunten Januar. Aurore mampfte gerade ihr Lieblingsessen, mit viel Honig bestrichenes Toastbrot, das ihr Vater in kleine Stücke zerteilt hatte, damit sie es mit ihren kleinen Händen nehmen konnte. Doch dass sich seine Erstgeborene dabei mit Honig bekleckerte blieb nicht aus. Deshalb trug Aurore trotz ihrer nun zwei Jahre und acht Monate beim Frühstück noch ein Schlabberlätzchen.
„Stimmt, Ministerin Ventvit hat so eine Tour angekündigt. Allerdings weiß ich nicht, ob das gerade so gut ist, wo sie gerade erst ein paar Monate im Amt ist und das soooo knapp war, dass sie überhaupt Ministerin werden konnte“, sagte Julius. Er dachte an die Redewendung: „Wenn die Katze aus dem Haus ist tanzen die Mäuse auf dem Tisch.“
„Du meinst, dass Louvois noch nicht ganz aus der Welt ist und drauf wartet, wieder zurückzukommen?“ wollte Millie wissen.
„Hmm, er selbst vielleicht nicht, aber die, die er mit seinen Ideen angestachelt hat“, antwortete Julius Latierre und fischte nach einer dritten Scheibe Toastbrot. Seitdem sie zu Weihnachten von Florymont Dusoleil einen magischen Toaster bekommen hatten genoss er das, beim Frühstück vier Toastscheiben mit unterschiedlichem Belag zu essen und dazu noch eine Portion Rührei mit gebratenem Speck zu verputzen.
„Hmm, was sagt Tante Trice dazu, ob du mit Nummer drei im Gepäck um die Welt fliegen kannst?“ fragte Julius.
„Die hat mir nur gesagt, dass ich kein Quidditch spielen soll und nicht mehr als einmal am Tag apparieren soll, sofern keine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Mit Flohpulver geht’s wegen der besonderen Unterkleidung noch gut, und sie hat mir genug Magentrost-, Kreislaufstärkungs- und Erkältungsabwehrtrank abgefüllt und noch zehn von diesen Tüten mitgegeben. Chrysie und Rorie können bei Oma Line bleiben oder bei Ma und Pa, je danach, was unsere kleine Kronprinzessin lieber will“, sagte Millie und erzählte es ihrer ältesten Tochter, was demnächst los war. Da Julius ja den ganzen Arbeitstag und vielleicht die eine oder andere Überstunde im Ministerium war mussten die immer quirliger werdende Aurore und die langsam immer neugieriger auf die Welt werdende Chrysope irgendwo unterkommen, wo jemand sie im Auge hatte und sich mit ihnen beschäftigen konnte. Aurore fragte ihre Mutter, ob Papa und sie nicht mitfliegen oder fahren könnten. Denn Aurore fand alles toll, was so in der großen weiten Welt los war. „Wir treffen uns ja doch schon in so vielen Tagen, wie du Finger an den Händen hast bei Aurora Dawn im Känguruhland“, sagte Millie. „Außerdem bin ich beim Arbeiten nur mit ganz großen Leuten zusammen und rede über Sachen, die dich nur müde machen, Kleines“, sagte Millie. Julius fühlte Dank seiner Zuneigungsherzhälfte, dass Millie in einem inneren Streit lag, weil sie zum einen jede Minute die möglich war mit ihrer Familie zusammen sein wollte, aber auch die große Ehre nicht ausschlagen wollte, als Reisereporterin die Zaubereiministerin von Frankreich begleiten zu dürfen. Julius verstand sie vollkommen. Aber er wusste zu gut, dass irgendwoher die Galleonen kommen mussten, um Aurore, Chrysope und deren im Juni oder Juli ankommendes Geschwisterchen satt und gutgelaunt zu halten. Aurore Béatrice Latierre verzog zwar erst das Gesichtchen, doch dann sagte sie laut genug, dass selbst ihr ungeborenes Geschwisterchen es hören mochte: „Rorie zu Oma Line, ja!“ Damit war dieser Punkt geklärt.
„Dann nur die Frage, wielange du genau wegbleibst?“ wollte Julius von seiner Frau wissen.
„Also, ich kriege das auf jeden Fall hin, am zwanzigsten in Sydney bei deiner großen Brieffreundin und ihrer neuen Mitbewohnerin zu sein, Julius. Hoffentlich kriegst du das auch hin.“
„Warum sollte ich nicht …?“ setzte Julius an, musste sich aber selbst abwürgen. In seinem Beruf wusste er nie, was am nächsten Tag anstand. Außerdem hatte er selbst im August nur von zwölf Tagen Auszeit gesprochen und war bald zwanzig Tage weggeblieben, weil die zu den unsterblichen Altmeistern gehörende Erdmagierin Madrashmironda sich was ganz besonderes für ihn ausgedacht hatte. Tja, und die Suche nach dem afrikanischen Dämon Otschungu hätte ihn auch das Leben kosten können. So sagte er eher kleinlaut: „Verstehe, Millie, dass du mir das jetzt noch nicht sagen kannst. Aber Oma Line wwird das wissen wollen, und Chrysie wird dich genauso vermissen wie Rorie und ich.“
„Und ich werde euch vermissen. Deshalb werde ich zusehen, auch bald wieder bei euch zu sein“, sagte Millie. Das genügte zumindest Julius, um ein wenig beruhigter zu sein. Er konnte es gerade so noch vermeiden, seine Sorgen wegen Millies Schwangerschaft auszusprechen. Doch er kannte das von ihr, dass er dafür immer eine gewisse Abfuhr kassierte. Das wollte er hier und jetzt nicht haben.
„Wann genau geht’s los?“ fragte Julius seine Frau noch.
„Wenn ich Gilbert richtig verstanden habe übermorgen, also am elften. Es geht erst mal durch Europa. Am achtzehnten sind wir in England. Von da nehme ich dann den fliegenden Holländer nach Australien.“
„Dann haben wir ja noch diesen und den Tag morgen“, stellte Julius fest. Millie nickte bestätigend.
Nach dem Frühstück reiste Julius ins Zaubereiministerium. Obwohl er sein eigenes Büro erst wenige Tage lang benutzte kam es ihm schon so vor, als hätte er es schon mehrere Monate. Vor allem die gleich fünf auf seinem Schreibtisch gelandeten Memoflieger gaben ihm den Eindruck, schon Wochen in diesem Arbeitszimmer zu tun zu haben.
Memo Nummer eins kam von Pygmalion Delacour. Der war wohl schon früher als Julius in sein Büro gegangen und hatte da wohl gleich eine Anfrage auf den Tisch bekommen, die er an Julius weiterleitete. Denn sie betraf die Hochzeitsvorbereitungen seiner Tochter Gabrielle mit dem von nichtmagischen Eltern stammenden Pierre Marceau. Offenbar hatte Pierres Mutter Schwierigkeiten, wie sie es ihrer Verwandtschaft verdeutlichen konnte, warum Pierre und Gabrielle nicht kirchlich getraut werden sollten.
Memo Nummer zwei war eine Anfrage von Belle Grandchapeau. Ihre Mitarbeiterin Rose Devereaux wollte wissen, wie es Menschen ohne Magie hinbekamen, im Internet Sachen einzukaufen, da sie für einen Bericht über die Auswirkungen von Computern in der Welt der sogenannten Muggel was hatte läuten hören, dass diese Einkaufsmöglichkeiten wohl in Zukunft sehr bedeutsam werden mochten.
Memo Nummer drei war eine Einladung der Zaubereiministerin, die alle Abteilungs und Unterbehördenleiter zu einer Konferenz bat, um für ihre bald anstehende Weltreise genug Themen und Anregungen zu sammeln.
Memo Nummer vier war ein allgemeines Rundschreiben der Zaubereizentralverwaltung, was die Ausblickauswahl der magischen Fenster anging. Offenbar wollte da wohl wer demnächst noch bessere Bilddarstellungen hinkriegen und kündigte deshalb einen vorübergehenden Ausfall der bestehenden Ansichten an.
Das letzte Memo kam aus der Finanzabteilung. Monsieur Midas Colbert mahnte an, dass der Verbrauch von scharlachroter Zaubertinte ein zulässiges Maß übersteige und er doch in aller amtlich formulierten Sachlichkeit darauf hinweisen müsse, dass die Herstellung dieser Zaubertinte sehr kostspielig sei und ihr Einsatz nur für Schreiben der Dringlichkeitsstufen vier und fünf vorgesehen sei, er aber kenntnis erhalten habe, dass auch Anschreiben von darunterliegender Dringlichkeitsstufen mit dieser Tinte verfasst worden seien. Julius musste grinsen. Bisher hatte er die scharlachrote Tinte nicht benötigt, die er sonst eher als für leidenschaftliche Liebesbriefe oder Heuler verwenden würde. Konnte ja sein, dass einige Kollegen hier mit der ministeriellen Tinte private Heuler verfasst hatten. Anderswo stiebitzten Leute Kugelschreiber oder Radiergummis, dachte er für sich. Das konnte auch ins Geld gehen. Kleinvieh machte eben auch Mist.
Kurz nach seinem Arbeitsantritt wurde ihm ein Brief zugestellt, auf den der Stempel: „Geprüft und für unbedenklich befunden“ prangte. Julius erkannte sofort die runde Handschrift Catherine Brickstons. Er öffnete den Umschlag und las:
Sehr geehrter Monsieur Latierre,
zunächst einmal möchte ich meinen Glückwunsch zu Ihrer neuen Anstellung mit einhergehender Beförderung zum vollwertig beamteten Mitarbeiter des französischen Zaubereiministeriums aussprechen. Ich fühle mich beruhigt, dass es nun auch eine eigenständige Behörde zur Vermittlung zwischen Menschen mit und ohne Zauberkräften und menschengestaltlichen Zauberwesen gibt. Dies ist auch der Grund, weshalb ich mich an Sie wende.
In den letzten Jahren war ich als Fachhexe für magische Geschichtsschreibung unter besonderer Berücksichtigung der Anwender und Auswirkungen dunkler Zauberkünste damit beschäftigt, ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes Manuskript zu entschlüsseln und für die magische Geschichtsforschung verfügbar zu machen. Es ging um die Ihnen aus der Zaubereigeschichte sicherlich bekannte dunkle Hexe Ladonna Montefiori, die vor Sardonias dunkler Herrschaft bereits Furcht und Schrecken verbreitete und wie Sardonia selbst auf eine weltweite Herrschaft ausging. Bei der Entzifferung und Übersetzung der erwähnten Handschrift, die auf Ladonna Montefiori selbst zurückzuführen ist, kamen Fragen auf, die unbedingt geklärt werden sollten.
Ladonna erwähnte andauernd ihre überirdische Anmut und Schönheit und dass diese ein Erbe sei, dass nicht jeder Hexe gegeben sei. Ich hielt dies zunächst für eine stark überzogene Form der Selbstverliebtheit und Eitelkeit. Doch nachdem ich das Manuskript vollständig übersetzt habe und es noch einmal las fragte ich mich, ob Ladonna damit nicht andeutete, sie könne von einem in Menschengestalt auftretenden Zauberwesen abstammen. Dabei dachte ich sofort an die Zauberwesenart der Veelas, die ja für eine übermenschliche, ja schon überirdisch zu nennende äußere Erscheinung berühmt sind. Da ich über diese Wesen einiges gelernt habe drängten sich mir sofort gewisse Befürchtungen auf:
Mochte Ladonnas nicht unbeträchtliche Macht auf den Besitz und Einsatz von Veelakräften beruhen? Wenn sie eines gewaltsamen Todes starb, wieso erfolgte dann nicht die bei Veelas übliche Vergeltung gegen ihren Mörder oder ihre Mörderin? Starb sie womöglich deshalb nicht, weil ihre größte Widersacherin, Sardonia vom Bitterwald, um ihre Abstammung und die Folgen ihres gewaltsamen Todes wusste? Falls sie nicht starb, könnte sie womöglich an einem bisher unbekannten Ort die Zeiten überdauert haben, möglicherweise in einem besonderen Schlafzauber oder Erstarrungs- oder Versteinerungsbann? Ja, und könnte sie deshalb aus dieser magischen Beeinträchtigung befreit werden?
Ich stelle diese Fragen deshalb, weil mir durch Mitglieder der Liga gegen dunkle Künste vermittelt wurde, dass es möglicherweise Hinterlassenschaften dieser Hexe gebe, die in die Hände unwissender und deshalb völlig argloser Menschen geraten könnten und diese in ähnlicher Weise zu verbotenen Taten treiben könnten, wie es das Tagebuch des jugendlichen Tom Riddle tat, der sich als Slytherins rechtmäßiger Erbe verstand und dessen Taten unter dem selbstgewählten Namen Lord Voldemort ebenso hinlänglich Bekannt sind wie mir.
Ich bitte Sie ganz offen und förmlich darum, Ihre Möglichkeiten zu nutzen, zu ergründen, ob meine Befürchtung, Ladonna Montefiori könne eine Veelastämmige Hexe (gewesen) sein, begründet oder unbegründet ist. Je danach, wie das Ergebnis dieser Ermittlung ausfällt gilt es dann, darauf zu prüfen, ob es diese Hinterlassenschaften Ladonna Montefioris gibt und wie mit diesen zu verfahren ist und falls Ladonna wahrhaftig aus einer jahrhundertelangen magischen Gefangenschaft befreit wurde, die notwendigen Schritte zu erörtern, sie von neuerlichen Eroberungsvorhaben abzubringen, ohne sie zu töten. Denn mir ist bekannt, dass Veelas auch die nicht reinrassigen Blutsverwandten beschützen und ihren Tod grausam vergelten. Ich bin als Kundige der Handschriften Ladonnas von der Liga gegen dunkle Künste ermächtigt worden, mit Ihnen und jedem Ihrer Kollegen vollumfänglich zusammenzuarbeiten, sollte sich meine Befürchtung bewahrheiten. Sollte die Ermittlung ergeben, dass Ladonna nur eine von Machtbesessenheit und Eitelkeit getriebene Hexe war, die keine Nachfahrin einer Veela war, so hoffe ich, dass die von mir erbetene Ermittlung nicht all zu viel von Ihrer Zeit und Arbeitskraft fordern wird.
Hochachtungsvoll
Catherine Brickston
Julius machte schnell eine Kopie für seine Akten, für das Archiv, sowie die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Jetzt hatte er es ganz offiziell, dass er in seiner neuen Funktion die Abstammung von Ladonna Montefiori prüfen sollte. So konnten seine Kollegen im Bedarfsfall helfen, wenn es darum ging, diese nicht nur vermutlich, sondern wahrhaftig wiedererwachte Hexe davon abzuhalten, die Welt ins Chaos zu treiben und dann nach ihrem Bild neu zu erschaffen. Dabei dachte er daran, was die Wiedererwachte zuerst anstellen würde. Er kannte Geschichten von Leuten, die durch irgendwas mal eben Jahrhunderte übersprungen hatten und in einer völlig neuen Umwelt zurechtkommen mussten. Was würde er machen, wenn er mal eben vierhundert Jahre in die Zukunft versetzt würde und sich damit abzufinden hätte, dort den Rest seines Lebens zu verbringen? Er würde wohl erst mal herausfinden, wie die für ihn unbekannte Welt so tickte, ob es noch was gab, was er von seiner Zeit her kannte oder alles komplett anders war und er aufpassen musste, deshalb nicht verrückt zu werden, weil das alles gegen seine bisherigen Werte und Kenntnisse war. Er erinnerte sich daran, was die in seinem Haus zur Mutter von Zwillingstöchtern gewordene Ex-Sardonianerin Patricia Straton auf Jane Porters ungehaltene Frage nach einem Jungen namens Ben Calder geantwortet hatte. Anthelia hatte den in ihre Gewalt gebracht und was mit ihm angestellt, um zu wissen, wie es gerade in der Welt zuging. Der Junge, der nun als wenige Wochen altes Mädchen lebte, hatte wohl als eine Art Kundschafter Anthelias herhalten müssen, bis Patricia die Verbindung zwischen ihm und Anthelia durch das Sonnenmedaillon lösen konnte und ihn irgendwie mit sich verband. Womöglich kam Ladonna auch auf diese Idee, sich wen zu fangen, der – oder die … Er schlug sich vor den Kopf. Natürlich würde Sardonias damalige Todfeindin genau die arglose Studentin als ihre Kundschafterin oder Wissensquelle benutzen, die ihren verfluchten Ring gefunden hatte. Am Ende konnte die ihr sogar alle Erinnerungen über den Ring absaugen und alles wissen, was diese Frau, Rose Britignier, gewusst und gekonnt hatte. Dann konnten sich die magielosen Leute schon mal warm anziehen, dachte Julius. Dann blieben aber immer noch die heute lebenden Hexen und Zauberer. Da würde Ladonna sicher erst mal mehr herauskriegen müssen, um zu wissen, was sie weiter machen konnte. Vielleicht – das war nur eine ganz kleine Hoffnung – kam sie dann aber auch davon runter, die Herrin der ganzen Welt werden zu wollen. Anthelia hatte ja auch irgendwann kapiert, dass sie nicht mal eben da weitermachen konnte, wo sie vom Tod ihres ersten Körpers unterbrochen worden war.
Es trafen noch zwei weitere Briefe ein, einer von Pierres Eltern, die am nächsten Tag noch mal mit ihm über die anstehende Hochzeit im Sommer reden wollten. Julius konnte es irgendwie mitfühlen, wie heftig das für Pierres Onkel, Tanten, Großeltern und andere Verwandte sein mochte, wenn er mal eben mit einer silberblonden Schönheit vor einen Typen im weißen Umhang hintreten sollte, der ihn und sie dann noch mit goldenen Funken überschüttete. Er hatte das ja bei Brittanys Hochzeit erlebt, wie heftig da die Vorstellungen und Gegebenheiten aufeinanderprallen konnten. Ja, und die Flucht nach Whitesand Valley hatte Pinas nichtmagische Verwandte auch ziemlich heftig erschüttert.
Er schrieb den Marceaus, dass er gerne am nächsten Tag noch mal zu ihnen hinkommen würde, um die noch ausstehenden Fragen zu klären. Außerdem verfasste er eine für mit Computern nicht viel am Hut habende Erwachsene verständliche Antwort auf Rose Deveraux‘ Anfrage, in der er auch beipflichtete, dass die Möglichkeit, über das Internet Sachen zu bestellen, in den nächsten Jahren wohl große Beliebtheit erreichen würde und es dann wohl nichts mehr gebe, was nicht über das Internet bestellt werden mochte. Dem fügte er noch ein gewisses Bedenken hinzu, dass dadurch die traditionellen Händler mit eigenen Läden in den Städten Probleme mit dem Umsatz kriegen könnten.
Er war gerade mit dem Brief an Rose Deveraux fertig, als eine der Küchenelfen mit dem üblichen Frühstückstablett bei ihm apparierte. Julius heftete die bereits erledigte Arbeit ab und genoss das Frühstück. Denn gleich würde es zur Konferenz gehen. Sollte er da die nun offizielle Anfrage Catherines zur Sprache bringen? Nein, er wollte das selbst erledigen, soweit da noch was zu ermitteln war, dass er noch nicht wusste. Denn er hatte es ja schon offiziell von Sternennacht, dass da eine erwachsene Verwandte aufgetaucht war.
Die Konferenz war eine nüchterne Zusammenkunft, bei der es vordringlich darum ging, wie die Auswirkungen von Pickmans und Vengors Mordtaten eine internationale Zusammenarbeit erforderten und diese erleichtert werden konnte. Dabei fing Julius immer wieder Blicke von Arion Vendredi auf, der bis zum Ende des letzten Jahres noch zwei Rangstufen über ihm gestanden hatte und jetzt nur noch eine Rangstufe über ihm rangierte. Ja, Freunde würden er und Vendredi wohl in diesem Leben nicht mehr werden, dachte Julius. Dennoch erwähnte er, als ihm das Wort erteilt wurde, dass er gerne erfahren würde, ob er der einzige direkte Vermittler zwischen Menschen und Veelas auf der Welt war. Léto hatte ihn ja nur für ihre französische Verwandtschaft zum Ansprechpartner erwählen lassen.
Seine Schwiegermutter Hippolyte bat darum, dass beim geplanten Zusammentreffen mit dem italienischen Zaubereiminister angesprochen werden könne, eine die nächste Quidditchweltmeisterschaft vorbereitende Zusammenkunft aller daran Teilnehmenden Ländervertreter anzuregen, da sie bisher nichts von ihrer italienischen Kollegin Stella Pontenovo gehört habe.
Belle Grandchapeau gab der Zaubereiministerin einen in zehn Sprachen verfassten Brief mit, in dem ihre Behörde anfragte, wie weit die Ausstattung der verschiedenen Ministerien mit internetfähigen Rechnern vorankäme. Gleichzeitig teilte sie mit, dass Madame Nathalie Grandchapeau am 15. ihren Babyurlaub beenden und ihre frühere Arbeit wieder aufnehmen würde. Julius dachte sich seinen Teil.
„Da habe ich ja einiges vor mir“, sagte Ministerin Ornelle Ventvit mit einem gewissen Lächeln. Dann wandte sie sich an Midas Colbert und den Leiter für internationale magische Zusammenarbeit: „Ich hoffe, es bleibt dabei, dass Sie beide mich begleiten können. Insbesondere bei der Unterredung mit Minister Dime in den Staaten hätte ich gerne wen dabei, der sich mit internationalem Handel auskennt, besonders im Hinblick auf die zwischen den USA und uns vereinbarten Ausrüstungsergänzungsvorhaben.“
„Meiner Teilnahme steht nur im Wege, dass ich fürchte, dass die alljährliche Inventur in unserem Hause noch mehr unerfreuliche Dinge an den Tag bringen könnten als nur ein übermäßiger Verbrauch scharlachroter Zaubertinte, Mademoiselle Ventvit“, erwiderte Midas Colbert missmutig dreinschauend.
„Hmm, besteht die Möglichkeit, das bis morgen um vier Uhr Nachmittags sicher zu wissen, ob Sie oder Ihr Seniorsekretär mich begleiten können?“ fragte die Ministerin. Colbert nickte bejahend.
Wieder zurück in seinem Büro atmete Julius erst einmal tief ein und aus. Was hatte ihn damals geritten, unbedingt Beamter werden zu wollen? Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und er hätte vor Langeweile gegähnt. Dabei war das doch eigentlich ganz spannend, was jemand bei einem Staatsbesuch so zu hören bekam oder zu sagen hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Minister Grandchapeau eine Konferenz zur Abstimmung seiner Anliegen einberufen hatte. Vielleicht wollte sich Ministerin Ventvit nur dahingehend absichern, bestehende Interessen gewürdigt zu haben.
Kurz vor der Mittagspause schickte er eine Kopie von Catherines Brief zu Belle und Monsieur Delacour. Er bat um die Genehmigung, mehr über diese Hexe Ladonna Montefiori nachrecherchieren zu dürfen. Als er eine prompte Antwort bekam, dass er zunächst einmal Catherine Brickston selbst aufsuchen solle, um sich die im Brief erwähnten Hinweise selbst anzusehen und falls möglich Kopien der betreffenden Stellen mitzubringen wusste er schon, dass er die Mittagspause nicht im Ministerium verbringen würde. Außerdem interessierte es ihn ja auch selbst, in diesem von Catherine übersetzten Tagebuch der Montefiori lesen zu dürfen.
Da Catherine noch in Millemerveilles untergebracht war, solange das mit Joe noch nicht geklärt war, wie er außerhalb der schützenden Zauberkraftglocke weiterleben konnte, würde er gleich den ganzen Nachmittag bei ihr zubringen. Um mögliche in dieser Zeit anfallende Anfragen nicht zu verpassen versandte er Memoflieger an die mit ihm zusammenarbeitenden Büros, dass sie die bis morgen zurückstellbaren Anfragen in sein Postfach schickten und ihn bei dringlichen Fällen über Madame Faucons Kamin erreichen konnten.
Während er mit den Brickstons zu Mittag aß sprach er davon, dass er wohl in den nächsten Tagen Strohwitwer sein würde. Catherine erwähnte dazu, dass Ministerin Ventvit wohl sehr viel von Millie halten mochte, dass sie ihr die Möglichkeit bot, als Reiseberichterstatterin mitzukommen.
„Übermorgen sind wir wieder in Paris“, sagte Joe mit gewissem Unbehagen. „Ich muss unbedingt rauskriegen, was diese Bande alles angestellt hat, um mir das Leben zu versauen und ob es nicht doch günstiger ist, dass ich ganz wo anders anfange.“
„Joe, das verstehe ich nicht, dass du immer noch davon redest, dass du ganz woanders anfangen willst“, seufzte Catherine. „Julius und wir anderen haben eine Menge Wolken geschoben und wilde Wichtel von den Dächern runtergeholt, um dich von den Toten auferstehen zu lassen und diese Bande um den sich Superior nennenden Weltuntergangspropheten an allem die Schuld zu geben, was dir passiert ist. Außerdem bist du außer hier in Millemerveilles nur in unserem Haus in der Rue de Liberation vor weiteren Nachstellungen sicher, falls du nicht vorhast, immer irgendwohin unterwegs sein zu wollen.“
„Für euch aus der Hexen- und Zaubererwelt ist das vielleicht ein Klacks, beerdigt zu werden und dann fröhlich pfeifend zur Tür hereinzukommen und „April April!“ zu rufen. Aber ich habe Freunde in Paris und anderswo gehabt, ja und nicht alle von den Kollegen haben mit Superior gekungelt. Außerdem haben Julius und du erzählt, dass viele von denen, die die Muntermacher genommen haben, zu Dauerbewohnern irgendwelcher Nervenkliniken geworden sind. Wie will ich meinen Bekannten verklickern, dass ich wieder ganz normal bin, wenn ich denen schon nicht sagen darf, wo ich mehrere Wochen abgeblieben bin?“
„Auf dieselbe weise, wie wir damals unsere Flucht vor Didiers Handlangern begründet haben“, erwiderte Catherine ein wenig verstimmt klingend. „Was soll das jetzt bitte, Joe? Wir haben das schon alles geklärt.“
„Ihr habt das geklärt, ich durfte nur das Ergebnis erfahren“, erwiderte Joe ebenso ungehalten klingend. Claudine sah ihre Eltern verstört an. Da sagte Catherine: „Du kannst aber mit Claudine und mir gerne hierbleiben und alle Welt im Glauben lassen, wirklich erschossen worden zu sein. Dann müssen wir eben was anderes für dich finden, was dir einen Sinn im Leben gibt. Immerhin hast du ja hier bei Monsieur Pierre und Monsieur Dusoleil offene Ohren gefunden, was die technischen Sachen aus der magielosenWelt angeht.“
„Neuen Lebenssinn? Soll ich das jetzt als Drohung auffassen, Catherine?“ fragte Joe. Catherine seufzte inbrünstig. Dann sagte sie:
„Nein, sondern als gerechtfertigte Anfrage, was du nötig hast, um ein für dich selbst sinnvoll erscheinendes Leben führen zu können. Joe, ich trage im Moment so viel mit mir herum, dasss ich diese ständigen Debatten nicht mehr so gut aushalte. Außerdem irritierst du Claudine. Die meint noch, wir würden uns verkrachen oder sowas.“
„Ich wollte dir nicht zur Last fallen, Catherine. Ich habe nur … Ach lassen wir’s!“ grummelte Joe. Dann stand er auf und ging in das Zimmer, wo sein tragbarer Computer mit dem Satellitenmodem stand. Catherine strich sich leise seufzend über ihren langsam deutlicher hervortretenden Bauch und sagte: „Anstatt er sich freut, wieder mit seinen Bekannten reden zu können meckert er herum, als wenn er das Kleine im Bauch hätte und nicht ich. Aber du bist ja hergekommen, weil du mit mir über meine Anfrage reden möchtest“, sagte Catherine. Julius nickte.
Claudine durfte zu Uranie Dusoleil hin, um mit Chloé und Philemon zu spielen. So hatten Catherine und Julius einige Stunden Zeit für die anstehende Arbeit.
Julius durfte eine der Ausgaben der von Catherine übersetzten Handschrift lesen und sich auch das von allen dunklen Zaubern befreite Originalmanuskript ansehen. Statt Buchstaben hatte die Verfasserin Rosen mit unterschiedlich langen Stielen, in verschiedenen Farben und mal nach links oder rechts geneigt eingezeichnet. Julius dachte sofort an den Sherlock-Holmes-Fall mit den tanzenden Männchen und wurde von Catherine Bestätigt, dass sie diese Geschichte auch kannte und deshalb auch gleich darauf kam, es nicht mit einem hübschen Bilderbuch voller Rosenmotive zu tun zu haben, zumal der Sinnesverwirrungsfluch, der an das Buch gekoppelt war, darauf hinwiese, dass es kein harmloses Bilderbuch war.
Julius erläuterte Catherine, was er am Morgen noch gedacht hatte von wegen, dass Ladonna erst einmal Informationen über das 21. Jahrhundert einholen müsse, sofern die letzte Trägerin ihres Ringes nicht schon als ausgiebige Informationsquelle hergehalten hatte.
„Ja, und sie wird wie du sagtest auch die Orte aufsuchen, wo sie mal gewohnt und gewirkt hat. Die Liga hat sich dort bereits auf die Lauer gelegt, jeden verdächtigen Vogel oder jede magische Präsenz zu erfassen.“
„Nur Zauberer oder auch Hexen?“ fragte Julius.
„Auch Hexen, damit die nicht ihre Veelakräfte benutzen kann, um alle um ihren kleinen Finger zu wickeln, Julius. Außerdem ist uns das mit der grünen Gurga auch noch sehr gut im Gedächtnis geblieben“, sagte Catherine.
„Ist ja auch gerade mal ein Jahr her“, erwiderte Julius darauf.
„Apropos Informationen einholen und dergleichen. Sollte sich ein neuerlicher Kontakt mit den Sonnenkindern ergeben bestelle denen bitte noch mal schöne Grüße, dass es mir selbst ein wenig leid tut, was meine Mutter verlangt hat. Ich fürchte, sie hat da eine gewisse Gelegenheit gewittert, die sie unbedingt nutzen wollte.“
„Ich denke, Faidaria hat ihr das schon längst verziehen. Wenn ich das noch richtig im Kopf habe müsste die jetzt mittlerweile auch ihr Baby bekommen haben und Gisirdaria.“
„Schon unheimlich, sich vorzustellen, nach dem Tod als Ungeborenes wieder aufzuwachen und zu wissen, dass das kommende Leben auch nur eines von vielen weiteren sein wird. Und nachdem, was meine Mutter gesagt hat wagte ich es nicht, die Liga darauf hinzuweisen, dass eine Möglichkeit besteht, mit den Sonnenkindern in Kontakt zu treten.“
„Ich habe im Moment eher das Problem, dass ich irgendwie an Anthelia weitergeben muss, dass sie Ladonna nicht umbringen darf, wenn sie der über den Weg läuft. Sie selbst darf ja auch nicht getötet werden, weil sie sonst zu einer Art Superluftdschinn wird, obwohl die, mit der sie verschmolzen wurde, eine Vertraute der Erdmagie ist.“
„Ja, und das würde ich gerne auch irgendwie der Liga mitteilen, Julius“, stieß Catherine aus. Julius war froh, dass sie in einem Dauerklangkerkerzimmer saßen. „Außerdem solltest du sehr vorsichtig sein, dass du dich dieser Spinnenhexe nicht auslieferst. Selbst wenn sie dir in zweifacher Hinsicht dankbar ist, überhaupt noch am Leben zu sein und ungleich mächtiger und eigenständiger handeln kann, ist und bleibt mir dieses Weib suspekt. Du hast es vielleicht nicht mitbekommen, wie wir sie in dieser versteinerten Schlange getroffen haben. Aber sie hat dich mit einer gewissen Begehrlichkeit angesehen“, sagte Catherine.
„Ja, und was gibt es neues?“ fragte Julius schnippisch.
„Entschuldigung, ich meine es doch nur gut mit dir“, erwiderte Catherine. Julius schluckte eine dazu passende Frechheit hinunter und nickte schwerfällig. Catherine war durch die Sache mit Joe und dass sie auch wieder ein Kind erwartete ziemlich leicht reizbar. Seine Frau Millie hatte ihm da auch schon diverse Lehrstunden geboten, wie schnell ein einziges Wort zu heftigen Überreaktionen führen konnte. So versicherte er Catherine nur, dass er zusehen wollte, sich nicht persönlich mit Anthelia/Naaneavargia zu treffen. Für sich dachte er jedoch, dass er das vielleicht nicht vermeiden konnte, falls die aus zwei einzelnen Hexen zu einer verbackene darauf bestehen mochte, dass er bei dem Gespräch mit Sternennacht dabei war. Außerdem musste er immer damit rechnen, dass sie bei ihm auftauchte, sobald er einen mächtigen Erdzauber wirkte. Warum das nicht schon in Marokko passiert war war ihm immer noch unverständlich.
Zwei Stunden vor dem offiziellen Arbeitstagsende kehrte er in sein Büro zurück und erledigte die bis dahin angefallene Post und zwei weitere Memos, von dem eines darum ging, dass die Legion de la Lune von ihm wissen wollte, wie sie mit den in Frankreich gemeldeten Werwölfen verfahren sollte, falls sich das mit der wieder erstarkenden Mondbruderschaft bestätigte.
Wieder im Apfelhaus spielte er mit Aurore und beobachtete seine zweite Tochter dabei, wie sie erste Anläufe machte, sich an den Sitzbänken hochzuziehen, um auf die eigenen kleinen Füße zu kommen. Julius dachte daran, dass die kleine Chrysope vor einem Jahr noch gut verstaut in Millies warmem Schoß gewohnt hatte. Am zweiten Februar würde sie ein Jahr auf der Welt sein. Die Zeit konnte schon sehr schnell vergehen, dachte Julius.
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Anthelia/Naaneavargia senkte ihren silbriggrauen Zauberstab. Trotz ihrer und seiner vereinten Zauberkraft war es ihr nicht gelungen, einen Kapuzineraffen, den Portia mit einem täglich immer stärker wirkenden Gewichtsverlustfluch belegt hatte, in eine Äffin zu verwandeln. Dabei ging Contrarigenus bei allen Säugetierarten, sofern es keine gerade trächtigen beziehungsweise schwangeren Weibchen waren.
„Für das Versuchsverzeichnis: Versuch Nummer fünf mit männlichem Kapuzineraffen unter Anorexius-Fluch verlief negativ. Geschlechtswechsel unmöglich“, sprach sie einer Flotte-Schreibe-Feder zugewandt, die ihre Versuchsergebnisse mitschrieb. Sie plante noch drei weitere Versuche mit kleineren Säugetieren, die unter den Körper betreffenden Dauerflüchen standen, um möglicherweise die Wirkungsschwelle zu finden, ab der der Geschlechtswandlungsfluch Contrarigenus seine Wirkung erzielen konnte. Allerdings war ihr klar, dass sie gegen einen mächtigen Fluch anzukämpfen haben würde, denn Catena-Sanguinis galt beinahe schon als unverzeihlicher Fluch, weil er so mächtig war und als sehr schwer unabschüttelbar galt.
Nach den drei Versuchen mit anderen männlichen Kleinsäugetieren, die unter verschiedenen Körperveränderungsflüchen sowie einen Selbstverachtungsfluch standen wusste sie, dass ihre ursprüngliche Idee nicht umsetzbar war. Eigentlich hatte sie vorgehabt, noch einmal zu Minister Dime vorzudringen und ihn durch den Contrarigenus-Fluch in eine Hexe zu verwandeln, damit er nicht mehr als Vater eines gerade wohl noch ungeborenen Kindes im Bann des Catena-Sanguinis-Fluches stehen würde. Aber genau das ging offenbar nicht. Ging Infanticorpore? Der galt noch als mächtiger als Contrarigenus. Doch damit würde sie die von einer ihr noch unbekannten Hexe geschmiedete Blutkette mit ihren ungeborenen Kindern nicht lösen, weil Dime dann immer noch Vater dieses oder dieser Kinder sein würde. Als sie daran dachte, dass die ihr noch unbekannte mehrere Kinder erwarten mochte erkannte sie erst recht, wie sinnlos es war, Dime zu entführen und ihn wie Lorne Vane vom Zauberer zur Hexe umzuwandeln. Denn wenn der Blutkettenzauber sich mit der Anzahl der Ungeborenen verstärkte, womöglich sogar vervier- oder verneunfachte, war jeder andere Fluch wirkungslos. Blieben dann nur die zwei anderen Möglichkeiten, um ihn von der Blutkette zu lösen, ihn zu töten, falls Avada Kedavra nicht auch vom Blutkettenfluch abgewiesen wurde oder die Urheberin des Fluches zu finden und ihre Leibesfrucht in den Körper einer anderen gebärfähigen Hexe zu übertragen, damit diese vom Blutkreislauf ihrer Mutter gelöst wurde und somit nicht mehr als lebender Anker für den Fluch herhalten musste.
Um die Verstärkung des Fluches genauer zu ermitteln las Anthelia eine von einer in Irland lebenden Mitschwester beschaffte Ausgabe von Potentia Matrium, dem Buch über alle Zauber, die Mutter werdende oder stillende Hexen benutzen konnten, um ihre Kinder zu schützen oder ihrem Willen zu unterwerfen oder die Kinder als Werkzeuge zur Beherrschung ihrer Väter zu verhexen. Tatsächlich stand zum Thema Catena-Sanguinis-Fluch, dass er mit der Quadratzahl der von seiner Urheberin gerade getragenen Kinder verstärkt wurde. Trug sie also Zwillinge, wirkte er auf andere Flüche viermal so abweisend, bei Drillingen wahrhaftig neunmal so stark. Da behauptete die unter dem Namen Mater Reginarum schreibende Verfasserin sogar, dass dann auch keine mutwillige Tötung mit Zauberfeuer oder dem sonst so unabwendbaren Todesfluch mehr gelingen mochte, wenngleich die Verfasserin keinen dahingehenden Versuch gemacht hatte. Im Zweifel konnte man den Betroffenen aber dadurch töten, dass jemand ihm klar auf den Kopf zusagte, dass er unter diesem Fluch stand, was gleichbedeutend mit dem Tod des darin einbezogenen Ungeborenen war. Es war also an und für sich einfach, Dime umzubringen, ohne körperliche oder magische Gewalt anzuwenden. Aber damit gewann Anthelia nichts, außer dass sie dann mal wieder als Ministermörderin verfolgt werden würde. Das würde sich Vita Magica sicher gerne so wünschen.
„Höchste Schwester, ich habe da gerade über Als Arkanetanschluss was gelesen, was sicher interessant ist“, mentiloquierte Romina Hamton. Anthelia schickte die gedankliche Frage zurück: „Was interessantes, Schwester Romina? Was genau?“ „Julius Latierre hat eine Suchanfrage zu einer vor Jahrhunderten mal tätigen Hexe namens Ladonna Montefiori in das allgemeine Nachrichtenforum gesetzt. Mir ist die Hexe nicht bekannt“, gedankenantwortete Romina. Anthelia erschauerte bei Nennung dieses Namens. Innere Saiten klangen sacht aber vernehmbar an. Ladonna Montefiori? Ja, mit dem Namen konnte sie was anfangen.
„Kann ich im Moment zu dir hin, oder hast du gerade Besuch?“ wollte Anthelia wissen. Romina bestätigte, dass sie gerade allein war. Anthelia kündigte ihre sofortige Ankunft an.
Zunächst verstaute sie das von ihr erstellte Versuchsprotokoll. Das musste ja nicht offen im Haus rumliegen, dass sie mit Contrarigenus-Flüchen experimentierte. Dann apparierte sie in zwei Etappen in Romina Hamtons Appartment. Anthelia hatte durch Rominas und ihr eigenes Blut einen alten Zauber der Erde gewirkt, der jeden bei ihr gewirkten Zauber vor den über das Land verteilten Spürsteinen des Ministeriums verbarg.
Als sie bei Romina die entsprechenden Einträge fand und auch las, dass eine junge Studentin den Namen der vor Jahrhunderten lebenden Hexe nachgeschlagen hatte klangen die inneren Saiten bei Anthelia ein wenig lauter. Ja, Sardonia, Anthelias mächtige Tante und über ein Jahrhundert lang Königin aller europäischen Hexen, hatte mit dieser Ladonna die Zauberstäbe gekreuzt und sie besiegt. Allerdings, so Sardonia, hatte sich Ladonna als wahrhaft gefährliche Gegnerin erwiesen. Warum hatte ihr Sardonia nie erzählt, denn die dunkle Matriarchin hatte auch ihren engsten Mitstreiterinnen gegenüber ihre Geheimnisse zu wahren gewusst.
„Kann sein, dass ein Artefakt von Ladonna Montefiori bei den Unfähigen gelandet ist und diese Rose Britignier davon manipuliert wurde oder wird. Das denkt Julius Latierre sicher auch, weil er sonst nicht diese Suchanfrageprotokolle in dieses Arkanet übertragen hätte“, sagte Anthelia. „Ich werde unsere französischen Mitschwestern damit betrauen, dem nachzugehen, ohne sich in Gefahr einer vorzeitigen Enthüllung zu begeben. Es könnte schließlich auch eine von Julius im Auftrag seiner neuen Vorgesetzten gestellte Falle sein, was ich ihm persönlich sehr übelnehmen würde, sollte dem so sein.“
„Was hatte es mit dieser Hexe auf sich, höchste Schwester?“ fragte Romina.
„Ich weiß im Moment auch nur, dass sie die größte Rivalin Sardonias war und wohl von dieser deshalb zum Duell gefordert wurde. Warum und wie genau hat mir Sardonia in meinem ersten Leben nie verraten, zumal sie offenbar davon ausging, dieses Kapitel ein für alle mal geschlossen zu haben.“
„Horcrux?“ fragte Romina. Anthelia sah sie erst verdrossen an, musste dann aber nicken. Seit der Vernichtung des Waisenknabens Riddle war es in den keine Berührungsängste mit den dunklen Künsten besitzenden Schwesternschaften eh herum, dass dieser Narr mehrere Seelensplitter von sich in bezauberte Gegenstände ausgelagert hatte, um seinen körperlichen Tod zu überstehen und auf eine Rückkehr zu hoffen.
„Falls Sardonia diese Ladonna im Duell getötet hat hätte diese junge Studentin wohl durch einen sehr gemeinen Zufall solch ein Artefakt in die Hände bekommen. Wenn sie aber keine Hexe ist bringt es nichts, wenn Ladonna einen Teil ihrer Seele in einem Horcrux verstaut hat, solange diese Britignier nicht selbst zaubern kann. Es sei denn … Ich muss dringend wieder in unser Haus zurück, Schwester Romina. Bitte bleibe weiterhin unauffällig an dieser Sache dran und berichte mir auch, wie es mit Nancy Gordon weitergeht!“
„Ja, mach ich, höchste Schwester!“ bestätigte Romina Hamton gehorsam. Dann wechselte Anthelia/Naaneavargia wieder in die alte Daggers-Villa im US-Bundesstaat Mississippi über.
Sie hatte schon Erfahrung damit, dass jenes von Sardonia hergestellte und mit wichtigen Erinnerungen gefüllte Denkarium, dass ihr Riddle zusammen mit der ihm hündisch ergebenen Bellatrix Lestrange aus Millemerveilles geholt hatte, bestimmte Erinnerungen erst offenbarte, wenn Anthelia an die damit verbundenen Dinge dachte, besonders dann, wenn bestimmte Ereignisse eingetreten waren, die solche Erinnerungen zur Nachbetrachtung freigaben. Also war es für sie nichts neues, als sie sich vor das Denkarium kniete und mit ihrem Zauberstab in der silbrigweißen, scheinbar gasförmigen Essenz rührte, die aus sehr vielen Erinnerungen bestand. Sie dachte dabei an Ladonna Montefiori, dass Sardonia sie womöglich getötet hatte und wie das Duell ausgegangen war, ja und dass Ladonna vielleicht ein Artefakt hergestellt hatte, das ihr Erbe offenbaren mochte. Sie fühlte eine leichte Reaktion. Dann spürte sie, wie ihr Zauberstab förmlich mit einem starken Strang von Erinnerungen Kontakt bekam. Jetzt hätte sie die Erinnerungen einzeln herausfischen und in ihren Kopf übertragen können. Doch sie wollte sie im Denkarium lassen. Außerdem war es wesentlich einprägsamer, wenn sie unmittelbar in diese Erinnerungen eintauchte. Sie vollendete den Erinnerungsauswahlvorgang und bewirkte, dass an Stelle der silberweißen Substanz wie durch ein Fenster im Fußboden auf eine Landschaft hinuntergeblickt werden konnte, in der zwei Frauen standen, eine im purpurnen Gewand mit einer Krone aus den Schwanzfedern von Raben und eine Frau im schwarzen Seidenkleid mit weit den Rücken herabreichendem schwarzen Haar. Ja, das waren die beiden Erzfeindinnen Sardonia und Ladonna Montefiori. Anthelia steckte ihren Zauberstab fort und senkte behutsam ihren Kopf in die heraufbeschworene Ansicht hinein.
Es war wie immer, wenn jemand direkt in die von ihm oder ihr ausgewählten Erinnerungen eintauchte. Erst meinte sie, durch einen schwarzen Schacht zu stürzen, um dann keine drei Schritte von den beiden sich anblickenden Hexen entfernt auf einer Bergkuppe zu stehen.
„Du maßt dir an, dass du die einzig wahre Königin der Hexen sein kannst, Sardonia vom Bitterwald“, hörte sie die Hexe in Schwarz auf die mit der Rabenfederkrone einsprechen, wobei sie schnelle und ausladende Handbewegungen machte, was auf große Erregung hinwies. „Doch ich war zuerst da und meine Schwesternschaft ist auf dem einzig richtigen Weg, den Irrsinn der männlichen Vormachtstellung zu beenden. Außerdem vereinige ich in meinem Blut und meinem Geist das Erbe zweier mächtiger Rassen.“
„Ich weiß, deine Großmutter war eine jener widerwärtig schönen Wesen, die sich Veela oder Vilie nennen und sich anmaßen, älter und mächtiger zu sein als wir gegenwärtigen Menschen“, erwiderte Sardonia ganz ruhig, obwohl Anthelia genau sah, wie verbissen sie die andere ansah. Offenbar scheiterte sie damit, die Gedanken ihrer Gegnerin zu erhaschen.
„So, dann haben deine Spioninnen in meinen Reihen dir das doch noch zugetragen, bevor ich sie entlarven und ihrer gerechten Strafe zuführen konnte“, knurrte die Hexe im schwarzen Seidenkleid. „Aber das soll mir jetzt auch gleich sein. Denn so weißt du, dass du gegen mich nicht gewinnen kannst, zumal auch eine zweite mächtige Rasse in meiner Ahnenreihe vorhanden ist. Welche das ist verrate ich dir nicht, kleine Hexenprinzessin. Anstatt mich dazu zu bewegen, deiner schwächlichen Gruppierung von Hexenschwestern beizutreten und meine Errungenschaften in Frankreich aufzugeben solltest du dich damit anfreunden, dich mir zu unterwerfen. Dann lasse ich dich sehr gerne am Leben. Denn das altdruidische Wissen, dass du dir angeeignet hast, interessiert mich sehr.“
„Was für eine zweite Rasse soll so mächtig sein, dass du meinst, ein angeborenes Recht auf die Herrschaft über alle anderen zu besitzen?“ fragte Sardonia. Ladonna grinste verächtlich und erwiderte nur, dass dies die Rasse Sei, die von den meisten Hexen und Zauberern sträflich missachtet würde. Da dies zu diesem Zeitpunkt alle menschenförmige Zauberwesen betraf hatte sie damit auch nichts neues erwähnt. Das fand wohl auch Sardonia.
„Ich habe auch deine Spionin Muriel Dujardin entlarvt. Aber anders als du habe ich sie nicht getötet. Lebend ist sie für mich ungleich wertvoller als tot“, erwiderte Sardonia. Dann fügte sie hinzu: „Begeh nicht den Fehler, meine Macht zu unterschätzen. Das haben schon mächtigere und ältere Hexen und Zauberer bereuen müssen, Ladonna Montefiori, Wechselbalg zweier die Männer hassender Hexen. Ich biete dir an, dass du in deiner Heimat bei Florenz deine eigene Schwesternschaft führen und dir in den italienischen Provinzen eine unanfechtbare Rangstellung erwerben kannst. Aber Frankreich gehört mir. Sei froh, dass ich weiß, dass ich dich wegen deiner erwiesenen Veelaabstammung nicht gleich in der Luft zerfetzt habe, denn ich habe weiß die große Urmutter aller Wesen wichtigeres zu tun, als andauernd gegen rachsüchtige Weibsbilder mit viel zu langen Haaren zu kämpfen“, erwiderte Sardonia.
„Ich war eher hier als du und deine offenbar lebensmüde gewordenen Nachläuferinnen. Denen habe ich schon mitgeteilt, dass sie nur dann weiterleben dürfen, wenn sie mir durch ihr Blut den ewigen Gehorsam schwören. Aber wenn du meinst, dass du stark genug bist, mir zu widerstehen, dann soll es eben der Zweikampf sein, damit wir das ein für allemal entscheiden, wer von uns beiden die wahrhaftige Regina Magarum ist, Sardonia.“ Mit diesen Worten ließ sie aus ihrem Zauberstab einen rosaroten Federhandschuh herausfliegen, der direkt vor Sardonias rechtem Fuß landete. Sardonia blickte den Handschuh an. Der stieg nun auf Greifhöhe an, so dass sie ihn nur noch aus der Luft pflücken musste. Jetzt konnte Anthelia einen kurzen verstörten Ausdruck in Ladonnas überragend schönem Gesicht sehen. Offenbar war ihr noch nicht zugetragen worden, dass Sardonia die Gabe der Telekinese besaß, auch ohne Zauberstab durch reine Willenskraft Dinge zu bewegen oder zu verformen. Doch die Verstörung verflog so rasch, dass Anthelia sie sogar ein wenig bewunderte. Denn nun verbeugte sich Ladonna vor der Erzrivalin und schleuderte den ersten Angriffszauber. Sardonia stand ruhig da und sah wie ihre Zuschauerin aus der Zukunft, wie der ihr geltende Angriff wie blau-violettes Elmsfeuer um ihren Körper flirrte, ohne weiteren Schaden anzurichten. Natürlich trug Sardonia ihren Hexenmantel, der eine Menge schwacher bis starker Flüche parieren konnte und eigene Schildzauber verachtfachte. Ab da entspann sich ein über mehrere Minuten andauerndes Hexenduell, bei dem sich herausstellte, dass Ladonna offenbar über einen ähnlich wirksamen Breitbandfluchabwehrschild verfügte wie Sardonia. Offenbar zog Ladonna ihre Ausdauer aus den umherstehenden Nadelbäumen wie eine grüne Waldfrau. Das brachte Anthelias Tante darauf, einen Kreis um sich zu schlagen und „Viridignis herbivorans incendio!“ zu rufen. Darauf schlugen blattgrün leuchtende Flammen in alle Richtungen von Sardonia weg und erfassten die umstehenden Pflanzen. Diese loderten im selben blattgrünen Feuer wie zundertrockenes Holz auf. Die Bäume zerbarsten funkensprühend. Ladonna verzog ihr Gesicht und keuchte. Sie versuchte, mit Löschzaubern die grüne Feuersbrunst zu tilgen, was Sardonia nutzte, um ihr weitere Flüche entgegenzuschleudern. Doch die sonst so verheerenden Zauber prallten genauso ab wie zuvor. Aus der Bahn geprellte Angriffszauber schlugen in die nahebei stehenden Nadelbäume ein, welche noch nicht vom grünen Feuer erfasst worden waren und verformten die Pflanzen zu sehr befremdlichen Gestalten. Das schien Ladonna genauso wie das von Sardonia entfesselte grüne Zauberfeuer zu bekümmern. Denn sie stand einige Sekunden da und sah zu, wie die grün lodernden Bäume zu Asche zerfielen. Sardonia nutzte diese kurze Verstörung aus, um weitere Angriffszauber zu wirken. Doch auch diese prallten von einem unsichtbaren Schild um Ladonnas Körper ab.
Da mit direkt auf den Körper oder Geist wirkenden Flüchen nichts zu erreichen war gingen die zwei Gegnerinnen dazu über, sich blitzartig verstofflichte Dinge entgegenfliegen zu lassen. So musste Sardonia einem blau leuchtenden Dreizack mit flammenden Spitzen durch eine schnelle Fallrolle ausweichen, während Ladonna die ihr entgegenschießenden grün flammenden Dolche mit einem rotgolden strahlenden Schildzauber auffing. Es musste auf eine Erschöpfung einer der beiden hinauslaufen, dachte Anthelia. Da sie ja Sardonias Erinnerungen betrachtete wusste sie natürlich, wer am Ende gewinnen musste. So konnte sie ohne irgendeine Anspannung beobachten, wie um die beiden Hexen der Boden aufgeworfen wurde, für wenige Sekunden ausbrechende Miniaturvulkane entstanden und dann in dumpfen Explosionen wieder zerbarsten oder wie Sardonia versuchte, Ladonna in eine quecksilbern leuchtende Sphäre einzuschließen. Allerdings zerplatzte diese Sphäre, als von Ladonnas linker Hand ein rotes Leuchten ausging. Die schwarzgekleidete Hexe versuchte zwischendurch, aus einer raschen Bewegung heraus einen Verwandlungszauber anzubringen. Doch auch dieser scheiterte an Sardonias Mantel. Anthelia konnte nur erkennen, dass Sardonia für eine halbe Sekunde von einer roten Aura umgeben war, die konturscharf die Form einer überlebensgroßen Blume mit langem Stiel und Dornen nachbildete.
Als Ladonna den Schwarzen Spiegel zauberte ließ Sardonia diesen mit einem Reconnecta-Fracta-Zauber laut klirrend zu schwarzen Funken zerspringen. Ladonna ging deshalb in die Knie. Sardonia setzte nun nach und murmelte „In Saxasonium persiste!“ Ladonna, die gerade erst den Schock des zersprengten schwarzen Spiegels verdaute, stand in eine biolette Aura gehüllt da, aus der blaue Blitze in den Boden schlugen. Sardonia verzog kurz das Gesicht. Dann sah sie konzentriert auf Ladonnas linke Hand. Die Feindin zuckte zusammen, wollte wohl festhalten, was ihr gerade aus oder von der Hand gezogen wurde. Doch es war zu spät. Anthelia sah etwas goldenes durch die Luft sausen und in Sardonias aufgehaltener Umhangtasche versinken. Dann wiederholte Sardonia ihren Beschwörungszauber: „In Saxasomnium persiste!“ Jetzt umfloss Ladonna hellblaues Licht, das von einer Sekunde zur anderen zu einem blauen Nebelschleier wurde, der ebenso schnell zu einer blau glänzenden, glatten Oberfläche verhärtete. Ladonna stand mitsamt ihrer Kleidung und ihrem zu einem letzten Gegenstoß gehobenen Zauberstab da wie eine filigrane Statue aus einem blauen Gestein ähnlich wie blauer Marmor. Das Duell war entschieden. Ladonna war nicht getötet worden, sondern von Sardonia in einen ewigen Schlaf versenkt worden, eingeschlossen in eine Gesteinsart, die die Farbe von Ladonnas körpereigener Aura besaß. Anthelia wusste aus den Niederschriften Sardonias, dass der von ihr erfundene Zauber nur auf zwei Arten gebrochen werden konnte: Er musste durch die Anwenderin widerrufen werden oder konnte durch frisch darauf fallendes Blut einer Jungfrau aufgelöst werden. Im Grunde war er dem Kristallisierungsfluch ähnlich, dem von Hyneria enttarnte Schwestern Anthelias zum Opfer gefallen waren.
„Wie ich erwähnte, nimmersatte Veelablütige, bereits mächtigere Hexen und Zauberer bereuten es, mich zu unterschätzen“, triumphierte Sardonia. Ihr von Triumph und Euphorie strahlendes Gesicht schimmerte gespenstisch grün flackernd im Schein des mittlerweile alle Pflanzen verzehrenden Zauberfeuers.
Als Sardonia ihre Siegeseuphorie lange genut ausgekostet hatte rief sie über die mit dem Blut ihrer Mitschwestern getränkte Kette der Verbundenheit fünf ihrer älteren Schwestern herbei, jene, die bereits eigene Kinder geboren hatten. aus an den Ort des Duells beschworenen Klaubholz formte Sardonia eine sargähnliche Kiste und apportierte Zimmermannsnägel. Darauf ließ sie die fünf herbeizitierten Mitschwestern die äußerlich versteinerte Feindin in die Kiste legen. Danach verschloss Sardonia sie sorgfältig mit den Nägeln und wirkte noch einen mächtigen Schutz vor den Auswirkungen der Elemente darauf, den sie durch eine kleine Menge ihres eigenen Blutes dauerhaft wirksam machte. Doch auch dieser Zauber, so wusste Anthelia/Naaneavargia, konnte durch die freiwillige Gabe jungfräulichen Menschenblutes aufgehoben werden, sofern die Urheberin des Zaubers bereits tot war. Also würde Ladonna solange unanrührbar bleiben, solange Sardonia selbst lebte. Doch Sardonia dachte wohl schon an ihre Erben, womöglich Anthelia, dachte die Erinnerungsnachbetrachterin. Denn sie befahl, die Kiste auf ein Schiff zu bringen, das den westlichen Ozean befahren und den neu erschlossenen Erdteil ansteuern sollte. Durch weiterführende Erinnerungen bekam Anthelia mit, wie Sardonia das Schiff namens Sette Étoiles auswählte und die Kiste mit der gebannten Rivalin an Bord schaffen ließ. Außerdem bekam Anthelia mit, wie Sardonia einen Fluch über das Schiff aussprach, dass es in zwei Wochen ab jetzt immer schwerer werden und versinken sollte. Also war Ladonnas Körper dazu verurteilt, im Westen irgendwo auf dem Grund des atlantischen Ozeans zu ruhen. Aus ihren eigenen Erfahrungen wusste Anthelia, dass es auch für moderne Hexen und Zauberer schwer war, etwas aus großer Tiefe zu bergen. Sardonia hatte wahrhaftig alle Möglichkeiten vorausgesehen, dass ihre wohl mächtigste Widersacherin von ihren Getreuen gesucht und gefunden werden mochte. Jedenfalls hatte sie den seelischen Todesschrei verhindert, den Veelastämmige im Moment des wahrhaftigen Todes ausstießen, um ihre Blutsverwandten darüber zu unterrichten, dass sie gerade verstarben und wessen Schuld das war. Somit war Sardonia vor der Blutrache der Veelas sicher geblieben.
Anthelia erfuhr, dass jenes geschichtsträchtige Duell, das Sardonia ein ganzes Jahrhundert unanfechtbarer Herrschaft gesichert hatte, am 18. Februar des Jahres 1540 stattgefunden hatte. Sie bekam aus Sardonias nachfolgenden Erinnerungen mit, wie diese alle Anhängerinnen Ladonnas aufspürte und die Niederlassungen der Besiegten im Dämonsfeuer und mit einem Lebensverdorrungsfluch unbewohnbar machte. Anthelia erfuhr auch, dass Ladonna offenbar eine Verehrerin der magischen Zahl sieben war, weil sie ein Netzwerk aus sieben Unterführerinnen gebildet hatte, die wiederum über siebenundsiebzig getreue Helferinnen und dreihundertdreiundvierzig unterworfene Helfershelfer beiderlei Geschlechtes geboten hatten. Es hatte Sardonia ein Jahr gekostet, dieses Netzwerk restlos zu zerschlagen. Dabei hatte sie die meisten Hexen auf ihre Seite ziehen können. Was Anthelia einen gewissen Schauer bereitete war, dass Ladonna viele ihrer Gegner offenbar nicht getötet, sondern in verschiedenartige Rosen verwandelt hatte. Also das bedeutete jene rote Aura, in die Sardonia für eine halbe Sekunde gehüllt worden war, als Ladonna versucht hatte, ihr einen Verwandlungszauber aufzuerlegen. Anthelia erinnerte sich daran, dass auch ihrer einstigen Widersacherin Daianira nachgesagt wurde, mächtige Feinde nicht zu töten, sondern in ihr genehme Wesen zu verwandeln. Doch das war nie wirklich bestätigt worden, und selbst als Anthelia mehrere Monate unfreiwillig in Daianiras Körper eingeschlossen war hatte sie davon nichts mitbekommen, weil ihr Gehirn sich damals erst wider neu entwickeln musste.
„Bleibt also die Frage, ob die Unfähigen wie bei Aiondaras Krug mit ihren Tieftauchmaschinen an Ladonnas Aufbewahrungsgefäß heranreichen können oder ihr Leib weiterhin unantastbar auf dem Meeresgrund verbleiben muss“, dachte Anthelia. Dann überdachte sie, dass Sardonia Ladonnas Ring mit zwei rosenblütenartigen Rubinen weit ins Meer geschleudert hatte, weil sie wohl zu recht davon ausging, dass dieser seinem Träger Ladonnas Willen aufzwingen konnte. Mochte es sein, dass dieser Ring wieder aufgetaucht war und somit Ladonnas darin verankerter Seelensplitter wie ein halber Dibbuk einen neuen Wirtskörper gefunden hatte? Anthelia musste unbedingt klären, wo diese Rose Britignier war, bevor die noch was anstellte, um Ladonnas Erbe erwachen zu lassen. Das war der ganze Sinn, dass Julius diese Texte in das geheime Netzwerk der Zaubererwelt eingeschrieben hatte.
Romina ermittelte auf Anthelias gezielte Nachfragen hin, dass Rose Britignier seit dem 25. Dezember offenbar auf eine längere Seereise gegangen sei. Die Yacht Gloire de L’Ocean, war jedoch scheinbar führerlos und mit einer Menge freigesetztem Leucht- und Brenngas im Bauch gegen einen Felsen Gran Canarias gerast und explodiert. Hieß das, dass Rose Britignier tot war? Vielleicht, dachte Anthelia. Aber die darauf folgende Schlussfolgerung missfiel ihr um so mehr: Es mochte sein, dass Rose ihren Zweck erfüllt hatte und bei dem verzeichneten Ankern mitten auf dem Meer Ladonnas versteinerten Körper geborgen hatte. Der Mann, mit dem sie unterwegs war galt als gewissenloser Schatzsucher, der im Ruf stand, selbst tief auf dem Meeresgrund liegende Wracks finden und ausplündern zu können.
„Wolltest du mir das sagen, Julius Latierre? Oder wolltest du nur darauf spekulieren, dass deine sich für so moralisch hochstehenden Kollegen dem nachgehen?“ fragte Anthelia nur in Gedanken. Sicher konnte sie Julius Latierre jetzt anschreiben, zumal sie wusste, dass er ein eigenes Büro zugeteilt bekommen hatte. Doch im Moment wollte sie erst herausfinden, ob Ladonna wahrhaftig wiedererweckt worden sein konnte oder ob ihr Zauberring wahrhaftig einen Teil ihrer Seele enthielt, um damit andere Menschen unter ihren Willen zu zwingen. Wusste sie das wollte sie darauf reagieren. Denn dasss eine Viertelveela und womöglich von einer anderen mächtigen Zauberwesenart stammende Hexe ihr Konkurrenz machte wollte sie bestimmt nicht.
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„Du kannst auch bei uns die Nächte zubringen, Julius“, bot Ursuline Latierre ihrem Schwiegerenkel an, als der eine Stunde nach Millies Abreise mit der Zaubereiministerin Aurore und Chrysope ins Sonnenblumenschloss brachte.
„Danke für das Angebot, Oma Line. Aber ich möchte die Zeit, die ich abends habe nutzen, um nach weiteren Sachen zu suchen, die meine Arbeit betreffen. Außerdem habe ich Laurentine versprochen, ihr jeden Tag ein Nachrichtenpaket zusammenzustellen, was in der Muggelwelt los ist, solange sie selbst noch nicht nach Paris zurückgekehrt ist“, sagte Julius.
„Wenn du das hinbekommst, genug freie Zeit und vor allem Schlaf zu kriegen … ich meine, du könntest dann in Ruhe mit uns allen frühstücken und von hier aus ins Ministerium flohpulvern. Außerdem hätten Rorie und Chrysie dich dann auch öfter um sich herum“, sagte Ursuline. Julius nickte und wiederholte, dass er sich für das Angebot bedankte. Doch er bat um Verständnis, dass er gerne die tägliche Stunde am eigenen Rechner ausnutzen wollte, auch um private Post von Aurora Dawn und seiner Mutter zu kriegen. Das Argument zog bei Ursuline. Denn Julius würde so auf dem Laufenden bleiben, was seine drei Halbgeschwister anging.
„Ja, doch zu Abend essen wirst du bei uns, keine Widerrede!“ beharrte Ursuline darauf, den Vater ihrer Urenkeltöchter so lange es ging bei sich zu beherbergen. Julius ging darauf ein.
Es war am 13. Januar, als Julius über die von seiner Mutter geknüpften Verbindungen zu den Polizeirechnern in Paris erfuhr, dass ein Mann vermisst wurde, der am dem Abend in Toulouse gewesen war, als der Baustreckenbegeher Henri Dubois starb. Seine Mutter hatte ihn als vermisst gemeldet. Mochte das ein Zufall sein, dass dieser junge Mann, Richard Peltier, zuletzt in der Gegend gesehen worden war, in der auch Dubois‘ Appartmenthaus stand? Wenn er wegen Rose Britignier nicht so empfindlich auf alle Meldungen aus dieser Nacht reagierte hätte er da sicher keinen Zusammenhang hergestellt. Aber so? Vielleicht war der junge Mann Rose Britignier, die da wohl schon unter dem Einfluss von Ladonnas Ring gestanden haben mochte, über den Weg gelaufen. Dann bestand die nicht gerade beruhigende Wahrscheinlichkeit, dass er diese Begegnung nicht überlebt hatte, wenngleich da natürlich die Frage im Raum stand, was der gerade vier Jahre älter als Julius alte Junggeselle Rose Britignier getan haben sollte, um den Tod zu verdienen? Oder hatte er was für sie tun sollen und war dann als gefährlicher Mitwisser beseitigt worden? Julius beschloss, diese Gedankenspiele erst einmal der Polizei zu überlassen. Die konnten schließlich auch eins und eins zusammenzählen. Wichtiger für ihn war jetzt, herauszufinden, ob Ladonna Montefiori wirklich wiedererweckt worden war und was diese dann vorhaben mochte. Die offizielle Anfrage Catherines war ja schon im Verarbeitungsvorgang, ob Ladonna Veelaverwandte haben mochte.
Als er nach dem Abendessen bei den Verwandten im Sonnenblumenschloss und nachdem er seine erstgeborene Tochter noch zu Bett gebracht hatte wieder im Geräteschuppen vor dem Apfelhaus saß fand er eine nur an ihn gerichtete E-Mail von Gwendartammaya. Was wollte die denn jetzt von ihm?
Hallo Julius!
Unsere Sprecherin hat erfahren, dass das mit dem Schattenspieler noch nicht ganz ausgestanden ist. Offenbar hat dieser Wallenkron einige von ihrem Herrn und Meister freigestellte Unterschatten zugeteilt bekommen. Du weißt sicher, dass Nachtschatten auch an bezauberte Gegenstände gebunden werden können wie orientalische Dschinnen. Dann könnten die glatt das feurige Ableben von Kanoras überstanden haben. Somit ist zu klären, ob es noch diese Ankergegenstände gibt oder ob alle daran hängenden Schatten frei handlungsfähig sind. Unsere Verbindung zum großen Turm hat nämlich auch vermeldet, dass da noch eine gewisse Nachschwingung ist, die nicht auf den Kilometer genau geortet werden kann, aber trotzdem zu erfassen ist. Das könnten die letzten Diener des Schattenträumers sein.
Meine zwei Süßen entwickeln sich sehr gut und lassen dich grüßen. Olarammaya lächzt danach, bald mit ihren eigenen Fingern auf der Tastatur oder an der Maus herumfingern zu können. Aber im Moment ist sie wohl froh, dass ich sie zumindest mit an unseren Rechner nehme. Ihre große Schwester hofft wohl eher darauf, dass ich ihr bald geschriebenes Zeug in die Hand drücke, damit sie was zu lesen hat.
Warum ich jetzt genau diese Nachricht tippe ist, weil unsere Sprecherin wegen des goldenen Riesens und der Sache mit den Schatten und auch wegen der sich als schlafende Göttin bezeichnenden gewisse Bedenken hat, diese Verbindung könnte zu langsam sein, wenn es darauf ankommt, wichtige Nachrichten so schnell es geht zwischen uns und euch zu vermitteln. Da wir, wie du ja mitbekommen konntest, ein sehr inniges Netzwerk haben kann ich ihr da nur rechtgeben. Andererseits fällt mir kein Weg ein, dich mit in unser besonderes Nachrichtennetz einzubeziehen, ohne dass du auch einer von uns wirst, also auch alle körperlichen Eigenschaften und diese leidige Fortbestandssache annimmst. Unsere Sprecherin sagte was, dass du nur einer von uns werden könntest, wenn du eine noch unberührte Tochter aus unserem Volk freiwillig zur Mutter eines deiner Kinder machst. Da wir aber genau wissen, dass du da ganz heftige Schwierigkeiten mit deiner rotblonden Gefährtin kriegen würdest, fällt das erst mal flach. Doch ich finde schon, dass wir das rauskriegen sollten, wie wir ohne den Umweg über das Internet miteinander in Verbindung bleiben können, zumal der Rechner ja immer vom Elektrostrom abhängig ist und auch jederzeit wegen was auch immer ausfallen könnte. Vielleicht fällt dir ein Weg ein, wie wir unsere Nachrichtenverbindung erheblich beschleunigen können. Falls du fragst, wozu das für dich gut sein soll: Ich habe das über alte Verbindungen zu einer gewissen Vereinigung von Damen, dass da offenbar eine andere Dame aufgetaucht sein soll, die sich als zehnte Tochter bezeichnet, aber anstatt keinen Vater keine echte Mutter hat, ein Geschöpf dieses Bildermalers, der im November die Welt durcheinanderbringen wollte. Die anderen Töchter könnten eine solche Nachgeburt für Unrat ansehen und sich mit ihr anlegen. Da du ja irgendwie mitgewirkt hast, dass zwei von denen erst einmal tief schlafen könnte es dir passieren, dass die euch mit in diesen „Familienstreit“ reinziehen. Das soll keine Drohung sein, sondern eine hoffentlich unberechtigte Befürchtung. Aber ich habe trotz meiner Abkehr von erwähntem Damenclub keinen Grund, den Quellen zu misstrauen.
Noch ein Grund, warum unsere Sprecherin darauf besteht, einen guten Draht zum Rest der Welt zu haben: Wir möchten, ja müssen wissen, wie das mit diesen Kapuzenleuten weitergeht, die meinen Leuten so heftig zugesetzt haben und die mir in letzter Konsequenz Olarammaya und Gerannammaya beschert haben. Am Ende kommen die noch auf die Idee, ganz ohne einen menschlichen Befehlshaber weiterzumachen. Dann könnte aber die ganze Welt bald ohne Licht und Hoffnung dastehen. Also kriege bitte für uns raus, was mit den Kapuzenträgern los ist, wo die gerade sind und ob da schon wieder was ansteht!
Ich hoffe, du liest diese Nachricht nicht erst im März. unserer aufgeweckten Kinder
Gwendartammaya
P.s. Du darfst mich auch Gwen nennen, wenn du antwortest.
Julius las die E-Mail noch einmal. Sollte das jetzt heißen, dass die Sonnenkinder, allen voran die zwei jungen Mütter Faidaria und Gwendartammaya von ihm eine Lösung wollten, wie er noch schneller als per E-Mail mit ihnen reden konnte? Hatten die vielleicht mitbekommen, dass er magische Armbänder gezogen hatte, die ihn mit anderen reden lassen konnten? Dass er sowas hatte war ein Latierre-Familiengeheimnis, ebenso, mit wem er damit in Kontakt stand. Ebenso war es ein Geheimnis, dass er mit Temmie eine um die ganze Welt reichende Verbindung geknüpft hatte, weil er … den Pokal der Verbundenheit benutzt hatte. Die Sonnentöchter, die im Oktober zu dritt zu Millie und ihm gekommen und zu fünft wieder abgereist waren kamen so nicht an dieses Wissen heran. Natürlich wollten sie auch eine Verbindung zu den Altmeistern von Altaxarroi, die er erbitten sollte. Er hatte jetzt ein wenig mehr Freiraum, wo seine Frau mit Ministerin Ventvit unterwegs war und seine Kinder im Château Tournesol wohnten. Am Ende lag es bei ihm, wie er sich entschied.
Das mit dem Pokal der Verbundenheit ließ ihn nicht in Ruhe. Bis zu sieben Vertraute konnte er damit erwählen, mit denen er dann eine um die ganze Welt reichende Verbindung hielt. Sogar deren unmittelbare Blutsverwandten wurden in diese Verbindung einbezogen, wodurch Julius sogar mit dem tierhaften Bewusstsein Orions Kontakt aufnehmen und mit Temmies körperlicher Mutter Demeter Verbindung aufnehmen konnte. Sicher wussten die Sonnenkinder nicht, dass er so einen machtvollen Gegenstand hatte, in den der erwählte Vertraute etwas seines eigenen Blutes oder eigene Milch einfüllen musste, um die Verbindung zu schaffen. Bei seiner besonderen Vertrauten Artemis vom grünen Rain war das natürlich so einfach gewesen, weil sie kurz nach Orions Geburt ja eine Menge Milch geben konnte. Aber wenn er mit den Sonnenkindern eine solche Verbindung einrichten wollte … Hatten die echt keinen Dunst davon, dass er diesen Pokal im Haus aufbewahrte oder gar, dass es sowas überhaupt gab? Bei Gwendartammaya alias Patricia Straton war er sich zu mindest sicher, dass sie mal von dieser Art Verbundenheitsartefakt gehört hatte. Gut, dann mochte die das in den ganzen Jahren, wo sie schon bei den Sonnenkindern untergebracht war erzählt haben. Aber die konnten es doch nicht wissen, dass er so einen Pokal hatte, weil das Familiengeheimnis alles verbarg, selbst vor Legilimentoren.
Was hatte Gwendartammaya geschrieben? Um selbst ein nach der Geburt vollwertiger Sonnensohn zu werden müsste er freiwillig mit einer der unberührten Töchter dieser besonderen Menschenrasse ein Kind zeugen. Das kam wohl eher nicht in Frage, dachte er, zumal die meisten Kinder bei denen gerade mal im Lauflernalter waren oder gerade erst geboren, ob als Ashsirin oder Daisirin.
„Temmie, hörst du mich?“ schickte Julius eine Frage an Temmie/Darxandria. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis sie ihm auf die gleiche Weise antwortete.
„Ja, ich höre dich, Julius. Was treibt gerade deine Gedanken um?“ fragte sie. Er las ihr die E-Mail vor und dass die Sonnenkinder wohl meinten, er wüsste, wie er noch schneller mit ihnen Nachrichten austauschen könnte. Temmie erwiederte darauf:
„Wenn du den kraftvollen Trinkbehälter benutzen möchtest, in dem du meine Milch aufgefangen hast, so bedenke dabei, dass du dir jenes Wesen aussuchst, das mit möglichst vielen Artgenossen Blutsverwandt ist, um die Zahl der möglichen Verbundenen so groß wie es geht zu machen! Durch mich kannst du mit Orion, meiner Mutter und meinen Geschwistern in Verbindung bleiben. Aber wichtig ist wohl, dass jemand blutsverwandte Nachkommen hat, also dessen Kinder und Kindeskinder.“
„Mit anderen Worten, ich müsste die lebende Stammmutter aller Sonnenkinder fragen, ob sie mir Blut – oder Milch – für den Pokal opfern möchte. Hmm, also Faidaria. Oha!“ mentiloquierte Julius. Temmie erwiderte mit ihrer wie ein sanft gespieltes Cello klingenden Stimme: „Wenn du es schaffen kannst, dass Faidaria freiwillig und im vollen Bewusstsein, diese Verbindung mit dir zu knüpfen etwas von ihrem Blut oder der gerade bereitgehaltenen Milch abgeben möchte … Das musst du für dich allein entscheiden. Denn wie zwischen dir und mir gilt ja, dass die Verbindung dann ein Leben lang vorhält. Du triffst also eine Entscheidung für dein ganzes restliches Leben. Und bedenke, dass wenn Faidaria von deinem Blut aus diesem Gefäß trinken möchte, sie auch mit deinen bereits geborenen und noch ungeborenen Kindern in Verbindung treten kann. Da sie länger leben kann als ihr Menschen von jetzt könnte sie das als wichtig sehen, auch mit deinen Nachkommen eine solche Verbindung zu knüpfen.“
„Ja, und das kann und darf ich nicht entscheiden, ob Aurore und Chrysope schon jetzt derartig verbandelt werden sollen.“
„Da hast du völlig recht, Julius. Ich erwähne das nur, dass Faidaria darauf bestehen könnte“, erwiderte Temmie.
„Das finde ich heraus“, erwiderte Julius, der unvermittelt sehr entschlossen dasaß. Temmie merkte das sicher und erwiderte:
„Wie gesagt, es liegt ganz allein bei dir, was du tust. Du triffst eine Entscheidung für dein restliches Leben, wie damals, wo du dich entschlossen hast, in die Festung der Männer in blauen Gewändern zu gehen oder als du dich darauf eingelassen hast, mit Millie über die mächtige Brücke zu gehen, um eure Verbundenheit zu erproben oder als du dich entschlossen hast, mit jenen deiner Artgenossen zusammenzuwirken, die bewusst und zielgerichtet handelnde Geschöpfe zu überwachen. Ebenso hast du dich für einen der zwei Wege entschieden, Madrashmirondas Segen für die Kräfte der Erde zu erhalten.“
„Ja, wobei ich da absolut nicht drauf gefasst war, dass ich auf die Weise ein zweites Leben in mir entstehen lassen sollte“, erwiderte Julius.
„Erkennst du, wie überraschend die Folgen einer wichtigen Entscheidung sein können?“ gedankenfragte Temmie. „Ich hätte bei der Anfertigung meiner Krone des Wissens auch nicht gedacht, eines Tages im Leib einer besonderen Milchkuh wiederverkörpert zu werden. Aber ich habe mich für dieses Leben entschieden, um dein Leben zu erhalten, wie es zu dem Zeitpunkt beschaffen war. Wenn du nur lange genug alle dir ersichtlichen Folgen überdenken kannst, dann wirst du die für dich selbst zutreffende Entscheidung finden können.“
„Das hoffe ich“, schickte Julius zurück. Doch innerlich hatte er sich schon entschieden. Denn ihm war klar, wie wichtig es war, weiterhin gute bis sehr gute Beziehungen zu mächtigen Wesen der hellen Seite zu haben. Gwendartammaya hatte es ja schon angedeutet, wie viele Widersacher er hatte. Die einzige Frage war, sollte er es Millie jetzt schon mitteilen oder sie vor vollendete Tatsachen stellen? Er war es gewohnt, ihr alles mitzuteilen und dass sie ihm auch offen mitteilte, was sie vorhatte. Andererseits würde sie ihm vielleicht davon abraten, allein schon, weil er ja auf diese Weise auch mit Gwendartammayas Kindern verbunden sein würde, wenn er sich an Faidaria hielt. Wenn er Gwendartammaya selbst fragte mochte die ein ziemlich großes Preisschild hochhalten, was er für sie dann alles zu tun hatte. Also dann lieber die Königin der Sonnenkinder selbst fragen, sofern die das nicht als eine Art Todsünde sah, auf diese Weise mit jemandem in eine geistige Beziehung zu treten. Was er auf jeden Fall nicht machen durfte war, über E-Mail zu verkünden, dass er einen hochpotenten Zauberpokal hatte, der sowas möglich machte.
Einige Minuten lang durchdachte er alle Für- und Widerbegründungen. Ja, er würde sich auf Gedeih oder Verderb den Sonnenkindern ausliefern, selbst wenn die Verbindung nicht ständig genutzt wurde. Dass er ihnen vertrauen konnte wusste er von seiner zweiten nichtmenschlichen Vertrauten Goldschweif. Die hatte die Besucher damals als zwar starke Kräfte ausstrahlende aber gutwillige Besucher anerkannt, ebenso wie die dunkle Abwehrglocke über Millemerveilles und der in fünf um das Haus aufgestellten Apfelbäumen gebündelte Schutzbann Ashtarias. Worauf musste er gefasst sein, wenn er sich mit Faidaria verband? Sie konnten ihn womöglich finden, auch wenn er nicht gefunden werden wollte. Temmie konnte das jedenfalls. Andererseits hatte er auch lernen müssen, dass Temmie nicht alles für ihn tun konnte. Sie war stark, sie war flugfähig und konnte einige Zauber ausführen, um sich leichter oder unsichtbar zu machen und widerstand dem Imperius-Fluch. Aber sie konnte nicht in Räume kleiner als sie selbst eindringen oder ihm mit nach außen wirksamen Zaubern helfen. Die Sache mit Hallittis gerade so vereitelter Rückkehr und die Begegnung mit dem Ursprung der Dementoren hatten ihm deutlich gemacht, wie wichtig es war, wenn jemand zauberfähiges ihn finden und ihm helfen konnte. Dann wusste er, was er schreiben musste.
Hallo Gwen!
Ich hoffe, allen bei euch neu dazugekommenen geht es gut und ihr freut euch über die Ruhe, die gerade ist. Die kann ja leider sehr schnell wieder vorbei sein.
Was die Kapuzenträger angeht habe ich im Moment auch keine Ahnung, wo die sind und was die machen. Aus meiner Erfahrung als junger Vater weiß ich, dass es eher verdächtig ist, wenn jemand, der viel Aufmerksamkeit braucht, sich ganz ruhig verhält. Doch ich weiß leider nicht, wo diese unliebsamen Nachtschwärmer und eiskalten Gangster sich gerade herumtreiben oder was genau die jetzt planen. Ich muss aber nach allem, was ich mittlerweile von denen weiß und selbst erlebt habe zugeben, dass du recht hast und die sich womöglich ohne einen neuen Führer über die restliche Welt hermachen. Wenn die, die gerade jetzt irgendwo in der Welt leben rausbekommen oder das schon mitgeteilt bekommen haben, wie sie sich neues Wissen einverleiben können besteht da leider eine Menge Anlass zur Sorge, dass die sich nur gerade ausdenken, wie es weitergehen soll.
Was die zehnte Tochter angeht, so habe ich davon nichts mitbekommen. Ich weiß aber, dass die Mutter der früher mal neun wieder aufgewacht ist oder besser aus einer sehr sehr langen Zwangspause zurückgekommen ist. Wie es mit denen weitergeht ist deshalb für mich auch sehr wichtig.
Was das Erbe des Schattenmachers angeht hast du mir bestätigt, was ich schon befürchtet hatte, als mir mitgeteilt wurde, dass der Typ, der den uralten Spiegel gesucht hat, solche Verbindungsgegenstände mitgenommen hat.
Deshalb komme ich jetzt auch auf eure Anfrage zurück. Ich habe genau wie ihr ein sehr großes Interesse daran, mit allen, die stark und wissend genug sind, mit mir diese Welt weiterhin lebenswert zu halten, in bestmöglicher Verbindung zu stehen. Um das am besten hinzukriegen ist es sicher wichtig, die ranghöchste und vor allem mit euch anderen allen in Verbindung stehende von euch zu fragen, ob sie und ich so eine Verbindung knüpfen sollen. Mir ist jedoch klar, dass diese Verbindung dann ein ganzes Leben vorhalten wird, bis dass der Tod uns scheidet, wie es die Kirchenmänner bei Trauungen gerne formulieren. Deshalb ist es auch wichtig, dass ich direkt mit eurer Gesamtsprecherin sprechen kann, nicht über Telefon oder E-Mail. Ich weiß zwar jetzt, wo ihr wohnt. Aber ich denke mal, hinkommen kann nur, wer von euch ausdrücklich eingeladen wurde. Deshalb muss ich fragen, wie ich an eine solche Einladung kommen kann, falls ihr weiterhin möchtet, dass wir noch schneller als über Internet in Verbindung bleiben sollen.
Da ich davon ausgehe, dass du mindestens einmal am Tag E-Mails lesen kannst hoffe ich, bald von dir lesen zu können.
Hochachtungsvolle Grüße an dich und deine Volksangehörigen
Julius
Als Julius die Nachricht über das Arkanet-Mailprogramm versendet hatte, zog er sich in das Apfelhaus zurück, das gerade wieder viel zu groß für ihn alleine war. Vielleicht hätte er doch bei seiner Schwiegerverwandtschaft übernachten sollen. Doch dann hätte er sicher nicht diese wahrhaftig lebenswichtige Entscheidung treffen können.
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Der Kalender im Konferenzraum des Koexistenzbüros für Menschen mit und ohne Magie zeigte den 15. Januar. Julius freute sich schon, dass Nathalie Grandchapeau heute schon aus der scheinbaren Babypause zurückkehrte. Sie wirkte zwar rundlicher als vor ihrer späten Schwangerschaft, aber nicht so, als stecke sie seit Mai im siebten Monat fest. Das kam von einem besonderen Unterzeug, dass sie sich hatte schneidern lassen, um rein optisch dünner auszusehen. Wie es wirklich um sie stand wussten nur wenige.
„Ich bin sehr erfreut, dass Madame Belle Grandchapeau in meiner Abwesenheit das Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie erfolgreich geführt hat und durch die vorzeitige Beförderung von Monsieur Latierre sogar eine zusätzliche Verbindung zu den denkfähigen Zauberwesen hinzugewonnen hat. Meinen herzlichsten Glückwunsch, Madame Grandchapeau und Monsieur Latierre!“ sagte Nathalie. Ministerin Ventvit hatte die Rückkehr auf den alten Dienstposten bereits vor zwei Wochen genehmigt.
„Dann möchte ich Ihnen gerne die Tagesordnung von heute übergeben, damit Sie mit uns zusammen die darauf aufgeführten Punkte erörtern können“, sagte Belle und überreichte ihrer Mutter das Pergament mit den fünf Punkten. Drei davon betrafen Julius‘ eigenes Büro unmittelbar, einer davon nur mittelbar.
„Haben Sie sich in der Angelegenheit, die Madame Brickston angeführt hat schon kundig gemacht, Monsieur Latierre?“ fragte Nathalie, als sie sich von Julius über den Stand der Dinge hatte aufklären lassen. Er wiegte den Kopf und erwiderte:
„Also, ich habe meine bestehenden Kontakte zu Madame Léto und ihren direkten Blutsverwandten bemüht, um zu erfragen, ob eine von ihnen mit einer Veela verwandt ist, aus deren direkter Blutlinie Ladonna Montefiori abstammen sollte. Ergebnis, eine solche Verwandte stammt nicht aus jenem Zweig, dem Madame Léto entsprungen ist. Jetzt ist es so, dass es zwölf Hauptstämme der Veelas gibt, von denen die meisten heute lebenden Angehörigen im osteuropäischen Raum beheimatet sind. Ich weiß von einem Stamm, der durch schwarzhaarige Vertreter der Veelas besonders auffällt, weil die meisten eher hellhaarig sind. Ich habe überlegt, Anfragen nach Moskau, Warschau, Sofia und Kiew zu schicken, wobei die in Kiew sich gerne noch als dem russischen Zaubereiministerium untergeordnet betrachten, obwohl die Ukraine als Staat eigenständig ist. Dann müsste ich aber mit sehr eingehenden Rückfragen rechnen, weshalb ich diese Anfrage gestellt habe. So wie Madame Brickston es formuliert hat befürchtet sie oder die Liga gegen dunkle Künste, dass Ladonna Montefiori vor ihrem Tod ein Artefakt hergestellt haben kann, das auch nach ihrem Tod ihren Willen erfüllt oder besser, jemanden ihrem Willen unterwerfen kann, der oder die dann so handelt, als sei er oder sie die bewusste Dunkelhexe. Ich habe Ihnen und Monsieur Vendredi bereits entsprechende Briefe Madame Brickstons und von mir vorgelegt. Monsieur Delacour erklärt sich in diesem Punkt für handlungsunfähig, da der geltende Dienstanstellungsvertrag mit dem Ministerium klar bestimmt, dass er nicht von sich aus in die Belange seiner angeheirateten Verwandtschaft eingreifen darf, weshalb er ja schon bei meinem Dienstantritt alle die Veelas betreffenden Vorgänge auf mein Büro übertragen hat. Monsieur Vendredi ist besorgt, dass wir mit einer offiziellen Prüfung einer möglichen Verwandtschaft Ladonnas mit heute noch lebenden Veelas einen schlafenden Drachen kitzeln könnten, nämlich insofern, dass die mit einbezogenen Zaubereiministerien ein ganz eigenes Interesse an möglichen Veelaverwandten ehemaliger dunkler Hexen und Zauberer hegen könnten. Die Angelegenheit Diosan Sarjawitsch ist gerade in Russland noch sehr gegenwärtig. Sollte sich erweisen, dass die im 16. Jahrhundert entmachtete Dunkelhexe Ladonna Montefiori mit einer in Russland lebenden Veela verwandt ist, besteht die durchaus begründete Annahme, dass das Zaubereiministerium in Moskau die ganze Angelegenheit an sich ziehen könnte. Das würde auch mögliche verfluchte Gegenstände aus dem Nachlass dieser Hexe betreffen. Monsieur Vendredi hat zudem angeführt, dass die Besorgnis Madame Brickstons auf das Hören von hustenden Flöhen beruhen könnte. Daher sollten wir keine nach außen sichtbaren Handlungen vornehmen, die mehr Konflikte heraufbeschwören als die Angelegenheit erfordert, so Monsieur Vendredi. Deshalb möchte ich sehr gerne Ihre Meinung erfahren, inwieweit ich außerhalb von Frankreich tätig werden soll.“
„Hui, Sie haben aber wirklich viel Verwaltungsrhetorik geübt, Monsieur Latierre“, erwiderte Nathalie. Julius erkannte daran aber eher einen Versuch, Bedenkzeit herauszuschinden, um eine auch für die Akten taugliche Antwort zu formulieren. Diese sprach sie dann nach drei weiteren Sekunden Pause aus: „Ich muss dem Kollegen Vendredi in dieser Angelegenheit beipflichten, dass es bisher außer einer Vermutung und der Bitte um Überprüfung derselben keinen eindeutigen Hinweis oder gar Beweis gibt, dass Ladonna Montefiori von einer Veela abstammen mag. Das liegt wohl aber auch daran, dass die besagte Dunkelmagierin damals sehr drastische Methoden benutzte, ihre Geheimnisse zu hüten. Dass überhaupt ein lesbares Tagebuch von ihr auftauchen konnte darf schon als Sonderfall angesehen werden. Da jedoch auf Grund Ihrer nach Eingang der Anfrage erfolgten Recherchen herauskam, dass in der magielosen Welt jemand nach dieser Hexe suchte, die ganz sicher nicht über die zaubereigeschichtlichen Hintergrundinformationen verfügte, besteht jedoch wahrhaftig ein Grund zur Besorgnis, es könne nach langer Zeit ein verfluchtes Artefakt Ladonnas aufgetaucht sein, ähnlich dem Tagebuch des damals noch halbwüchsigen Magiers Riddle, mit dessen Hilfe die Kammer des Schreckens in Hogwarts geöffnet werden konnte. Deshalb pflichte ich Madame Brickston bei, diese Angelegenheit zu prüfen, auch auf mögliche Beziehungen zu heute lebenden Veelas. Andererseits sehe auch ich keinen akuten Anlass, andere Zaubereiministerien damit zu behelligen. Ich möchte Sie jedoch fragen, ob Sie unbedingt ausschließlich bei den Kollegen in osteuropäischen Ländern anfragen müssen, wo Madame Léto da selbst ja wohl einen unbeschränkten Kontakt mit ihren Artgenossen pflegt. Da in dieser Angelegenheit eine junge Dame ohne magische Fähigkeiten betroffen ist gilt es für Ihr und mein Büro, ihren Verbleib und ihre Beweggründe zu ermitteln, warum sie nach einer Ladonna Montefiori geforscht hat. Am Ende handelt es sich um eine vor Jahrhunderten bestehende undichte Stelle in der Weitergabe von Zaubererweltwissen. Deshalb übergeben Sie mir bitte alle bereits vorhandenen Ermittlungsergebnisse!“ Julius kam dieser Aufforderung sofort nach, vor allem, wo er mit Belle ja schon über Britigniers angebliche Vergnügungsfahrt und das explosive Ende einer Luxusyacht gesprochen hatte. Als Nathalie die darauf bezogenen Unterlagen studierte schien sie einige Sekunden lang sehr alarmiert zu sein. Dann sagte sie: „Das mit diesem Kraftfahrzeugslenker, der seit genau der Nacht vermisst wird, in der Henri Dubois den Tod gefunden hat möchte ich gerne eindeutig geklärt haben. Des weiteren möchte ich gerne mit der Sorbonne Kontakt aufnehmen. Die arkane Fakultät weiterführender Zauberkunde dürfte uns da helfen. Ich werde mich dieser Sache annehmen, um möglichst ohne langwierige Antrags- und Genehmigungsverfahren auszukommen. Sie, Monsieur Latierre, erbitten bei Madame Léto die Möglichkeit, mit anderen Veelas zu sprechen, ob hier in Frankreich oder anderswo! Sollten sie jedoch eine Auslandsreise antreten müssen ist Ihnen ja bekannt, dass Sie diese bei Ihrem Dienstvorgesetzten zu beantragen haben. In dem Fall sind das Monsieur Vendredi und meine Person“, sagte Nathalie. Julius nickte. „Ich bin jedoch geneigt, Ihnen eine Blancoreiseerlaubnis auszustellen, da ich anders als Monsieur Vendredi durchaus Gefahr im Verzug sehe. Denn sollte die junge Hochschülerin Britignier wahrhaftig im Banne eines bösartig bezauberten Artefaktes stehen, so steht zu befürchten, dass sie die Explosion des kleinen Vergnügungsschiffes überlebt hat und dieses nur zerstört wurde, weil jemand zu neugierig war, was sie in dieser Weltgegend zu suchen hatte. Sollte es nämlich in der Tat darauf hinauslaufen, dass sie versuchen könnte, Ladonnas im Meer versenkten Körper zu finden, sofern er dort ist, um ihn auf eine noch nicht geklärte Weise wiederzubeleben, so könnte jede Minute entscheiden. Daher erhalten Sie von mir eine derartige Reisegenehmigung. Ich erwarte jedoch nachträglich an mich und Monsieur Vendredi weitergereichte Einsatzberichte.“
„Selbstverständlich“, bestätigte Julius.
Die weiteren Punkte, die ihn unmittelbar betrafen waren die Nachwirkungen von Pickmans schwarzmagischen Bildern und das Gerücht, dass unter diesen Bildern auch eine von Pickman erfundene zehnte Abgrundstochter gewesen sein sollte.
Der dritte Julius‘ betreffende Punkt behandelte den Umgang zwischen Menschen ohne Magie und menschenähnlichen Zauberwesen, sofern die Menschen über die Zaubererwelt unterrichtet waren, wie bei den Marceaus und Vigniers.
Der Julius nur mittelbar betreffende Punkt war die Nachwirkung jenes Manövers, mit dem Nathalie und Belle vor bald einem Jahr Eurphosynes Wunschtraum, Frau eines berühmten Fußballspielers zu sein, zerstört hatten. Hierbei ging es um das Ansehen jenes Klosters, in dem Aron Lundi seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Offenbar witterte die römisch-katholische Kirche ein Manöver, das Grundstück des Klosters zu ergattern, wenn die darauf lebenden Ordensschwestern weit genug diskreditiert waren, dass sie das Konvent auflösen mussten.
Als Julius zwanzig Minuten nach der Konferenz Nathalies Unterschrift auf einer Blanco-Reisegenehmigung hatte ging er damit zu Monsieur Vendredi und erläuterte ihm, was während der Konferenz besprochen worden war.
„Ach, und Sie haben sich daran erinnert, dass Sie ja eigentlich für meine Abteilung arbeiten und ich wegen der bereits mit Ihnen erörterten Bedenken keine Einbeziehung ausländischer Ministeriumsvertreter für sinnvoll oder gar wünschenswert erachte? Das ist aber sehr umsichtig von Ihnen, Monsieur Latierre“, bemerkte Arion Vendredi dazu. Offenbar hatte er heute mal wieder das Bedürfnis, Julius runterzuputzen, wenn nicht mit offenem Tadel, so mit biestiger Ironie.
„Madame Grandchapeau sieht durchaus eine Gefährdung der magielosen Welt, sollte an Madame Brickstons Besorgnis etwas dran sein, Monsieur Vendredi. Insofern ist die mir von Madame Grandchapeau ausgestellte Reisevollmacht dahingehend beschränkt, dass Sie davon in Kenntnis gesetzt werden und mir gerade unter Berücksichtigung möglichst diskreter Ermittlungen die nötige Befugnis erteilen, die von Madame Grandchapeau erbetenen Kenntnisse zu erlangen“, sagte Julius ganz ruhig.
„Und dass Sie ihr und mir zeitgleich schriftlich berichten, welche Erkenntnisse Sie gewinnen konnten. Da sehe ich aber ein kleines aber nicht so leicht ausräumbares Hindernis, Monsieur: Ich hege einen gewissen Zweifel an der Richtigkeit oder besser der Glaubwürdigkeit von Angaben, die unserem Ministerium skeptisch bis eigensinnig entgegenstehende Zauberwesen offenbaren. Wie wollen Sie sicherstellen, nicht von Madame Léto oder ihrer Verwandtschaft dahingehend beeinflusst zu werden, unsere Aufmerksamkeit auf gerade nicht so wichtige Angelegenheiten zu lenken, nur weil die Veelas behaupten, dass es eine ernste, meinetwegen auch bluternste Angelegenheit sein könnte?“
„Da stimme ich Ihnen zu, dass hierbei eine Menge Vertrauen gefragt ist und zwar auf beiden Seiten“, erwiderte Julius. „Nur wenn Sie mir untersagen, diese Ermittlung vorzunehmen besteht durchaus die Gefahr, dass die Veelas selbst darauf kommen, dass etwas von Ladonna Montefiori in Umlauf sein könnte, nämlich dann, wenn die Person, die dieses Artefakt benutzt, eine Verbindung zu Ladonnas bisher nur mutmaßlicher Verwandtschaft herstellt. Dann besteht leider die Möglichkeit, und zwar aus den von Ihnen erwähnten Gründen, dass die Veelas diese Angelegenheit ganz und gar ohne das Zaubereiministerium abhandeln, womit wir bestenfalls handlungsunfähige Beobachter, schlimmstenfalls in völliger Unkenntnis verbleibende Außenseiter sein könnten. Deshalb hat Madame Brickston mein Büro ja um eine Ermittlung gebeten, um den schlimmsten Fall zu verhindern. Inwieweit wir in das Geschehen eingreifen können hängt auf jeden Fall davon ab, was wir im Vorfeld erfahren können und nicht erst bei Vollendung der Tatsachen in Kenntnis gesetzt werden.“
„Wollen Sie mir auf diese sehr umfangreiche Art zu verstehen geben, dass ich Ihnen diese Reisegenehmigung gegenzeichnen soll, damit ich am Ende nicht dafür verantwortlich gemacht werde, dass eine wie auch immer von Statten gehende Auswirkung eines bisher eben nur mutmaßlichen verfluchten Gegenstandes hätte verhindert werden können, wenn wir vorher vollumfänglich darüber unterrichtet gewesen wären? Das muss ich eher als eine unterschwellige Drohung Ihrerseits betrachten, Monsieur Latierre. Und dergleichen verbitte ich mir aufs schärfste“, erwiderte Vendredi unüberhörbar verärgert. Julius blieb jedoch ruhig und erwähnte die Madame Grandchapeau vorgelegten Unterlagen zu Rose Britignier, Henri Dubois und der Yacht Glorie de l’Ocean. Als Vendredi sich durch die Kopien der Unterlagen durchgearbeitet und Nathalies Randbemerkungen ebenfalls mitgelesen hatte meinte er: „Das haben Sie beide mal wieder sehr geschickt eingefädelt, Monsieur Latierre. Mit Sie beide meine ich Sie und Madame Grandchapeau. Ich weiß nicht, warum diese nicht gleich darauf besteht, Sie gänzlich in ihre Zuständigkeit hinüberzuholen und mir derartige Winkelzüge zu ersparen, wo meine Abteilung ja weiß der große Belenus genug zu tun hat, allein schon wegen der Lykanthropen und Vampire dieser neuen Sekte. Ich möchte die Quellen dieser Kenntnisse selbst überprüfen.“
„Natürlich können Sie das, Monsieur Vendredi. Ein Mitarbeiter von Madame Grandchapeau, nicht ich persönlich, wird Ihnen helfen, die betreffenden Informationen aus dem Internet abzufragen“, sagte Julius. Vendredi funkelte ihn eine Sekunde verärgert an. Dann seufzte er:
„Ich sollte wohl doch wieder anfangen, häufiger Schach zu spielen, um derartige Voraushandlungen früh genug vorhersehen zu können, Monsieur Latierre. Bis ich mit einem dieser Elektrorechner soweit vertraut bin, dass ich bedenkenlos die damit erworbenen Kenntnisse betrachten kann müsste ich wohl meinen Dienstplan umstellen. Wissen Sie was, Monsieur Latierre, morgen habe ich meinen dienstfreien Tag. Wenn Sie also nicht gerade heute schon verreisen müssen, dürfen Sie diese Blancovollmacht als von ihrer zum Zeitpunkt der Notwendigkeit einer solchen Reise verfügbaren Vorgesetzten ansehen. Sie haben also morgen Zeit, das zu klären, was Sie und Madame Grandchapeau für so unaufschiebbar und unbedingt zu klären ansehen. Ich behalte mir jedoch vor, alle sich daraus ergebenden Folgehandlungen einzeln auf ihre Notwendigkeit und Dringlichkeit zu prüfen und jeden einzelnen Vorgang durch meine Unterschrift zu genehmigen. Ansonsten müsste ich meine Zuständigkeit für Sie in Frage stellen und das heißt vor allem, Ihre Loyalität zum Ministerium hinterfragen. Also sehen Sie zu, dass Sie bis übermorgen alle Ergebnisse haben.“ Julius nickte. Dann sagte Vendredi noch: „Achso, was den von Ihnen selbst genehmigten Urlaub vom 19. bis zum 21. Januar angeht, so werde ich von meinem Einspruchsrecht gebrauch machen, sofern Sie bei Ihrer Ermittlung keine belastbaren Ergebnisse erzielen. Belastbar heißt in dem Fall, dass die Existenz einer lebenden Verwandten von Ladonna Montefiori sowie eines auf diese zurückgehenden Zaubergegenstandes zweifelsfrei bewiesen werden kann. Sollte dem nicht so sein finde ich genug Möglichkeiten, sie über die von Ihnen eingereichten Urlaubstage hinweg zu beschäftigen. Ich denke, wir verstehen uns.“
„Ja, wir verstehen uns“, erwiderte Julius, der sich sehr auf seine Selbstbeherrschung konzentrierte. Wenn er Vendredi keine nachprüfbaren Einzelheiten servierte kam er am 20. Januar nicht zu Aurora Dawns Willkommensfest für die kleine Rosey. Tja, die Gefahr, sowas zu verpassen bestand immer. Aber nur wegen der Versessenheit Vendredis, ihm nach Möglichkeit irgendwelche Steine in den Weg zu werfen, gehörte nicht zu den hinnehmbaren Dingen.
Wieder in seinem eigenen Büro musste Julius jedoch grinsen. Er sollte am sechzehnten verreisen, ohne dass Vendredi oder wer anderes was davon wusste? Er wusste ja schon, dass Ladonna irgendwie wiedergekehrt war. Auch wusste er, wie genau das abgelaufen war. Außerdem kannte er Sternennacht, ihre lebende Verwandte bereits. Es ging nur darum, das so aufzubereiten, dass Vendredi damit zufrieden war. Deshalb traf er sich am Abend noch mit Léto. Diese nahm es ihm nicht übel, dass Catherine Brickston ihrerseits das Ministerium angeschrieben und die Sache doch offiziell gemacht hatte. Allerdings wies sie darauf hin, dass Sternennacht nicht vor dem bulgarischen oder französischen Zaubereiministerium erscheinen würde, um das zu wiederholen, was sie ihr und Julius erzählt hatte. Aber Sternennacht war ja nicht die einzige, die Ladonnas Erwachen mitbekommen hatte. „Ich werde dir am nächsten Tag sicher eine von uns benennen können, die vor dem Zaubereiministerium aussagt, aber nicht in Frankreich, sondern Bulgarien. Du weißt, wie heimatverbunden wir Kinder Mokushas sind.“ Julius bestätigte das. Dann kehrte er in zwei Apparieretappen nach Millemerveilles zurück.
Er schickte noch schnell eine E-Mail, dass er den ganzen sechzehnten Januar Zeit habe. Ob das klappte wusste er nicht. Er packte auf jeden Fall den Practicus-Rucksack, den er wie dessen kleinen Bruder, den Brustbeutel, bereits diebstahlsicher bezaubert hatte, mit ein paar Kleidungsstücken und dem in dunkle Tücher eingeschlagenen Pokal der Verbundenheit. Den Rucksack stellte er solange in den mit Blutsiegelzauber belegten Aufbewahrungsschrank. Ein wenig mulmig war ihm schon, dass er womöglich Blut oder Milch von Faidaria oder einer anderen ihrer Verwandten trinken musste, um die optimale Verbindung zu den Sonnenkindern zu haben. Millie hatte er vorerst nicht darüber informiert. Er mentiloquierte über die Zuneigungsherzverbindung mit ihr. Sie wohnte gerade mit drei weiteren Reportern in einem Gästehaus des spanischen Zaubereiministeriums und hatte ihr Zimmer durch Schutzzauber aus dem alten Reich gegen feindliche Beobachtung oder Eindringlinge abgesichert.
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„Du hast das gewusst, dass er einen Weg findet, die anderen Kurzlebigen in meine Familienangelegenheit reinzuziehen, Himmelsglanz!“ fauchte Sternennacht die in Frankreich wohnende Veela an, als sie in ihrem Wohnzimmer im Stamm des hohlen Baumes saß.
„Du hast ihm abverlangt, niemanden aus seiner Arbeitsstelle zu sagen oder zu schreiben, was du ihm erzählt hast. Tja, aber wenn einer von denen, den er das erzählen durfte deshalb nachfragt ist das nicht seine Schuld, Sternennacht“, erwiderte Himmelsglanz alias Léto mit unverhohlenem Vergnügen. „Du hättest ihm abfordern müssen, dass er niemanden darüber unterrichtet, was du ihm erzählt hast. Aber so.“
„Du findest es also auch noch lustig, dass meine Familie derartig erniedrigt wird, dass eine bösartige Kurzlebige wieder aufgetaucht ist, Himmelsglanz? Wie würdest du das denn finden, wenn deine Familie derartig von diesen Kurzlebigen zur Rechenschaft gezogen würde?“ erwiderte Sternennacht.
„gezogen würde, Sternennacht? Ich wurde zweimal zur Rechenschaft gezogen, weil eine meiner Enkeltöchter der Meinung war, in der Welt der Magielosen groß und weithin Berühmt zu werden und weil sie die darauf folgenden Handlungen des Ministeriums sehr nachhaltig vergolten hat, -Außerdem musste ich mich für die Handlungen meines Neffens Diosan rechtfertigen, weil der in seinem Wahn junge Mädchen entführt hat, um ihnen seinen Samen einzupflanzen. Also fauche hier nicht herum, als habe dir jemand alle haare vom Kopf geschnitten, Sternennacht. Du weißt genau wie ich, dass jede Untätigkeit wegen dieser Wiedererwachten uns schlimmer treffen wird als alles, was wir tun können, um dieser fehlgeleiteten Kurzlebigen Einhalt zu gebieten. Oder hat sie sich mittlerweile wieder vernehmen lassen und nachgefragt, was ihre Verwandten so über sie denken?“
„Nein, hat sie nicht. Wenn ich nicht von den anderen erfahren hätte, dass die auch diese Stimme gehört haben müsste ich mich sogar fragen, ob ich mir das nicht eingebildet habe.“
„Nachdem, was Julius und seine Vertrauten herausgefunden haben leider nicht, Sternennacht. Sie müssen nur genau wissen, wo und wie es begonnen hat, um zu beschließen, wie sie mit dieser Kurzlebigen verfahren. Und da ist es bei Mokushas Ehre unbedingt wichtig, dass sie wissen, dass sie die Wiedererwachte nicht töten dürfen. Außerdem willst du ja auch mit dieser Spinnenfrau sprechen, die noch weniger Vertrauenswürdig ist als alle Amtsgenossen von Julius Latierre zusammen.“
„Mit dieser Spinnenfrau werde ich auf der Ebene fertig, dass sie weiß, dass sie stirbt, wenn die Wiedererwachte stirbt. Dann wird sie schon achtgeben, sie nicht zu töten oder von einer ihrer Helferinnen töten zu lassen“, zischte Sternennacht.
„Und wenn sie genau darauf ausgeht, alle von unserem großen Volk zu töten, allein schon dadurch, dass sie eine Blutfehde entfacht. Wir wissen von ihr nichts, nicht mal, ob sie ebenfalls eine Wiedererwachte ist und woher sie diese machtvolle Verwandlung beherrscht, eine überlebensgroße Webspinne zu sein, die laut Julius‘ gegen viele Arten der Zauberkraft widerstehen kann.“
„Ach, und du meinst, sie könnte befinden, uns Kinder Mokushas alle ausrotten zu müssen?“ fragte Sternennacht.
„Da wir sie nicht kennen weiß ich das nicht. Bisher kam noch kein Kurzlebiger auf den Gedanken, uns alle ausrotten zu müssen, weil jeder von denen zu recht Angst hat, dass dies einen zu hohen Blutzoll bei seinen Angehörigen fordert. Aber wenn diese Spinnenfrau keine Angehörigen hat, Sternennacht, was dann?“
„Sie ist nur eine Kurzlebige und braucht einen Teil eines von der Kraft durchdrungenen Tieres in einem Stück Holz, um die große Kraft zu benutzen. Fehlt ihr dieses Stück Holz ist sie genauso schwach und hinfällig wie jeder Kurzlebige“, erwiderte Sternennacht mit einer schon an ein Glaubensbekenntnis reichenden Zuversicht.
„Ob und wann auch immer Julius ein Treffen mit dieser Spinnenfrau vereinbaren kann, Sternennacht, ich als die vom Ältestenrat als Vermittlerin zwischen ihm und uns bestehe darauf, dass ich bei diesem Treffen anwesend bin. Ghe nicht davon aus, dass du Julius dazu bewegen kannst, nur dir zu erzählen, wann dieses Treffen stattfinden soll! Er vertraut mir immer noch mehr als euch anderen.“
„Darauf bist du auch noch stolz, Himmelsglanz. Du und deine Schwester Neuer Tag begehren ihn, weil die Kraft in ihm stärker ist als in den meisten anderen. Nur du fühlst dich über deine Triebe erhaben, redest dir und ihm ein, für ihn eher sowas wie eine weise Großmutter zu sein. Dabei wünschst du dir doch mindestens eine Tochter von ihm, wenn nicht sogar einen Sohn“, fauchte Sternennacht.
„Ach, hat Neuer Tag dir das so erzählt?“ erwiderte Himmelsglanz mit gewisser Verdrossenheit. Dann blickte sie Sternennacht mitleidsvoll an. „Meine Schwester will ihn haben, das stimmt. Sie will ihn, weil er es gewagt hat, ihre Handlungen zu missbilligen. Ich habe schon genug Kinder geboren, um Mokushas großes Erbe am Leben zu halten, genau wie du. Also erfülle ich nun die meinem Alter geschuldete Aufgabe und verbleibe als lebenserfahrene Beraterin für ihn erreichbar. Aber das ist genau das, was dich und Neuer Tag so verärgert, dass er gelernt hat, unserer Anmut zu widerstehen und nicht dahinschmilzt wie die meisten Kurzlebigen. Denn in Wirklichkeit bist es nämlich du, die ihn begehrt, die sicherstellen will, dass er an deine Blutlinie gebunden ist und sich deinem Wort und deinem Leib unterwirft, Sternennacht. Ich werde noch mal mit meiner Schwester sprechen müssen, dass sie ihre eigenen Gelüste nicht auf andere von uns überträgt, nur weil sie sich immer noch gedemütigt fühlt, dass er ihr ins Gesicht gesagt hat, dass sie eine Untat verübt hat, als sie diesen Grindelwald dazu brachte, mit ihr einen Sohn zu zeugen. Willst du, dass dir irgendwann jemand eine Untat vorwirft oder dich gar dafür bestrafen will? Ich will das nicht.“
„Ich kann und will dir nicht verbieten, bei dem Treffen dabei zu sein. Aber was deine Gefühle und Absichten für Julius Latierre angeht, so solltest du dich selbst prüfen, wen du mehr belügst, die anderen oder dich selbst. So, und ich kehre jetzt zu meinem Heim zurück.“
„Möge die Liebe und der Schutz der großen Urmutter dich sicher auf deinen Wegen führen, Sternennacht, Tochter der Mondlichtgeborenen!“ sagte Himmelsglanz.
„Möge auch dir die Liebe und Geborgenheit der großen Urmutter hold sein, Sommersonnenlichtgeborene!“ erwiderte Sternennacht angestrengt lächelnd. Dann verließ sie Himmelsglanzes Baumbehausung.
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Womöglich wird er einen dieser Zweiwegespiegel beschaffen, die in der heutigen Zaubererwelt verwendet werden, wenngleich die sehr schwer herzustellen sind, weil dazu Ocammysilber in kleinen Mengen benötigt wird, das vom Mondlauf an den Sonnenlauf gebunden werden muss, um den Brutraubvergeltungsinstinkt dieser Wesen zu trüben“, sagte Patricia Straton alias Gwendartammaya zu Faidaria, während sie im Gemeinschaftshaus saßen. Gwendartammaya hatte um halb acht morgens mitteleuropäischer Zeit, was auf Ashtaraiondroi bereits halb sieben abends entsprach die genaue Zeit für ein Treffen erfahren.
„Vielleicht bringt er auch eines dieser lebendig wirkenden Bildnisse mit, wie sie in seinem runden Haus zu sehen waren“, sagte Faidaria. Sie schaukelte Ilangammayan, den Sohn des Überwegs, der wohl gerade davon träumte, wie er in seinem vorigen Leben gegen die Feinde der Sonnenkinder gekämpft hatte. Gwendartammayas Töchter waren wach und hörten aufmerksam zu, was die beiden großen Hexen und Trägerinnen von Sonnenkraftausrichtern besprachen. Vor allem Phoenix hörte auf alles, was ihre Mutter sagte. Denn wie außer der geistigen Direktverbindung der Sonnenkinder echte Hexen und Zauberer über tausende von Kilometern miteinander sprechen konnten interessierte sie auch sehr.
„Es ist jetzt noch ein Hundertsteltag. Dann werden wir wissen, ob dein in eine geschriebene Botschaft eingewirkter Überbringer ihn zu uns herüberbringt“, sagte Faidaria. Gwendartammaya sah auf ihre Uhr, die sie wahlweise auf die Zeiteinheiten der heutigen Menschheit oder die Zeiteinheiten aus dem alten Reich umstellen konnte. Da war sie stolz drauf, dass sie diese Wechseluhr hinbekommen hatte. Gemäß der vereinbarten Zeit würde Julius um genau zehn Uhr abends hiesiger Ortszeit eintreffen, in knapp 29 Minuten. Gut, dass Patricia Straton ausgiebig gelernt hatte, wie ein Portschlüssel gezaubert wurde, bevor sie zu Gwendartammaya geworden war.
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Julius hatte sich das genau überlegt, zumal der um halb neun Morgens in seinen Briefkasten geflogene Eulenbrief ihm immer noch die Möglichkeit ließ, auf die Reise zu verzichten. Er hatte am Morgen bei Madame Grandchapeau seine Reise zu Léto angemeldet, die mit ihm eine der Veelas aufsuchen wollte, die von der Haarfarbe her Ladonnas Beschreibung entsprechen mochte. Dafür war der ganze Tag verplant. Als er gleich nach der offiziellen Abmeldung und dem Aushang, dass er heute keine Bürosprechstunde hatte in das Apfelhaus zurückgekehrt war, hatte er diesen Brief gefunden, an dem noch eine kleine Eulenfeder geklebt hatte. Offenbar hatte „Gwen“ es in der kurzen Zeit hinbekommen, eine Posteule in seine Nähe zu versetzen, ohne selbst durch die Barriere um Millemerveilles zu müssen. Sicher, sie konnte unbehelligt passieren. Aber da sie nicht auffallen durfte war das schon riskant, selbst an diesem Wintermorgen, wo die Sonne erst nach acht uhr richtig aufging. Vielleicht hätte er sie sogar persönlich getroffen, wenn er nicht wegen dieser formellen Abreiseprozedur ins Ministerium gemusst hätte. Denn kommen und gehen wie er wollte ging nicht.
Julius las noch mal den Brief, der wie von einer Briefbekanntschaft aus den Staaten verfasst war. Gut, im Grunde war die ehemalige Anthelianerin das ja seit ihrem Besuch bei ihm. Jedenfalls hatte sie geschrieben, dass dieser Brief der Schlüssel zu einer Audienz bei der großen Matriarchin sei, den er gerne haben wollte und dass er das dazu gehörende Tor um elf Uhr mitteleuropäischer Winterzeit zwei Kilometer südlich der Ortsgrenze aufmachen konnte, indem er dort stehend „Sonnengruß!“ in der alten Sprache ausrief. Julius hatte schon genug Erfahrungen mit wörtlich auslösbaren Portschlüsseln. Er hatte aber auch seit der Sache mit dem amerikanischen Besenbauer Arbolus Gildfork einen dünnen Fußgelenkreifen um, der genau das vereitelte, dass ein Portschlüssel ihn mal eben anderswo hinbrachte. Diese Schutzvorkehrung musste er also hierlassen und darauf hoffen, dass Gwen ihn nicht Anthelia oder einer anderen üblen Person ins Haus lieferte. Doch jetzt hatte er in den Wald hineingerufen und musste damit klarkommen, was daraufhin herauskam.
Goldschweif fühlte, dass ihr Vertrauter wieder etwas besonderes vorhatte und umstrich ihn. „Gehst du kämpfen oder mit einer andern die Stimmung ausleben?“ hörte er ihre Frage, als spräche sie mit Menschlicher Stimme.
„Ich will lernen, mit denen besser zu sprechen, die mir helfen, die Bösen auf der Welt wegzujagen oder klein zu halten, ohne andauernd kämpfen zu müssen, Goldie. Deshalb gehe ich zu den Frauen, die mit dem fliegenden Silberboot hergekommen sind.“
„Die drei, die eine starke Kraft haben und von denen eine ihre zwei Jungen bei dir bekommen hat?“ wollte Goldschweif wissen. Julius bestätigte das.
„Und du willst mich nicht mitnehmen?“ fragte Goldschweif leicht quängelig klingend. „Ich werde gleich mit einem Ding, das macht, das ich ganz ganz schnell von hier um die halbe Weltkugel fliegen kann wegreisen, Goldie. Ich weiß, dass dir das immer ganz doll weh tut oder Angst macht. Ich gehe nicht dahin, wo es gefährlich für mich ist. Also musst du nicht mitkommen.“
„Ich fühle, dass du nur ein wenig Angst hast, nicht vor einem Feind, aber vor etwas, dass du tun musst, aber nicht weißt, was dann kommt.“
„Das ist es, Goldie. Das ist so ähnlich wie damals, wo Millie und ich zum ersten Mal ein Kind bekommen haben, was, das für alles was noch kommt ganz wichtig aber auch ganz neu ist“, erwiderte Julius. Das reichte Goldschweif. Sie ließ Julius in Ruhe, um ihre neuen Jungen zu beaufsichtigen.
Eine Minute vor der angegebenen Zeit apparierte Julius zunächst an die Ortsgrenze. Dann peilte er mit dem Madrashainorian bekannten Richtungssinn die genaue Südrichtung an. Schon genial, wie die Erdvertrauten ihren Geist auf die Magnetfeldlinien der Erde abstimmen konnten, und das bei guter Übung ohne Zauberstab. Nun konnte er, nachdem er die Grenze überschritten hatte, an den angegebenen Zielpunkt apparieren. Als er dort ankam wirkte er schnell den Homenum-Revelius-Zauber und noch den Zauber Lied des verborgenen Lebens, der alle Lebewesen größer als ein Insekt in einer Kugelzone von zweitausend Körperlängen Durchmesser als leises Summen und je nach Entwicklungsstand grünlich bis hellrot leuchtendes Objekt zeigte. Beide Zauber verrieten ihm, dass er gerade an diesem Ort alleine war. Selbst unsichtbare Zauberer oder Hexen wurden durch den Zauber der Erde offenbart, sofern sie lebendig waren. Geister waren von der stofflichen Welt und damit dem Bezug zur Erde entrissen.
Punkt elf Uhr Ortszeit vibrierte der Briefumschlag in Julius Hand. Er prüfte noch mal, ob der Rucksack fest genug auf seinem Rücken saß. Dann sprach er: „Ashtargadunai!“ Darauf meinte er, von einem Haken am Bauchnabel in einen Wirbel aus allen Farben hineingerissen zu werden. Er blieb entspannt, so wie jemand, der schon oft mit einem Jumbojet bei bestem Sommerwetter über den Atlantik geflogen ist. Er blickte auf seine Armbanduhr. Diesmal wollte er prüfen, wie lange er unterwegs war. Doch der Sekundenzeiger zitterte auf der Vier und rückte nicht weiter. Dabei konnte die Uhr normalerweise auch einmal ohne die direkte Ausrichtung auf die Erde und Himmelskörper weiterlaufen. Hieß das also, dass ein Portschlüsselwirbel einen eigenen Zeitablauf hatte, der die Uhr beeinflusste? Julius wusste es nicht. Er zählte die Sekunden im Kopf und kam bis zu „einhundertsieben!“ bevor er aus dem wilden Farbenspiel herausplumpste und in weichem, weißen Sand landete. Hier schien schon der Mond vom Himmel. Leise Klickend stellte sich seine Uhr auf eine neue Zeit ein und lief weiter. Hier war es nun zehn Uhr, genau wie in Großbritannien. Doch da lagen sicher zwölf Stunden zwischen, erkannte Julius. Der Briefumschlag in seiner Hand zerrannzu feinem Staub. Dieser versickerte restlos im Sand. Damit hatte Julius gerechnet. Jetzt war er wem auch immer ausgeliefert.
„Ja, du bist uns jetzt ausgeliefert, Julius Latierre. Aber keine Angst, es ist nicht unsere Absicht, dich hierzubehalten, wenn du das nicht willst“, hörte er Gwendartammayas Stimme im Kopf. Sollte er sich dagegen abschotten? Aber dann konnte er auch gleich wieder versuchen, zu Fuß nach Hause zu apparieren.
„Hast du einen Besen mit?“ wurde er von Gwendartammaya gefragt. Er konzentrierte sich und ging die fünf stufen des Mentiloquismus durch. „Nicht so kompliziert, bitte! Du stehst nur hundert Meter von mir weg. Da wo das Licht leuchtet bitte hinlaufen oder hinapparieren!“
„Gut, bin gleich da“, erwiderte Julius, ohne sich das mit Gwens Stimme sprechend vorzustellen. Er wusste doch, dass Patricia schon vor ihrer Sonnenkindweihe Gedanken hören konnte.
Da er sich nicht zu sehr darauf verlassen wollte, dass er als Besucher ungehindert apparieren konnte und weil er einfach mal wieder Lust hatte, einen Spurt hinzulegen, rannte er über den weichen Sand, was nicht so einfach war wie auf einem festen Weg. Als er dann aber wieder im Tritt für Strandläufe war hatte er nur noch fünfzig Meter zwischen sich und dem beleuchteten Blockhaus. Davor standen bereits die drei Frauen, die ihm und Millie im letzten Oktober besucht hatten. Ohne zu keuchen kam er bei den dreien an und verneigte sich vor Faidaria, weil Madrashainorian das so gelernt hatte, wenn er mit hochrangigen Menschen sprechen wollte. Ebenso hatte er aber auch gelernt, dass der Hochrangige Mensch ihn zuerst begrüßen musste, bevor er was sagen durfte. Faidaria sah ihn an und lächelte, sagte aber nichts. Auch Gwendartammaya schickte keine neuen Gedanken zu ihm.
Nach gefühlten zwei Minuten lachte Faidaria erheitert und sagte: „Du hast wahrhaftig die alten Sitten meiner Voreltern erlernt. Wer auch immer dich darin unterwies hat wohl Wert darauf gelegt, dass du die alten Anstandsregeln einhältst. So grüße ich dich, Sohn der Martha und des Richards. Ich erfreue mich an deiner Anwesenheit und gewähre dir das Wort.“ Faidaria hatte die Verkehrssprache des alten Reiches benutzt. Julius konnte sie wahrhaftig wie seine eigene Muttersprache.
„Ich empfinde große Ehrung, dass Ihr, Meisterin Faidaria, Tochter des großen Vaters Himmelsfeuer, mir die Reise zu eurer Heimstatt gewährt habt. Auch ich empfinde große Freude, euch zu sehen und zu hören“, sprach Julius die protokollgemäße Erwiderung. Damit war der pflichtgemäße Auftakt gemacht.
„Dies ist mein Heim und mein Reich. Tritt unbesorgt und mit meiner Erlaubnis ein und sei mein Gast“, sagte Faidaria. Gwendartammaya grinste wie ein belustigtes Schulmädchen. Faidaria reagierte nicht darauf. Sie deutete an sich vorbei in das Blockhaus.
Julius musste seine geringe Enttäuschung verbergen, als er im Blockhaus stand und nicht mal eben in einem rauminhaltsvergrößerten Saal stand, sondern eben nur einen Wohnraum von fünf mal vier Meter Fläche um sich herum hatte. Immerhin gab es in dem Haus wohl noch drei weitere Räume, sah er an den ländlich wirkenden Türen. Wenn er nicht gewusst hätte, dass er auf einer Tropeninsel angekommen war hätte er sich glatt in einem Einsiedlerhaus im Wilden Westen gewähnt. Allerdings waren die Möbel schon neueren Datums, erkannte er. Auch gab es im wilden Westen keine frei unter der Decke schwebenden, warmes, weißgelbes Licht ausstrahlenden Kugeln. Er sah einen Schreibtisch mit einem breiten Stuhl davor, eine lindgrüne Sitzgruppe um einen gläsernen Couchtisch, sowie einen Bücherschrank mit Glaseinsetzen in den Türen. An der von der Eingangstür gegenüberliegenden Wand stand noch ein Tisch mit vier gepolsterten Stühlen, wohl eine kleine Essecke. Faidaria deutete auf das lindgrüne Sofa, auf dem drei erwachsene Menschen platznehmen konnten. Julius Nickte. Er schnallte seinen Rucksack ab und stellte ihn an den Schreibtisch. Dann ging er auf die stumme Einladung ein und setzte sich so, dass Gwendartammaya sich neben ihm hinsetzen konnte. Gisirdaria schlüpfte auf der anderen Seite neben ihn. Faidaria ließ sich in einem der Sessel gegenüber von ihm nieder.
Da bist du jetzt doch schon auf unserer beschaulichen kleinen Sonneninsel“, sagte Faidaria, wobei sie weiterhin die Sprache des alten Reiches benutzte. „Daraus ersehe ich, dass auch dir wichtig ist, mit uns in eine noch schnellere Verbindung treten zu können. Gwendartammaya hier hat bereits einige Möglichkeiten aufgezählt. Doch ich weiß nicht, was daran schneller ist als dieses Wissenssammelgerät, mit dem Ilangardian für uns gearbeitet hat.“
„Ich habe mich zu einem großen und ernsten Schritt entschlossen, meisterin Faidaria. Doch weiß ich nicht, ob ihr diesen Schritt mit mir gehen wollt“, sagte Julius und bemühte sich nicht darum, seine Gedanken zu verhüllen. Allerdings wusste er auch, dass der Pokal der Verbundenheit eben nicht von Legilimentoren oder Gedankenhörern aus seinem Geist erlauscht werden konnte. So beschrieb er nun, was er für ein Geschenk erhalten hatte, ohne zu verraten, von wem er es bekommen hatte. Jedenfalls sollte es dazu dienen, seine ihm aufgeladene Aufgabe nicht alleine bewältigen zu müssen, wenn er einen Vertrauten fand, der oder die freiwillig von einem lebensspendenden Körpersaft etwas in den Behälter füllte und er es trinken durfte. Die drei Frauen sahen einander an, die zwei goldhäutigen und die Euroamerikanerin mit den dunkelbraunen Haaren. Gisirdaria, die kupferhaarige mit den roséfarbenen Augen stupste Julius sacht an. Faidaria sah dann wieder Julius an.
„Das Wissen um den Krug der Freundschaft ist also nicht ganz verlorengegangen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass seine Macht den istzeitigen Menschen noch bekannt ist. Natürlich ist mir diese Wirkung bekannt und vertraut, denn unsere Voreltern haben mit solch einem Krug ihre Verbundenheit durch alle ihre Blutlinien bekundet und mehr noch, dafür gesorgt, dass alle von ihnen nachgeborenen dieses Verbindungsnetz erhalten und benutzen können.“ Julius nickte. Jetzt wusste er, warum die Sonnenkinder in ständigem Gedankenkontakt stehen konnten. „Natürlich fällt deine Wahl auf mich, weil ich mit allen in diesem Volk geborenen Blutsverwandt bin, außer mit Gwendartammaya. Aber diese wurde durch die Bereitschaft, von Gooardarian ein Kind zu empfangen auf ihren lebenden Körper übertragen und durch seinen Sohn und seine Töchter verstärkt. Aber du solltest wissen, dass in dem Moment, wo wir beide die Verbindung knüpfen, du auch all die ausgeschickten Gedanken meiner Blutsverwandten vernehmen kannst, solange sie weniger als zehnmal so weit wie ein Ruf getragen wird in deiner Nähe sind. Ich weiß es von Ilangardian, der nun als meine Schwestersohnestochter Olarammaya wiedergeboren ist, damit immer gewisse Schwierigkeiten hatte. Und solltest du mir die Gunst erweisen, dass ich auch von deinem Blute oder der Milch einer deiner Töchter kosten darf, so wirkt diese neue Wahrnehmung über die ganze Weltkugel hinweg.“
„Dann möchtest du mir helfen, mit dir eine weltweite Verbindung zu knüpfen?“ fragte Julius. Faidaria bejahte es. „Über mich wirst du auch ohne dass ich dein Blut oder die Milch einer deiner Töchter aus dem Krug der Verbundenheit trinken muss jeden von uns im Geiste berühren und ansprechen können, wenn ich dies für richtig halte. Ich gehe davon aus, dass du euren Krug der Freundschaft mitgebracht hast?“
„Ja, natürlich“, erwiderte Julius. Er stand auf und holte den Pokal aus seinem Rucksack. „Frequens homo solus non sufficit“ stand im Boden des Pokals eingraviert. Doch diese magische Gravur wurde nur dem Sichtbar, der den Pokal als erster nach dem Tod des letzten berechtigten Besitzers berührte, um sich als neuer Besitzer anerkennen zu lassen. Julius wusste, dass er den Pokal nur dann mit ganzer Macht nutzen konnte, wenn er ihn festhielt. Das sagte er auch Faidaria. Diese nickte.
Er wollte ihr erst nicht dabei zusehen, weil er kein Spanner sein wollte. Doch als Faidaria ihm mit gewisser Erheiterung zurief, dass sie nichts zu verbergen habe, was er nicht schon bei anderen gesehen habe, gab er sich einen Ruck und beobachtete sie ganz bewusst dabei, wie sie behutsam kleine Schlucke ihrer eigenen Milch in den Pokal einfüllte. Temmies Gedankenstimme klang amüsiert zu ihm: „Außer dass ihre Milch nicht so nahrhaft ist wie meine ist das wirklich kein wirklicher Unterschied, nur, dass sie sich selbst davon erleichtern kann.“ Julius fragte sich dabei, ob Temmie mit in dieses Verbundnetz eingeklinkt wurde. „Nein, werde ich nicht, weil du ja sonst mit allen, die du erwählst ein solches Netz knüpfen würdest, die sich vielleicht nicht bedingungslos vertrauen“, empfing er Temmies Gedankenstimme. „Nur du und sie werdet verbunden, wie du und ich für uns verbunden wurden. Auch wenn du mit Millie in Gedanken sprichst wird sie das nur hören, wenn du willst, dass sie es hört“, erwiderte Temmies Gedankenstimme, während Faidaria nun ganz entschlossen so viel Milch aus ihren Brüsten herausmolk, bis nichts mehr herauskam. Sie hatte sich ausgewrungen, wie Millie das oft genannt hatte, wenn sie was für Aurore oder Chrysope ausgelagert hatte. Julius fühlte, wie der Pokal sich erwärmte. Dann setzte er ihn an. Er hatte ja als Madrashainorian schon Erfahrung, wie ein neu aufwachsender Säugling gestillt zu werden. Deshalb war das für ihn kein neues oder gar befremdliches Geschmackserlebnis. Allerdings meinte er nach dem zweiten vorsichtigen Schluck, mit Sprudelwasser verlängerten Honigwein zu trinken, körperwarm und berauschend. Die bis dahin verbliebenen Hemmungen verschwanden, und er leerte den Pokal andächtig aber mit Genuß und Bedacht bis zum letzten ihm gespendeten Tropfen. Dann fühlte er, wie es in seinem Bauch und von da in seine Adern strömte, jene Kraft, die ihn mit der Spenderin verband. Einen Moment konnte er sehen, wie um Faidaria eine sonnenaufgangsrote Aura erstrahlte. Dieser Eindruck hielt drei Sekunden vor. Dann fühlte er, wie etwas in seinen Kopf hineintastete und hörte Faidarias Stimme in seinem Kopf. „Ich erfühle die Verbindung. Wir sind nun verbunden, Julius Erdengrund. Fürchte dich nicht, wenn es gleich noch stärker auf uns wirkt. Denn die Milch einer Sonnentochter enthält mehr von der Höheren Kraft als die einer kurzlebigen Unbefähigten.“
Tatsächlich meinte er nun, dass Faidaria und er immer enger zusammenfanden, als würden sie körperlich zusammenfinden. Beide berührten und erkundeten sich auf eine Weise, die mit schlichten Worten nicht zu beschreiben war. Tatsächlich glaubte Julius einen Moment lang sogar, mit dieser zweihundert Jahre alten Magierin einen behutsamen, aber doch lustvollen Liebesakt zu erleben, um dann wie in ihrem warmen Schoß geborgen einige Zeit ihrem Herzschlag und beruhigenden Gedanken zu lauschen. Dann glitt seine Wahrnehmung auch wieder zurück in das hier und jetzt. „So, sprecht mit ihm und stellt euch vor!“ hörte er nun Faidarias Stimme wie in einer weitläufigen Kathedrale nachhallen. Dann hörte er die anderen Stimmen. Sie waren räumlich ortbar. Das kannte er nicht vom reinen Gedankensprechen. Aber dass ihn gleich über zehn andere Stimmen erreichten empfand er schon als schwierig. Alle wollten gleichzeitig mit ihm sprechen, ihn hören. Er merkte, wie es unter seiner Schädeldecke vibrierte wie ein auf volle Kraft hochgefahrener Transformator. Er hörte Gisirdarias glockenhelle Stimme, die von Gerannammaya und Olarammaya, die ja erst vor wenigen Monaten geboren worden waren, ebenso wie die wie ein kleiner Junge klingende Gedankenstimme von Ilangammayan, Faidarias jüngstem Sohn. Ebenso lernte er innerhalb nur einer halben Minute die verbliebenen, meist weiblichen Sonnenkinder mit Namen und Gesichtern kennen. Ja, er konnte zu den auf ihn einströmenden Gedankenstimmen auch die Gesichter der dazugehörenden vor sich sehen, als säßen sie ihm genau gegenüber. Sein Herz hämmerte mit mehr als hundertfünfzig Schlägen, so sehr forderte diese neue Empfindung Kraft von Geist und Körper. Er versuchte erst gar nicht, sich gegen diese Flut aus fremden Gedanken zu stemmen, auch wenn ihm das Lied des inneren Friedens sicher geholfen hätte. So tat er, was er früher schon gelernt hatte. Er verfiel in eine Entspannungshaltung, um die auf ihn einprasselnden Gedankenstimmen und -bilder möglichst ohne Widerstand abzuwettern, wie ein Schiff sich in den Sturmwind drehte, um so wenig wie möglich davon beschädigt zu werden. Endlich ließ die Flut der Geistesregungen nach, Julius hörte nun genauer auf die einzelnen ihn ansprechenden Gedanken und fühlte die Hitze seines Körpers und wie ihm der Schweiß von der Stirn rann. „Heh, Julius, dafür dass du was von meiner Mutter weggetrunken hast erwarte ich eine Dankestat von dir, wenn ich endlich wieder laufen kann!“ hörte er Ilangammayans Gedankenstimme. Gisirdaria kam Julius mit einer Antwort zuvor: „Du wirst nicht verschmachten. Statt deiner Mutter werde ich dir genug Milch geben, um den nächsten Tag zu überstehen.“ Dem konnte und wollte Julius nichts hinzufügen.
Als Faidaria beruhigt war, dass Julius nicht unter der Last der vielen auf ihn einströmenden Gedanken und Empfindungen zusammengebrochen war lud sie alle Sonnenkinder in das große Gemeinschaftshaus ein, um Julius auch mit Augen und Ohren wahrnehmen zu können.
Julius wusste, dass alle überlebenden Sonnenkinder mehr als sechzig Jahre alt waren. Auch wusste er von Madrashainorian, dass die Bewohner des alten Reiches steinalt werden konnten, mindestens vierhundert Jahre. Deshalb staunte er auch nicht mehr darüber, wie jung die hier alle aussahen. Selbst die vor kurzem erst Mutter gewordene Faidaria wirkte eher wie eine Frau Mitte Fünfzig statt einer betagten Lady mit weißem Haar.
Nachdem er alle überwiegend weiblichen Sonnenkinder durch Umarmungen begrüßt hatte begleitete er sie alle in das Gemeinschaftshaus hinüber, das fünfmal so groß war wie Faidarias Haus. Die mit bereits gereiften Persönlichkeiten wiedergeborenen Kinder wurden dazugeholt. Gerannayamma bestand darauf, dass Julius sie auf seinem Schoß sitzen ließ, während er mit ihnen allen über die letzten Ereignisse sprach und auch lange und breit über die Dementoren diskutierte. Er enthüllte den Sonnenkindern, dass er die Quelle dieser Ungeheuer gesehen hatte. Das wussten Gwendartammaya und ihre Töchter schon längst. Immerhin hatte Olarammaya alias Phoenix Straton seine Flucht aus der Stadt in der Zeitblase ja mitbekommen.
„Und diese Geschöpfe sollten die stärksten Krieger der alten Zeiten werden?“ wollte Gerannammaya wissen, die sich genüsslich in Julius sanfter Umarmung räkelte. „Wer kam denn auf die Idee, solche Bestien zu erschaffen?“ fragte sie noch rein gedanklich.
„Wie genau dieses gallertartige schwarze Etwas erschaffen wurde habe ich nicht herausbekommen. Ich hoffe nur, dass der Wächter es wirklich restlos vernichten konnte. Sich vorzustellen, dass dieses Horrorzeug tausende von diesen Monstern ausbrüten konnte gefällt mir nicht“, gestand Julius.
„Und das mit diesem Kanoras?“ gedankensprach Ilangammayan, Faidarias jüngster Sohn. „Ist von euren Leuten enthüllt worden, wo deren Daseinswurzeln abgeblieben sind?“
„Daseinswurzeln? Achso, die Gegenstände, an die sie gebunden sind. – Weder die Schattenwesen noch deren Verbindungsgegenstände wurden von den Leuten aus den Zaubereiministerien gefunden. Entweder sind die alle vernichtet worden oder von jemand anderem vorher weggebracht worden. Könnte auch sein, dass die Schattenriesin, von der eine gewisse Albertine Steinbeißer aus Deutschland geschrieben hat, die Verbindungsgegenstände ihrer kleineren Schicksalsgenossen eingesammelt und weggetragen hat, um als deren Königin oder Göttermutter weiterzumachen“, erwiderte Julius.
„Siehst du, Ilangammayan, das habe ich dir schon gesagt, bevor du Faidarias warmen Schoß verlassen hast“, freute sich Gerannammaya, weil sie wohl recht behalten hatte.
„Dass da eine Schattenkönigin ist, die meint, den besiegten Schattenträumer überlebt zu haben und sein Erbe am Leben zu halten freut dich, Gerannammaya?“ gedankengrummelte Ilangammayan.
„Nein, freuen nicht. Aber eine gewisse Genugtuung, dass ich angeblich viel zu kurzlebige das erfasst habe, wo du doch meintest, Kanoras besser zu kennen als wir alle zusammen“, erwiderte Patricia Stratons erste Zwillingstochter.
„Keinen Zank, wo wir Besuch haben!“ gebot Faidaria den zwei in Gedanken streitenden.
„Ich frage mich, ob die Sache mit Iaxathans Machtgegenstand nun erledigt ist oder wir da demnächst wieder von hören müssen“, gestand Julius ein, während er Gerannammaya behutsam auf den knien wiegte. „Heh, nicht so schaukeln, sonst schlaf ich noch ein“, gedankenzischte ihm die gerade im Körper eines Babys steckende Ex-Anthelianerin zu.
„Das was wir vom König der Dunkelheit, der sich auch als Diener der alles endenden Finsternis bezeichnet hat wissen ist wenig, aber zu viel, um beruhigt zu sein“, erwiderte Faidaria. „Es mag sein, dass Wallenkron nicht der von ihm ersehnte Spiegelknecht wurde. Aber er könnte schon einen anderen dazu verleitet haben, Wallenkrons Aufgabe zu übernehmen.“
„Ja, und wird diese Schattenkönigin ihm auch gehorchen oder ihr eigenes Ding machen?“ wollte Julius wissen. Ilangammayan gedankenantwortete:
„Wenn sie den Gegenstand, der sie frei und beweglich in der stofflichen Welt hält in ihrem Besitz hat nicht. Ich vermute, der Fehlgeleitete, der dem finsteren König seinen Leib und seine Seele darbringen wollte, hat versucht, sich zwei ihn bedrängender Schattendienerinnen zu entledigen und hat deren Daseinswurzeln zu einer verschmolzen. Das war jedoch der entscheidende Fehler. Denn dadurch wurde sie erst recht mächtig und vor allem aus zwei schwächeren wurde eine starke Seele mit allen Erinnerungen der beiden vorher eigenständigen. Dieses Wissen wird die Schattenkönigin nutzen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen oder ihr eigenes Ding zu machen, wie Olarammaya und du das aussprechen würdet.“
„Und ihr wisst bis heute nicht, wer genau Kanoras vernichtet hat?“ wollte Gwendartammaya wissen. „Meine Verbindungen zu meinen ehemaligen Bundesschwestern gaben da auch nicht viel her, außer, dass vor einer gewaltigen Hitzeexplosion im Berg wohl die grauen Supervampire dort reingegangen sind.“
„Könnte sein, dass die oder deren angebliche Göttin was in seiner Höhle angestellt haben, dass sein Körper vernichtet wurde, auch wenn ich aus überlieferten Erinnerungen weiß, dass sein Körper nur noch ein großes Gehirn unter einer unzerstörbaren Glaskuppel war“, erwiderte Julius.
„Der Blutriese konnte Blut und das innere Selbst von Nachtkindern in sich aufsaugen“, erwähnte Ilangammayan. „So mag es geschehen sein, dass er diesen grauen Verunstalteten alles entrissen hat.“
„Ui, und wenn deren Seelen noch mit ihrer achso mächtigen Nachtgöttin verbunden waren?“ fragte Julius in den Raum hinein.
„Dann mag er diese Verbindung mit aufgesogen haben“, erwiderte Ilangammayan rein gedanklich. Gerannammaya legte gleich nach:
„Ja, und das wurde von Kanoras aufgesaugt, weil der dachte, die im Mitternachtsstein eingeschlossene Nachtgöttin schwächen zu können. Womöglich hat der große Fisch damit aber einen tödlichen Haken verschluckt, und die Vampirgöttin hat ihn dann durch die unzerstörbare Kuppel hindurch eingeholt wie ein Angler den größten Fang seines Lebens.“
„Ja, und wenn sein Geist nicht mehr im Körper steckte starb der Körper und damit die Existenzberechtigung für die Höhle und Rums!“ vollendete Julius den Gedankengang der auf seinem Schoß hockenden Gerannammaya. Sie gluckste mit hörbarer Stimme und stupste ihm ihre kleine rechte Faust sanft in den Bauch.
„Das ist durchaus denkbar“, räumte Ilangammayan ein. „Dann hat sie ihn verschlungen und zu einem Teil von sich zerrinnen lassen. Die weiß also nun alles, was er wusste. Vielleicht kann sie auf diese Weise auch die weiterbestehenden Schattendiener beherrschen.“
„Kann sie nicht, weil die offenbar für Wallenkron an eigenständige Ankergegenstände gebunden wurden“, widersprach Gerannammaya. Olarammaya, die zweitgeborene Zwillingstochter von Gwendartammaya, gedankenantwortete darauf:
„Die müsste dann erst wieder eine Verbindung zu denen hinkriegen, und wenn Kanoras die ausgelagert hat wie eine Datei auf eine externe Festplatte oder einen USB-Datenträger hat sie wohl im Moment keinen Zugriff auf diese anderen Schattenmonster.“
„Kanoras‘ Macht war groß und verzweigt. Wenn die zur gefangenen oder schlafenden Göttin gewordene Nachttochter sein ganzes Wissen verschlungen hat kann sie diese Macht nutzen, um sich seine abgespaltenen Diener zu unterwerfen“, bestand Ilangammayan auf die Richtigkeit seiner Vermutung.
„Wenn das gegangen wäre hätte die das schon gemacht, als Wallenkron vor dieser Höhle angekommen ist. Außerdem hat diese Al Steinbeißer doch behauptet, dass die Schatten mit den Vampiren gekämpft haben. Also waren die Schatten da völlig eigenständig“, hielt Olarammaya ihrem einige Wochen jüngeren Onkel entgegen, ohne dabei den Mund aufmachen zu müssen.
„Ich bin neben Yantulian der einzige, der Kanoras‘ Entstehung und Kräfte genau kennt, kleines Mädchen“, gedankenknurrte Ilangammayan.
„Nicht auf die tour, Ilangammayan. Denk dran, wer dich gemacht hat!“ erwiderte Olarammaya. Das brachte Faidaria darauf, die Sache für genug besprochen abzuschließen. Dann wollte sie mehr über die Bestrebungen der jetztzeitigen Zaubereiministerien wissen, mehr über das alte Reich zu erfahren und inwieweit Julius mit den Nachgeborenen Ashtarias verbunden war.
So vergingen weitere Stunden, in denen Julius und die Sonnenkinder ihr bisheriges Wissen soweit austauschten, soweit es die Sachen aus dem alten Reich und die damit verbundenen Sachen betraf. Er verriet jedoch weder die Existenz von Ammayamiria, noch dass Darxandria in der Latierre-Kuh Artemis wiederverkörpert war. Dass er mit etwas von ihr Kontakt bekommen hatte wussten die Sonnenkinder ja, weil er sonst wohl nicht nach Garumitan hineingelassen worden wäre. Auch erzählte er nichts von Madrashainorians Leben. Dass er die Sprache des alten Reiches und dazugehörige Dinge gelernt hatte schob er auf Besuche bei den Altmeistern. Ob diese den Sonnenkindern Zugang zu ihrem Wissen geben würden wollte er erst erfragen, wenn er aus weiteren Gründen zu ihnen hingehen musste.
Auf Ashtaraiondroi, der Sonneninsel, war es bereits halb zwei in der Nacht. Die vor kurzem erst wiedergeborenen schliefen fest, weil sie trotz des bereits entwickelten Geistes eben nur Säuglinge waren. Patricia Straton alias Gwendartammaya begleitete Julius noch zum Abreisepunkt, wo sie einen weiteren Portschlüssel in Form eines Kieselsteines aus dem Sand grub. „Jetzt bist du fast einer von uns. Ich beneide dich darum, dass du unbehelligt in der Welt herumlaufen darfst, Julius. Am besten erzählst du erst mal keinem, dass du Faidarias Muttermilch aus dem Pokal der Verbundenheit getrunken hast, auch deiner Frau nicht. Wenn sie gerade mal nicht ihren Geist verschlossen hat habe ich schon mitbekommen, dass sie mir und Pandora gegenüber sehr feindselig eingestellt ist, weil wir damals Anthelia auf die Welt zurückgeholt haben. Warte besser erst einmal ab, bis euer drittes Kind auf der Welt ist, damit sie sich besser beherrschen kann! Das sage ich dir nicht, weil ich Angst vor Millies Vergeltung habe, sondern weil ich weiß, wie schnell eine schwangere Hexe aus der Bahn fliegen kann, wenn sie was hört, was ihr nicht passt. Vielleicht wird sie das eines Tages sogar gut finden, dass du ganz ohne sie zu informieren mit Faidaria die Verbindung geknüpft hast. Komm gut nach Hause!“
„Ich weiß nicht, was du als Patricia Straton alles angestellt hast, Gwen und will das jetzt auch nicht mehr wissen. Ich hoffe nur, dass du mit deinem neuen Leben mehr erfreuliches als verächtliches hinkriegst. Ich danke dir aber immer noch, dass du meinen Vater damals aus Hallittis Bann gelöst hast und der jetzt ein neues, hoffentlich harmloses Leben leben darf.“
„Wir treffen uns sicher mal auch ohne die anderen, wenn ich die zwei kleinen aus den Windeln raus habe. Sonst muss ich noch fürchten, dass meine Erstgeborene dich rumkriegt, sie als Geliebte zu haben, so wie die sich heute auf deinem Schoß angekuschelt hat.“
„Sie wollte mir nur zeigen, dass es sie gibt“, erwiderte Julius. Darauf hörten er und Gwen zwei vergnügte Kleinmädchenstimmen kichern. „Apropos, das muss Bläänch Faucon auch nicht wissen, dass du jetzt unmittelbaren Kontakt zu uns aufgenommen hast. Was diese Ladonna Montefiori und ihre Veelaverwandtschaft angeht solltest du dir von deiner Frau weitere Schutzzauber gegen Feuerzauber geben lassen. Falls sie das nicht will oder kann komm bitte noch mal zu uns, damit Faidaria oder jemand anderes von uns dir da helfen kann. Denn von diesem Ring der Rosenkönigin hat meine Mutter schon gehört und Gerannammaya hat das sicher noch im Kopf.“
„Auf jeden Fall danke für den Reisedienst, Gwen. Ich hoffe, wir müssen nicht schon bald rauskriegen, wie überlebenswichtig die neue Beziehung ist“, sagte Julius. Dann sprach er wieder „Ashtargadunai!“ Das löste den Portschlüsselzauber aus, der ihn dorthin zurückbrachte, wo seine Reise auf die Sonneninsel begonnen hatte.
Vor Millemerveilles war es gerade erst halb drei am Nachmittag. Er musste erst blinzeln, um die plötzlich auf seine Augen wirkende Wintersonne zu verkraften. Doch dann hatte er sich an den abrupten Lichtwechsel gewöhnt. Er war wieder in Frankreich, in seinen Revier. Schnell prüfte er nach, ob gerade jemand in der Nähe war, der oder die ihn beobachtet haben mochte. Doch wie vorher fand er niemanden vor. Der als Portschlüssel benutzte Kieselstein zerbröselte gerade zu Staub und rieselte auf den Boden. Somit blieb auch keine Spur von einem Portschlüssel. Und den Portierzauber würde auch niemand anpeilen. Denn Gwen hatte auf jeden Portschlüssel einen Unaufspürbarkeitszauber gewirkt, den die Sonnenkinder gelernt hatten.
„wohlbehalten in deiner Heimat angekommen?“ hörte er Faidarias Gedankenstimme laut und deutlich in sich. Diesmal fühlte er jedoch nicht, aus welcher Richtung sie zu ihm drang. Er erwiderte: „Ich musste mich erst mal daran gewöhnen, plötzlich wieder ganz für mich allein zu sein, Faidaria. Aber vielen Dank, dass du mir dein Vertrauen geschenkt hast.“
„Ich danke dir, dass du mir einen guten Weg geboten hast, unsere so wichtige Verbundenheit über alle Meere und Erdteile hinweg zu knüpfen. Wir werden nun schlafen, um morgen im Lichte unseres himmlischen Urvaters daranzugehen, mehr über die von Kanoras gelösten Schatten zu ergründen und zu erfahren, wo der Wächter von Garumitan sich nun aufhält. Erforsche du die neuen Bedrohungen, von denen du uns berichtet hast.“ Julius erwiderte darauf:
„Und Gwen meint, dass Anthelia nicht offiziell von mir angeschrieben werden muss?“
„Ja, Gwen meint das“, hörte er Gwendartammayas Gedankenstimme in sich. Julius reichte das aus.
Den restlichen offiziellen Reisetag verbrachte er mit Léto, die ihn erst seltsam ansah. Als sie dann sagte: „Du hast dich einer weiteren starken Trägerin der Kraft anvertraut, sehe ich am Hauch deiner Lebenskraft. Ich hoffe nur, dass sie dir nicht den falschen Weg zeigt.“ Julius beruhigte Léto, dass er sich dieser anderen nur anvertraut habe, weil er überzeugt war, dass sie eher den hellen Pfaden folge. „Du weißt, dass wir zwei miteinander verbunden sind, Julius. Deshalb rührt es mich an, was du tust und was dir getan wird. Vielleicht wäre es besser gewesen, mich vorher ins Vertrauen zu ziehen, wer die von dir erwählte ist und warum du dich auf sie einlassen wolltest.“
„Es betrifft das Erbe, das mir aufgeladen wurde, Léto. Da muss ich wohl noch einiges alleine erkennen und entscheiden.“ So ganz stimmte das nicht. Denn vieles entschied er eigentlich nach Beratung mit Millie, Camille Dusoleil, Catherine Brickston und vor allem Temmie. Dass jetzt noch Faidaria dazugekommen war machte die ganze Sache noch ein wenig umfangreicher.
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„Wir haben alle gerade schwangeren Hexen in unserem Zuständigkeitsbereich überprüft. Keine von ihnen strahlt die für den verwerflichen Fluch typischen Zauberkräfte aus“, sagte Eileithyia Greensporn, als sie mit den Heilerinnen aus der Gruppe der besonnenen Schwestern zusammensaß. Ihre Enkelin Leda bat ums Wort.
„Hast du denn ernsthaft geglaubt, dass wir die Verbrecherin auf diese Weise entlarven können, Großmutter und Schwester? Im Grunde haben wir damit nur herausbekommen, wer es eindeutig nicht ist, die Minister Dime unter ihren Zwang gestellt hat. Ich dachte auch erst, es hätte Beth McGuire sein können, weil sie auch für Anthelia arbeitet. Aber sie war eine der ersten, die sich hat überprüfen lassen, angeblich um das Kindeswachstum genauer zu beobachten. Ich vermute, dass die Hexe, die Minister Dime derartig vereinnahmt hat entweder Ausländerin ist oder eine ihr bedingungslos gehorsame Hebamme hat, die nicht dem offiziellen Zirkel der Heilkundigen angehört. Außerdem müssen wir doch davon ausgehen, dass Vita Magica über genug Medimagier verfügt, um ihre weiblichen Gefolgsleute ohne sich uns auszuliefern betreuen zu können.““
„Natürlich, Schwester Eileithyia. Deine Idee hat uns nur gezeigt, wer wirklich unschuldig ist“, erwiderte Betty Mulligan, eine Heilerin aus der Region von Washington.
„Ihr vergesst noch was, werte Schwestern, nämlich die Möglichkeit, dass weibliche Hauselfen auch als Hebammen dienen können. Wer eine Hauselfe hat kann ohne Furcht vor körperlichen Auswirkungen ein Kind bekommen“, sagte Esther Broadleaf, eine Heilerin aus der Nähe von Dallas in Texas.
„Ja, aber die Gesundheitsrichtlinien“, warf Betty Mulligan ein. „Spätestens bei der Geburt werden entweder in Thorntails, Dragonbreath oder dem Ministerium die Ankunft und die Eltern eines neuen Zaubererweltkindes aufgezeichnet.“
„Ja, aber spätestens dann kann dieser Fluch nicht mehr gebrochen werden“, knurrte Eileithyia Greensporn.
„Würdest du denn das Kind oder die Kinder übernehmen und unter deinem Namen gebären, Schwester Eileithyia?“ wollte Betty Mulligan wissen und schenkte der achtzig Jahre älteren Hexe einen schelmischen Augenaufschlag.
„Wenn das der einzige Weg ist, diesen verwerflichen Bann zu brechen und sowohl das unschuldige Kind als auch die Unversehrtheit von Minister Dime zu retten ja“, erwiderte die Sprecherin der nordamerikanischen Heilerzunft.
„Wir können doch nicht zusehen, wie Minister Dime im Bann des Catena-Sanguinis-Fluches unumkehrbaren Schaden anrichtet. Allein dieser Vertrag mit Vita Magica ist schon ein irreversibler Eingriff in unsere Werteordnung“, warf eine andere Heilerin ein, die aus Missouri stammte.
„Ja, die haben sich das fein ausgedacht“, grummelte Eileithyia. „Sie haben Dime mit dieser anderen Hexe zusammengetrieben und durch ihre Mixtur dazu gedrängt, miteinander zu schlafen. Wir waren schlicht nicht auf einen derartigen Angriff vorbereitet“, seufzte sie noch. Damit hatte sie einmal mehr gesagt, dass sie Dimes Zustand als Folge eines Angriffs einstufte, eine bewusste Beeinträchtigung seiner körperlichen und geistigen Freiheit. Und wenn sie nicht bald dahinterkamen, wer die gewissenlose Hexe war, die diesen Fluch ausgeführt hatte und es nicht gelang, ihr das Kind oder die Kinder wegzunehmen und im Uterus einer anderen Hexe ausreifen zu lassen, würde der Minister alles tun, was diese Verbrecherin von ihm verlangte, weil der Fluch einen unüberwindlichen Selbsterhaltungstrieb erzeugte.
„Ich möchte zum Schluss noch anmerken, dass unsere Sondergruppentreffen womöglich bald bei Anthelias Schwesternschaft bekannt werden. Sie könnte daraus den Schluss ziehen, dass etwas im Bereich der Medimagie sehr geheimnisvolles im Gange ist. Außerdem wissen wir immer noch nicht, wer außer Beth McGuire noch so zu ihrer Schwesternschaft gehört“, sagte Leda Greensporn. Ihre Großmutter nickte bekräftigend. Ja, diese heimlichen Treffen konnten schon gewisse Vermutungen aufwerfen. Doch sie mussten sie ja nicht mit der Nase darauf stoßen, dass der Minister Opfer eines progressiven Körper-und-Geist-Fluches geworden war. Denn sie alle hier wussten nicht, dass Anthelia das schon längst herausgefunden hatte.
Zur selben Zeit, wo im Haus von Roberta Sevenrock das Treffen der heilkundigen Hexen aus der besonnenen Schwesternschaft stattfand jagte Anthelia einem ganz anderen drohenden Unheil nach. Denn sie hatte über Louisette und Albertine erfahren, dass Ladonnas Rosenrubinring auf einem Überwachungsbild in der Nähe der Universitätsparkplätze zu sehen war. Die bereits namentlich bekannte Rose Britignier hatte ihn an der rechten Hand getragen. Außerdem passte ein über mehrere dunkle Kanäle abgezweigter Untersuchungsbericht der nordamerikanischen Kriegsmarine dazu, dass einer ihrer unbemannten Aufklärer, eine sogenannte Drohne, mit einem roten Lichtstrahl vom Himmel gebrannt worden war.
„Es muss was wie mein seliges Seelenmedaillon sein, was diese Viertelveela aus dem Ring gemacht hat“, dachte Anthelia. Ihr war klar, dass der Ring die Trägerin unterwerfen und in Ladonnas Sinn handeln lassen konnte. Vielleicht gewährte er der Trägerin sogar nach außen wirkende Zauberkräfte.
„Das hätte Sardonia sich wohl nicht gedacht, dass der von ihr weggeworfene Ring wie ein australischer Bumerang zurückkommt und den Willen seiner Macherin erfüllt“, dachte Anthelia. Sie zog bereits gewisse Parallelen zu ihrer Wiederverkörperung. Dieser waren mehrere Monate vorausgegangen, in denen sie mit Pandora Straton in geistigen Kontakt gestanden hatte. Wenn Ladonnas Ring wahrhaftig einen Teil oder sogar die ganze Seele seiner Schöpferin in sich trug, dann war diese Lehramtsstudentin eigentlich nur noch dadurch zu retten, dass jemand ihr den Ring abnahm und diesen dann im Dämonsfeuer verbrannte. Warum hatte Sardonia das nicht gleich so gemacht?
Als Anthelia noch einmal die Erinnerungen Sardonias nachbetrachtete wusste sie, warum der Ring nicht zerstört werden konnte. Selbst das bei anderen Gegenständen so zerstörerisch wirkende Dämonsfeuer erlosch, sobald es den Ring berührte. Ihm mussten Kräfte des Feuers eingewirkt worden sein, die über die schwarzmagischen Scheinexistenzen der Dämonsfeuerkreaturen erhaben waren, ähnlich Yanxothars Klinge. Am Ende bedeutete das, dass nur die Feuerklinge Yanxothars und der Mantel Sardonias dem Ring gewachsen waren. Vielleicht konnte der Ring auch mit der Feuerklinge zerstört werden. Doch nach dem unheilverheißenden Treffen mit Pickmans mächtigster Ausgeburt wusste Anthelia, dass auch das Feuerschwert nicht unbesiegbar war. Aber womöglich konnte es ihr verraten, wie sie ihre Mitschwestern vor Ladonnas Ring schützen konnte. Doch jeder Versuch, Yanxothars im Schwert verankerten Geist zu befragen misslang. Er schwieg sich einfach aus. Da konnte Anthelia/Naaneavargia bitten und fordern wie sie wollte. Sie erinnerte sich, dass Yanxothars Geist ihr bei der letzten gedanklichen Unterredung verkündet hatte, ihr nicht mehr zu helfen, außer durch die Macht des Schwertes selbst. Das war bei der Aushebung von Gooriaimirias Kloster und der Enthüllung, wer die Hohepriesterin der schlafenden Göttin war.
Am Nachmittag bekam Anthelia noch einen Brief aus Deutschland. Albertine Steinbeißer verkündete darin zwei Dinge: Zum einen war nun gerichtlich bestätigt, dass sie von ihren Eltern enterbt war, weil sie wegen ihrer homophilen Lebensweise die seit Alters her bestehende Pflicht zur Blutlinienbewahrung missachte. Zum zweiten schilderte sie der höchsten Schwester noch einmal, wie sie die gegen Vengor alias Wallenkron fechtenden Schatten gesehen hatte und vor allem jene aus purer Schwärze bestehende Frauengestalt, die zu einer sechs Meter großen Riesin angewachsen war.
… Diese Riesin hat sich abgesetzt, als die Babyköpfe anrückten. Da war Kanoras womöglich schon vernichtet. Ich gehe davon aus, dass sie in einer dunklen Höhle Zuflucht gefunden hat und nun überlegt, wie sie weiterexistieren will. Ich mach mir jetzt aber Sorgen um die vier Muggel, die den Überfall von Kanoras‘ Schatten überlebt haben, als dieser sich nach den Jahrhunderten wieder geregt hat. Es könnte sein, dass diese Schattenfrau sich für Kanoras‘ Erbin hält und in seinem Sinne weitermacht. Oder sie hält sich für eine befreite Sklavin, die nun, wo sie mehr Macht als alle anderen hat darauf ausgeht, diese Macht zu vermehren. Deshalb könnte sie auch die vier Studenten suchen und ernsthaft gefährden, die Kanoras damals entkommen sind. Ich habe das schon mit meinem Vorgesetzten besprochen, dass die vier betreffenden jungen Leute von Lichtwächtern beschützt werden. Ich wollte dir nur sagen, dass die Angelegenheit mit Kanoras‘ Schatten wohl noch nicht ausgestanden ist. Außerdem wissen wir ja auch nicht, was Vita Magica Wallenkron aus dem Kopf herausgezerrt hat und jetzt als neues Geheimnis hütet. Da könnte noch was übles auf uns alle zukommen, höchste Schwester.
„Für wahr, Schwester Albertine. Da könnte noch was übles nachkommen“, dachte Anthelia.
„Höchste Schwester, die Inobskuratoren mussten nach Puerto Rico, weil dort ein Pulk Dementoren aufgetaucht ist“, vermeldete Beth McGuire, die wen in der Bekämpfungstruppe dunkler Magie kannte, der aber nicht wusste, dass sie in gewisser Weise auch auf der dunklen Seite stand.
„Als wenn das von Wallenkron und Pickman beschworene Unheil nicht schon genug angerichtet hat“, schnaubte Anthelia. „Werden die Leute dieser Ungeheuer zumindest Herr?“ wollte Anthelia wissen.
„Die trauern den beim verpatzten Sturmangriff auf die chilenische Niederlassung von VM verlorengegangenen Incantivacuum-Kristallen nach“, erwiderte Beth. „Aber die meisten von den eingesetzten Außentrupplern können den Patronus. Es könnte aber auch nur ein Test sein, wo die Dementoren sich ungehindert bewegen können oder wie lange es dauert, bis jemand kommt, um sie zu bekämpfen.“
„Ja, diese Biester sind intelligent genug, um sowas zu versuchen“, erwiderte Anthelia. „Wir müssen herausbekommen, wo die sich eingenistet haben. Dieser Brut muss ein für alle mal der Garaus gemacht werden. Sonst sind alle Zukunftspläne nichtig.“
„Wir bleiben dran, höchste Schwester“, sagte Beth McGuire. Dann verließ sie die Daggers-Villa auf ihrem Bronco Centennial.
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Da Julius Sternennacht nicht erwähnen durfte gab er in seinem Bericht nur an, dass er eine dunkelhaarige Veela in der Nähe von Sofia getroffen hatte, die ihm erzählt habe, dass sie Dunkelmond heiße, aber dies nur ein Deckname sei. Denn, so die befragte Veela, sie habe sehr schlechte Erfahrungen mit Ministeriumsleuten gemacht und sei nur deshalb zu einer Befragung bereit gewesen, weil sie zum einen von ihrer Artgenossin Léto gefragt worden war und zum anderen selbst eine Stimme gehört hatte, die aus weiter Ferne geklungen sei und die einer gerade erwachten, aber schon erwachsenen Frau gehörte, die sich sehr über ihr Erwachen gefreut habe. Als Vendredi das hörte lachte er erst. „Welches grüne Einhorn hat denn noch bei Ihnen an den Blumen gefressen, Monsieur Latierre? Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Aber wenn Sie darauf ausgehen, uns alle in Panik zu versetzen bin ich heute noch bei Ministerin Ventvit und beantrage ihre Suspendierung einschließlich einer eingehenden psychomorphologischen Untersuchung“, sagte er. Julius überlegte, ob er Vendredi frech antworten sollte, dass Ministerin Ventvit gerade in Lissabonn war. Doch da klopfte es an Julius‘ Bürotür. Er sagte ruhig herein. Hereintrat Léto zusammen mit Sternennacht. Die schwarzhaarige Veela wirkte sehr missmutig. Doch sie betrat das Büro und verströmte unvermittelt jene Präsenz, die männliche Menschen vom Teenager bis zum Greis um den Verstand bringen konnte. Léto sagte mit einer Spur von Verbitterung in der Stimme:
„Monsieur Latierre hat mir gestern zu verstehen gegeben, dass es sehr wichtig ist, dass wir Veelas mit Ihnen vom Ministerium zusammenarbeiten müssen. Denn wenn da wirklich eine zu gewissen Anteilen von meiner Art abstammende aus einem langen Schlaf erwacht ist, so geht diese sicher auf Untaten aus.“ Dann stellte sie die Begleiterin mit ihrem Decknamen Dunkelmond vor und erwähnte, dass sie für diese übersetzen müsse, da sie aus Bulgarien käme. So erfuhr Vendredi zusammen mit Madame Nathalie Grandchapeau, was Julius schon seit Tagen wusste, aber offiziell erst gestern herausbekommen hatte. Sternennacht alias Dunkelmond bekräftigte, dass sie das nur erzählte, weil sie fürchtete, dass die verschiedenen Zaubereiministerien ihre Artgenossen für alles büßen lassen würden, was die Wiedererwachte anstellte. Als sie gebeten wurde, auf einen Eidesstein zu schwören strahlte sie noch mehr ihrer besonderen Kraft aus. Nur Julius hatte sich in weiser Voraussicht mit dem Lied des inneren Friedens dagegen abgeschottet. „Ich brauche auf keinen mit dunkler Kraft aufgefüllten dunklen Stein zu schwören. Mokusha, meine Urmutter, ist Zeugin, dass meine Erlebnisse so waren“, sagte Sternennacht in der Sprache der Veelas. Léto übersetzte es. Vendredi wusste nicht, was er machen sollte. Er war hin und weg von der schwarzhaarigen Schönheit. Nathalie Grandchapeau hingegen klammerte sich an ihrem Stuhl fest und funkelte die Veela zornig an. „Können wir also gehen?“ fragte Léto. Vendredi stammelte nur was von wegen: „O, sie müssen schon gehen. Schade.“ Dann nickte er. Die zwei Veelas verließen das Büro. Nathalie entspannte sich wieder.
„Ich hoffe mal, dass damit alles bestätigt ist, was ich ermittelt habe. Dunkelmond hätte sich sicher nicht hergetraut, wenn sie nicht selbst davon überzeugt gewesen wäre, dass es für ihre Artgenossen das bessere Los ist“, sagte Julius.
„Sie bleiben an dieser Sache und nur an dieser Sache dran“, sagte Vendredi, bevor er gänzlich aus dem tranceartigen Zustand erwachte, in den Sternennacht ihn versetzt hatte. Als er merkte, dass die beiden Veelas ihn regelrecht überrumpelt hatten sagte er sehr erbost: „Halten Sie mir diese Weiber bloß vom Hals, Latierre, sonst belange ich Sie wegen mutwilliger Missachtung Ihres Vorgesetzten, vielleicht sogar wegen fortgesetzter Aufsässigkeit. Bedenken Sie, dass Sie meinerseits immer noch auf Bewährung sind!“ Sprach’s und verließ mit zornesrotem Gesicht das Büro von Julius Latierre.
„Dieses Frauenzimmer hat mich förmlich in mich selbst zurückgedrängt“, knurrte Nathalie. „Das kann von diesem verflixten Zauber Euphrosynes kommen oder einfach nur die volle Macht dieses schwarzhaarigen Biestes sein. Ich begebe mich auch in mein Büro. Befolgen Sie bitte Monsieur Vendredis Anweisung, auch in meinem Auftrag!“ Dann ging sie. Julius war alleine. Er dachte an Demetrius. Wie hatte der das empfunden, dass seine Mutter dermaßen niedergebügelt worden war?
Immerhin genehmigte Vendredi ihm die Urlaubstage, um zu Aurora Dawn hinzufahren. Das teilte Julius seiner Frau am Ende des Arbeitstages mentiloquistisch mit.
„Dann treffen wir uns bei Aurora. Ich habe von Gilbert und der Ministerin die Genehmigung, bei unserer Australienrundreise einen Tag Pause zu machen“, schickte sie zurück. Julius bestätigte es. Er dachte mit schlechtem Gewissen daran, dass er Millie bis auf weiteres nicht erzählen durfte, dass er mit Faidaria den Pokal der Verbundenheit benutzt hatte. Wie würde sie es aufnehmen, wenn er es ihr irgendwann später mal erzählen mochte?
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Aurore Latierre freute sich lauthals, als sie ihre Maman am Hafen von Mumbai an Bord kommen sah. Julius überließ es seiner Tochter, Millie zuerst zu begrüßen. Dann trat er vor. Die zwei Eheleute umarmten und küssten sich leidenschaftlich. Julius machte ein Kompliment über Millies gerundete Figur.
„Gilbert hat mir gestattet, dass ich mit euch wieder nach Hause fahre. Die Amerikarundreise will er dann doch lieber mit der Ministerin machen, auch wenn Ministerin Ventvit das eigentlich sehr in Ordnung fand, drei Reporterinnen mitzuhaben. Aber offenbar hat dem Vetter meiner Mutter nicht so gefallen, dass der Miroir ihn runtergemacht hat, eine schwangere Hexe auf Weltreise zu schicken, ohne eine Heilerin dabei zu haben. Dabei war die Ministeriumsheilerin Anne Laporte mitgekommen, nicht eigentlich wegen mir, aber wegen der ganzen Tropenkrankheiten, die in Indien und anderswo so zu kriegen sind.“
„Ich habe Gilberts Antwort gelesen, zumal die Ministerin ja von den Staaten aus nach China und Japan und dann nach Indien will. Da kennen die noch keine Reporterhexen.“
„Auf jeden Fall schön, dass wir wieder zusammen sind“, erwiderte Julius.
„Ach ja, wo du einen ganzen Tag lang mit reinrassigen Veelas zusammen gewesen bist?“ erwiderte Millie ein wenig pickiert. Julius nickte und erwiderte:
„Ach, hast du das gefühlt, dass ich mich andauernd anstrengen musste, von denen nicht doch noch überrumpelt zu werden? Ich muss echt sagen, dass ich von überirdisch schönen Frauen erst mal genug habe und lieber wieder mit normalen Frauen zu tun haben will, solange das geht. Aber reden wir hier auf dem Schiff nicht davon.“
„Okay, du hast schon eine Familienkabine?“ fragte Millie. Julius nickte und winkte Aurore, ihrer Maman zu zeigen, wo sie wohnten. Millie ließ ihre zwei Schrankkoffer mit dem Locomotor-Zauber hinter sich herfliegen, während Julius Chrysope auf dem Rücken trug. „Tante Trice hat eine Kabine für sich. Sie hat darauf bestanden, dass du eine eigene Heilerin dabei hast, solange du nicht im Tross der Zaubereiministerin reist.“
„Konntest du ihr das nicht ausreden? Ich habe gehofft, mal zwei Tage ohne dauernde Begutachtung rumlaufen zu können. Ich bin doch nicht zum ersten mal schwanger, zum dreigeschwänzten Drachen noch mal.“
„Weiß sie, weiß ich und trotzdem …“ erwiderte Julius.
Die Kabine war wie damals, wo sie schon mal von Amerika aus nach Australien gefahren waren. Als Millie ihre Koffer sicher untergestellt hatte baute sie das größenveränderliche Waschfass mit den eingebauten Reinigungsbürsten auf, um die Wäsche der letzten Tage sauber zu kriegen. Da sie gerade unter lautem Geläut der Schiffsglocke ablegten hatten sie genug Wasser unter dem Kiel, um genug reines Wasser in das Fass zu beschwören. Béatrice Latierre kam in die Kabine und erkundigte sich nach Millies Wohlbefinden. Als Millies Tante hörte, dass ihre Nichte nach der Willkommensfeier für Aurora Dawns Pflegetochter mit nach Frankreich zurückfahren würde war sie sichtlich erleichtert.
Millie verschlief einen Großteil der Überfahrt. Offenbar hatte sie das tägliche Reisen und die ellenlangen Interviews mit den verschiedenen Zaubereiministern doch mehr zugesetzt, als sie zugeben wollte. Da Julius schon auf der Fahrt nach Mumbai vieles mit seiner Schwiegertante Béatrice besprochen hatte, auch die mögliche Rückkehr Ladonna Montefioris, vertrieben sie und er sich mit Aurore die Zeit auf dem Sonnendeck, wobei sie großzügig Sonnenkrauttinktur benutzten, um von der südlichen Sonne nicht verbrannt zu werden. Bei der gelegenheit tranken sie auch einen Hitzewiderstandstrank, der sie einen vollen Tag lang gegen die hier herrschende Gluthitze schützte.
Als das magische Überseeschiff im versteckten Hafen von Sydney anlandete freute sich Julius, bald wieder mit Aurora Dawn zu sprechen. Béatrice freute sich auch. Denn sie wollte von Aurora wissen, wie das damals war, als sie für das Buch vom kleinen Hexengarten um die Welt gereist war. Sollte nach Millies dritter Niederkunft keine andere aus der Familie auf ein weiteres Kind hinplanen wollte sie nämlich auch eine längere Reise machen, um für ein Buch zu recherchieren und praktische Erfahrungen zu sammeln.
Da Béatrice vorsorglich genug Ortszeitanpassungstrank mitgenommen hatte konnten sie und ihre Verwandten über drei Jahren sich mit einem winzigen Schluck auf die hier gültige Zeit einstimmen. In Sydney war es gerade neun Uhr morgens. Julius wusste bis heute nicht warum der Trank für Kleinkinder und Säuglinge nicht empfohlen wurde, aber er nahm das einfach als gegeben hin, dass Aurore sich selbst an die hier geltende Zeit anpassen würde, zumal sie ja am Abend wieder von hier losfahren würden, um noch am 21. Januar mitteleuropäischer Zeit nach Hause zu kommen.
Aurore sah ihre Beinahe Namensvetterin, weil sie mal wieder auf Julius‘ Schultern ritt und deshalb den vollständigen Überblick hatte. Sie rief: „Huhu, Tante Rora!“ und winkte mit ihren beiden kurzen Armen. Aurora Dawn winkte zurück. Auf ihrem Rücken trug sie ein rosarotes Tragetuch, aus dem ein runder Kopf mit dunkelblondem Flaum herauslugte. Das fiel natürlich auch Aurore Latierre auf und sie kiekste freudig „Bébé“.
„Deshalb sind wir hier, Chérie“, sagte Julius auf Französisch. Dann trug er seine Erstgeborene nach vorne. Béatrice hatte ihre Großnichte Chrysope auf ihren Rücken geladen, weil Millie selbst ja schon wen neues in ihrem Leib trug.
„Hallo zusammen! Habt ihr eine gute Überfahrt gehabt?“ begrüßte Aurora Dawn die Besucher. Dann umarmte sie jeden einzelnen, auch ihre Kollegin Béatrice.
„Bébé“, trällerte Aurore und sah auf das pausbäckige Gesichtchen des Kindes im Tragetuch. Julius fiel die junge Hexe im veilchenblauen Trägerkleid auf, die sich bisher weiter hinten aufgehalten hatte. Sie mochte so alt wie Béatrice Latierre sein, war aber kleiner und etwas rundlicher. Dafür schien sie jedoch voller Energie zu stecken, die nur mühevoll gebändigt wurde. Sie hatte schwarzes Haar, ähnlich wie Aurora, nur dass ihr Haar in Ringellöckchen frisiert bis auf ihre Schultern fiel. Außerdem hatte sie dunkelbraune Augen, genauso wie die Dusoleil-Hexen. Scheinbar schien die junge Hexe sich nur für das am Kai vertäute Segelschiff mit den drei ausgefahrenen Laufplanken zu interessieren. Doch Julius entging nicht, dass sie dabei immer wieder Aurora und ihre lebende Last im Blick behielt.
„Und das ist deine Pflegetochter Rosey?“ fragte Julius laut genug, um nicht zu rufen, aber von mehr als nur den mit ihm zusammenstehenden Hexen verstanden zu werden.
„Ja, das ist Rosey. Rosey, das sind Julius, seine Frau Millie und das ist deren Kronprinzessin, die fast so wie ich heißt“, säuselte Aurora Dawn und hob die kleine Last von ihrem Rücken. „Ach, und Béatrice ist auch da“, flötete sie und deutete dann auf Chrysope. „Dass Millie dir ihr Kind zu tragen überlässt erstaunt mich aber jetzt“, feixte sie. Im Moment sprach sie Englisch, weil das hier eben die übliche Sprache war und alle ihre Besucher die Sprache konnten.
„Nur bis zum Ausgang, dann kommt sie in den Tragekorb“, erwiderte Béatrice Latierre.
„Flora, komm bitte auch zu uns!“ rief Aurora und sah dabei die Hexe mit den schwarzen Ringellöckchen an. Diese nickte und kam in sprechweite. Julius und seine Familie wurden ihr und sie ihnen vorgestellt. Sie hieß Flora Boddington und hatte während Auroras „Studienreise“ ihre Niederlassung in Sydney betreut.
„Von Ihnen hab‘ ich natürlich auch schon viel gutes und spannendes gehört“, erwiderte Flora und knuddelte die sie einen Kopf überragenden Besucher. „Schön, Sie einmal in Natura zu sehen.“
„O, in Natura? Dann müssten wir ja nackt rumlaufen“, entgegnete Julius keck. Flora grinste ihn an und erwiderte: „Müssen Sie nicht. Ich habe ein sehr gutes Vorstellungsvermögen.“ Das konnte Julius nicht abstreiten, weil Flora ja auch eine Heilerin war.
„Laura hat uns beiden heute freigegeben. Warum habt ihr meine Eltern nicht auch mitgebracht?“ fragte Aurora.
„Wollten die auch mit dem Schiff kommen?“ fragte Julius. Aurora wiegte den Kopf. „Die haben mir das nicht gesagt, nur dass sie pünktlich zur Feier da sein wollen.“
„Wenn deine Mutter von McGonagall freigekriegt hat“, sagte Julius darauf. Das brachte Aurora zum grübeln. Doch dann sagte sie: „Sie wird meinen Vater garantiert nicht alleine nach Australien lassen, wo der am Weihnachtstag hauptsächlich mit seinen Kumpels aus der Cockaburra-Farm zusammenhing und spät abends sehr stark angeheitert zurückkam. Womöglich erzählt er dir das, wenn ihr mal von Mann zu Mann reden könnt. Aber du hast ja einen ziemlich gedrängten Zeitplan, hat unsere Bilderverbindung gemeldet.““
„Wahrscheinlich haben sie das Schiff genommen, dass um ein Uhr aus Singapur ankommt, Aurora“, sagte Flora. Das genügte der Mutter von Rosey als Antwort.
Als sie durch die Besucherregistrierungsschranke durch waren bestiegen sie alle mitgebrachte Besen, wobei Aurora und Flora auf einem Familienbesen ritten, die kleine Rosey in einem Tragekorb in der Mitte. Julius und Millie ritten auf ihrem eigenen Familienbesen, der ebenfalls einen Babytragekorb besaß. Aurore klammerte sich hinter ihrem Vater fest, Millie umarmte beide. Dann ging es im gemächlichen Flug über unbesiedelten Boden zu Auroras Haus, das Julius schon seit dem elften Lebensjahr kannte. Unterwegs trafen sie sich mit weiteren Bekannten Auroras.
Als sie alle gelandet waren durften die Gäste mitgebrachte Geschenke für die Kleine in einen Raum legen. Die Latierres hatten für Rosey eine Planschnixe und einen rosaroten Schlummerdrachen mitgebracht.
Um elf Uhr Ortszeit kamen Bethesda Herbregis und Laura Morehead herüber. Aurora mentiloquierte Julius: „Laura weiß, dass Millie und du wissen, wie die kleine Rosey zu mir gekommen ist. Aber sprecht bitte nicht hörbar mit ihr darüber!“
„Ah, Madame und Monsieur Latierre. Schön, Sie auch hier anzutreffen“, grüßte Laura Morehead Millie und Julius. Dann gab sie Aurore die Hand und säuselte, dass sie ja richtig süß aussähe.
„Und wie stehen die Dinge in Paris?“ fragte Laura die Besucher aus Frankreich.
„Na ja, wir müssen auch einiges reparieren, was der selbsternannte Erbe von Lord Unnennbar und sein verrückter Malergeselle so angestellt haben“, sagte Julius. „Dazu kommen noch die Nachtschwärmer und die Leute, die meinen, jeden tag tausend kleine Hexen und Zauberer auf die Welt kommen lassen zu müssen.“
„Also dasselbe wie bei uns, nur dass wir hier gerade mehr Ärger mit den Ureinwohnern haben, weil dieser Malergeselle es gewagt hat, die Magie der Ureinwohner zu verhöhnen und sowohl meine Kollegen als auch Ministerin Rockridges Abteilungen damit zu tun haben, mögliche gegen uns Europäischstämmige gezielte Flüche zu erkennen. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir diesen Knochenzeigern und Geistertreibern durch eine vernünftige Übereinkunft beikommen können. Viel mehr Sorgen machen mir gerade die Schwarzfelskobolde, eine Abart der nordeuropäischen Kobolde, die jedoch durch das in diesem Land vorrätige Uraniumerz zu gefährlichen Abarten mutiert sind, die sich Kobolden und Menschen überlegen fühlen, solange sie nicht mit purem Blei in Berührung kommen.“
„Mutanten? Damit rechnen manche Herbologen und Magizoologen da wo Atomkraftunfälle passiert sind auch“, erwiderte Julius. Immerhin hatten Aurora Dawn und ihre damalige Mentorin Bethesda Herbregis den magischen Heilern die Gefahren aber auch Behandlungsmethoden bei Radioaktiver Verseuchung vermittelt.
„Na ja, aber Auroras Haus ist ja durch diverse Schutzzauber gegen die meisten feindlichen Wesen gesichert, wenngleich das mit dem Zauber, den Sie um Ihr Haus gelegt haben wohl noch nicht mithält“, wisperte Laura. Dann sah sie Julius genau an und mentiloquierte: „Um Roseys Zukunft wegen, bitte machen Sie kein Aufheben um ihre Entstehung und geistige Beschaffenheit!“ Julius mentiloquierte zurück:
„Ich offe, Aurora und sie kommen gut miteinander aus, jetzt, wo Rosey gesund auf die Welt gefunden hat.“
„Das hoffe ich auch, für beide. Immerhin habe ich Heather Springs auf die Welt geholt, die eigentlich Roseys Mutter hätte werden sollen.“ Damit stand für Julius fest, dass Roseys Geburt für Laura Morehead eine persönliche Angelegenheit war. Deshalb mentiloquierte er zurück: „Sind sie ihre Patin?“
„Das nicht. Das wird wohl Auroras junge Base Arcadia.“
„Ich hörte, Arcadia soll die Patin von der kleinen sein. Dann kommt sie auch noch?“ fragte Julius mit körperlicher Stimme.
„Ich hoffe, noch alle Verwandten Auroras zu sehen zu bekommen. Aber die kommen wohl später“, erwiderte Laura Morehead ebenfalls mit körperlicher Stimme.
Es war kurz vor Zwölf Uhr Mittags, als am Himmel etwas auftauchte, dass wie eine Libelle aus purem Gold aussah. Die vier durchsichtigen Flügel schwangen nicht, sondern wirkten wie die Tragflächen eines Segelflugzeuges. Das merkwürdige Objekt schien erst so groß wie eine natürliche Libelle. Doch dann erwies es sich als überlebensgroßes, am Ende zehn Meter langes Ungetüm mit goldenen Schuppen. Außer Aurora und Rosey starrten alle das monströse Insekt an, als es auf seinen sechs Beinen aufsetzte und dann die filigranen Flügel zusammenfaltete, in denen Julius ein Geflecht aus silbern leuchtenden Adern und Querverbindungen sehen konnte. Dann klaffte auch noch eine Luke auf Brusthöhe des gigantischen Insektes auf und wurde zu einer Treppe, aus der sich unterseitig kleine Füße ausklappten und oberseitig zwei Handläufe entfalteten. Damit war klar, dass es ein magicomechanisches Fahrzeug war.
„Haus der Morgendämmerung an Houston, die Libelle ist gelandet“, kommentierte Julius diese Landung mit amerikanischem Tonfall. Dann sah er, wie zunächst Arcadia Priestley ausstieg. Applaus brandete ihr entgegen. Dann stiegen auch ihre Geschwister, dann ihre Eltern, danach die jungen Eheleute Tom und Olivia Fielding und dann Auroras Eltern aus der goldenen Libelle aus. Pinas Schwester sah bereits sehr hoffnungsvoll gerundet aus. Julius konnte nicht anders, als einen Moment lang zu denken, dass Pina auch so hätte aussehen können, wenn er in Hogwarts geblieben wäre und sie und er doch zusammengefunden hätten.
„Jau, und ich dachte, ich hätte schon alles gesehen, was an magischen Fluggeräten da ist“, staunte Julius. Millie betrachtete die goldene Libelle, nachdem Regina Dawn herausgeklettert war. „Mit Temmie zu fliegen hat doch mehr lebendiges“, meinte sie dazu.
„Ist das eine australische Erfindung?“ fragte Julius Laura Morehead, die ebenfalls sehr aufmerksam die Landung der Libelle beobachtet hatte.
„Falls ja ist mir die Patentierung entgangen“, sagte Laura Morehead.
Nachdem noch mehrere Gepäckstücke aus der Luke herausgeschwebt und sicher gelandet waren fuhr sich die Treppe wieder ein, und die Luke fiel zu. Mit leisem Flappen schwangen die Libellenflügel, und das insektenförmige Fahrzeug verschwand in einer blau-silbernen Lichtentladung. Alle, die das sahen gaben Laute des Erstaunens von sich. Arcadia Priestley stellte sich hoch aufgerichtet vor die Zuschauer und verkündete:
„Keine Sorge, die Damenund Herren, unser individuelles Fluggerät ist nur in den Wartebereich übergetreten. Wenn wir wieder abreisen kann ich es unverzüglich daraus zurückrufen.“
„Das Fluggerät ist mir völlig neu und womöglich noch nicht für Australien lizenziert“, grummelte Laura Morehead. Julius tat so, als habe er das gerade nicht gehört. Es betraf ihn ja auch nicht persönlich.
Als die neuen Gäste die Hausherrin begrüßt hatten und Aurora ein paar Worte mit ihrer Mutter gewechselt hatte begrüßte June Priestley Julius und beglückwünschte ihn zu seinen zwei Töchtern. Als sie dann noch erfuhr, dass Millie bereits Kind nummer drei trug meinte sie: „Oha, da hast du dir aber eine sehr fruchtbare Partnerin erwählt, Julius. Auch noch meinen Glückwunsch zur vorzeitigen Beförderung in den Vollbeamtenstand. Jetzt sind wir ja doch noch Kollegen geworden.“ Julius bedankte sich bei seiner zeitweiligen magischen Fürsorgebeauftragten für die Komplimente und dafür, dass sie seiner Mutter geholfen hatte, sie gut aus England herauszukriegen, bevor die Wiederkehr des dunklen Lords offenbar wurde.
Als Arcadia sich von Julius knuddeln ließ fragte er frei heraus: „Seit wann gibt es dieses Libellenflugzeug denn bei euch im Angebot?“
„habe ich mit gerechnet, dass du mich das zu allererst fragst, Julius. Im Moment gibt es den von mir gerade hier angebrachten Prototypen und zwei kleinere Nachbauten für vier Personen und ihr Reisegepäck. Wenn wir die Verkaufslizenz für alle englischen Staaten kriegen werden unsere Langstreckenlibelloplane alles aus dem Wasser pusten, was es sonst noch auf der Welt an Langstreckenflugapparaten gibt, einschließlich der amerikanischen Parsec-Besen und der Himmelswürste, wie sie auch zwischen deinem Heimatort und Viento del Sol hin und herpendeln. Deshalb haben meine Leute und ich einen Wartezustand eingebaut, in dem sie ähnlich wie die Winkelgasse oder Gleis 9 3/4 einen eigenen Daseinsraum haben. Aber das gehört schon zu den Betriebsgeheimnissen, also bitte Psst gewissen thaumaturgischen Tausendsassern aus deiner Wahlheimat gegenüber.“
„Aber das Patent ist schon durch?“ fragte Julius.
„Yep!“ erwiderte Arcadia. Da kam Laura Morehead hinzu und fragte: „Ist es nicht ein wenig riskant, ein derartig innovatives Flugartefakt vor so großem Publikum vorzuführen, wenn Sie noch keine für Australien gültige Betriebslizenz haben?“
„Zum einen ist der Lizenzierungsvorgang schon in arbeit, Madam Morehead. Zum anderen habe ich unser Fluggerät ja genau deshalb gleich nach dem Verlassen in seinen Wartezustand versetzt.“
„Das Gerät sieht voll so aus wie die natürliche Vorlage“, stellte Millie anerkennend fest. Julius nickte.
„Das ist die Hohe Kunst der Biomaturgie, Millie und Julius, genau wie bei der Herstellung von magischen Prothesen“, sagte Arcadia Priestley. Julius hörte den Begriff Biomaturgie nicht zum ersten Mal. Florymont hatte ihn auch schon erwähnt. Das war die thaumaturgische Entsprechung dessen, was in der rein technischen Welt Bionik oder Biomimetik genannt wurde.
„Gut, ich bin nicht in der Handels- oder Verkehrsabteilung tätig, Ms. Priestley. Ich stelle nur fest, dass ich als Sprecherin der Heilzunft schon sehr gerne über flugfähige Menschenbeförderungsvorrichtungen orientiert sein möchte, auch um deren gesundheitliche Unbedenklichkeit einordnen zu können. Wenn also der von Ihnen erwähnte Lizenzierungsvorgang auch auf den betreffenden Tischen im Zaubereiministerium landet werden Sie nur dann die Betriebs- und vor allem Vertriebserlaubnis für Australien erhalten, wenn meine Zunft diese Unbedenklichkeit bestätigen kann.“
„Zur Kenntnis genommen“, erwiderte Arcadia ganz gelassen. Dann wandte sie sich an Millie und fragte sie, wie sie das hinbekam, zwei Kinder auf der Welt zu haben und dann noch einen ansprechenden Beruf auszuüben und bereits wieder auf Nachwuchs zu warten. Sie fügte noch an: „Meine Mutter wollte mir das bis heute nicht erzählen, wie das gehen kann. Ich weiß nur, dass es geht.“
„Da können wir zwei gerne mal drüber reden, wenn genug Zeit ist“, sagte Millie. Dass sie Französin war hörte ihr hier niemand an, worauf sie sogar ein wenig stolz war.
Als Auroras Vater Julius begrüßte meinte dieser: „Seitdem dein Nachbar Florymont Dusoleil diese Detektionsdrachen serienmäßig herstellt und meine Nichte Arcadia die Lizenz für den britisch-irischen Markt hat interessiert sich fast keiner mehr für meine Mitsehaugen für abgerichtete Greifvögel. Ich hörte aber sowas, dass es fast zu einem Streit gekommen ist, weil euer Ministerium unbedingt eine bewaffnete Version dieser Beobachtungsartefakte haben möchte.“
„Das berührt eigentlich schon die Vertraulichkeitsobergrenze, Hugo. Aber da Florymont Dusoleil das auch schon in der Temps de Liberté erwähnt hat kann ich dazu nur sagen, dass das Ministerium sich da mit anderen, weniger skrupelhaften Thaumaturgen geeinigt hat, um fernsteuerbare Tötungsvorrichtungen zu kriegen. Du bist ja in die Sache mit der grünen Gurga eingeweiht. Wegen der wurde dieses Zeug überhaupt erfunden“, sagte Julius. Hugo Dawn nickte.
„Und dir armen Burschen haben Sie jetzt ein eigenes Büro und einen leeren Schreibtisch gegeben, weil du denen sonst zu eigensinnig wärest?“ fragte Regina Dawn. Julius fragte zurück, wie sie darauf käme, dass er immer nur vor einem leeren Schreibtisch hocken müsse. „Na ja, die Fälle, wo Zauberwesen, die nicht gerade Vampire oder Werwölfe sind, mit Muggeln zu tun kriegen sind ja doch selten.“
„Es geht da vor allem um die Vorgänge, die bereits passiert sind und was sich daraus für künftige Vorgehensweisen ergibt“, sagte Julius. „Und mit der Arithmantik hast du seit den ZAGs nichts mehr zu tun?“ fragte sie.
„In gewisser Weise nur da, wo Zauberwesen auf besondere Anzahlen geprägt sind oder ich berunte Gegenstände selber machen möchte, um zu wissen, an welcher Stelle welche Rune sitzen muss, um die gewünschte Wirkung dauerhaft zu bringen“, sagte Julius. „Ansonsten mache ich mehr mit Mathematik und Computerprogrammierung.“
„Wie meine Schwester“, grummelte Regina. „Die wurde von Minister Shacklebolt zur Elektrorechnerbeauftragten ernannt. Dass die Neuwahl des Zaubereiministers um ein halbes Jahr verschoben wurde weißt du schon?“
„Häh?! Ich dachte, Shacklebolt wollte im Januar verabschiedet werden“, erwiderte Julius. Millie grinste und meinte: „Er hat sein Zimmer noch nicht aufgeräumt, Julius. Als ich mit unserer Ministerin kurz bei ihm war hat er sowas angedeutet, dass wegen der Sachen von Pickman und Wallenkron besser erst im Juni eine Neuordnung günstig sei, sofern nicht noch was neues dazwischenkommt. Arthur Weasley ist das ganz recht, weil der nun noch einen neuen Leiter des Büros zur Auffindung und Beschlagnahme von Muggelartefakten einarbeiten kann. Ja, und eben dass die Dementoren noch irgendwo in der Welt herumspuken hängt ihm immer noch wie Schlingschlamm an den Hacken.“
„Ich bin echt gespannt auf das, was du so alles zu berichten hast“, sagte Julius.
Als noch weitere Gäste aus Auroras Wahlheimat dazugekommen waren stellte sie allen, die sie noch nicht gesehen hatten ihre neue Mitbewohnerin vor: „Ladies and Gentlemen, Mesdames et Messieurs, Ms. Rosey Regan Dawn!“ Sie hielt das kleine Mädchen mit den dunkelblonden Haaren beinahe mit ausgestreckten Armen nach vorne. Das Baby trug nun ein apfelgrünes Kleid, dass bis zu den kleinen Füßen herabreichte, ähnlich einem Taufkleid in der magielosen Welt. Auf dem Kopf trug sie nun eine blütenweiße Mütze mit goldenen vierblättrigen Kleeblättern. Um den Hals hing eine bunte Kette mit einem rosaroten Schnuller. Alle klatschten. Julius sah die Augen des Säuglings. Das waren die Augen von Heather Redrobe. Eindeutig, Rosey hatte die Augen ihrer eigentlichen Mutter.
„Es war mir nicht leichtgefallen, mich dazu zu entschließen, die Pflegschaft für dieses kleine Menschenwesen zu übernehmen, weil ich als Mutter ja überhaupt keine eigenen Erfahrungen habe. Doch als ich hörte, dass ihre Verwandten allesamt zu Tode gekommen sind und sie womöglich irgendwo in Melbourne oder Adelaide bei einer ministeriellen Pflegefamilie hätte aufwachsen müssen entschloss ich mich doch, sie hier großzuziehen und ihr deshalb meinen Familiennamen zu geben. Rosey, schön, dass du bei uns bist!“ Wieder klatschten alle, als Aurora diese kurze Ansprache beendet hatte. Julius beobachtete die Gäste. Wer von denen wusste, was wirklich passiert war? Auroras Eltern wussten es, Laura Morehead und womöglich Flora Boddington, weil die ja Auroras zeitweilige Stellvertreterin war. Dann blieben nur noch Millie, Béatrice und er, die es auf eine ganz merkwürdige Weise mitbekommen hatten, dass Aurora Heathers Tochter in ihre Gebärmutter übernommen und sie ausgetragen hatte, weil Heather unbedingt einen noch nicht ausgereiften Flugbesen testen musste und damit verunglückt war.
Rosey entschuldigt sich bei allen, dass sie womöglich den Großteil der Feier verschlafen wird. Aber sie freut sich auf jeden Fall, dass so viele Leute gekommen sind, um ihr ein schönes Leben zu wünschen“, fügte Aurora noch hinzu, bevor sie Rosey in die mit einem faltbaren Baldachin versehene Wiege bettete.
Als sich alle wie bei einem Ritual mit Sonnenkrauttinktur eingerieben hatten und die aus England herübergekommenen Verwandten Auroras ebenfalls den Ortszeitanpassungstrank geschluckt hatten setzten sich alle zum Mittagessen hin, wobei Aurora und Flora darauf achteten, dass es keine Interessengruppenbildung gab. Schließlich sollte jeder mit jedem hier erst mal über alles andere als die eigenen Fachgebiete reden. Das galt wohl besonders für ihren Vater oder ihre Kollegin aus Frankreich. Millie und Julius saßen zusammen mit den Fieldings, was Millie natürlich gerne zum Anlass nahm, Olivia zu interviewen, wie sie mit ihrer ersten Schwangerschaft zurechtkam. „Außer, dass meine Schwester meinte, ich würde wie’n Hefeteig aufgehen fühle ich mich gerade ziemlich wohl. Aber ist schon ein komisches Gefühl, wen in mir drin zu haben, der sich immer wieder bewegt.“
„War nicht so einfach, sowohl unseren Hauskniesel als auch Olivias Vertrauensheilerin davon abzubringen, mit in dieses goldene Libellenflugding einzusteigen“, sagte Tom Fielding. „Meine Eltern kommen übrigens mit einem Portschlüssel. Die wollten sich erst im tropfenden Kessel treffen. Übermorgen soll hier in Sydney ein Stegreif-Klassentreffen abgehen. Da sind wir aber schon wieder in England.“
„Ihr habt einen Hauskniesel?“ fragte Julius Olivia zugewandt.
„Eine Sie, Lady Ginger, eine Tochter von Sonnenschein und Rubinfell, ein Geschenk zur Hochzeit. Beziehungsweise, die hat sich uns ausgesucht, als wir Rubinfells sieben Junge besichtigt haben und die Lady uns mit ganz hoch erhobenem Schweif entgegengesprungen ist und mir gleich auf die Arme.“
„Und ihr habt eure beiden Gartenwächter auch noch?“ wollte Tom wissen. Millieund Julius bestätigten das. „Da könnte man ja mal eine Kennenlernfete machen, wer von den Jungen von euren mit den Jungen von Sonni und Rubinfell genial zusammenpassen würde“, meinte Tom Fielding.
Julius wollte gerade was dazu sagen, als außerhalb der Grundstücksgrenze eine blaue Lichtspirale entstand, aus der eine rostige Badewanne erschien. An dieser hingen an die zwanzig Leute, von denen Julius alle von Olivias Hochzeit kannte, alles ehemalige Klassenkameraden von Toms Eltern und Aurora, sogar Eunice Dirkson war dabei. Hatte sie also echt für ein paar Stunden freibekommen.
Nachdem die Neuankömmlinge die bereits anwesenden Gäste begrüßt und sich für die eine Stunde Verspätung entschuldigt hatten holte Aurora noch ihre Rosey noch mal aus der Wiege und stellte sie mit vollem Namen vor. Danach verteilten sich die dazugestoßenen Gäste an die fünf aufgestellten Tische. So kam Julius auch in den Genuss, sich mit seiner ehemaligen Verwandlungslehrerin zu unterhalten. Die würde bis abends sechs Uhr Ortszeit hierbleiben und dann alleine wieder abreisen, da sie von Madame Faucon keine zwei Tage frei bekommen konnte, wo in Beauxbatons mal wieder ein sehr geburtenstarker erster Jahrgang zu unterrichten war und sie deshalb die europäischen Nachtstunden ausnutzen musste, um mal weg zu kommen. „Wenn Sie es hinbekommen, dass weder ich noch einer unserer Schüler Ihre Abwesenheit bemerkt statten Sie Mademoiselle Dawn gerne einen Kurzbesuch ab! Doch tragen Sie bitte Sorge, dass Sie am nächsten Tag wach genug sind, um Ihren Dienst zu versehen“, zitierte Eunice Dirkson Madame Faucons Anordnung. Julius erkannte, dass der Zeitunterschied da für die Lehrerin arbeitete und mit Wachhaltetrank jemand einen vollen Tag durcharbeiten konnte. Das kannte er ja auch aus eigener Erfahrung. nach dem leichten Mittagessen durften sich die Gäste doch zu kleinen Interessensgruppen zusammenstellen oder setzen. Millie bildete mit Olivia Fielding, Flora Boddington und Jessica Portland aus Auroras Nachbarschaft eine Gruppe, die über die Besonderheiten und zu erwartenden Dinge bei Schwangerschaften und Säuglingspflege sprachen. Béatrice hatte sich mit Aurora, Bethesda Herbregis und Laura Morehead zusammengesetzt, um ihr Rechercheprojekt zu bereden, bei dem es wohl um vergleichende Heilzauberkunst gehen würde, inwieweit die Stammeszauberer wie Medizinleute und Schamanen den hermetischen Heilzaubern überlegen waren oder nicht. Julius nutzte die Gelegenheit, mit June Priestley über die steigenden Anforderungen an die Computerabteilung zu sprechen, besonders nachdem neue Verbreitungsmedien entstanden waren, wo jedermann mit einer internetfähigen Videokamera Aufzeichnungen hochladen konnte. Tom Fielding hörte dem ganzen erst zu. Dann fragte er, wie lange die Geheimhaltung der Zaubererwelt noch aufrechterhalten bleiben konnte, oder ob es nicht zumindest mal zu besprechen war, ob sich die Zaubererwelt der sogenannten Muggelwelt offenbarte, bevor eine unkontrollierbare Aufdeckung von magischen Vorkommnissen passierte. Denn immerhin gäbe es ja auch auf der Seite der Ministeriumsfeinde wie den Werwölfen und den Spinnenschwestern wohl Computernutzer, die ganz locker ihre eigenen Sachen ins Netz stellen konnten.
„Mr. Fielding, da sprechen Sie etwas an, das ich bereits vor fünfzehn Jahren anzumerken genötigt war“, sagte June Priestley. „Eigentlich ist die Geheimhaltung nachrichtentechnisch nicht mehr lange aufrechtzuhalten. Andererseits sind die Gründe zu ihrer Einrichtung immer noch oder sogar mehr als bisher gültig. Gerade wo im Internet selbst immer mehr sogenannte Experten für übersinnliches, sowie fanatische Anhänger verschiedener Religionen und Pseudoreligionen tätig sind wäre eine Bestätigung der Existenz von Magie und magischen Wesen sehr bedenklich, weil die Folgen dieser Enthüllung unabsehbar sind. Deshalb bin ich zumindest froh, dass es immer mehr mit Computern vertraute Hexen und Zauberer gibt, die mithelfen, jeden Ansatz von Enthüllung unserer Existenz als bewusste Irreführung der Nutzer auszugeben. Allerdings entwickelt sich die Informationskultur der magielosen Menschen immer mehr zu einer Lawine, in der nachprüfbares und rein fiktives miteinander verwirbelt werden und zum teil gefährliches Ideengut blitzartig über die Welt verbreitet werden kann. In so einer Lage unsere Existenz zu enthüllen würde beide Welten ins Chaos stürzen. Ja, und genau das befürchten wir, die wir damit zu tun haben, wenn Gruppierungen wie Lykotopia oder die Spinnenschwestern oder Vita Magica die Möglichkeiten des Internets ausnutzen, oder, was auch fatal ausufern kann, wenn erwiesene Ablehner der magielosen Gesellschaft über Computer einen weltweiten Ausfall wichtiger Steuerungsvorrichtungen herbeiführen, dass es einen weltweiten Stromausfall und damit einhergehende Engpässe bei der Nahrungs- und Trinkwasserversorgung gibt. Es ist im Grunde eine Steigerung der Alarmsituation, was ein magischer Krimineller alles rauben oder wen er alles durch Drohung oder Gewalthandlungen zu Folgetaten treiben kann. Die Lykotopia-Anhänger sind da ja das beste Beispiel, wie beide Besorgnisgrundlagen zusammenkommen können.“
„Das ist völlig richtig. Deshalb war und ist es in Frankreich auch nach anfänglicher Ablehnung unverzichtbar geworden, eine eigene Computerabteilung zu haben. Unser Finanzabteilungsleiter hat einsehen müssen, dass es nicht genug Galleonen gibt, um den Schaden zu reparieren, der entsteht, wenn wir nicht auch mit dem Internet arbeiten“, erwähnte Julius. Dann fragte er Tom, ob er auch ins Ministerium wollte. Sein letzter Wissensstand war ja, dass Tom Fielding bei Arcadias Laden für Zaubergegenstände angefangen hatte. Tom erwähnte, dass er nie auf einen Ministeriumsjob scharf war, vor allem, weil sich dort die Muggelhasser am ehesten „reinwanzen“ würden, wenn wieder wer wie „der Irre mit dem Schlangenkopf“ auftauche. Das konnte Julius leider nicht völlig ausschließen, musste aber einwerfen, dass er froh war, doch noch für das Ministerium arbeiten zu können, nachdem die große Schlammschlacht wegen Grandchapeaus Nachfolge beendet war.
„Na ja, meine Mutter ist bei der Himmelswacht gut untergebracht, und mein Vater ist als Muggelkundelehrer in Hogwarts auch optimal untergebracht. Wenn unser Kind da ist überlegt sich Olivia, bei Mrs. Porter anzuklopfen, ob die ihr nicht eine Ausbildung und Anstellung in ihrem Schminkzeugladen anbietet. Also, Ministeriumsmäßig ist bei uns im Moment nichts in Planung.“
„Wie erwähnt, Tom, ich kann dich voll verstehen, dass ihr nach dem sogenannten Unnennbaren nicht viel vom englischen Zaubereiministerium haltet. Jeder geht halt seinen weg“, sagte Julius.
„Na ja, vielleicht gehe ich auch wieder nach Hogwarts und gebe denen da Zaubereigeschichte. Geht aber nur, wenn man Binns endlich beibiegt, dass sein Stil genauso tot ist wie er selbst, und das, so Auroras ehemalige Schulkameradin Dirkson und diverse andere Quellen in Hoggy, haben dem schon dutzende von Schulleitern vorher beizubiegen versucht und sind grandios gescheitert, weil Binns einen uralten magischen Vertrag zitiert hat, dass er solange unterrichten dürfe, solange er selbst sich für fähig genug halte. Der Vertrag ist zwar schon mehr als Dreihundert Jahre alt, aber leider nicht brechbar. Damals galt Binns als der Geschichtswissenschaftler. Aber mit dem seinem Stil will echt keiner außer so Superstrebern wie die legendäre Mrs. Weasley geborene Granger was zu schaffen haben.“
„Ach, Hermine Weasley. Die darf ich im Februar treffen, hat mein direkter Vorgesetzter mir schon angekündigt. Die will ja jetzt doch eine internationale Hauselfengewerkschaft auf die Beine stellen und das Hauselfenzuteilungsamt schließen, weil das den Hauselfen ungerecht wird“, warf Julius ein.
„Huch, soweit ich weiß ist die sicher im Büro für denkfähige Zauberwesen über der Jardinanegrenze, also da, wo du vor einem Monat noch gearbeitet hast“, sagte Tom Julius zugewandt. June entgegnete darauf, dass die junge Mrs. Weasley offenbar die Idee habe, als Befreierin der Hauselfen in die Zaubereigeschichte einzugehen.
„Womit wir wieder da sind, wo ich hinwollte. Denn wer kein Interesse mehr an Zaubereigeschichte hat gerät heftig in Schwierigkeiten, wenn er was neues machen will und nicht weiß, ob es das schon mal gab oder nicht“, sagte Tom Fielding. „Außerdem muss der Unterricht auch die Geschichtsschreibung der Muggelwelt mit einbeziehen, weil daraus ja auch viele Einflüsse auf die Zaubererwelt kommen, wie die Hexenangst im ausgehenden Mittelalter, der Wissensaustausch zwischen Abend- und Morgenland oder überhaupt die Tyranneien durch die Jahrhunderte, wo Hexen und Zauberer mal mitgemischt oder sich mal ganz bewusst rausgehalten haben. All das bringt Binns nicht im Unterricht. Aber solange der meint, er könne das noch unterrichten, solange arbeite ich lieber als Thaumaturg mit und knie mich gerade voll in die Biomaturgie rein. Damit kann ich wohl auch vielen Leuten helfen und auch bessere Transportmöglichkeiten hinkriegen als die altmodischen Besentragegeschirre.“
„Nicht jeder Fortschritt führt auf einen guten Weg, junger Mann“, sagte June Priestley. „Ich sehe gerade in der Nachahmung magieloser Technik eher gewisse Konfliktherde, weil sich viele Zauberer und Hexen um ihre Kultur, ihre Tradition und ihre Identität gebracht fühlen könnten.“ Julius konnte das nicht ganz abstreiten. Immer wenn etwas neues erfunden wurde gab es gleich Leute, die den Verfall der Zaubererwelt an die Wand malten. Das ging ja schon damit los, ob fliegende Teppiche genauso zulässig waren wie Flugbesen oder ob die Reise auf fliegenden Zaubertieren menschlicher war als die Erfindung von mit Magie betriebenen Fluggeräten, wie eben dieser Riesenlibelle. Arcadia Priestley, die bisher ruhig aber interessiert zugehört hatte meinte dazu:
„Na ja, aber wenn wir eines Tages doch wegen was auch immer gezwungen sein sollten, unsere Existenz zu enthüllen, dann sollten wir zumindest zeigen, dass wir auch gewisse technische Sachen machen können, um beispielsweise Ersatz für zu gefährlich angesehene Muggelmaschinen zu bieten. Denn eins ist doch ganz klar, Mum, Julius und Tom, dass wir in dem Moment, wo wir erklären, dass es die Zaubererwelt gibt, zwei Lager haben, das eine, dass uns abfordert, alle bestehenden Probleme zu lösen und das andere, dass jede Form von Magie rigoros ablehnt, eben auch aus Glaubensgründen. Deshalb stimme ich Tom zu, dass gerade in Fächern wie Zaubereigeschichte und auch Zauberkunst Kenntnisse aus der nichtmagischen Welt einbezogen werden sollten. Aber solange Binns seinen Vertrag einhalten kann und solange im Schulrat immer noch Leute sitzen dürfen, die jede Annäherung an die magielose Welt als Bruch der Zauberertraditionen und Verrat an der Zaubererwelt ansehen, auch wenn sie es nicht mehr so laut rufen wie zur Zeit von Ihr-wisst-schon-wem, wird da nichts dran geändert. Ja, und ich fürchte, Professor McGonagall wird das auch nicht haben wollen, solange sie Schulleiterin ist. Da müssten dann ganz neue Besen kehren.“
„Oder Staubsauger“, warf Julius ein. Tom lachte, Arcadia verzog ihr Gesicht und June blickte ihn tadelnd an.
Außer dem Thema, inwieweit eine Annäherung an die magielose Welt richtig oder verhängnisvoll sein mochte ging es noch um die Unterschiede von Hogsmeade und Millemerveilles. In Hogsmeade wollten sie auch eine das Dorf überdeckende Absicherung haben. Immerhin hätten die Todesser ja damals auch ein unsichtbares Netz aus Antiapparierzauber und Katzenjammerzauber errichtet. Dorfrat McElroy wollte das unbedingt durchsetzen, solange er Dorfrat war. Julius meinte dann nicht ganz ernst: „Dann soll er doch eine große Mauer um Hogsmeade ziehen, über die keiner drüberfliegen kann. Gab es in Hogwarts doch auch mal.“
„Als wenn eine Mauer jemals alle unerwünschten Eindringlinge zurückgehalten hätte. Wer das glaubt muss ein Muggel sein, der meint, ein Schild „Für böse Leute und fremdes Gesocks verboten“ würde ausreichen“, erwiderte Tom. „Nein, dem schwebt sowas wie dieser Schutzdom über eurem Dorf vor, wo böse Zauberer und durch dunkle Magie entstandene Wesen alle abprallen. Aber wie diese Glocke geht will ja keiner rauslassen.“
„Ja, und das aus dem guten Grund, dass die von einer nicht weniger grausamen Hexe errichtet wurde und diese dabei soweit ich weiß finstere Ritualmagie mit Opferungen benutzt hat. Aber vielleicht fragt der mal die Lady von den Spinnenschwestern, ob die weiß, wie Sardonia die Glocke erschaffen hat. Ich weiß nur nicht, welchen Preis die dafür verlangt“, erwiderte Julius.
„Öhm, ich denke, diese Idee ist absolut nicht praktikabel“, sagte June Priestley und warf Julius einen weiteren tadelnden Blick zu. Doch der machte ein Ist-doch-nicht-so-gemeint-Gesicht, und sie lächelte wieder.
So verging der Nachmittag, wobei die Gäste sich auch mal mit anderen Gästen trafen, um Geschichten von damals aufzuwärmen oder die nicht als Geheimnisse klassifizierten Sachen aus ihren jeweiligen Jobs auszutauschen. Einmal legte Aurora Dawn die kleine Rosey in Julius‘ Arme und sagte leise: „Halte sie mal für zwei Minuten, ich möchte deiner Schwiegertante ein paar Pflanzen zeigen, die ich aus Südamerika rübergeholt habe!“ Julius nickte und begann, die Kleine zu wiegen.
„Eh, ich will nicht schlafen, Julius. Ich bin froh, dass ich mal wieder andere Sachen hören kann als das Babygeblubber von den Portlands oder Flora Boddington“, hörte er eine Frauenstimme in seinem Kopf, die er lange nicht mehr gehört hatte. Dabei sah ihn Rosey mit weit offenen Augen konzentriert an. Er nutzte die fünf Mentiloquismusstufen, die ihm Jane Porter damals beigebracht hatte und schickte zurück:
„War das unangenehm, als du aufgewacht bist und gemerkt hast, dass du bei Aurora im Bauch warst?“
„Ich dachte erst, das wäre meine Nachtodunterbringung. Aber dann habe ich mich dran gewöhnt, bis mir das doch zu eng wurde. Ich bin aber heilfroh, dass Aurora mich gekriegt hat und nicht etwa die dicke Morehead. Der hätte ich mich nämlich garantiert nicht anvertraut“, schickte Rosey zurück.
„Du bist ja in guter Gesellschaft. In den Staaten muss ein ehemaliger Zaubereiminister neu aufwachsen, und ein Schulfreund von mir hat diesen Leuten von VM auf die Zehen getreten“, schickte er zurück.
„Na toll, einen von denen darf ich dann vielleicht heiraten, wenn ich wieder groß bin“, schickte Rosey zurück.
„Hat deine neue Mutter dir mitgeteilt, warum ich das wusste, dass du früher mal Heather Redrobe warst?“ gedankenfragte Julius. Rosey sah ihn weiterhin aufmerksam an und übermittelte zur Antwort:
„Ja, du hast in einer astralkörperform dieser Ashtaria eine Prophezeiung gehört, die von einer Tochter von zwei Morgenlichtern erzählt hat. Schon unheimlich, dass jemand vor langer Zeit wusste, dass ich nur deshalb als Heather geboren wurde, um als Baby von Aurora Dawn wiedergeboren zu werden. Ist ja auch irgendwie meine Schuld. Jetzt muss ich erst mal groß werden, möglichst nicht eher die Unschuld verlieren, bis ich diesen Auftrag erledigt habe, wegen dem ich überhaupt in meiner eigenen Tochter wiederverkörpert wurde.“ Sie erwähnte dann mit kurzen Unterbrechungen, dass sie eine Nargun darum gebeten hatte, ihrem Mann zu helfen, seine Schulden loszuwerden, damit ihr Kind, also Rosey, unbeschwert aufwachsen könnte. Dass der Besen einen Drang zur Sonne besaß hatte sie nicht gewusst. Jetzt musste sie aufwachsen, um die mit der Nargun ausgehandelte Gegenleistung zu erbringen. Welche das war schilderte sie nur soweit, dass sie dafür wohl zehn Jahre brauchen würde. Dann bedankte sie sich noch bei Julius, dass er Aurora diesesSelbstbeherrschungsmantrabeigebracht hatte. Das hatte ihr nämlich unter der Geburt sehr gut geholfen, um nicht doch noch vor Angst zu sterben. Dann wünschte sie Millie und Julius noch viel Spaß mit den beiden geborenen und dem noch zu kriegenden Kind und verhielt sich dann ganz wie ein natürlich entwickeltes Baby. Sie schrie laut, weil sie nicht bei ihrer Mutter war. Julius sang ihr ein beruhigendes Lied vor, bis sie aufhörte zu schreien und wieder mentiloquierte, dass sie doch nicht schlafen wolle. Doch dann machte sie die Augen zu. Aurora kam zurück und bedankte sich bei Julius für die zwei freien Minuten, die in wirklichkeit zwanzig waren.
Um kurz vor sechs Uhr abends verabschiedete sich Auroras ehemalige Schulkameradin Eunice Dirkson. Sie wünschte Julius und Millie noch eine schöne Zeit. Dann verschwand sie mit einem für sich selbst hergestellten Portschlüssel.
Nach dem Abendessen begaben sich die Latierres wieder zum versteckten Hafen von Sydney. Julius dachte einen Moment daran, dass er auch mit Aurora den Pokal der Verbundenheit hätte benutzen können, um mit Rosey auch über die große Entfernung mentiloquieren zu können. Doch dann erkannte er, dass er da besser nicht zu sehr drauf abheben sollte, dass Rosey Regan Dawn die Wiedergeburt von Heather Redrobe war. Rosey hatte es kurz vor dem Abschied noch mentiloquiert, dass die Gringottskobolde immer noch versuchten, die volle Höhe der von Cygnus gemachten Schulden zurückzubekommen und da zu gerne nach einem erbberechtigten Verwandten suchten. „Da puller ich lieber hundert Windeln voll als wegen diesen Langfingern zu verhungern“, hatte Rosey mentiloquiert.
Die Rückfahrt nach Frankreich nutzten alle, um auf Vorrat zu schlafen, auch wenn sie am Ziel wieder den Ortszeitanpassungstrank einnehmen würden.
Julius war froh, dass Millie doch schon wieder zu Hause war. So war das Apfelhaus in Millemerveilles nicht länger zu groß für ihn.
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„Und das ist jetzt ganz sicher, dass dieser Superior nicht mehr existiert oder noch irgendwas zu bestimmen hat?“ fragte Anthelia, als sie alle ihre Mitschwestern zu einer Lagebesprechung in die Daggers-Villa gerufen hatte. Außer Louisette, die wegen der Vereinbarung mit den Töchtern des grünen Mondes nicht in Anthelias Nähe durfte waren alle gekommen.
„Soweit wir mitbekommen haben sind mehrere Leute, darunter sogenannte Naturwissenschaftler und Maschinenkundler der Muggel verschwunden, und es wurden Nachrichten hinterlassen, dass sie einem besseren Zweck dienen sollen“, sagte Albertine Steinbeißer.
„Ich kann es nur so deuten, dass diese Leute, die meinen, sich auf eine Herrschaft nach dem Zusammenbruch der Zivilisation vorbereiten zu müssen, mit unseren Widersachern dieser sich Vita Magica schimpfenden Bande zusammengestoßen sein müssen und die nicht lange gefackelt haben, höchste Schwester“, sagte Romina Hamton.
„Ja, aber offenbar hat es Vita Magica nicht gereicht, mal eben mehrere Magieunfähige mit Gedächtniszaubern zu belegen und sie unauffällig in das, was die Unfähigen Zivilisation nennen, zurückzuschicken. Sie wollten klarstellen, dass hier wohl jemand eine rote Linie überquert hat. Das lässt mich vermuten, dass es um mehr ging, als einfach nur eine Entdeckung von Vita Magica, sondern um was persönliches“, erwiderte Anthelia.
„So wie das, was du mit Wishbone angestellt hast, weil er dich als seine Mörderin hingestellt hat?“ fragte Portia.
„Ja, sowas in der Richtung“, erwiderte Anthelia. Dann kam sie auf die Schattenriesin und ob schon genauer bekannt war, wer sie im früheren Leben gewesen war, um mit ihrem wahren Namen eine Bannvorrichtung zu erschaffen. Albertine sagte: „Wir wissen, wie die zwei Frauen früher hießen, bevor sie zu Schattendienerinnen wurden. Aber weil dieser Wirrkopf Wallenkron die unbedingt mit einem dunklen Verschmelzungszauber zusammenbacken musste ist das eigentlich wertlos, die zwei Namen zu kennen. Es war zum einen eine Ärztin namens Birgit Hinrichs und zum anderen eine lebenslustige heterophile Studentin namens Ute Richter. Aber jetzt sind die ein neues Wesen und damit nicht durch die Macht des wahren Namens zu bannen.“
„Du magst bessere Augen als ich haben, Schwester Albertine, aber bitte überlasse mir die Schlussfolgerungen, wann es nützlich oder gar wichtig ist, welche Kenntnisse genutzt werden können“, maßregelte Anthelia die deutsche Mitschwester. Diese grummelte nur was, sagte aber nichts laut. Was sie dachte behielten sie und Anthelia für sich.
„Gut, sollte dieses Schattenwesen sich wie du vermutet hast an die vier Überlebenden von Kanoras‘ erstem Überfall annähern will ich sofort darüber in Kenntnis gesetzt werden, egal wann und wo diese Annäherungsversuche stattfinden, Schwester Albertine“, forderte Anthelia.
„Und wenn die vom Ministerium schneller sind als die Meldung bei dir ist?“ fragte Albertine.
„Dann trotzdem, auch um zu erfahren, ob deine offiziellen Kollegen Erfolg haben oder nicht“, erwiederte die oberste der Spinnenschwestern.
„Verstanden, höchste Schwester“, sagte Albertine.
„Dann zu einem womöglich noch ernsteren Thema als Vita Magica oder diese Schattenfrau“, setzte Anthelia an. „Es steht zu befürchten, dass nicht nur ich einen Weg gefunden habe, nach vielen Jahrhunderten zurückzukehren. Aus den im sogenannten Arkanet verbreiteten Hinweisen von Julius Latierre und eigenen Nachprüfungen durch Schwester Romina habe ich die begründete Annahme, dass Ladonna Montefiori mittels eines Seelenaufbewahrungsartefaktes Zugriff auf einen lebenden Körper bekommen hat und diesen in ihrem Sinne führt oder, was ich mir sogar noch mehr vorstellen kann, ihren Wirtskörper dazu getrieben hat, ihren von meiner Tante Sardonia in den Schlaf der versteinerung gebannten eigenen Körper zu bergen und wiederzubeleben, um in ihm ihre damaligen Vorhaben zu verwirklichen.“ Sie wartete, bis die heftige Mitteilung bei allen gewirkt hatte. Dann sprach sie weiter: „Wie Sardonia wollte Ladonna eine Vorherrschaft der Hexen auf Erden erzwingen. Weil Sardonia jedoch keine Konkurrenz neben sich haben wollte und Ladonna ihrerseits wegen ihrer Abstammung von einer Veela die für diese Wesen typische Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit den Menschen gegenüber besaß kam es zu einem Hexenduell. Sardonia bannte die Gegnerin nach hartem Kampf mit dem von ihr erfundenen Saxasomnius-Zauber, da sie sie nicht in etwas für sie ungefährliches verwandeln konnte und auf gar keinen Fall töten durfte, um nicht ihr restliches Leben gegen rachsüchtige Veelas zu kämpfen, die ihr Blut für das ihrer Teilverwandten einfordern wollten. Mir geht es darum, zu wissen, ob Ladonna vollständig wiedererwacht ist, also mit Leib und Seele, oder ob sie über ihr Seelenartefakt einen Wirtskörper steuert, von dem sie möglicherweise getrennt werden kann. Ich gehe davon aus, dass sie genauso wie ich vor über acht Jahren zunächst einmal erkunden will und muss, was in der heutigen Welt stattfindet, inwieweit sich die Zauberergemeinschaften und die der sogenannten Muggel entwickelt haben und wer vor allem in der einen oder der anderen Welt Rang und Namen hat, um darauf die eigenen Machtpläne zu gründen. Sollte sie dieses Wissen bereits aus ihrem Wirtskörper bezogen haben steht zu vermuten, dass sie bald schon neue Vorhaben ins Werk setzt, vor allem solche, die eine Machtergreifung in den geheimen Hexenschwesternschaften beinhalten. Deshalb erbitte ich von euch allen, genau darauf zu achten, ob sich in euren Ländern irgendwas tut, dass auf eine neue, mächtige Hexe hindeutet, die als überragend schön, schwarzhaarig und sehr gewandt beschrieben wird. Ich zeige euch ihr Bild, wie ich es aus den Erinnerungen Sardonias entnehmen konnte.“ Damit ließ sie eine nichtstoffliche, räumliche Nachbildung von Ladonna in jenem schwarzen Kleid erscheinen, das sie während des Duells mit Sardonia getragen hatte. Sie ließ die Erscheinung wie eine Ballerina Pirouetten drehen, damit sie von allen Seiten gesehen wurde. Albertine musste ihre neuen Augen mehrmals zukneifen, um nicht andauernd durch die Projektion hindurchzusehen. Dann sagte sie:
„Die sieht superschön aus. Die würde ich sicher nicht von der Bettkante stoßen.“
„Du sie nicht, sie dich schon, Schwester Albertine“, erwiderte Anthelia. „Soweit ich aus allen Erinnerungen, die Sardonia ihrer rechtmäßigen Erbin, also mir, überlassen hat weiß ich, dass sie sehr viele Liebesabenteuer mit vor allem jungen Männern und unberührten Jünglingen gehabt hat, auch gerade mit solchen, die ihrem eigenen Machtstreben dienlich sein konnten.“ Für sich selbst dachte Anthelia/Naaneavargia, dass Ladonna ihr in dieser Hinsicht auf jeden Fall ebenbürtig gewesen war. Aber genau darin sah sie auch die Gefahr, die von dieser Halb-oder Viertelveela ausging, nämlich die, dass sie sich ähnlich wie eine der Abgrundstöchter ein Netz aus ihr verfallenen Liebhabern schaffen konnte, um in die magielose Welt hineinzufuhrwerken. Sicher, an einigen Stellen gab es gewiss gleichwertige Interessen, so im Bereich der naturverheerenden Maschinen und Wirkstoffe. Doch Anthelia gab sich keiner Illusion hin, dass Ladonna vordringlich die Alleinherrschaft über alle Hexen der Welt suchte und vor allem auch Blutrache an allen Nachfahren oder erklärten Nachfolgerinnen Sardonias üben würde. Bestenfalls entstand ein Gleichgewicht der Kräfte und eine klare Aufteilung der Herrschaftsgebiete. Schlimmstenfalls kam es zu einem blutigen Hexenkrieg, von dem nur die Unfähigen und die ihre Männlichkeit als Herrschaftsrecht anführenden Zauberer profitierten. Am Ende mochte Ladonna genau das herbeiführen, worauf sich dieser Muggel Superior gerne vorbereiten wollte, das Ende der rein technischen Zivilisation, allerdings nicht im geordneten Verzicht auf die verwerflichen Maschinen, sondern in der völligen Zerstörung der Menschheit. Es galt also, eher zu wissen, wo Ladonna oder ihre Erfüllungsgehilfin zu finden war, bevor sie wahrhaftigen Schaden anrichten konnte.
„Wir suchen nach der“, sagte Luisella Bonfiglio, eine Mitschwester aus der Gegend von Florenz. Denn sie fühlte sich ebenfalls angesprochen, weil die erwähnte Vorgängerin Sardonias vor allem in ihrem Landstrich Hexen vor die Wahl gestellt hatte, zu dienen oder zu sterben, ähnlich wie Sardonia es später mit dem Spruch „Zu meinen Füßen oder darunter“ bekräftigt hatte.
„Tja, und dann haben wir natürlich noch zu besprechen, was ihr von weiteren Aktivitäten dieser sogenannten schlafenden Göttin mitbekommen habt. Seitdem ich enthüllte, wer deren Hohepriesterin ist ist eben diese leider nicht mehr greifbar. Wir müssen also wen anderen erwischen, der oder die uns verraten wird, wie diese Organisation aufgebaut ist und wer ihr angehört.“ Dann ging es noch um die Kreatur Pickmans, die sich als zehnte Tochter des Abgrundes verstand. Hier wollte Anthelia den Weg der gegenseitigen Aufhetzung nutzen, um dieses Geschöpf gegen die orginalen Töchter des Abgrundes auszuspielen.
Ganz zum Schluss formulierte Anthelia noch einen Plan, wie die Angelegenheit mit Minister Dime behoben werden sollte. Wenn sie schon nicht an die Hexe herankamen, die durch den Blutkettenfluch den Minister an das Leben der von ihm gezeugten Nachkommenschaft gebunden hatte, so war doch ziemlich sicher, dass Dime auf kurz oder lang seine rechtlich angetraute Ehefrau verlassen würde. Denn der Blutkettenfluch klappte nur, wenn die ihn wirkende Schwangere Besitzansprüche an den Kindesvater stellte und diese auch in einer der bis zu vier Bedingungen verankerte, die während des Fluches selbst ausgesprochen werden mussten. Das war der einzige Schwachpunkt im Plan von Vita Magica, den Zaubereiminister der vereinigten Staaten von Amerika zu kontrollieren. Sie mussten ihn nutzen.
Als sämtliche Mitschwestern Anthelias in ihre Länder und Heimstätten zurückgekehrt waren las anthelia den Bericht, den Louisette Richelieu über Romina Hamton weitergereicht hatte. Demnach suchte Julius Latierre nach lebenden Verwandten der Veela, die mit Ladonna Montefiori verwandt gewesen war. Zwar hatte Anthelia den Bericht vorgelesen, aber nur dazu bemerkt, dass dass Catherine Brickston und die Liga gegen dunkle Künste wohl entsprechende Hinweise erhalten hätten. Doch insgeheim hatte sie beschlossen, diesen Umstand alleine auszunutzen und mit den der ältesten lebenden Verwandten jener Veela zusammenzutreffen, die Ladonnas Vorfahrin gewesen war. Vielleicht wusste die schon, ob nur der beseelte Ring oder gleich die ganze alte Rivalin aus dem Vergessen zurückgekehrt war.
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Am 25. Januar bekam Julius Besuch von Euphrosyne Lundi geborene Blériot. Sie trug ein hautenges Kleid, das ihre baldige Mutterschaft deutlich hervorhob. „Ich hörte von meiner Mutter und von meiner Großmutter, dass Sie nun ganz offiziell für alle Veela-Familien und deren Nachkommen zuständig sind. Daher möchte ich nur um der richtigen Vorgehensweise wegen meine Anmeldung für das Haus „Palais des Réves“ bei Ihnen einreichen. Mein Gatte und ich haben nach langer Suche in der Nähe meiner Junggesellinnenunterkunft ein freistehendes kleines Landhaus gefunden, dass sowohl den nichtmagischen Ansprüchen meines Gatten genügen kann, als auch mit entsprechenden magischen Vorrichtungen und Schutzvorkehrungen versehen werden kann. Hier, bitte, die genaue Lage des Hauses und alle nötigen Unterlagen zum Kauf des Anwesens.“ Julius musste sich sehr konzentrieren, seinen inneren Geistesschutzwall aufrecht zu halten. Doch wieder war es ihm auch so, als würde es ihm körperliche Qualen bereiten, wenn er dieser Viertelveela da missfiel. Dieses Biest nutzte ihn doch total aus, führte ihn als widerstandsunfähigen Handlanger vor. Doch er musste ihrem Wunsch nachkommen, weil sie mit Léto verwandt war und deshalb irgendwie auch mit ihm verbunden war. So nahm er die gereichten Unterlagen entgegen und sagte eine zügige Prüfung und darauf folgende Antwort zu.
„Bis zum ersten März möchten Aron und ich Gewissheit haben. Denn in diesem Zeitraum werden wir unser erstes Kind haben“, sagte Euphrosyne. Julius nickte dazu nur.
Als Euphrosyne mit einem scheinheiligen Lächeln auf den Lippen und einem bewusst aufreizenden Hüftschwung sein Büro verlassen hatte musste er erst einmal durchatmen. Dann machte er sich daran, die Unterlagen zu prüfen. Wenn alles korrekt war, auch für Muggelweltbehörden, dann musste er diese Anmeldung als korrekt vermerken, auch wenn er selbst es lieber gehabt hätte, dass Euphrosyne auf dem Mars ihre neue Behausung suchte.
Bevor die Hauselfe mit dem Frühstückstablett bei ihm eintrudelte erledigte er noch einige ausstehende Antworten an den deutschen Kollegen, der wegen der Hochzeit zwischen einem dortigen Zaubererweltbürger und einer polnischen Veelastämmigen noch was wissen wollte. Dann bekam er auch wie von der Ministerin festgelegt sein Frühstück, ohne es anfordern zu müssen.
Er war gerade dabei, die zweite Tasse Kaffee zu trinken, als seine Frau ihm eine Gedankenbotschaft übermittelte:
„Monju, wurde gerade per Verschickungskoffernachricht von Gilbert gebeten, bis acht in seinem Büro zu bleiben. Habe Rorie und Chrysie ins Château gebracht. Ich werde wohl bis zehn uhr da bleiben. Bitte geh auch für’s Abendessen ins Château. Ich komme dann auch dahin, wenn ich hier wieder weg kann.“
„Willkommen in der modernen Arbeitswelt, wo 8-Stunden-Tage nur ein Vorschlag aber keine Verbindlichkeit mehr sind“, schickte Julius zurück. „Gut, ich weiß dann bescheid, Mamille. Lass dich nicht fertigmachen!“
„Danke für den Ratschlag, Monju. Ich habe hier wieder Zweitverwertungsanfragen aus London, Brüssel und Viento del Sol. Die wollen mitnehmen, wenn Ventvit am 2. Februar Minister Dime trifft. Muss der entscheiden, ob die selbst gucken oder von uns abschreiben dürfen.“
„Dann viel Spaß mit den Anfragen“, erwiderte Julius mit Hilfe des Herzanhängers.
Nach der Frühstückspause stand eine Konferenz im Büro von Nathalie Grandchapeau an. Es ging um die aufgedeckte Veelaverwandtschaft von Ladonna Montefiori und was das für das Zaubereiministerium hieß. Julius ließ dabei auch die Katze aus dem Sack, dass die lebende Anverwandte den geistigen Freudenschrei einer gerade aus einer Art langem Schlaf erwachten gehört hatte. Das schlug ein wie eine Bombe. Denn das war im Grunde die Bestätigung, dass ganz sicher die für tot und verscharrt gehaltene Ladonna Montefiori wiedererwacht war. Julius legte auch gnadenlos nach, dass die Veela, die sich ihm gegenüber Dunkelmond genannt hatte, nur eine halbe Minute diesen Freudentaumel gehört hatte. Auch ihre anderen Blutsverwandten hatten das gehört. Doch dann sei die fremde Stimme verstummt, nachdem sie einen kurzen Schreckmoment vermittelt hatte, als wäre da jemand bei was verbotenem ertappt worden oder habe nicht damit gerechnet, so schnell entdeckt zu werden.
„Mit anderen Worten, wir könnten mit einer weiteren Wiederkehrerin, diesmal einer wahrhaftigen, zu tun bekommen, Monsieur Latierre?“ fragte Nathalie Grandchapeau. Julius bestätigte das.
„Konnten Sie den Wahrheitsgehalt dieser Aussage überprüfen?“ wollte Belle von ihm wissen. Er bestätigte, dass er mit Madame Léto zusammen diese Aussage aufgenommen habe und reinrassige Veela, die sich von Angesicht zu Angesicht begegneten, nicht lügen konnten, wenn sie bei ihrer großen Urmutter schworen. Diesen Eid hatte Léto der anderen abverlangt.
„Dann haben Sie bei der Gelegenheit nicht verifiziert, welchen richtigen Namen die betreffende Veela trägt?“ wollte Belle wissen. Julius musste sich zusammennehmen, keine trotzig klingende Antwort zu geben. Er sagte:
„Léto hat als Vertreterin ihres Ältestenrates darauf bestanden, dass ich nur dann wahrheitsgemäße Aussagen von ihrer Artgenossin bekomme, wenn ich meinerseits auf die Ergründung ihres wahren Namens verzichte. Madame Léto ist ebenfalls bekannt, dass viele Zauberwesen unter Nutzung ihres bei Geburt ausgesprochenen Namens von magisch begabten Menschen unterworfen oder zumindest zu einem bestimmten Ort hingerufen werden können. Deshalb tragen ja auch alle mit uns in Berührung kommenden Veelas für uns bestimmte Decknamen. Léto ist ja auch ein Deckname.“
„Die Protokolle dieser Unterredung liegen vor, Madame Grandchapeau. Die zwei Fragen, die ich dazu noch habe lauten: Wie wurde die Vorgängerin Sardonias damals überwunden und für so lange Zeit handlungsunfähig gehalten? Besteht unsererseits die Möglichkeit, dieses magische Verfahren erneut anzuwenden, um sie weiterhin unschädlich zu halten, ohne sie zu töten?“
„Die Fragen werde ich, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, an mir bekannte Fachleute zum Themenkomplex Sardonianisches Zeitalter und Sardonianische Zauber weiterreichen, da vor allem an Madame Catherine Brickston, die uns alle ja auf diesen Vorgang hingewiesen hat“, antwortete Julius.
„Wenn sie das nicht getan hätte stünden wir heute so unwissend da wie ein Flubberwurm kurz nach dem Ausschlüpfen“, warf Rose Devereaux ein. „Deshalb schlage ich vor, Madame Brickston auch zu fragen, seit wann genau sie diese Vermutung oder diesen Hinweis hatte.“ Nathalie nickte, womit der Vorschlag zur Anfrage aufgestuft war. Julius erwähnte, dass er nach der Konferenz noch von Apolline Delacour besuch bekommen würde, um die letzten Abstimmungen für die Hochzeit ihrer Tochter mit Pierre Marceau zu klären. Rose Devereaux, die auch Verbindungen zur Heilerzunft unterhielt, bat darum, auch diese über die mögliche Wiederkehr Ladonna Montefioris zu informieren. Doch Nathalie wandte ein, dass hierfür erst einmal sicher sein müsse, wo die Wiederkehrerin in der heutigen Welt auftauchen würde, um die Zuständigkeiten zu klären.
„Ja, was das Ministerium angeht, Madame Grandchapeau. Die Heilerzunft unterhält internationale Verbindung und ist damit eben auch international und sogar global aufgestellt“, wagte Rose einen Einwurf. Nathalie sah sie zwar erst kritisch an, musste dann aber nicken. „Gut, Mademoiselle Devereaux. Ich muss erkennen, dass Ihr Einwurf berechtigt ist. Richten Sie also bitte eine Anfrage der Stufe C9 an Ihre Verbindungsleute in der Heilerzunft.“ Julius wollte schon sagen, dass er wesentlich schneller die Heilerzunft informieren konnte, weil er mit Béatrice Latierre, Aurora Dawn und Hygia Merryweather in Verbindung stand. Doch wenn Rose das machen wollte sollte sie das eben machen. Er hatte durchaus genug Arbeit und musste auch nicht immer die ganzen Familienkontakte raushängen lassen.
„Dann beschließe ich die heutige Lagebesprechung zum Thema mögliche Wiederkehr der dunklen Hexenführerin Ladonna Montefiori und setze die nächste Lagebesprechung für den nächsten Montag an. Ich danke Monsieur Latierre für seine Anwesenheitund wichtige Unterstützung“, sprach Madame Grandchapeau noch zum Abschluss.
Julius kehrte zu seinem eigenen Büro zurück. Davor saß bereits Fleurs und Gabrielles Mutter auf einem der bequemen Wartestühle. „Entschuldigung, Madame Delacour. Aber ich wurde gebeten, an einer wichtigen Besprechung teilzunehmen. Aber jetzt habe ich genug Zeit für Sie“, begrüßte Julius die überirdisch schöne Hexe mit den langen, silberblonden Haaren. Sofort dachte er das Lied des inneren Friedens, um der Wirkung ihrer besonderen Ausstrahlung zu widerstehen.
Die Unterhaltung mit Létos Tochter verlief in einer sehr angenehmen Atmosphäre. Zwischendurch kamen sie auch auf Millie zu sprechen und ob er sich auch schon auf das dritte Kind freute. Er erwiderte, dass er zwar nicht damit gerechnet hatte, weit vor dem fünfundzwanzigsten Geburtstag schon drei Kinder zu haben, aber doch sehr froh war, dass er kein langweiliges Leben hatte, ohne gleich nach Gefahren suchen zu müssen.
„Dann bringen Sie mich am zehnten Februar mit Zeremonienmagier Laroche zu den Vigniers hin. Mein Mann hat wegen der internationalen Zauberwesenkonferenz im April wohl noch einiges vorzuarbeiten und vertraut Ihnen und mir in dieser Angelegenheit.“
„Das ist kein Problem, und Ihr Gatte hat mich in diesem Zusammenhang auch schon gebeten, die meinen Zuständigkeitsbereich betreffenden Angelegenheiten auszuarbeiten, damit er die Ergebnisse bei der Konferenz präsentieren kann“, erwiderte Julius und übergab seiner Besucherin eine Kopie der Mitschrift ihrer Unterredung. Madame Delacour bedankte sich und wünschte ihm noch einen erfolgreichen Tag.
Bevor Julius in die Mittagspause ging schickte er noch die von Nathalie erbetene Anfrage an Catherine und bat sie auch darum, weitere Kontakte zu bemühen. Während des Mittagessens in der Ministeriumskantine unterhielt er sich mit Barbara Latierre über die Anfrage eines bei Avignon lebenden Zauberers, eine kleine Aetonzucht aufzulegen und hierfür eine Viererherde aus drei Stuten und einem Hengst aus Großbritannien zu erwerben. Julius hatte von Melissa Whitesand erfahren, wie schön und kraftvoll die fuchsfellfarbenen, geflügelten Pferde waren, die jedoch so groß wie unmagische Pferde waren und von jedem gesehen werden konnten, anders als die unheimlich anmutenden Thestrale.
„Ist das derselbe Zauberer, der auch die Kreuzung aus Boitou-Rieseneseln und Abraxanern gezüchtet hat?“ wollte Julius wissen. Barbara verneinte das. Er erwähnte, dass er nun, wo er hauptsächlich mit Nathalies Büro oder den Veelas zu tun hatte sowas wie ein Standesbeamter sei. „Da wirst du sicher auch mal die eine oder andere Verärgerung zu überstehen haben. Aber das kennst du ja von der Angelegenheit mit dieser Viertelveela, die unbedingt einen Berufssportler aus der magielosen Welt heiraten wollte.“ Julius nickte. Er verriet nicht, dass die betreffende Dame ihn gerade heute besucht hatte.
Im Laufe des Nachmittags bekam er die Antwort von Catherine Brickston und ihren Vorschlag, mit ihr und zwei weiteren Experten für die sardonianische Ära zusammenzukommen, um die neuen Erkenntnisse zu diskutieren und die daraus folgenden Schritte zu erörtern.
Die terminfreie Zeit bis sechs Uhr brachte er mit Antworten an Mr. Diggory in London zu, der ihn gebeten hatte, auch die Veelastämmigen in seinem Zuständigkeitsbereich zu betreuen, die im wesentlichen gerade nur Fleur Weasley und ihre Tochter Victoire waren. Da er ja eh schon für alle von Léto abstammenden Nachkommen zuständig war hatte er kein Problem damit, diese Anfrage positiv zu bescheiden.
Als er wieder im Apfelhaus ankam fand er noch eine Notiz seiner Frau auf dem Tisch in der Wohnküche. Sie hatte für ihn eine kleine Tasche gepackt, da sie mit Oma Ursuline vereinbart hatte, mit den Kindern die Nacht im Château Tournesol zu verbringen. Julius mentiloquierte, dass er den Zettel gefunden habe und um sieben im Château sein würde.
Aus dem Briefkasten fischte er einen Briefumschlag heraus, der sich anfühlte, als stecke kein Pergament, sondern eine Pappkarte darin. Als Absender stand „Eine Mitschwester der großen Mutter Erde“ darauf. Julius fühlte sich, als habe der Umschlag ihm einen Stromschlag versetzt. Also hatte sie wahrhaftig mitbekommen, dass er die alten Erdzauber gelernt und schon benutzt hatte. Außerdem hatte sie sicher auf die ausgestreuten Hinweise auf Ladonnas Rückkehr reagiert. Er war froh, dass er nach der Reise zu den Sonnenkindern wieder sein Antiportschlüssel-Fußkettchen trug, damit die ihn nicht mal eben zu sich hinbeamen konnte, zumal das durch die magische Glocke über Millemerveilles auch nicht ging.
Da der Umschlag ohne von der weißmagischen Aura Ashtarias zerbröselt zu werden zu ihm hingefunden hatte brauchte er nur noch auf mögliche Giftstoffe zu prüfen. Hierfür benutzte er jedoch keine alchemistischen Verfahren, sondern den Erdzauber: „Duft der Gefahr“, der bei einem Giftstoff oder Krankheitserreger ein wildes Nasenkribbeln erzeugte. Den Zauber hatte Madrashainorian im dritten Jahr im Haus der Erdvertrauten erlernt. Er hielt den Umschlag bis fast an die Nasenspitze. Doch das mögliche Kribbeln blieb aus. Also enthielt der Umschlag keine gesundheitsschädlichen Stoffe.
Julius zog eine zusammenklappbare Ansichtskarte von Avignon heraus. Die Rückseite war jedoch völlig unbeschrieben. Allerdings fand er ein winziges X im Südosten von Avignon. Er nahm ein normales Vergrößerungsglas und konnte bei zehnfacher Vergrößerung erkennen, dass damit ein unbesiedelter Landstrich bezeichnet wurde. Das X war genauso weiß wie die unbeschriebene Rückseite der Karte. Unbeschrieben? Julius grinste. Den Gag hatte seine Mutter ihm und anderen Interessierten mal vorgeführt, als sie erklärte, wie Nachrichten ohne großen Verschlüsselungsaufwand an ihre Empfänger verschickt werden konnten. Die zu verbergenden Textabschnitte mussten nur in derselben Schriftfarbe erstellt werden wie der Texthintergrund, meistens Weiß. Also kannte die „Mitschwester der großen Mutter Erde“ diesen einfachen Trick auch. Vielleicht war der Trick schon so alt wie das alte Reich, und er hatte den da nie kennengelernt.
Julius zog sich in das Gästezimmer im ersten Stock zurück und schloss die Vorhänge. Zusetzlich ließ er die Fensterscheiben durch einen Verdunkelungszauber undurchsichtig werden. Dann wirkte er ungesagt den Nigerilumos-Zauber, um durch Umkehrlicht herauszufinden, ob die weiße Rückseite wirklich unbeschrieben war. Im alle Farben und Helligkeitsstufen verkehrenden Strahl des schwarzen Zauberlichtes lag die Rückseite der Karte tiefschwarz vor ihm, ohne Schriftzeichen zu zeigen. Dennoch ging Julius davon aus, dass die Absenderin die Karte beschrieben hatte, allerdings mit einer Tinte, die dieselben Farbmuster hatte wie die Pappe. Er machte wieder Licht und rubbelte mit einem roten Ding wie ein Radiergummi über die scheinbar unbeschriebene Rückseite. Darauf erschien ein grinsendes rosarotes Gesicht, aus dessen Mund eine Sprechblase mit dem Inhalt „Netter Versuch, aber nicht genug!“ hervortrat. Dann verblasste die kleine Zeichnung auch schon wieder. Julius versuchte es mit einem Sprühmittel, dass verblichenen Text durch Veränderung der unbeschriebenen Unterlage wieder hervorheben konnte. Doch die alchemistische Mixtur traf nicht auf die Karte, sondern bildete kleine, blitzeblaue Dunstwölkchen über der Karte. Offenbar hatte Anthelia dieses Ding mit einem Zauber ähnlich Impervius belegt, der keine Flüssigkeiten, Dampf- oder Rauchwolken auf das bezauberte Objekt gelangen ließ. Dann fiel Julius ein, was Madrashainorians Lebensgefährtin Ruashanormiria ihm gesagt hatte: „Das ganze getue mit flüssigen Wirkstoffen ist beim Übersenden geschriebener Botschaften wertlos, da wir Erdvertrauten durch das Lied der vertrautenGemeinschaft jede Botschaft nur für unsereins lesbar machen, wenn sich wer als anvertrauter der großen Mutter zu erkennen gibt.“
„O anu Lagorshirian Gwendarta Madrash!“ sang Julius auf einer für Erdbeeinflussungszauber als ideal erlernten Tonhöhe, wobei er die Karte mit dem Zauberstab berührte. Sofort erzitterte diese und flirrte für eine Sekunde in einem rot-grünen Licht. Dann konnte er einen in erdbeerroter Farbe schimmernden, in der für Briefe üblichen Schriftsprache des alten Reiches verfassten Text lesen:
Hallo Julius Erdengrund.
Wenn du das hier lesen kannst ist es wohl wahr, dass du es geschafft hast, ohne dich mir, der einzig lebenden Meisterin der Erdvertrauten, anzuvertrauen, die hohen Künste der Vertrauten der großen Mutter zu erlernen und in ihren Kreis aufgenommen zu werden. Womöglich hast du meine den Altmeistern beigetretene Vatermutter getroffen und sie hat dich dazu gebracht, ihren Weg zu beschreiten. Das ist zwar schade, dass ich nicht diejenige sein durfte, die dir die hellen und dunklen Seiten dieser erhabenen Kraft offenbaren und dich zu meinem Mitbruder im Kreise der großen Mutter ernennen durfte. Doch es gibt wichtigeres, als darüber trübselig zu sein.
Ich erfuhr über die mir verfügbaren Wege und Vertrauten, dass du dich nun vordringlich mit diesen selbstherrlichen, übermenschlich schönen Abkömmlingen einer gewissen Mokusha befassen darfst. Da dies bei euch einer Beförderung gleichkommt beglückwünsche ich dich zu dieser Ehre. Ebenso erfuhr ich, dass du auf Grund einer Anfrage wohl darauf gestoßen bist, dass eine alte Feindin der gestrengen, von den meisten ihrer Zeitgenossen und der Nachwelt als böswillig und gnadenlos eingeordneten Sardonia entweder ein mächtiges Erbe hinterlassen hat oder gar selbst aus der von Sardonia auferlegten Untätigkeit erwacht ist, um ihre damaligen Ziele weiterzuverfolgen. Selbstverständlich betrifft mich das, wo die in mir aufgegangene Daseinsform Anthelia sich als rechtmäßige Erbin Sardonias versteht. Ebenso weiß ich auch, dass es für die sich für ehrbar und rechtschaffen ansehenden Verwalter der begüterten Menschen wie für alle die, die nicht alle Auffassungen von Ehrbarkeit oder tadellosigkeit teilen wollen verhängnisvoll wäre, sollte diese alte Feindin ihre Ziele verfolgen. Dabei würde eine Menge Blut fließen. Da ich weiß, dass die alte Feindin die Nachgeborene einer Tochter oder eines Sohnes von Mokusha ist liegt mir etwas daran, lebende Nachfahren dieser Vorfahrin zu treffen und mit ihnen darüber zu sprechen, wie wir auf ein friedliches Zusammenleben oder eine Überwindung der sicherlich sehr wütenden alten Feindin hinwirken können.
So lade ich dich und zwei dieser sich für so überlegen haltenden Kinder Mokushas, die mit der alten Feindin blutsverwandt sind am sechsundzwanzigsten Januar um die Zeit, die elf Uhr abends heißt ein, an dem Orte zu erscheinen, den das weiße Zeichen auf dem Ansichtsbild bezeichnet. Der Maßstab dieses Bildes liegt bei eins zu fünfzigtausend. Ich werde eine Viertelstunde dort warten. Kommst du nicht oder bringst du wen anderen als die von mir erwünschten mit, werde ich mich sofort wieder entfernen. Aber dann ist jede Gelegenheit vertan, dass wir beide gemeinsam gegen diese neue Bedrohung vorgehen können. Bedenke das bitte!
Es grüßt dich in mitschwesterlicher Verbundenheit
Naaneavargia, Tochter des Agolar und der Aimartia
Das war überdeutlich, dachte Julius. Die Spinnenhexe hatte ihm klargemacht, dass ihr das auch wichtig war, was mit Ladonna oder ihrem Erbe los war. Außerdem hatte sie ihm bestätigt, dass sie wusste, dass er auch zu den Erdvertrauten gehörte und vor allem, wem er sich dafür anvertraut hatte. Dass ihr das nicht passte hatte er schon vermutet. Wollte er die Einladung annehmen? Da Sternennacht darauf bestand, mit der Spinnenhexe zusammenzutreffen musste er das wohl. Zumindest darüber musste er Millie ins Vertrauen ziehen.
Im Sonnenblumenschloss der Latierres traf er seine Frau doch früher als sie angekündigt hatte. Sie hatte die fällige Korrespondenz und die Korrekturlesung ihrer letzten Interviews doch schneller beendet, aber war jetzt auch entsprechend erschöpft. Als Aurore, Chrysope und alle anderen im Schloss wohnenden Kleinkinder in ihren Betten lagen berichtete Julius Millie im Schutz eines Klankerkers, was Anthelia/Naaneavargia oder in dem Fall Naaneavargia/Anthelia ihm und Sternennacht anbot.
„Habe ich dir schon mal gesagt, dass du es nicht dauernd drauf anlegen sollst, mit diesem Spinnenflittchen zusammenzukommen, Monju!Ja, ich glaube, das habe ich dir schon oft gesagt“, ereiferte sich Millie. Julius fühlte ihre Wut auch durch den Herzanhänger. Doch er erkannte auch, dass es die aus ihrer Liebe entstandene Besorgnis war, die sie wütend machte. Deshalb blieb er ganz ruhig, bis Millie ihrem Unmut genug Luft gemacht hatte. Zumindest wurde sie nicht handgreiflich wie einmal, als er gemeint hatte, dass sie sich verhielt wie eine Ameisenkönigin, die nur noch gefüttert werden wollte. Das war wo Chrysope unterwegs war.
„Drei Dinge, meine Holde und Mutter meiner Kinder: Zum einen lege ich es nicht freiwillig darauf an, andauernd mit dieser Lady zusammenzutreffen. Dass die weiß, dass ich mit den Erdzaubern vertraut gemacht wurde war zu befürchten, seitdem ich weiß, dass starke Erdzauber von darin eingeweihten aus großer Ferne wahrgenommen werden können, also schon bei der Sache mit der großen Schlange. Zweitens will ich nicht haben, dass du und ich von aufgebrachten Veelas umgebracht werden, weil diese schwarzhaarige Schönheit der Meinung ist, ich wäre mitverantwortlich, wenn ihrer aus langem Schlaf aufgewachten Cousine zehnten oder zwanzigsten Grades was passiert, was nicht mehr zu heilen ist. Drittens gehört es zu meinem Beruf, möglichst ohne blutige Kämpfe zwischen Menschen und Zauberwesen zu vermitteln. Wenn dazu gehört, dass ich einen möglichen Krieg zwischen Anthelia und Ladonna verhindern kann, wohlgemerkt kann, dann tu ich das. Und weil Anthelia mit Naaneavargia verschmolzen ist betrifft es auch das Erbe des alten Reiches und somit den Stillen Dienst und somit unsere Aufgabe, die jetzige Welt vor den Auswirkungen von Altlasten aus dem alten Reich zu schützen. Deshalb und nur deshalb muss und werde ich mit Sternennacht zu diesem Treffen hingehen. Ich habe über Léto schon die entsprechende Vorladung ausgesprochen. Léto wird auf jeden Fall hinkommen. Ob Sternennacht das durchzieht oder doch noch den nicht vorhandenen Schwanz einzieht soll mir dann egal sein.“
„Genau das macht mich so wütend, dass du wegen dieser ganzen Aufgaben dazu getrieben wirst, dich mit diesem Weib irgendwie auseinanderzusetzen und noch dazu mit den ganzen Weibsbildern aus dem Veelavolk. Am besten verpasse ich dir den Devoluptus-Zauber und stecke dich in eine Reisewindel für Dauerdurchfallkranke, die bis zum heilenden Trank warten müssen, damit du morgen nicht von einer dieser Überschlampen verdreht wirst, mit einer von denen uneheliche Kinder zu machen. Aber dann könntest du deine Willensstärke einbüßen und wie ein halber Zombie rumlaufen. Will ich nicht wirklich.“
„Devoluptus? Warum nicht gleich Catena-Sanguinis?“ versetzte Julius mit voller Absicht. Mit einem lauten Klatschen landete eine Ohrfeige auf seiner linken Wange. Einen Moment meinte er, die linken Backenzähne eingebüßt zu haben und ein kurzes protestierendes Wummern im linken Ohr zu hören. Doch dann ließ der dumpfe Schmerz wieder nach, aber nicht das Brennen auf der Haut. „Sag-sowas-nie-wieder!!!“ knurrte Millie überaus gefahrvoll. Julius riss sich zusammen, nicht als geprügelter Hund dazustehen und sagte mit hoch erhobenen Kopf: „Ich wollte nur sicherstellen, dass deine Wut dich nicht zu derartigen Abwegen treibt.“ Dafür fing er sich auch rechts eine saftige Backpfeife ein. Doch er überstand das mit der Erkenntnis, das dies zu erwarten gewesen war. In der nächsten Sekunde sprang Millies Wut in große Reue um. Sie warf sich ihm in die Arme und hielt ihn an sich gedrückt. Dabei rannen ihr Tränen aus den Augen. „Mann, du kannst mich doch nicht so mies runtermachen. Ich will dir doch nichts böses“, schniefte sie. Dann küsste sie die von ihr gepeinigten Hautstellen und pustete. Die kalte Luft tat gut, fand Julius. Dann sagte er:
„Ich war auch wirklich gemein, Mamille. Ich weiß doch, dass du nicht willst, dass mir was passiert“, sagte er.
Millie erging sich eine Minute in diesem wohl hormongesteuerten Gefühlstief. Dann flüsterte sie Julius ins linke Ohr: „Ja, und damit dir auch nichts von den Veelas her passiert mach ich das, was ich damals wegen dieser läufigen Sabberhexe Euphrosyne Blériot für dich gemacht habe. Jetzt geht das sogar noch besser. Dafür müssen wir zwei uns aber ganz ausziehen. Du darfst nur noch den Ring am Finger lassen.“
Julius deutete auf den Herzanhänger. Wie bei den beiden vorherigen Schwangerschaften seiner Frau konnte er den Anhänger nicht abnehmen, nachdem das ungeborene Kind sich vom Embryo zum Fötus entwickelt hatte. Doch genau auf diese magische Dreierverbindung setzte Millie offenbar. Nachdem sie beide sich nebeneinander hingelegt hatten forderte sie ihn auf, die linke Hand in ihren Schoß zu legen. Als er ihren warmen Körper fühlte spürte er ein gewisses Begehren. Offenbar empfand Millie das auch. Dann befahl sie: „So liegen lassen!“ Dann nahm sie den Zauberstab und summte leise eine Melodie. Worte sagte sie keine. Julius fühlte nur, dass die in ihrem Schoß ruhende Hand und vor allem der Ring sich erwärmte, ja regelrecht erhitzte. Doch er hielt durch, bis er meinte, in einem feuchtheißen Tropenwind zu schweben, völlig losgelöst von der Erde und allen ihren Lasten. Hitzewellen jagten durch seine Hand, durch seinen Körper und erzeugten Echos in seinem eigenen Unterleib. Dann ebbte diese Empfindung wieder ab. „So, jetzt darfst du deine Hand wieder wegnehmen, Monju“, sagte Millie ganz sanft und tief wie ein sachte angestrichener Kontrabass. Julius nahm seine Hand wieder fort. „Und jetzt nachtfertig anziehen und schlafen. Ich habe dich gerade mit dem Reisesegen der Mutter des Feuers betraut. Der schützt dich jetzt eine ganze Mondphase lang vor allen Arten der Naturmacht Feuer. Allerdings löscht deine Lebensaura in der Zeit alle Licht- und Feuerquellen aus, die du nicht von dir aus entzündest und am Körper trägst. Es gibt auch den Reisesegen des Vaters des Feuers. Wichtig ist, dass beide durch ein ungeborenes Kind und das Bewusstsein, bereits ein gemeinsames Kind zu haben, miteinander verbunden sind. Das ist eine der gutartigen Zauber, bei denen zwei Eltern und ihr ungeborenes Kind einbezogen werden. Soviel zu diesem abscheulichen Catena-Sanguinis.“
„Ja, und bevor ich zu diesem Treffen reise bezaubere ich meinen Umhang noch mit dem Lied der schützenden Mutter Erde, dass mich vor anderen Erdzaubern beschützt. Dann sollte mir eigentlich nichts passieren“, fügte Julius hinzu.
„Hast recht, Monju.“
„Aber wäre dein Zauber auch ohne den Ring gegangen?“ wollte Julius wissen.
„Nein, weil der Ring aus Sonnentränen gemacht ist, also Gold und deshalb ein genialer Fokus für die alten Feuerzauber ist. Sowas ähnliches habt ihr Erdmagier ja auch mit anderen Metallen und vor allem Diamanten.“ Julius bestätigte das. Die Gnade der großen Mutter wurde mit Hilfe reiner Diamanten gewirkt.
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Den folgenden Tag musste Julius sich anstrengen, sich nicht anmerken zu lassen, wie angespannt er wegen des heimlichen Treffens war. Zumindest half ihm die gewisse Einsamkeit in seinem Büro. Außerdem konnte er sich gut mit den für die Zaubererwelt zugelassenen Fakten über die Veelas ablenken, die Pygmalion Delacour mitnehmen wollte, wenn er zur Zauberwesenkonferenz in Brüssel gehen wollte.
Beim Abendessen sprachen Millie und er nicht von dem Treffen, sondern davon, dass Ministerin Ventvit in Tokio fast einen Skandal ausgelöst hatte, weil sie es gewagt hatte, neben dem Minister herzugehen und nicht hinter ihm. Julius lachte und erwähnte die aus heutiger Sicht überholt erscheinende Tradition, dass früher die Frauen in Japan hinter ihren Männern herzugehen hatten. Offenbar galt das in der Zaubererwelt immer noch. Er holte per Apportationszauber das von seinem Karatemeister Tanaka zum zehnten Geburtstag geschenkte Buch über die Edozeit der japanischen Geschichte. Da fand er auch diverse Anstandsregeln von damals und dass die Samurai damals weit über dem gewöhnlichen Volk gestanden hatten.
„Dann kann ich ja froh sein, dass Gilbert mich doch noch zurückbeordert hat. Ich hätte wohl über diese Regelung gelacht. Apropos Karate: Du hast es bisher nur bis zur Auszeichnung brauner Gürtel gelernt. Wolltest du diese Kampfkunst irgendwann noch bis zum höchsten Grad lernen? Tine und ich haben Judo gelernt. Aber die Jungs aus unserer Familie haben Shaolin-Kung-Fu oder Karate gelernt. Vielleicht haben Onkel Otto oder Onkel Charles noch die Kontakte zu ihren Lehrmeistern.“
„Durch den Schwermacher kann ich ja die meisten gelernten Bewegungen und Abwehrschläge und -tritte immer wieder üben. Aber von einem echten Meister weiter ausgebildet zu werden habe ich nach meiner Einschulung in Hogwarts nicht mehr überlegt“, sagte Julius. „Ja, und im Moment bin ich durch die Arbeit ziemlich gut ausgelastet und auch froh, dass ich nicht andauernd gegen irgendwen mit Händen und Füßen kämpfen muss.“ Das verstand Millie.
Julius apparierte einen Kilometer vor das angegebene Ziel. Das war tatsächlich ein altkeltisches Hügel- oder Hünengrab. Er fühlte sogar, dass davon eine magische Ausstrahlung ausging, die wohl dem Element Erde entsprang, also dem, welchem er anvertraut worden war. Kein Wunder, dass Naaneavargia ihn hier treffen wollte.
Die restliche Strecke flog er mit seinem Ganymed 10. Als er landete fühlte er diese immense Kraft aus dem Boden. Sie strömte wie warmes Sprudelwasser durch seine Adern und brachte seine Nerven zum kribbeln. Er hatte das Gefühl, sich regelrecht aus dieser Kraft aufladen zu können. Was für helle oder dunkle Rituale waren hier gewirkt worden, die heute noch eine derartige Aura verbreiteten?
„Julius, was immer du gemacht hast, ich empfinde das als nicht gerade einladend“, hörte er Létos Gedankenstimme im Kopf. „Aber offenbar soll das zum Schutz vor dieser Frau sein, die uns hier treffen will. Sternennacht und ich sind schon in deiner Nähe. Aber wir sehen dich nicht. Kannst du bitte Licht machen?“ Julius verstand. Die Veela, so wusste er von Léto, konnten auch Körperwärme sehen. Offenbar machte Millies Zauber, dass seine Körperwärme gerade abgeschirmt wurde. Er wirkte den Lumos-Zauber.
„Wir sind gleich da“, hörte er Létos Gedankenstimme. Dann sah er einen weißen Schwan und einen schwarzen Storch mit raketenhaftem Tempo heransausen und genau über der Hügelkuppe abbremsen. Mit wenigen Flügelschlägen landeten die beiden Vögel, bevor sie sich in zwei überirdisch schöne Frauen verwandelten. Der Schwan wurde zu Léto, der schwarze Storch zu Sternennacht.
„In diesem Boden strömt schlafende Kraft der Erde“, grummelte Sternennacht. Dann trat sie auf Julius zu, kam aber nur bis auf Armlänge heran. Dann prallte sie wie von einer unsichtbaren Wand zurück. „Autsch! Was für eine widerwärtige Kraft ist das?“
„Diverse Schutzzauber, vor allem um nicht von unserer hier noch auftauchenden überrumpelt zu werden“, sagte Julius. Léto nickte ihrer Artgenossin zu.
Julius hatte damit gerechnet, dass Anthelia apparieren oder auf einem Besen heranfliegen würde. Doch als er eine sich rasend schnell nähernde Welle aus Erdmagie fühlte, die in einer Sekunde mehr als einen Kilometer überwand, wusste er, dass sie es nicht lassen konnte, ihre besonderen Kenntnisse zu zeigen. Da schoss sie auch schon aus dem Boden heraus, die Führerin der Spinnenhexen, gekleidet in einem weiten Mantel, der vor ihrem Körper mit mehreren Schließen verschlossen war. In der rechten Hand hielt sie den silbriggrauen Zauberstab, an dessen Ende ein warmes Licht glomm.
„Ich grüße euch, Töchter Mokushas und vor allem dich, Julius Latierre.“ Die zwei Veelas sahen die dazugekommene Hexe lauernd an. Diese betrachtete ihrerseits die blonde und die schwarzhaarige Veela. Julius hielt es für besser, den Gruß zu erwidern. „Ich danke Ihnen, Lady Anthelia, dass Sie mir darin zustimmen, dass wir alle in einer schwierigen Lage stecken, die zu leicht in großes Blutvergießen ausufern kann.“
„Möchten die zwei Damen, dass du uns einander bekanntmachst oder wollen Sie nur zuhören?“ fragte Anthelia. Léto legte ihren Finger auf die Lippen, als Julius antworten wollte. Dann trat sie vor und sagte ganz entschlossen: „Meine Begleiterin und ich wissen um die Macht der wahren Namen. Daher werden wir uns dir gegenüber nicht enthüllen. Wichtig für dich ist nur, dass meine Begleiterin vom selben Blut stammt wie Sardonias ärgste Feindin Ladonna. Du weißt also, was dies bedeutet?“
„Das wusste schon Sardonia“, erwiderte Anthelia schnippisch und sah dann Sternennacht an. Diese erbebte, als würde sie von unsichtbaren Händen durchgerüttelt. Sie verdrehte die Augen und fauchte wie eine wütende Katze. Schwarzes Flaumgefider spross auf ihren Wangen, verschwand aber gleich wieder unter ihrer rosigen Haut.
„Ich werde mich und meinen Körper nicht preisgeben, Kurzlebige, die du von einer gierigen Kraft erfüllt bist.“
„Wirst du nicht? Das wird sich zeigen“, erwiderte Anthelia/Naaneavargia. Dann kam sie auf den Punkt:
„Julius, angeblich habt ihr Beweise dafür, dass Ladonna wiedergekommen ist und nicht nur über einen Seelenanker einen Wirtskörper benutzt. Welche Beweise sind das?“
„Das kann Ihnen die dunkelhaarige Dame genauer berichten. Ich habe nur einen Stapel Pergamente mit Mitschriften. „Die möchte ich haben. Bitte gib sie mir!“ Erwiderte Anthelia. Julius zog die zu einer Rolle zusammengedrehten Pergamente aus seiner Umhangtasche. Unvermittelt pflückte ihm eine energische unsichtbare Hand die Rolle aus den Fingern und ließ sie wie an einem unsichtbaren Gummiband zu Anthelia hinüberschnellen. Offenbar legte die aus zwei mächtigen Hexen vereinigte Führerin des Spinnenordens es wirklich darauf an, den Veelas ihre ganze Macht zu beweisen.
„Nein, wenn da drinsteht …“ stieß Sternennacht aus und starrte nun Julius an, bis sie wie vom Blitz getroffen zurückzuckte. „Das werde ich mir merken“, zischte sie verärgert.
„Berichte mir nun, was du oder deine Anverwandtschaft erspürt habt, Schwarzhaar!“ befahl Anthelia.
„Ich bin nicht deine Sklavin, bin keine niedere Elfe, die ihre Befriedigung im kriecherischen und unterwürfigen Putzdienst sieht“, schnaubte Sternennacht. Léto sah sie beschwichtigend an. „Wenn du nicht möchtest, dass sie dort Nachtlieds Tochtertochter bei der ersten Gelegenheit tötet, dann berichte ihr bitte, was du uns erzählt hast!“
Sternennacht knurrte kurz. Dann erzählte sie, was sie wahrgenommen hatte, wann und wo. Anthelia nickte. „Dann weißt du jetzt auch, dass du oder deine niederen Mägde sie nicht töten dürft, wenn ihr nicht der Blutrache verfallen wollt.“
„Oh, soll ich jetzt vor Furcht erzittern oder mich um Gnade Winselnd vor dir auf den Boden werfen, Sternennacht, Tochter der Abendstille, Tochter der Nachtlied? Nein, das werde ich nicht“, zischte Anthelia. Sternennacht erblasste. Sie hatte Anthelia ihren wahren Namen nicht genannt. Sie funkelte Julius Latierre an. Anthelia sah sie wieder an und sagte: „Ich erfuhr deinen wahren Namen, als ich in deinen Geist hineinsah. Du hast dich zwar gut gewehrt, aber nicht erfolgreich, Sternennacht. Julius hier kann sich wesentlich trefflicher gegen den Blick in den Geist verschließen als ihr beide“, sagte Anthelia. Dann fragte sie: „Und wie stellt ihr euch das vor, dass deine Verwandte jetzt einfach da weitermachen kann, wo Sardonia sie vor vierhundertdreiundsechzig Jahren aufgehalten hat?“
„Wir wollen und wir werden diese Angelegenheit selbst bereinigen, wenn wir wissen, wo sie ist. Mir geht es nur darum, dass du weißt, dass du sie nicht ungestraft töten kannst, ohne dich und deine Angehörigen zu gefährden.“ Anthelia lachte darüber lauthals. Doch dann sagte sie:
„Mir ist klar, dass ich diese Hexe nicht töten darf, weil es auch schon Sardonia bewusst war. Sonst hätte sie deine Verwandte ohne Zögern niedergeflucht, Sternennacht. Aber ihr sollte auch klar sein, dass es unbestreitbar schädlich für sie wäre, wenn sie mich töten würde.“
„Du bist keine von uns. Sie darf dich töten“, fauchte Sternennacht. Anthelia sah Julius an und deutete dann von sich auf ihn und wieder zurück. „Du darfst den zwei Damen, und vor allem jener hitzigen Dame mit schwarzem Schopf berichten, was mir widerfährt, wenn jemand meinen Körper tötet, und vor allem, was danach dem widerfährt, der das hinbekommt.“
Julius nickte. Dann erwähnte er, was er über den Schutz jener gehört hatte, mit der Anthelia vereint worden war. „Wer sie tötet verwandelt sie in einen unbändigen Sturmgeist, hundertmal stärker als eine Windhose. Sie würde das einem sehr übelnehmen und ihn oder sie dann sofort umbringen, ohne Angst vor Vergeltung haben zu müssen. Und ich denke, weil sie dann ohne ihren geliebten Körper weiterbestehen müsste, würde sie auch jeden anderen umbringen, der mit dem oder der verwandt ist, durch den sie ihren lebenden Körper verloren hat.“
„Das ist eine Lüge, eine einfallslose, lächerliche Schutzbehauptung, um dich vor Vergeltung zu schützen. Aber ich glaube das nicht“, sagte Sternennacht. Léto zischte ihr zu, nicht so angriffslustig zu sein. Doch Sternennacht sah Anthelia nur bedrohlich an. Diese blieb ganz ruhig.
„Sagen wir mal so, die Damen. Von meiner Seite her besteht kein Verlangen, das auszuprobieren, ob es stimmt oder nicht. Und woher ich das weiß behalte ich für mich. Ich sage nur, dass ich dieser Quelle vertraue“, sagte Julius. Léto nickte ihm zu. Anthelia/Naaneavargia stellte nun klar:
„Tötet sie meinen Leib, darf und werde ich sie sofort danach selbst umbringen und alle, die mit ihr irgendwie verwandt sind. Es wäre sehr vorteilhaft, wenn du, Sternennacht, deine nach langem Schlaf wiedererwachte Verwandte ansingst und ihr mitteilst, dass es für sie besser wäre, im freundschaftlichen Verbund mit allen Hexen zu leben und ihre Rache an Sardonias Nachfahren zu vergessen. Außerdem lebt von Sardonias Blutsverwandten niemand mehr.“
„Dann bitte du doch selbst um ein friedliches Zusammenleben. Wenn du Frieden willst und deinen Körper wirklich liebst, dann erweise dich ihr in Freundschaft“, erwiderte Sternennacht. Léto und Julius sahen einander an. Julius vernahm ihre Gedankenstimme: „Ich fürchte, das war ein Satz zu viel.“
Anthelia lachte schallend los, was bei ihrer warmen, dunklen Stimme wirklich wie das böse Kichern einer Märchenbuchhexe klang. Julius fühlte es, konnte aber nichts mehr dagegen machen. Antehlia schwang ihren Zauberstab vor Sternennacht, die noch versuchte, ihre Arme hochzureißen. Doch blitzartig wurde sie von einer unbändigen Gewalt in den Boden hineingezerrt, bis nur noch ihr Kopf herauslugte. Julius fühlte die von Anthelia in den Boden um Sternennacht übertragene Verärgerung und erkannte den Zauber. Sternennacht wurde von der sie haltenden Erde fest umschlossen, aber noch nicht zerdrückt. Sie konnte sich nur nicht bewegen.
„Du nachtschwarzes Mädchen willst mir Bedingungen stellen? Pass lieber auf, dass ich nicht nur dich, sondern jede andere Verwandte von dir so einschließe“, stieß Anthelia aus. Dann zog sie mit der freien Hand einen handteller großen roten Stein aus dem Kostüm hervor und warf diesen zu Sternennacht hinüber. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr der Stein punktgenau auf den Kopf fiel. Fast im gleichen Moment umtoste Sternennachts Kopf ein geräuschloses, rubinrotes Lichtgewitter. Sternennacht stieß Schreie aus Wut und Schmerz aus. Dreißig Sekunden lang umzuckten sie die roten Blitze, von denen Julius sicher war, dass sie sogar bis zu Sternennachts Füßen hinunterreichten. Dann erstrahlte der Rubin in einem hellen, warmen Licht und blieb ruhig auf dem Kopf der Veela liegen. Léto wollte vortreten, sich zwischen Anthelia und Sternennacht stellen. Doch Julius machte eine zurückhaltende Handbewegung und mentiloquierte: „Sie hat Sternennacht mit dem Zauber Gabe an die Erdmutter eingeschlossen. Wenn du ihr die Sicht auf sie nimmst schließt sich die Erde vollständig und zerquetscht Sternennacht.“ Léto trat zurück und wollte statt dessen nach dem leuchtenden Rubin greifen. Da schnellte dieser wie von einer unsichtbaren Bogensehne getrieben nach obenund sauste auf Anthelias freie Hand zu. Die schier übermächtig auftretende Hexe fing den Stein auf und stopfte ihn in eine scheinbar rauminhaltsvergrößerte Tasche ihrer hautengen Hose.
„Ich habe deine Lebensessenz und die magische Ausstrahlung deines Blutes in diesen Stein eingeschrieben, Schwarzhaar. Danke für deine Hilfe, um zu wissen, wenn du oder alle mit dir auch nur einen Tropfen Blut teilenden in meine Nähe geraten“, sagte Anthelia. Dann gab sie mit einem nach oben geführten Zauberstabschwung die Gefangene wieder frei. Sie wurde regelrecht von der Erde ausgespuckt und landete in einer Wolke aus Staub auf ihren Füßen. Schlagartig setzte bei ihr die Verwandlung in eine schwarze Störchin ein. Sie dauerte keine zwei Sekunden. Die Verwandelte stieß sich ab und brauste mit wilden Flügelschlägen auf die Hexe zu, die sie so dermaßen gedemütigt hatte. Doch diese lachte nur, drehte sich auf der Stelle und verschwand in weniger als einer Zehntelsekunde im Boden, ohne dass dieser ein Loch aufwies. Julius fühlte, wie Anthelia/Naaneavargia mit mehr als einem Sekundenkilometer davonjagte, bis sie aus seiner erspürbaren Reichweite verschwunden war.
Sternennacht jagte nun auf Julius zu, den langen Schnabel wie eine Kriegslanze vorgestreckt. Da sprang Léto mit katzenhafter Geschmeidigkeit in ihre Flugbahn und umschlang Julius mit ihren Armen. Mit einer schnellen Kopfbewegung umfing sie ihn auch noch mit ihrem seidenweichen, hüftlangen Haar. Er fühlte, wie sein Körper sich erhitzte. Doch da war auch ein Gefühl von absoluter Geborgenheit, wie er es aus seinen Erlebnissen mit Madrashmironda und vor allem vor Madrashainorians Geburt verspürt hatte. Offenbar hielt die Feuerschutzaura die Großmutter von Fleur, Gabrielle und Euphrosyne nicht von ihm fern wie es bei Sternennacht passiert war. „Wenn du was von ihm einfordern willst, Sternennacht, so weise ich das alles zurück, denn ich bin seine Geleiterin“, sagte Léto laut aber ruhig.
Die schwarze Störchin landete hinter Léto und wurde wieder zur makellosen, schwarzhaarigen Schönheit im mondlichtfarbenen Kleid. Sternennacht sah beide bitterböse an und zischte dann noch: „Von ihm will ich nichts mehr. Wer es zulässt, dass ich derartig gedemütigt werde, soll niemals mit meinem Fleisch und Blut vereint sein. Somit gilt, dass wenn meine Verwandte doch noch getötet wird, sterben deine Blutsverwandten, Julius Latierre.“ Nachdem sie diese Drohung ausgesprochen hatte verwandelte sie sich wieder in die Störchin und flog schneller als ein Pfeil in östliche Richtung davon.
„Immerhin ist diese Vorstellung, Kinder von dir kriegen zu wollen aus ihr raus“, sagte Léto dazu nur. Julius hörte deutlich die gewisse Erheiterung aus ihrer Stimme. Dann knuddelte sie Julius kurz und meinte: „Öhm, dieser Schutzzauber, mit dem deine offenbar sehr kundige Gefährtin dich umkleidet hat, hält offenbar nur böses Feuer ab, aber nicht eine liebende, schützende Großmutter.“ Mit diesen Worten schmatzte sie Julius auf jede Wange einen Kuss. Dann gab sie ihn aus ihrer Umarmung frei. Julius vermeinte einen Moment, in eiskaltes Wasser zu fallen und nach Luft schnappen zu müssen. Auch Léto schien von irgendwas gepeinigt worden zu sein. Sie zuckte mit einem kurzen Aufschrei zusammen. Dann nickte sie. „O, eine sehr neue und auch irgendwie erstaunliche Erfahrung. Am besten kehrst du jetzt zu deiner dich liebenden und umsorgenden Frau zurück! ich habe Sternennacht deutlich genug gewarnt, die andere nicht zu versuchen. Aber sie wollte nicht hören. Leider muss jemand doch erst durch den Schmerz an Leib oder Seele erkennen, wann es besser war, die Ohren offen zu halten. Kehre zu den deinen Heim und schlaf in der Gewissheit, dass genug starke Wesen da sind, die dich beschützen!“ Mit diesen Worten verwandelte sie sich in die weiße Schwänin und stieß sich ab, um ebenfalls mit raketengleichem Tempo fortzufliegen.
Julius wuste, das er hier nichts mehr erreichen würde. Er apparierte vor die Ortsgrenze Millemerveilles. Beim durchschreiten fühlte er eine leichte Hitze in seiner linken Hand. Doch dann war er wieder durch. Hundert Meter weiter im inneren disapparierte er.
„Also konnte Sternennacht dich nicht anfassen, aber Léto schon? Das ist sehr interessant, wahrhaftig“, sagte Millie, nachdem Julius ihr sein Erlebnis berichtet hatte. „Und mach dir um diese Sternennacht keinen größeren Kopf als um den Unnennbaren oder dessen irrwitzigen Möchtegernnachfolger. Was Léto mit dir gemacht hat markiert dich als unberührbar für böswillige Veelas. Und was Rorie, Chrysie, mich und Nummer drei angeht, so wissen wir jetzt, dass der Segen der Feuermutter sie wirksam zurückhält. Wenn du mir die entsprechenden Runen oder besser die Zauberzeichen aus dem alten Reich in die entsprechenden Gegenstände eingravierst baue ich für dich und unsere Kinder entsprechende Schutzartefakte. Die müssen dann nur alle sieben Tage für einen vollen Tag in die Sonne gelegt werden, damit sie ihre Wirkung erneuern können.“
„Öhm, und du. Wie kriegst du das für dich hin?“ fragte Julius.
„Kailishaia hat mir gesagt, dass ich dir die männliche Ausgabe des Zaubers beibringen darf, sollten wir dauerhaft von dem Feuer verbundenen Wesen bedroht sein. Da die schwarzhaarige Schnepfe Sternennacht dir und mir offen gedroht hat gilt diese Bedingung.“
„Ob Madrashmironda das toll findet?“ fragte Julius.
„Die will sicher auch haben, dass du dein Erbgut weitergeben kannst“, sagte Millie, „weil sie dich sonst nicht mehr zurückgelassen hätte.“
„Auch wieder wahr“, sagte Julius. „Öhm, übrigens ist Sternennacht eine Störchin, keine Schnepfe.“
„Besser als ein Regenbogenvogel“, erwiderte Millie darauf. Beide mussten lachen.
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