088. Die Großen Zehn des Westens
von Thorsten OberbosselP R O L O G
Ladonnas Macht ist gebrochen. Vier Jahre hatte sie mit Hilfe ihres einzigartigen wie unheilvollen Feuerrosenzaubers viele Zaubereiministerien unterjocht. Nach ihrer Entmachtung fielen die noch nicht aus ihrem Bann befreiten in einen unaufweckbar erscheinenden Tiefschlaf. Die Ministerien werden bis auf weiteres von außenstehenden Hexen und Zauberern aus der Liga gegen dunkle Künste betrieben. Doch das kann und soll kein Dauerzustand bleiben. Außerdem müssen viele durch Ladonnas Treiben aufgeworfene Fragen abschließend geklärt werden, unter anderem was mit den von ihr gesammelten Zaubergegenständen und Aufzeichnungen geschieht oder was den Umgang mit anderen Zauberwesen wie Kobolden und Veelas angeht.
Nachdem Ladonnas Blutsiegelzauber um den Weinkeller der Girandelli-Villa verfliegt versuchen mehrere Gruppen von Hexen und Zauberern, die dort angehäuften Artefakte und Aufzeichnungen aus aller Welt zu erbeuten. Albertrude Steinbeißer gelingt es mit einem flächendeckenden Betäubungszauber, die Konkurrenten auszuschalten und sich in den Besitz deutscher und altägyptischer Zaubergegenstände zu bringen. Dabei trifft sie eine kleinwüchsige Frau mit gläsernem Helm und silbernem Bogen, die von Albertrudes Betäugungszauber weit fortgeschleudert wird. Die Kleinwüchsige ist die Koboldstämmige Diana Camporosso, der Ladonna kurz vor ihrem Verschwinden den erbeuteten Seelenglashelm des Koboldgeheimbundgründers Deeplook aufgesetzt und dessen darin lauernden Geist Dianas Gedanken und Willen unterworfen hat. Diana will nun Königin der Kobolde und damit Ladonnas Nachfolgerin werden. Sie sammelt mit Hilfe von Deeplooks Wissen überlebende Mitglieder des Geheimbundes der Kobolde um sich. Diese glauben, Deeplook sei der vorherrschende Geist im unfreiwillig angenommenen Körper der koboldstämmigen Hexe. Sie versuchen Gringotts zu übernehmen. Das misslingt, weil einer der Gringottszweigstellenleiter bereits unter dem Bannwort des schlafenden Königs steht und die Aktion an die Ministerien verrät. So bleibt Diana nur, sich nach Afrika zurückzuziehen, wo noch Schlupfwinkel des Geheimbundes sind.
In den USA wird lebhaft diskutiert, ob es nicht ein neues Zaubereiministerium oder einen neuen magischen Kongress der USA geben soll. Diesen bevorzugen die zehn mächtigsten Zaubererfamilien, darunter die Greendales und die Southerlands und arbeiten darauf hin, dieses Ziel zu erreichen.
In Europa ist noch unklar, was mit den ehemaligen Unterworfenen des Feuerrosenzaubers geschieht. Außerdem gilt es, den von Ladonna verursachten Kriegszustand mit anderen Zauberwesen zu beenden. Julius Latierre hofft darauf, einen Frieden zwischen den Menschen und Veelas herbeiführen zu können. Die französische Zaubereiministerin plant eine Rundreise, um mit anderen Zaubereiministerien darüber zu verhandeln. Bevor Julius am 16. März aufbricht erfährt er noch, dass seine Frau Millie und seine mit ihm und ihr in einer Dreiecksbeziehung zusammenlebende Schwiegertante Béatrice gleichzeitig von ihm schwanger geworden sind. Mit dieser Erkenntnis und mit der Hoffnung auf eine europaweite Verständigung zwischen magischen Menschen und Zauberern begibt er sich mit der hochrangig besetzten Abordnung des Zaubereiministeriums auf eine Reise für den Frieden zwischen Menschen und denkkfähigen Zauberwesen. Dabei gelingt es ihm und der französischen Abordnung, mit allen Nordeuropäischen Delegationen wichtige Vereinbarungen zu treffen. Julius ist erleichtert, dass Russland und alle anderen Länder, in denen Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen leben, einen ähnlichen Friedensvertrag schließen wollen wie er in Frankreich verfasst wurde.
In Ägypten üben Mitglieder der Bruderschaft des blauen Morgensterns die Amtsgeschäfte aus. Doch als die afrikanischen Zaubereiministerien zu einer Konferenz in Kenia einladen kommt es zur Machtrückeroberung durch die Familie Al-Assuani. Diese wollen die von Ladonna Montefiori entführten Zaubergegenstände aus Ägypten wiederhaben, vor allem jene Artefakte, die zu den zwölf Schätzen des Nils gehören.
Worum es sich dabei handelt erfährt Julius, nachdem ihm Béatrice einen in das Familiendenkarium ausgelagerten Traum zeigt, den ihr Ashtaria geschickt hat. Er erfährt den Grund, warum Millie es erlaubt hat, dass Béatrice noch ein Kind, diesmal möglicherweise eine Tochter, von ihm empfangen durfte. Denn Béatrice wird von Ashtaria, die als Vorbild der ägyptischen Muttergöttin Isis gegolten hat, eine magische Halskette aus jenen zwölf Schätzen zum Erwerb angeboten, die Kette der Isis, die ihrer Trägerin, sofern sie bis dahin kein Menschenleben genommen hat, neunfache Kraft auf alle heilsamen Zauber verleihen soll aber eben nur von Hexen getragen werden kann, die bereits einmal Mutter wurden.
Mit diesem unglaublichen Wissen und möglichem Vermächtnis in Aussicht reist Julius mit der französischen Ministeriumsdelegation auf die Insel Malta, wo es zum Treffen mit den Mittelmeeranrainern, darunter den Ägyptern kommt. Julius erfährt, dass das spanische Zaubereiministerium nicht beabsichtigt, den Friedensvertrag mit den Veelas zu übernehmen und dass Ägypten alle ehemaligen Fluchbrecher von Gringotts zur Fahndung ausgeschrieben hat.
Gleichzeitig baut Diana Camporosso ihre Rangstellung in dem im Neuaufbau befindlichen Geheimbund der Kobolde aus. Doch sie plant auch, mit den ehemaligen Feuerrosenschwestern Kontakt aufzunehmen. Vor allem in Afrika will sie eine sichere Basis finden. dabei gerät sie zunächst an Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens. Diese kann sie mit vier Todespfeilen aus Anhors Bogen bewegungslos machen und denkt, sie getötet zu haben. Doch als sie die Pfeile wieder aus dem Körper zieht erholt sich die Abgrundstochter. Diana hat eine neue starke Feindin. Außerdem gerät sie an die in einem mächtigen Ankerartefakt überdauernde Vampirherrscherin Akasha und ihre treuen Nachtkinder. Diese hatten bereits versucht, normale Menschen für sich einzuspannen, um Getreuen nach Amerika zu schicken. Doch der ausgewählte Transporteur stand bereits auf einer Todesliste der von aller Welt für tot gehaltenen Campoverde-Geschwister. Diese lassen das Privatflugzeug des von Akashas Untertanen erwählten Waffenschiebers aus Nordafrika über dem Atlantik explodieren und mit ihm Boten Akashas.
Diana Camporosso sucht die verbliebenen Schwestern auf und plant mit ihnen eine Neuauflage unter neuem Namen. Als Hauptquartier wählt sie eine Höhle eines ehemaligen Vampirherrschers. Nachdem sie die dort überdauernden Blutwürmer besiegen konnte plant sie die Neugründung eines dunklen Hexenordens.
In den USA bereiten sich alle magischen Menschen darauf vor, einen neuen magischen Kongress zu wählen. Doch findet diese Idee nicht überall Zustimmung. Außerdem erhebt sich dort eine Gruppierung, die einen außerlegalen Feldzug gegen alle angeblich dunklen Hexen führen will. Unruhen und Widerstand drohen, die Wiedervereinigung der US-amerikanischen Zaubererwelt zu verhindern. Dies wiederum bekümmert die zehn wichtigsten Familien dort, die ihrerseits ihre Hoffnungen in die Neuauflage des MAKUSAs setzen.
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Der Wüstenuhu flog beinahe lautlos unter dem flimmerfreien Sternenhimmel dahin. Er überquerte im für seine antrainierte Ausdauer bestmöglichen Tempo felsige Flächen und spärliches, meist stacheliges Gesträuch. Dann zog er seine Flügel halb ein und glitt beinahe im freien Fall abwärts. Er änderte nur ein wenig die Richtung. Dann zielte er genau auf eine bestimmte Düne, die sich unter den anderen Sanddünen nicht besonders hervortat. Für die große Eule flimmerte der Sandhügel, als fielen dort gerade alle Sterne vom Himmel herab. Dann verschwand die Erscheinung einer Düne. Statt dessen hielt der immer noch rasch sinkende Vogel auf ein langes Zelt zu. Kurz vor einem fatalen Aufschlag fing der Uhu den rasenden Sinkflug ab und blieb für einige Sekunden auf der Stelle schweben. Dann flog er mit gemächlichen Flügelschlägen auf eine Stelle im oberen Bereich des getarnten Zeltes zu. Eine kreisrunde Luke klappte vor dem Uhu auf und gewährte ihm den Einflug.
Innerhalb des Zeltes saßen zehn Männer in grün-goldenen Umhängen um einen massiven Holztisch im Schein frei schwebender Kerzen. Als der gefiderte Nachtbote über dem Tisch flatterte streckte ihm einer der dort wartenden Männer die die mit einem roten Drachenhauthandschuh geschützte Hand entgegen. Der Vogel nahm die Einladung an und ließ sich auf der Hand nieder.
„Das ging aber schnell“, meinte der Mann, den der große Eulenvogel angeflogen hatte. „Ist diesem kleinen Besenputzer doch wichtig genug, dass er mit uns und den anderen Bruderschaften zusammenkommt“, fügte er noch hinzu. Der Wüstenuhu gab ein tiefes „Wuhu“ von sich. „Ja, Quito, ich nehm dir ja schon die Post ab“, lachte der Mann mit den roten Handschuhen. „Brüder, wenn unsser Freundschaftsanwärter im Bayoo keinen Murks gemacht hat oder uns gar verschaukeln will kriegen wir jetzt auch was über die Ecken der Triangel.“
„Ping! Ping!“ feixte einer der anderen Anwesenden. „Rupert E. Underwoods Gesetz sagt, dass Macht immer Schmutz macht und wer Macht will nicht sauber bleibt. Das gilt doch ganz bestimmt auch für diese drei Herren, die jetzt mit den Reunionisten halten“, spottete der Mann mit den Handschuhen. Dann griff er an den weich gefiderten Rücken des Uhus und fingerte daran herum, bis er wie aus dem Nichts erst eine und dann zwei dicke Pergamentrollen freizog, als habe der Vogel diese in seinem Körper aufbewahrt. In Wirklichkeit war das aber nur ein getarnter Rucksack, dessen Unsichtbarkeitszauber nur diesen und seinen Inhalt umfasste.
„Uiii! Wenn das stimmt, Chicos, dann klappert es aber heftig bei der goldenen Triangel“, lachte er. „Mach den Indicator-Veritatis-Zauber, Tuck“, schlug einer der anderen Anwesenden vor.
„Stimmt, muss sein“, sagte der Behandschuhte, der auf den Namen Tuck hörte und eigentlich Tucker Reginald Greengrass hieß und zu den ältesten Zaubererfamilien von Texas und New Mexico gehörte.
„Lux veritatem luminato ex scripto!“ beschwor Tucker Greengrass und überstrich die erste Rolle mit seinem Zauberstab, ohne sie auszubreiten. Die Rolle erzitterte erst. Dann sprühte sie goldene Funken. Dann, nach vier Sekunden zwischen Pergamentrolle und Wunderkerze, erstrahlte die Rolle vollständig im goldgelben Licht. Bei der erwartungsvollen Stille hier konnte jeder ein leises, angenehm mittleres Summen hören. Dann nahm Tucker den Zauberstab fort. Licht und Summen erstarben im selben Augenblick. Tucker wiederholte den Prüfzauber mit der zweiten Rolle. Auch diese sprühte erst goldene Funken, um dann in einem hellen Goldlicht zu erstrahlen und gab einen gleichbleibenden Summton ab. Als alle mitbekommen hatten, dass auch diese Rolle nur die Wahrheit enthielt, zumindest die, von der der Beschreiber ausging, nahm Tucker den Zauberstab wieder fort.
„Gut, er selbst ist davon überzeugt, dass es alles wahr ist. Dann lasst uns mal lesen, was er so herausgefunden hat“, legte Tucker Greengrass fest und zog den Ring von der ersten Rolle.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis jeder hier die die ganze Tischlänge ausfüllenden Rollen gelesen hatte. Dann meinte Joss Horntip zu Tucker Greengrass: „Wenn das echt wahr ist kriegen wir die drei Gents aus New Orleans aber ganz schön an den Familienklunkern, Tuck. Willst du denen das Schwert auf die Brust setzen oder es an einem Wampushaar über ihnen aufhängen?“
„Zweites, Joss. Die haben zu viele Günstlinge in den Staaten und außer dieser Voodookönigin Marie Laveau gab und gibt’s nichts mächtigeres als die drei im Bayoo. Da müssen wir verdammt gut aufpassen. Vor allem dürfen wir denen nicht zeigen, wer wir sind. Aber ich habe für den Fall was vorbereitet, was die nicht knacken können. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass die sich drüber beraten, ob es echt so gut ist, die anderen sieben einzuweihen.“
„Ja, Tuck, wir müssen wirklich aufpassen wie die Maus, wenn sie das Rasseln der Klapperschlange hört. Denn genauso tödlich könnte es für uns sein“, warnte Marvin Dryrock, einer der wenigen dieser geheimen Zeltgemeinschaft, der es bis heute nicht bereute, mitten in Houston zu wohnen.
„Wir kriegen es hin. Ach ja, wir kopieren die Rollen oft genug, dass die befreundeten Bruderschaften das auch wissen. Sollte es uns doch erwischen können die drei von der Triangel sich nicht lange drüber freuen.“
„Wo du’s davon hast, Bruder Tuck, mit wem hast du denn von den anderen freien Bruderschaften und Freiheitsgesellschaften noch so Kontakt, wo die doch genauso eisern geheim sind wie wir?“
„Tjahaha, genau weil das so geheim ist behalte ich das auch für mich. Nur so viel, ich gehöre einer durch Fidelius-Zauber eingeweihten Gruppe an, die die anderen Mitglieder kennt, es aber nicht preisgeben kann. Also vergiss es, mich legilimentieren zu wollen, Joss, ich hab’s schon gespürt, wie wir uns hier getroffen haben. Du weißt, dass das gegen den Vertrauenscodex unserer Bruderschaft verstößt.“
„Weil ich eben wissen muss, wer und wo die anderen sind. Am Ende sind da welche von Ladonnas Ex-Schwestern unterwandert oder halten es mit Vita Magica“, rechtfertigte Joss Horntip seinen heimlichen Spionageversuch. „Jaja, noch einmal sowas und kein Legilimentor findet mehr was in deinem Schädel, Joss Highgate“, drohte Tucker Greengrass. Dann führte er seinen Mitbrüdern vor, wie er sicherstellen wollte, dass kein Enthüllungszauber herausfand, wer einen Brief verschickte. Die Mitbrüder applaudierten, als er seine Vorkehrungen durchgeführt und etwas verfasst hatte, das ohne theatralische Übertreibung als schriftliche Kriegserklärung bezeichnet werden konnte. „Okay, Chicos! Ihr habt mitgekriegt, was ich den drei Triangelecken geschrieben habe. Laut unseres Vertrauenscodex der Bruderschaft muss ein an außenstehende Zauberer gerichtetes Schriftstück vom hohen Tisch einstimmig genehmigt werden. Wenn also einer von euch was gegen den Grund und den Inhalt für das Schreiben hat darf er das jetzt bekanntgeben. Ansonsten wird abgestimmt.“
„Gab es da nicht noch so eine besondere Bekräftigung, wenn jemand was von einem wollte?“ fragte Marvin Dryrock in die Runde. „Stimmt, die Bayoo-Bekräftigung ungehaltener Zauberer. Da werden die denken, dass das Schreiben aus deren Ecke kommt. Gut, kann denen einfallen, unseren auskunftsfreudigen Informanten zu besuchen und auszuforschen. Aber der kennt von uns eben nur die Decknamen, auf die mein Vito und eure Postvögel abgestimmt sind. Ja, und wenn die wer mit einem Fernaufspürzauber belegt fliegen die nur in die Berge und die Wüste, ohne das Ziel anzufliegen. Ich traue einem Unortbarkeitszauber nur soweit, wie ich gucken kann, Chicos.“
„Dann stimmen wir ab“, schlug Joss vor. Keiner hatte einen Grund gegen das Versenden dieses Briefes. Alle hier anwesenden stimmten durch Handheben zu, den Brief nach New Orleans abzuschicken.
„Nimmst du Vito?“ fragte Moss Tucker Greengrass. „Nein, der soll sich ausruhen. Ich schicke seine Schwester Stina los.“
„Ich versteh’s bis heute nicht, wie jemand seiner Eule den Namen der eigenen Schwiegermutter geben kann“, grummelte Marvin Dryrock. Tucker grummelte zurück: „Hab ich gehört, Marve und außerdem ist die alte Sabberhexe schon längst unter der Erde. Also kann ich meine schnellen Eulen nach ihr benennen, ohne Krach mit ihr zu kriegen.“
Nur zehn Minuten später sah es für Außenstehende so aus, als wenn aus einer flachen, langgestreckten Sanddüne heraus ein Wüstenuhu steil in die Luft emporschnellte, bis er in Richtung Osten abbog und auf die für die Reise durch die Nacht nötige Geschwindigkeit beschleunigte.
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Die Brackwasserwellen plätscherten leise an die weißen Sandstrände von Petit Perle island, einer 2 Quadratkilometer großen, beinahe kreisrunden Insel mitten im ovalen Pontchartrain-See. Unter dem Sand des Strandes ruhten hausgroße Felsen, in die mit bezauberten Meißeln und Fräsen starke Runen der keltischen Runenkunde eingegraben waren. Sie hielten eine starke magische Aura am Leben, die die ganze Insel wie ein Tarnmantel umhüllte und zugleich einen Schutz vor Sturmfluten und Hurrikans bot. Auf dieser Insel wohnten die reichsten und / oder angesehensten und wichtigsten Zauberer von Louisiana. Dementsprechend protzig und exotisch wirkten die Wohn- und Residenzhäuser, die sich über die mit mediteranen Ziersträuchern und Bäumen bepflanzte Insel verteilten. Unter diesen ragten zwei Bauwerke heraus, die sich davon abhoben.
Da war zunächst das von einer achteckigen, acht Meter hohen Mauer umfriedete Anwesen mit bunten Blumen- und üppigen Gemüsebeeten. In deren Zentrum erhob sich ein ebenso achteckiges, vierstöckiges Haus, dessen Außenfassade himmelblau glänzte, und auf dessen sanft abgeschrägtem Dach ein steinerner zu einem großen Ring zusammengerollter Drache den sich jede Stunde zweimal um die Hochachse drehenden Schriftzug DUCHAMP in drei Meter hohen, aus sich selbst heraus bei tag, Nacht und Nebel golden leuchtenden Lettern umschlang, als müsse er diese Buchstabenfolge besonders schützen. In diesem Bauwerk wohnte und residierte das aktuelle Oberhaupt der in Louisiana bekannten Familie Duchamp, Jean Fréderic V. Duchamp mit seiner Gattin Henriette und vier Hauselfen. Die Duchamps hatten seit der von Frankreich aus erfolgten Besiedelung dieses Gebietes an der Errichtung von Transport- und Nachrichtenverbindungen mitgewirkt und zusammen mit zwei anderen Familien das US-amerikanische Flohnetz ausgebaut. Sie beschafften und verteilten besonders gutes Flohpulver, mit dem die teilweise großen Abstände zwischen Zaubererweltkaminen innerhalb von Sekunden überwunden werden konnten und lagen seit 1800 in einer geschäftlichen wie privaten Auseinandersetzung mit der Familie Steedford in der reinen Zaubererweltsiedlung Deltaville im Bundesstaat Mississippi.
Nur zweihundert Meter vom achteckigen Anwesen der Duchamps entfernt ragte eine vollkommen quadratische, blütenweiße Begrenzungsmauer auf. Das von dieser umfriedete Anwesen maß 300 mal 300 Meter und beherbergte innerhalb der Begrenzungsmauer fünf Gebäude. Je eines an jeder Ecke sah aus wie eine verkleinerte Ausgabe des White Towers in London mit je vier Türmen, deren runde Spitzen bei Tag wie goldene Helme und bei Mondschein wie Helme aus gediegenem Silber glänzten. Zahlreiche geschwungene Wege führten durch den Park aus lichten Wiesen, schattigen Bäumen aus der Mittelmeerregion und üppigen Gemüsebeeten auf ein besonderes Gebäude in der Mitte zu, einem zehnstöckigen Stufenturm, dessen Spitze von einem hohen Fahnenmast geziert wurde. Die zwei mal zwei Meter große Fahne trug das Wappen einer weißen Burg auf grünem Bergrücken unter goldener Sonne auf hellrotem Hintergrund und die ebenfalls aus sich heraus weißblau leuchtenden Lettern CENTRETOUR. Hier residierte Roger IV. Centretour, Oberhaupt der Centretour-Familie, eine der ältesten und wohlhabendsten Zaubererfamilien Louisianas. Die Centretours waren stolz auf ihre französischen Wurzeln und zeigten dies immer dadurch, dass die ältesten Söhne jedes männlichen Mitgliedes einen französischen Jungennamen bekamen, der von allen auch französisch auszusprechen war. Die Centretours hatten sich ihre hohe Rangstellung und das Wohnrecht auf Petite Perle Island damit erworben, dass sie wie die Duchamps und die im Weißrosenweg selbst wohnenden Lachaises am Aufbau und Ausbau des transkontinentalen Flohnetzes beteiligt waren. Außerdem standen die Centretours in der langen Tradition ihrer französischen Ahnen, die begnadete Baumeister und thaumaturgische Architekten waren. Die nordamerikanische Seitenlinie, die hier zu einer machtvollen Zaubererdynastie gewachsen war, betrieb ebenfalls das Geschäft mit magischen Bauwerken. Doch sie bauten nicht mehr auf, sondern schrumpften fertige und nicht gegen Verwandlungs- und Versetzungszauber geschützte Gebäude ein, um sie mitsamt Inhalt von ihrem ursprünglichen Standort fortzutragen und an dem vom Endkunden gewünschten neuen Standort aufzustellen und auf ihre Originalgröße zurückwachsen zu lassen. Auf diese Weise hatten sie viele verlassene oder besitzlose Schlösser, Burgen und Herrenhäuser aus Europa und Asien entführt, häufig mit noch darin umgehenden Geistern. Ja, einmal hatte Centretours Firma Motiones Mansionum sogar ein seit zweihundert Jahren unbeachtetes Vampirschloss eingeschrumpft und mit seinen vier blutdurstigen Bewohnern in die Rocky Mountains überführt. Erst dort waren die vier im Überdauerungsschlaf liegenden Vampire wieder aufgewacht und hatten sehr ungehalten darauf reagiert, mal eben den Kontinent gewechselt zu haben. Auch mochten es etliche Geister nicht, aus ihrem Geburtsland entführt zu werden und als nichts anderes als besonderes Mobiliar verschachert zu werden. Weil dadurch sowohl die Denkmalpflege in den Ursprungsländern alarmiert wurde, wodurch die Geheimhaltung der Zauberei und eine ständige Gefahr von Aufruhr magischer Wesen einherging hatten die Centretours seit dem Ende des ersten Magierkongresses der USA Einreiseverbot in zehn Länder, darunter Großbritannien, Rumänien, Deutschland und Frankreich. Centretours Mitarbeiter konnten sogar damit rechnen, in eines der Zauberergefängnisse gesperrt zu werden, wenn sie bei einer solchen nicht genehmigten Hausüberführung erwischt wurden. ja, und die Geisterbehörde des MAKUSA und dessen Rechtsnachfolge hatte eine eigene Unterabteilung mit der Bezeichnung Centretour-Abdeckung.
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Am Nachmittag des 18. April 2007 begrüßte Roger IV. die neun anderen Familienoberhäupter, die mit seiner Familie zusammen „die großen zehn des Westens“ bildeten. Hierzu trafen sie sich in einem kreisrunden Saal auf der vierten der zehn Stufen der zentralen Zikkurat des Centretour-Anwesens. Uneingeweihte mochten beeindruckt sein, dass die Wände zwischen den aus jeder Haupthimmelsrichtung hineinführenden Türen eine direkte Aussicht nach draußen boten. Doch derartige magische Raffinnessen waren schon seit Jahrhunderten bekannt. Jedenfalls konnten die im Saal anwesenden scheinbar ganz frei nach draußen sehen. Wenn alle Türen verschlossen waren trat überdies ein zweiseitiger Schallsperrschluckzauber in Kraft, sodass sie hier ungestört von jedem Geräusch außerhalb verhandeln konnten und ebenso von keinem Außenstehenden abgehört werden konnten. Hier pflegte auch der Vorstand der Firma Motiones Mansionum zu tagen, wenn mal wieder ein „Hausumzug“ geplant wurde.
„Ihr kennt ja die Regel. Wo eine Rose von der Decke hängt bleibt alles gesagte im Raum, wo sie hängt“, wies Roger Centretour die neun Gäste noch einmal auf die weiße Rose hin, die aus der Mitte des vierundzwanzigarmigen Kronleuchters herabhing. Die neun anderen, vor allem Jean Duchamp, der Nachbar von gleich nebenan, sowie Gaston Lachaise, der aus dem Weißrosenweg in New Orleans selbst angereist war, nickten dem Gastgeber zu.
„Eigentlich wollten wir uns ja erst am zweiten Mai hier treffen. Aber bedauerliche Entwicklungen machen es nötig, uns jetzt schon zu treffen“, begann Roger Centretour und zog eine kleine Schatulle aus der rechten Außentasche seines lindgrünen Umhangs. Er klappte sie auf und legte einen weißgelben Umschlag frei, auf den mit giftgrünen Druckbuchstaben „Roger IV. Centretour im Château Centretour, Petite Perle Island, Pontchartrain-See bei new Orleans“ aufgeprägt war.
„Keine Sorge Leute, ich habe den von einem Wüstenuhu zugestellten Umschlag sofort durch alle Fluchprüfungsvorkehrungen geschickt, die ich schon wegen meiner Geschäftstransaktionen eingerichtet habe. Keine magischen oder toxischen Gemeinheiten. Allerdings war bei dem ebenfalls in Druckbuchstaben auf graues Pergament geschriebenenBrief ein Fingerhut voll Knochennmehl.“ Die Erwähnung löste bei den aus Louisiana stammenden Familienvätern bestürztes Kopfschütteln und angedeutete Wegscheuchgesten aus. „Keine Sorge, ich habe das Mehl gleich im Abfall verschwinden lassen“, sagte Roger. „Aber für die, die nicht aus Louisiana stammen: Knochenmehl, das in Briefumschlägen versendet wird, gilt als offene Bedrohung von Leib und Leben, wenn der Empfänger des Briefes sich nicht an die Bedingungen des Schreibers hält. Dieser unschöne Brauch wurde zwar vom ersten MAKUSA und dem nachfolgenden Zaubereiministerium verboten. Aber offenbar finden jetzt wieder welche, dass diese Art von nichtmagischer Drohung wieder ausgesprochen werden darf. Kommen wir zum Inhalt, der Mutter aller Erpressungsmanöver.“
Roger legte den aus dem Umschlag gezogenen Brief auf den mit lindgrüner Leinendecke bedeckten Tisch. Dann zielte er auf die Mitte des Pergamentstückes und murmelte „Scriptorvista!“ Über dem Pergament entstand erst eine blaue Lichtkugel, die sich schubweise immer weiter ausdehnte und dann zu einer leuchtenden Nebelwolke wurde. Aus dieser formte sich die Gestalt eines blutrot leuchtenden Knochengerüsttes, von der Beckenbreite her männlich. Alle Anwesenden blickten verdutzt auf diese Erscheinung. Eigentlich musste bei diesem Zauber das räumliche Abbild des Verfassers oder der Verfasserin erscheinen, wenn der Brief nicht gegen diesen Zauber gesperrt wurde. Ein rotes Skelett war nicht die übliche Reaktion, und sie konnten sich auch nicht vorstellen, dass dieser rote Knochenmann den Brief geschrieben hatte. „Scriptum audietur!“ schnarrte Roger Centretour und führte die dafür vorgesehene Zauberstabgeste aus. Daraufhin ertönte eine metallische, weder männlich noch weiblich geprägte Stimme, als habe jemand einen großen Zaubertrankbraukessel zum sprechen gebracht.
„An Monsieur Roger Centretour, vierter dieses Namens, sowie die beiden anderen Ecken des nicht mehr so golden strahlenden Triangels. Ja, und falls auch noch wer anderes von den ach so großen zehn Familien mitlesen oder sich diesen Brief vorlesen lassen möchte, seien auch Sie gegrüßt.
Wir, die Gesellschaft zur Bewahrung regionaler Eigenständigkeit nordamerikanischer Zauberergemeinschaften, kurz die Bewahrer, haben mit sehr großer Enttäuschung und daraus erfolgender Verärgerung erfahren, dass Sie und Ihre in Louisiana beheimateten Geschäftspartner Duchamp und Lachaise sich dazu haben drängen lassen, die gerade erst in ruhige und zielsichere Gewässer einschwenkende Entwicklung jedes einzelnen Staates für nichtig zu erklären, um einer Bande korrupter und paranoider, nur der eigenen Macht verbundener Leute die Schlüssel zu unserer Existenz in die Hand zu legen, indem sie eine Wiederauferstehung des MagischenKongresses der USA das Wort reden. Sicher, Sie rühmen sich, mit Ihren Familien immer die Zeichen der Zeit zu erkennen und daher so groß und wohlhabend geworden zu sein. Doch diesmal, so sagen wir, die Bewahrer, verschätzen Sie sich gründlichst. Nach all dem, was eine zentralistische, nur in winzigen Ansätzen föderale Zaubereiverwaltung angerichtet hat und nach allem, was wir aus der Goldebbe und den Umtrieben von Vita Magica und Ladonna Montefiori zu lernen gezwungen waren wollen Sie uns alle wieder an ein in Washington oder New York ausgelegtes Gängelband hängen, ja unsere gerade erst erwachende Kraft ersticken, um uns wieder zu widerwilligen Zulieferern kleiner und kleinster Staaten zu machen, die ohne unsere Hilfe nicht überleben können. Sie wollen wieder, dass weit fort von uns beschlossen wird, wie wir zu leben, mit wem wir was zu handeln haben und wer zu uns hinziehen und wohnen darf. Sicher, viele fanden das doch ganz angenehm und waren stolz auf die Freiheiten, die es gab, bis der erste MAKUSA sich in einem in alle Belange hineinwirkenden Überwachungsstaat verwandelt hat und das ihm folgende Zaubereiministerium zu einem leicht korrumpierbaren, aus Günstlingswirtschaft und Geltungssucht zusammengehaltenen Verein entwickelt hat, der für unsere ausländischen Feinde ganz leicht zu übernehmen und zu unterwerfen war. Sicher haben viele in den einzelnen Staaten laut gejubelt, als es hieß, dass die regionale Selbstverwaltung wieder an eine Unionsverwaltung übergeben werden soll und der angeblich unproduktive und noch leichter zu unterwandernde Flickenteppich damit zu einem festen Gesamtgewebe verfestigt werden soll. Doch wissen wir Bewahrer, dass diese Versprechungen und Verlockungen nichts als Lügen sind, die von Ihnen und den von Ihnen abhängigen in die Welt gesetzt werden, um ihren Drang nach Gold und Macht zu befriedigen. Damit wollen Sie nicht nur unsere Interessen in den einzelnen Staaten verkaufen, sondern ihre eigenen Leute in unverrückbare Machtpositionen befördern, wie Sie es schon oft versucht haben und meistens von Ihren weniger begünstigten Konkurenten aufgehalten wurden. Doch diesmal wähnen Sie sich sicher, dass Sie für alle Zeiten unverrückbar an der Ausgestaltung unserer magischen Gemeinschaften beteiligt werden müssen.
Wie unverfroren Sie dabei vorgehen durften wir ja den Zaubererweltzeitungen entnehmen, dass eine Generalamnestie für all diejenigen erlassen werden soll, die vor der Machtübernahme durch Vita Magica Taten unterhalb dauerhafter Schädigung von magischem Leib und Leben verübt haben. Klar, dass dazu auch die Enkeltochter der Greendales gehört, die sich ihres durch die Machenschaften Vita Magicas wiederverjüngten Ehemannes bemächtigte und sich als dessen Ziehmutter aufspielt, obwohl sie genau weiß, dass dies mit Fug und Recht verboten ist. Aber was macht sie nun? Sie will die erste Präsidentin des neuen magischen Kongresses der USA werden. Als angeblich einzige Alternative kandidiert Rollin Firepan, der seinen Nachnamen seinen vor zweihundert Jahren in die Staaten eingeschleppten Vorfahren aus Afrika verdankt, die den Familiennamen als hörbaren Sklavenstempel aufgeprägt bekamen. Firepan will im Falle seines Wahlsieges die Rechte nichteuropäischer amerikanischer Zauberer und Hexen stärken und will sogar Entschädigungszahlungen von den Familien einfordern, die sich am Sklavenhandel und der Enteignung der Ureinwohner bereichert haben sollen. Merkwürdig, dass Sie, besser die Duchamps, sich der Gefahr des totalen Ruins aussetzen wollen, falls Firepan die Mehrheit der Wähler erhalten mag, wie unwahrscheinlich dies auch immer aussehen mag.
Wir setzten unsere Hoffnung in Ihr Triumvirat, dass Louisiana sich dieser Schmach widersetzt. Doch offenbar konnten die sieben anderen, die mit Ihnen den Club der großen zehn betreiben lauter tönen als das sachte Ping einer goldenen Triangel. Sie gehen offenbar davon aus, dass niemand mitbekommen hat, welche unerlaubten Taten Sie bereits begangen haben. Hier eine kleine aber deutliche Aufzählung, was die aus Ihren Kellern stinkenden Leichen uns geflüstert haben. Ja, auch jene, die meinen, weil sie nicht in Louisiana wohnen sich auf der sicheren Seite zu wähnen sollten genauer hinhören.“
Die metallische Stimme verlas nun Anschuldigungen, die vor einem Gericht durchaus geeignet waren, die amtierenden Patriarchen in eine sehr unangenehme Lage zu stürzen. Allein was sich Centretour geleistet hatte, indem er mehrere Geisterhäuser von ihren gesicherten Stammplätzen entführt hatte mochte für unbescholtene Mitbürger schon ausreichen, um ihn vor Gericht zu bringen, zumal etliche Vorfälle wohl durch sehr gefällige Günstlinge in den tiefsten Kellern begraben wurden.
Den Duchamps warfen die Bewahrer vor, ihre Zutaten für Flohpulver mit Schweiß, Blut und Tränen unmündiger Kinder in den arabischen Ländern und in sogenannten Schattendörfern Südosteuropas zusammengestellt zu bekommen und dass sie einen Exklusivhandel mit der ägyptischen Familie Al-Assuani abgeschlossen hatten, um die ausgefallenen Schwanzfedern von Phönixen günstig einzuhandeln, wo viele Alchemisten wussten, dass Phönixe, die in sonnenreichen Ländern lebten, die im Sonnenlicht steckende Kraft des Feuers besonders gut konzentrieren konnten, wodurch das damit zubereitete Flohpulver besonders stark und weitreichend war. Da konnte Duchamp nur lachen. Doch weil die Stimme den Brief noch weiterlas musste er zuhören. Das Lachen verging ihm, als die Bewahrer behaupteten, dass seine Verwandten an der Heilerzunft vorbei Experimente mit nichtmagischen Menschen machten, um die Wirkung neuer Zaubertränke zu testen, ohne magisches Blut zu gefährden, ja sie sogar an einer Art Fügsamkeitsdroge arbeiteten, die unter andere Rauschgifte geschmuggelt alle Nichtmagier der USA zu halben Zombies machte, die von auf bestimmten Tönen getragenen Stimmen ferngelenkt werden sollten, um den Duchamps und ihren Begünstigten als einziges großes Sklavenheer unterschiedlichster Hautfarben zu dienen. Das sollte die Heilerzunft und wohl auch die für Gesetze zum Umgang mit nichtmagischen Menschen verantwortlichen Kandidaten des neuen MAKUSAs besser nicht erfahren. Weil hierbei Namen und Orte erwähnt wurden und Jean Duchamp sehr bleich und betroffen dreinschaute konnte jeder, auch sein Erzfeind Cuthbert Steedford sehen, dass die Vorwürfe nicht frei erfunden waren.
Den Lachaises wurde vorgeworfen, am „großen, peinlichen Betrug“ beteiligt gewesen zu sein, mit dem Phoebe Gildforks Firma nicht nur die Quidditchweltmeisterschaft in Italien gewinnen wollte, sondern dadurch auch den Umsatz von Bronco-Besen steigern wollte. Da hierfür auch sehr viel hochwertiges Holz aus den Urwäldern Mittel- und Südamerikas bezogen werden sollte war bereits mit Lachaises Firma abgesprochen, diese Holzarten zu ernten, ohne die dafür zuständigen Verwaltungsbehörden um Erlaubnis zu bitten. Auch stand sehr zu vermuten, dass die indigenen Hexen und Zauberer es immer noch sehr ärgerte, dass die US-Nationalmannschaft mit einem Ritualzauber ihrer Vorfahren das ganz große Gold machen wollte und sie, die Indigenen, wohl nichts davon abbekommen hätten, von Lucy Strikinghawk abgesehen.
Als dieser Rundschlag gegen die drei Triangel-Patriarchen vorbei war beendete die metallische Vorlesestimme den Brief mit den Worten: „Wir, die Bewahrer, werden uns auch in anderen Staaten umhören, wer wirklich von der Wiedereinsetzung des MAKUSAs und von einer durch Kungelei begnadigten Präsidentin Godiva Cartridge profitiert. Was die goldene Triangel angeht, so tut sie sehr gut daran, nicht mehr im Orchester der Reunionisten mitzuspielen. Denn die bereits beschauten Leichen in Ihren Kellern sind sicher nicht die einzigen, und keiner von Ihnen will es sich mit denen verderben, die nicht auf der Lohn- und Gefälligkeitsliste von Ihnen stehen. Sie sind hiermit gewarnt!“
Mit einem vernehmlichen Pong zersprühte die Erscheinung eines blutrot glühenden Gerippes. Zugleich züngelten blutrote Flammen aus dem pergament heraus und zerfraßen es zu einem kleinen grauen Aschehaufen. Die Tischdecke wurde dabei angekokelt. Centretour starrte auf dieses Feurige Spektakel und wusste nicht, ob nicht gleich der Brandmeldezauber losgehen würde. Doch als das letzte Fünkchen verlosch, ohne dass die Tischdecke selbst in Flammen aufging atmete nicht nur er erleichtert aus. Doch dann spürte er die durchdringenden Blicke seiner Gäste auf sich.
„Wie gut sind deine Flucherkennungszauber noch einmal?“ fragte Gaston Lachaise verächtlich. „Diesen Feuerzauber hätten die aber sicher erkennen müssen.“
„Ja, wer den Schaden hat, Gaston Lachaise“, schnaubte Roger Centretour. „Das war ein in mindestens fünf Hundertstel der verwendeten Tinte eingewirkter Zauber, der bei Anwendung des Vorlesezaubers, vielleicht auch bei der Kombination aus Verfasseranzeige- und Vorlesezauber diesen Brand ausgelöst hat, sobald alle geschriebenen Worte vorgelesen wurden“, sagte Duchamp, der Flohpulverexperte und von allen hier sicher am besten mit Feuerzaubern und auf Feuer basierender Alchemie vertraute. Dann fühlte er den Blick des baumlangen Goodwin Goldfield auf sich. „Stimmt das, was dieser Brief behauptet, Jean Duchamp. stellst du mit deinen Leuten Versuche mit Nomajs an, um neue Zaubertränke zu erproben?“
„Goodwin, glaubst du echt alles, was auf einem Stück Pergament steht und aus einer höchst vertrauensunwürdigen Quelle stammt?“ konterte Duchamp mit einer Gegenfrage. Da sagte Cuthbert Steedford: „Jetzt weiß ich, warum Sie höchst persönlich erschinen sind, Mr. Duchamp. Ihr Unterhändler Paul Duchamp hätte das hier garantiert nicht hören dürfen und Ihre Tochter Yvette garantiert auch nicht.“
„Pferdemetzger, dass Sie mir das sofort unter die Nase reiben, wenn Sie meinen, was noch mehr als einer Ihrer Pferdeäpfel stinkendes gegen mich zu haben war klar. Aber ich frage auch Sie, Mr. Steedford: Glauben Sie alles, was auf einem Stück Pergament steht, von dessen Herkunft und Hinterleuten wir gar nichts wissen?“
„Nein, ich glaube nicht, was auf einem Pergament steht, wenn ich nicht selbst sehe oder einer meiner vertrauenswürdigen Leute das für mich herausfindet. Aber ich habe Ihr Gesicht gesehen, das personifizierte schlechte Gewissen, die Ertapptheit, die einem nervenschwachen Dieb oder Mörder den Tag versaut, wenn ihm seine Tat vorgeworfen wird. Das habe ich gesehen und dem glaube ich, dass da was ddran ist“, erwiderte Steedford. Duchamp konnte ihm ansehen, dass der das sicher bei einer sich bietenden Gelegenheit ausnutzen mochte.
Dann sprach noch Goodwin Goldfield aus Misty Mountain: „Falls ja, Monsieur Duchamp, empfehle ich Ihnen im Namen der aus Ihrer und aus meiner Familie stammenden Heilerinnen und Heiler, schnellstens alle Versuche beenden zu lassen und alles an Unterlagen und Proben restlos zu vernichten. Sollte es nämlich noch wen geben, der diese Nachricht bekommt, und sollte die Zunft deshalb nachforschen, so ist es völlig egal, ob wir noch eine regionale Eigenverwaltung oder bereits einen neuen MAKUSA oder ein neues Zaubereiministerium bekommen. Die internationalen Zaubereigesetze verbieten Massenversuche mit gesunden Menschen zum Zwecke der Herstellung schädigender oder beeinträchtigender Zauber oder Tränke.“
„Ich glaube nicht, dass ich mir von einem Bergbewohner, der nur das Glück hatte, an eine Tochter der Heilerzunftkönigin von Nordamerika geraten zu sein, vorschreiben lasse, welche Geschäfte ich mache und welche dafür nötigen Versuche ich durchführen lasse und … Nogschwanz!“
„Leute, das war doch ein Geständnis“, feixte Steedford. Aber ich fürchte, Mr. Goldfield, so einfach kommt der Flohpulvermüller Duchamp nicht mehr unbeschadet raus.“
„Wenn mir einer deiner Pferdeknechte zu nahe auf die Bude rückt ist Feuer unterm Eis, Rosstäuscher“, zischte Duchamp. Da hieb Centretour mit der rechten Faust auf den leicht angekokelten Tisch, dass die darauf verstreute Asche aufwirbelte und als wild wirbelnde Wolke über dem Tisch herumflog. „Drachendreck!“ fluchte Centretour, der zusehen musste, die Asche nicht in Augen oder Nasenlöcher zu kriegen. Erst als sicher war, dass die Überreste des verbrannten Briefes ihm nicht mehr zusetzen konnten stieß er aus: „Gentlemen! Was wir hier gerade machen ist genau das, was diese abstruse Bande, die sich „Die Bewahrer“ nennen wollte. Wir sollen über deren Anschuldigungen und Verdächtigungen in Streit geraten und unseren Zusammenhalt verlieren. Mann, wie alt seid ihr alle, dass ihr auf diesen Trick so prompt hereinfallt? Wollt ihr euch von so einem Brief, der nicht einmal mehr existiert, ins lodernde Drachenmaul treiben lassen? Ich auf jeden Fall nicht. Und wer hier noch genug Mumm in den alten Knochen hat pflichtet mir bei. Ich habe euch diesen Brief vorlesen lassen um zu klären, dass es da Leute gibt, die nun uns ganz gezielt angehen und uns in eine bestimmte Richtung treiben wollen. Ihr alle habt ähnliches schon erlebt. Sollen wir deshalb aufgeben?“
„Du hast was von Erpressung gesagt, Roger“, sagte Gaston Lachaise. „Der Brief enthielt nur die Aufforderung, uns von der Reunion loszusagen, aber nicht bis wann.“
„Das kann ich dir sagen, Gaston“, kam Jean Duchamp seinem direkten Nachbarn mit der Antwort zuvor. „In dem Moment, wo der Brief sich selbst vernichtet hat er ein auf Feuerzauber basierendes Signal an seinen Verfasser übermittelt, dass er gelesen wurde und sich der magischen Vorgabe gemäß vernichtet hat. Ab da läuft die Zeit, die uns der Verfasser gibt, nämlich einen vollen Monat. Ich kenne einen altchinesischen Zauber, der Flamme der Erinnerung heißt. Wenn ein darauf abgestimmter Feuerzauber im Umkreis von zehn Tagesreisen bei hellem Tag in Kraft tritt glüht diese Flamme auf und brennt einen Monddurchlauf lang. Wenn niemand eine Zeitangabe gehört hat, und ich habe auch genau hingehört, dann läuft so eine magische Frist ab. Aber diese Erpressung wird auf ihren Urheber zurückschlagen wie ein Bumerang. Ich lasse mich jedenfalls nicht ins lodernde Drachenmaul hineintreiben.“
„Womöglich habt ihr anderen auch schon so beblückende Briefe erhalten“, meinte Centretour und sah in die Runde zu Goldfield, Greendale, Gladfield, Southerland, Steedford, McDuffy und Hammersmith, die bisher sehr alarmiert bis vorwurfsvoll auf die drei aus New Orleans geblickt hatten. „Hier und heute möchte ich mit euch klären, ob wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen, oder ob der eine oder andere von euch doch das große Zittern hat. Wohl gemerkt, ich gehe davon aus, dass die Untersektionen jener Gruppierung auch in euren Heimatstaaten unterwegs sind. Was die wollen ist im Grunde ein Schattenkongress, nach außen regionale Eigenständigkeit und unter der Decke ein geheimes Netzwerk aus Absprachen und Geheimgeschäften. Insofern war das von denen sehr leichtsinnig bis trolldumm, uns diesen Brief zu schicken, Messieurs.“
„Ja, oder sie wollen genau diesen Eindruck vermitteln, dass wir sie für einfältig halten“, wandte Goodwin Goldfield ein. Myles McDuffy, dessen Familie sich vor allem durch sehr günstige Positionen in Sport, Kunst und Unterhaltung hervorgetan hatte, ergänzte: „Ja, sie wollen, dass wir diesenBrief für eine reine Frechheit halten und davon ausgehen, dass da jemand versucht, einen eigenen Verein zu gründen, der unter dem Deckmantel regionaler Eigenständigkeit ein neues Geflecht aus unkontrollierten Vereinbarungen und Vorhaben möglich macht. Ja, sie wollen, dass wir das denken. Damit machen sie sich wieder größer als sie selbst sind. Das ist genauso, als wenn ein Quodpotter einen Zauber verwendet, der ihn für seine Gegner viel größer erscheinen lässt und sie ihn deshalb nicht anzugreifen wagen. Auch ein Schatten kann bei der richtigen Beleuchtung größer als sein Ursprung sein. Wenn wir es hier von einem Schattenkongress haben passt dieser Vergleich auch ganz gut. Deshalb schlage ich vor, dass wir alle unsere familiären Umfelder prüfen, ob da nicht der eine oder die andere irgendwas nach außen trägt.“
„Was ebenfalls in deren Sinne wäre, Leute“, sagte Priapus Southerland. „Wenn ihr euren eigenen Angehörigen nicht mehr traut haben diese Erpresser gewonnen, ohne den Kampf überstehen zu müssen. Ein Chinese namens Sunzu bezeichnete das als Inbegriff des Könnens, den Feind ohne Schlacht zu unterwerfen.“
„War das nicht derselbe, der gesagt hat: „Halt dir deine Freunde nah, und deine Feinde noch viel näher!“?“ fragte Duchamp und sah nicht zufällig Cuthbert Steedford an. Dieser grinste jungenhaft. „Ja, Jean, du kannst gleich mit mir zurück nach Deltaville. Im Schlafraum für Stallburschen ist noch ein Bett frei.“
„Erst wenn die Sonne grün im Westen aufgeht“, knurrte Jean Duchamp.
Noch einmal hieb Centretour auf den Tisch und erzwang damit die volle Aufmerksamkeit. „Also, Messieurs und Gentlemen. Wenn Confrère Duchamp recht hat läuft da irgendwo in unserem großen schönen Land eine Feueruhr, die spätestens in einem Monat ein Signal auslöst, wenn wir bis dahin nicht getan haben, was die Erpresser wollen. Wer will dem nachgeben? Der hebe die Hand.“ Keiner hier hob die Hand. Niemand der Anwesenden wollte sich die Blöße geben, sich von einem geheimnisvollen Brief verängstigen zu lassen. „Gut, dann besprechen wir jetzt, wie die Reunionsvorbereitungen bisher abliefen und was wir von den Kandidaten zu halten haben!“ bestimmte er als Gastgeber die weitere Tagesordnung.
Gegen acht Uhr hatten sie alle Themen ausgiebig besprochen. Dabei hatten sie auch die Vermutung geäußert, dass sowohl Vita Magica als auch der führungslos gewordene Feuerrosenorden dahinterstecken mochte. Beide Gruppierungen würden ja davon profitieren, wenn jeder Staat für sich verwaltet wurde und es nicht nur einen Flickenteppich, sondern ein sehr großmaschiges Netz mit immer dünneren Strängen gäbe.
Sie genossen noch ein Abendessen im Himmelssaal, einem kuppelförmigen Saal auf der obersten Etage. Dann kehrten die neun nicht hier wohnenden Familienväter in ihre eigenen Residenzen zurück. Als Duchamp als letzter den Zentralturm verließ meinte er zu Roger Centretour: „In einem Monat dann bei den Hammersmiths.“
„Ja, in einem Monat bei den Hammersmiths“, bestätigte Centretour. Dann sah er, wie sein Nachbar auf den an der südlichen Eckburg abgestellten Besen stieg und nach kurzer Öffnung der Überflugssperre über die weiße Begrenzungsmauer davonraste, um in nur einer Minute auf seinem eigenen, achteckigen Anwesen zu landen.
„Woher haben die Duchamps dunkle Geheimnisse oder mit wem ich Geschäfte mache? Die haben doch alle magische Stillschweigeabkommen unterschrieben“, dachte Centretour. So ganz geheuer war es ihm dann doch nicht, dass da jemand war, der die Leichen im Keller finden und „beschauen“ konnte. Falls es solche undichten Stellen bei ihm gab musste er die finden, bevor da wirklich wer gegen ihn konspirierte und er sich aussuchen durfte, ob er als sabbernder Säugling ohne bisherige Erinnerungen einer unterprivilegierten Pflegefamilie übergeben wurde, Jahre lang ohne eigenes Vermögen in einer Zelle der mittleren Kategorie von Doomcastle absitzen musste oder ob sie ihn in Anlehnung früherer Zeiten nicht doch an Leib und Seele trennten und sein Körper zur Mahnung anderer Untäter konserviert in einer Zelle für Schwerverbrecher aufstellten. Doch genau diese düsteren Zukunftsaussichten mochten seinen Confrères Jean Duchamp und Gaston Lachaise zu schaffen machen. Ja, und falls die anderen sieben auch noch dunkle Geheimnisse hatten konnte das, was die sogenannten Bewahrer regionaler Eigenständigkeit „Club der großen zehn“ genannt hatten, endgültig auseinandergehen. Hätten sie dann nicht beschließen müssen, mehr über diese angebliche Gegenbewegung zur Reunion herauszufinden? Er musste zugeben, dass sie dieses Thema doch schneller abgehakt hatten als erforderlich war. Doch wenn Duchamp recht hatte besaßen sie noch einen vollen Monat Zeit, alles nötige herauszufinden und anzugehen.
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Am 19. April erschien in der Temps de Liberté ein mit Genehmigung des französischen Zaubereiministeriums gehaltenes Interview mit Julius Latierre.
TDL: Monsieur Latierre, Sie versprachen uns eine teils gute und teils schlechte Nachricht. Was dürfen wir darunter verstehen?
Julius Latierre: Die gute Nachricht lautet, dass da, wo die meisten reinrassigen Veelas und ihre mit Menschen hervorgebrachten Nachkommen leben ein umfassender, auf gegenseitigen Respekt gründender Friedensvertrag geschlossen wurde. Wo vorher erst von einem reinen Burgfrieden die Rede war, von einer im Namen des Friedens einzuhaltenden Trennung zwischen Menschen und Veelas und ihrer Nachkommen, konnte nun doch ein klarer, beide Seiten achtender Vertrag beschlossen und in Kraft gesetzt werden. Die slawische Allianz, also Russland, Bulgarien, Polen, Südslawien und Teile Rumäniens erkennt an, dass Ladonnas Vorhaben beinahe beide Völker in die völlige Vernichtung getrieben hätten. Dies, so der bulgarische Kollege aus der Abteilung zur Erkennung und Überwachung magischer Wesen Petrov, dürfe sich nicht wiederholen. Insofern hat die von Ihnen und Ihren Kollegen als „Reise für den Frieden“ betitelte Mission unseres Zaubereiministeriums einen wichtigen Erfolg im gegenseitigen Umgang zwischen intelligenten magischen Wesen erzielt. Dies stimmt mich sehr froh.
TDL: Ja, und was ist daran die schlechte Nachricht? Welche Bedingungen haben denn die Veelas gestellt, um diesem Frieden zuzustimmen?
Julius Latierre: O, da habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt und bitte dafür um Entschuldigung. Was den Frieden zwischen den Veelas und ihren Nachkommen in Osteuropa angeht besteht laut der mir auf verschiedenen Wegen zugegangenen Mitteilungen keine Besorgnis. Die Veelas haben zwar zusätzliche Bedingungen stellen wollen, konnten sich jedoch vom Ältestenrat der Veelas davon überzeugen lassen, dass der hier in Frankreich geltende Vertrag als Grundlage völlig ausreicht. Was mir ein gewisses Unbehagen bereitet ist, dass es anders als im Osten in Spanien und Portugal zu einer weiteren Beschränkung der dort lebenden Veelastämmigen kam. Gut, ich bin wie alle Kolleginnen und Kollegen verpflichtet, mich nach Ende der dunklen Ära Ladonna Montefioris wieder an die Nichteinmischungsabkommen der globalen Magierkonferenz zu halten. Doch als für quasi alle Veelastämmigen Westeuropas auserwählter Vermittler darf und muss ich zumindest mein Unbehagen bekunden, dass die neue Beschränkung von Rechten veelastämmiger Mitbürgerinnen und Mitbürger in Spanien und Portugal jederzeit zu neuem Unmut werden kann. Gemäß der mir zugegangenen Mitteilung aus Spanien gilt der französische Friedensvertrag als für Spanien unannehmbar. Aber wie erwähnt muss ich das Ergebnis zumindest anerkennen.
TDL: Welche Beschränkungen sind den spanischen Veelastämmigen auferlegt worden? Oder unterliegt dies einer Geheimhaltung?
Julius Latierre: Nein, ich wurde von meinen Vorgesetzten und von der Abteilung für internationale Zusammenarbeit ermächtigt, die wesentlichen Punkte zu erwähnen, damit die in unserem Land lebenden Veelastämmigen auf diesem Wege erfahren, worauf sie sich in Spanien und Portugal einrichten müssen. Zwar erhalten alle mir namentlich bekannten Veelas und Veelastämmigen gesonderte Bekanntmachungen, aber Ihre Zeitung dürfte die betreffenden womöglich schneller erreichen als die versandten Posteulen.
Veelastämmige in Spanien sind ab dem 1. Mai 2007 gehalten, ihre Abstammung und den Grad ihrer Veelastämmigkeit heilmagisch feststellen und zertifizieren zu lassen. Danach gilt, dass nur die männlichen in höheren Ämtern dienen dürfen, ihnen aber das Amt als Zaubereiminister bis zum 1. Mai 2107 verwährt bleibt. Weibliche Veelastämmige dürfen keinerlei ministerielle Ämter anstreben und / oder ausüben, sondern nur in privatwirtschaftlichen Unternehmen tätig sein, allerdings dort nur in untergeordneten Anstellungen. Ebenso dürfen weibliche Veelastämmige keine Lehrtätigkeit in der panhispanischen Zaubererakademie Isla des Siete Soles im kanarischen Archipel anstreben oder, sofern sie dort bereits tätig waren, müssen sie diese Anstellung aufgeben und sich einen anderen gemäß der Einschränkungen zulässigen Beruf suchen. Des weiteren dürfen Veelastämmige sich nur nach Abmeldung mit Angabe des Zeitraumes der Abwesenheit und der Erlaubnis von der Zauberwesenbehördenunterabteilung hochpotente Zauberwesen über Kobold- und Zwergengröße mehr als 50 römische Meilen von ihren registrierten Wohnsitzen entfernen. Zuwiderhandlungen sollen mit 100 Galleonen pro Tag der versäumten Abwesenheitsmeldung geahndet werden. Wiederholtes, unangemeldetes und unerlaubtes Verlassen des Wohnsitzes soll später noch mit einer zu beschließenden Haftstrafe geahndet werden. Da sind sich die Damen und Herren sowohl in Madrid als auch in Lissabon noch nicht einig. Außerdem müssen alle Veelastämmigen nach Grad ihrer Veelastämmigkeit einen Anteil ihres Monatslohnes als Aufenthaltsgebühr entrichten. Die genaue Tabelle dürfen Sie gerne als Anhang dieses Interviews abdrucken. Ich habe dafür die Erlaubnis. Ja, und was die Familienplanung betrifft, so dürfen veelastämmige nur dann Nachwuchs haben, wenn sie dies bei der erwähnten Unterbehörde beantragen und der auserwählte Kindsvater eine Unbedenklichkeitserklärung der Unterbehörde und der Heilerzunft vorlegen kann, dass er von der Veelastämmigen Hexe nicht zur Nachwuchszeugung gezwungen wurde. Natürlich müssen beide vor dem gewünschten Zeugungszeitpunkt verheiratet sein. Männliche Veelastämmige müssen ebenfalls nachprüfbare Unterlagen vorlegen, dass sie die erwählte Mutter ihrer Kinder nicht durch ihre eigenen Zauberfähigkeiten unterworfen haben und dass die Mutter natürlich ebenso eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vorlegen soll, keine ministeriumsfeindlichen Umtriebe begangen zu haben oder damit in Zusammenhang zu stehen. Das soll bereits für alle registrierten Familien gelten. So, und jetzt das, was die in Frankreich und dessen Überseebesitzungen wohnhaften Veelas und Veelastämmigen angeht: wer auf das Hoheitsgebiet des spanischen Zaubereiministeriums reisen möchte muss zum einen eine Einreiseerlaubnis, also ein Visum beantragen, dieses muss ein halbes Jahr vor dem geplanten Reisezeitraum beantragt werden. Wird es erteilt, so hat der oder die je nach Grad der Veelastämmigkeit pro Aufenthaltstag für sich und minderjährige Kinder eine Zusatzgebühr zu den üblichen Reisekosten zu entrichten, die bis zu 200 Prozent der Reisekosten betragen kann. Will sagen, wenn Madame Léto oder ihre direkten Kinder nach Spanien oder Portugal verreisen möchten müssten sie erst einmal ein halbes Jahr warten, ob sie die Erlaubnis bekommen und dann, wenn sie sie bekommen, die dreifache Menge der eingeplanten Galleonen bezahlen. Sollten sie bei ihrem gewährten Aufenthalt beabsichtigen, mit anderen Veelastämmigen Nachwuchs zu zeugen, so müssen sie dieses vorher beantragen und eine Eheschließungserlaubnis erbitten und eine dafür fällige Bearbeitungsgebühr von 1000 Galleonen in Worten eintausend Galleonen mal prozentualem Anteil der Veelastämmigkeit entrichten, also für ein reinblütiges Einzelwesen der Zauberwesenart Veela männlich oder weiblich 1000 Galleonen. Des weiteren gelten dann Bestimmungen zur Zuteilung des künftigen Wohnsitzes der beantragten Familie, der – jetzt noch was wichtiges – nicht näher als 100 römische Meilen zum Hauptsitz des spanischen oder portugiesischen Zaubereiministeriums liegen darf. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass jede Missachtung der Verhaltensregeln oder unrichtige Angaben zur Verhaftung der ausländischen Veelastämmigen führen wird, wobei auch hier noch beraten wird, ob sie dann gleich in ihre Heimat ausgewiesen oder für einen gewissen Zeitraum in einem spanischen Zauberergefängnis einzusitzen haben. So oder so ist dieses Gesamtpaket von neuen Maßnahmen eine Einschränkung der vor Ladonnas Zeit geltenden Rechte. Daher darf und kann ich den hier in Frankreich wohnhaften Veelastämmigen nur empfehlen, sich ganz genau zu überlegen, ob Sie Reisen nach Spanien oder Portugal unternehmen oder nicht doch besser darauf verzichten. Ich habe mich schon mit Unternehmen der französischen Zaubererwelt unterhalten, bei denen Veelastämmige beschäftigt sind. Diese tragen sich mit dem Gedanken, die bei ihnen Beschäftigten nur noch für Inlandsaufgaben einzuteilen oder ausdrücklich darauf einzustimmen, nicht auf die iberische Halbinsel oder die Kanaren zu reisen, da diese Einreisevisa nicht nur für Ferienreisende, sondern auch für Geschäftsreisende gelten und für solche dann noch teurer werden könnten, je danach, wie finanzstark das Unternehmen ist und welchen Auftrag der oder die für es reisende zu erledigen hat. Das muss nämlich bei einem Reiseantrag auch angegeben werden, auch wenn es eine internationale Vereinbarung zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen gibt. Die wurde aber durch das „höhere Gut der zu wahrenden Sicherheit für Leib und Leben magischer Menschen“ aufgehoben. Ja, und wenn sie jetzt finden, dass das schon sehr harte Bedingungen sind fange ich besser nicht von den Bedingungen an, unter denen Kobolde, Zwerge und durch dauerhafte Umwandlungen veränderte Wesen wie Wergestaltige und Vampire nach Spanien und Portugal einreisen dürfen. Die liegen ja auch außerhalb meines Zuständigkeitsbereiches.
TDL: Besteht Ihres Wissens nach eine unmittelbare Gefahr für Freiheit oder Leben der Veelastämmigen, die unbeabsichtigt oder gänzlich beabsichtigt gegen die von Ihnen zusammengefassten Regeln verstoßen?Julius Latierre: Dies kann und will ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht bestätigen, da wie erwähnt hierzu noch genauere Vereinbarungen innerhalb der zwei iberischen Zaubereiministerien getroffen werden müssen.
TDL: Also schließen Sie es nicht aus, dass bei uns wohnhafte Veelastämmige auf Grund der noch zu beschließenden Strafmaßnahmen getötet werden könnten?
Julius Latierre: In Hogwarts, wo ich meine ersten beiden Ausbildungsjahre als Zauberer verbrachte gilt der Wahlspruch: „Kitzle niemals den schlafenden Drachen“. Diesem Grundsatz muss ich folgen und kann diese Frage daher nicht beantworten. Ich kann, darf und muss nur anmerken, dass sich ab dem ersten Mai die Reisebestimmungen für Veelastämmige aus Ländern der iberischen Hoheitsgebiete überdeutlich ändern und alle, die ab da Reisen unternehmen oder gar Hochzeiten und Familiengründungen geplant haben sollten auf die neue Lage einstellen sollen. Unsererseits besteht keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern.
TDL: Wir erfuhren, dass sowohl das italienische als auch spanische Zaubereiministerium den in Frankreich geltenden Friedensvertrag von der globalen Magierkonferenz auf die internationale rechtmäßigkeit überprüfen lassen wollen. Trifft dies zu?
Julius Latierre: Dies war eine Idee der italienischen und spanischen Zauberwesenbeauftragten. Sie ist jedoch wieder fallen gelassen worden, eben wegen dieser erwähnten Nichteinmischungsbestimmungen. Will sagen, der Friedensvertrag zwischen den Veelas und Menschen in Frankreich, als auch der für unser aller Leben und Handeln gewinnträchtige Friedensvertrag zwischen den in Frankreich lebenden und arbeitenden Kobolden, Zwergen und Menschen gilt weiterhin und wird von keiner auswärtigen Zaubereibehörde angefochten. Dies wurde auf allerhöchster Ebene vereinbart, also von den Zaubereiministerinnen und Zaubereiministern.
TDL: War es nicht vor Ladonnas Machterweiterungsbestrebungen so, dass die Bewegungs- und Aufenthaltsrechte der Veelas in Osteuropa stark eingeschränkt waren, was die Wahl des Wohnsitzes und die Familiengründung angeht?
Julius Latierre: Das ist richtig, und dies führte ja auch nach der Machtergreifung Ladonnas in Russland, Polen und anderen slawischen Ländern zu jener bedrohlichen Lage, die beinahe in einen blutigen Vernichtungskrieg geführt hat. Zwar gilt in Russland und den anderen Ländern des slawischen Zaubererbundes, dass Veelas, die sich mit Menschen auf Nachwuchs einlassen wollen, dies möglichst vor dem notwendigen Zeugungsakt anzumelden haben. Sie müssen aber keine Eheerlaubnis mehr erbitten. Dies, so wage ich die starke Vermutung, führte damals auch zu vielen vom Zaubereiministerium in Moskau spät bis gar nicht registrierten Nachkommen reinrassiger Veelas mit Menschen. Durch den Friedensvertrag erkennen die Veelas und ihre mit Menschen hervorgebrachten Nachkommen das Recht auf Kenntnis des für ihren Wohnsitz zuständigen Zaubereiministeriums an, also teilen ihm mit, wann sie mit wem auf Nachwuchs hinwirken wollen und dass sie dafür eine amtliche Ehebestätigung erhalten müssen mit Zeremonienmagier und allem Pergamentaufwand, der auch hier in Frankreich gilt, wenn jemand heiraten möchte oder die Geburt eines Kindes anzeigt.
TDL: Also fassen wir es zusammen, dass in den slawischstämmigen Ländern Veelas mehr Anerkennung aber auch mehr Bürgerpflichten erhalten und in Spanien und Portugal ab dem ersten Mai starke Beschränkungen in Kraft treten. Gibt es sonst noch etwas, dass Sie unserer Leserschaft mitteilen dürfen oder müssen, Monsieur Latierre?
Julius Latierre: Ja, dass ich trotz der erwähnten Beschlüsse in Spanien froh und stolz bin, meine Aufgabe als Vermittler zwischen Menschen und Veelas so weit es mir möglich war erfüllt zu haben und ich bereits die Bestätigung von beiden Seiten habe, dass ich weiterhin das Vertrauen des Zaubereiministeriums in Paris als auch des Ältestenrates der Veelas genieße und nun auch wieder meiner sonstigen Tätigkeit als Mitarbeiter in der Behörde für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Fähigkeiten nachgehen darf.
TDL: Monsieur Latierre, vielen Dank für dieses Interview und Ihnen weiterhin alles gute und viel Erfolg bei Ihrer wichtigen Arbeit!
Julius Latierre: Danke für Ihre Aufmerksamkeit und meine besten Wünsche für Ihre Leserinnen und Leser für ein weiteres friedliches Zusammenleben.
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Bridget Mahony wollte gerade zu Bett gehen, als das wabenförmige Medaillon, dass sie von Jarrel Cleaver erhalten hatte zu brummen begann, als wären darin hundert Bienen eingesperrt, die nach ihrer Freiheit verlangten. Bridget zog das goldene Medaillon unter ihrem Nachthemd hervor und hielt es vor ihr Gesicht. Sie brauchte kein Licht mehr zu machen. Denn sobald sie das wild summende Medaillon auf Augenhöhe hielt flammte eine goldrote Schrift auf.
An alle Mitglieder PSP!
Ab 20.04.2007 00:00 Uhr läuft Phase 2. Einsatzgruppen Ost 1 und Ost 2 treffen sich um 05:00 Uhr OSZ an Treffpunkt Ost 16. Alle anderen halten sich für Aufgaben im Rahmen von Phase 2 bereit!
Gez. PSP-Α.
Bridget Mahony grummelte, dass die Meldung nicht wirklich für sie bestimmt war. Denn sie gehörte zur Einsatzgruppe Mittelwest 3 und musste deshalb nicht gleich angesummt werden, wie sie es beim Treffen ihrer Einsatzgruppe vor drei Tagen genannt hatte, als die letzten Aktionen von Phase 1 ausgeführt wurden, die aus reiner Personensuche und Ortskenntnisaufbesserungsübungen bestanden hatte. Gut, dass die Phase 2 doch schon eine Woche früher begann als ursprünglich abgesprochen sollten schon alle wissen, dachte Bridget Mahony. Also musste es im Osten genug Anhaltspunkte gegeben haben, um die ersten Aktionen im Rahmen von Phase 2 erfolgreich durchführen zu können. Klar, dort wohnten ja auch immer noch die meisten Hexen und Zauberer der USA. Die zweitgrößte Ansammlung fand sich an der Westküste. Danach kamen die Südstaaten, danach der Norden und erst an fünfter Stelle der mittlere Westen, Bridgets Zuständigkeitsbereich.
Projekt Sol Puritatis (Sonne der Reinheit), klang irgendwie mysteriös und religiös. Dahinter steckte jedoch ein sehr drastisches Vorhaben, bei dem sie, Bridget nur deshalb mitmachte, um nicht selbst in die Ziellinie zu geraten. Sie gehörte zu den Widerständlerinnen, die damals gegen die Dreizackföderation von Lionel Buggles aufbegehrt hatten und bis zum Verrat der Südamerikaner an der freien Zaubererwelt auch für den Erhalt der neuen Föderation nordamerikanischer Hexen und Zauberer eingestanden hatte. Ja, und jetzt gehörte sie zum Projekt Sol Puritatis unter der Führung von PSP-Alpha. Das Projekt hatte nur das eine Ziel, international organisierte dunkle Hexenorden aufzudecken und final zu entmachten, bestenfalls durch die vollständige Annihilation der Mitglieder. Im Klartext hieß das, dunkle Hexen aufzuspüren und nach Erwerb deren Kenntnisse um Komplizinnen und Stützpunkte zu töten, falls Sol Puritatis von den Regionalgouverneuren oder gar dem neuen MAKUSA nicht als legitime Einsatztruppe anerkannt und zum Organ der Gesetzesvollstreckung erklärt wurde. Doch darauf wollte PSP-Alpha nicht warten. Bridget wusste auch genau warum. Auch deshalb musste sie als ehemalige Standhafte und somit Vertraute an diesem Projekt teilnehmen, bis es beendet war.
Das gesamte Projekt sollte in vier Phasen durchgeführt werden. Phase 1 war die Suche nach verdächtigen Personen und die Einordnung nach möglicher Gefährlichkeit und Wichtigkeit für die in Frage kommenden Schwesternschaften oder gar Vita Magica, sowie die Erkundung der registrierten und von den Zielpersonen häufig besuchten Standorte durch getarnte Aufklärer. Phase 2 bestand in der Gefangennahme und Ausforschung der als am gefährlichsten eingestuften Personen. Hierbei galt, dass alle als Verdächtig eingestuften möglichst nicht erfuhren, dass bereits nach ihnen gesucht wurde. Phase 3 sollte die finale Entmachtung aller erkannten dunklen Hexenorden auf dem Boden der USA herbeiführen. Phase 4 betraf die Auswertung erbeuteter Kenntnisse aus Phase 2 und 3 und die Absicherung der USA gegen neuerliche Infiltrations- und Okkupationsversuche. Das gesamte Projekt sollte nach Möglichkeit weit vor der Konstituierung des neuen MAKUSAs abgeschlossen sein, auch um sich gegen Anfeindungen der Mitbürgerinnen und Mitbürger abzusichern, die in der drastischen Vorgehensweise von Sol Puritatis eine ebensogroße Gefahr zu sehen vermeinten wie sie die dunklen Orden darstellten.
„Also ab morgen wird’s ernst“, dachte Bridget Mahony. Vielleicht wussten sie und alle anderen von PSP-Alpha eingeschworenen Hexen und Zauberer schon übermorgen, ob das gesamte Projekt überhaupt durchführbar war und ob es seitens der Regionalgouverneure und ihrer Hinterleute, den selbsternannten großen zehn, Widerstand geben mochte oder nicht. PSP-Alpha hatte nicht ausgeschlossen, dass es unter den nicht eingeschworenen Hexen und Zauberern viele Verfechter humaner Methoden gab, die selbst einem gefährlichen Verbrecher noch mehr Rechte zugestanden, wenn feststand, dass er die freie Zaubererwelt vernichten wollte. Daher mussten die Mitglieder des Projektes Sol Puritatis so geheim wie möglich vorgehen.
Bridget dachte noch daran, warum sich die aus zwischen 60 und 120 Mitgliedern bestehende Projektgruppe einen lateinischen Namen gewählt hatte, wo doch viele Mitglieder darauf bestanden, dass sie mit europäischstämmigen Traditionen der Namen und Bezeichnungen brechen wollten. PSP-Alpha hatte darauf geantwortet, dass es ja genauso eine europäische Tradition sei, Dinge und Vorhaben englisch zu benennen und die Erhabenheit der magischen Menschheit sich auf den Errungenschaften alter Zeiten und moderner Mittel bezog, also auch das Erbe der griechisch-römischen Zauberkunde erhalten bleiben sollte. Daher hieß ihr geheimes Ausrottungskommando gegen dunkle Hexenorden eben Projekt Sol Puritatis. Das Kennzeichen war eine zwanzigstrahlige goldene Sonne auf himmelblauem Hintergrund über einem grasgrünen Rechteck und die goldenen Buchstaben PSP im Schnittpunkt der Linien von Ecke zu Ecke. Doch dieses Wappen oder auch Firmenzeichen, wie es Bridgets Mitstreiter Jarrel Cleaver nannte, sollte nur dann benutzt werden, wenn geheime Verhandlungen mit den Regionalgouverneuren aufgenommen werden mussten, um die in deren Reihen eingenisteten Umstürzlerinnen zu ergreifen.
Bridget steckte das leuchtende Medaillon wieder unter ihr Nachthemd. Für eine Sekunde vibrierte es. Dann blieb es reglos. Bridget Mahony rechnete nicht mehr mit einer Meldung oder gar einem Alarmruf. Doch Jarrel Cleaver hatte in jedes Medaillon einen Zauber eingewirkt, der es sehr unangenehm für jeden vernichten würde, der nicht Bridget Mahony war oder wenn das Medaillon länger als eine halbe Minute mehr als dreißig Zentimeter von Bridgets Herz entfernt war. Das galt auch, wenn ihr Herz für diesen Zeitraum nicht mehr schlug. Jarrel hatte das den Schwanz einer Kreuzung aus Eidechse und Feuerkrabbe genannt und hinterhältig gegrinst. Das Medaillon verriet auch seinem Gegenstück, dem Wabenwürfel GMW-3, dass Bridget noch lebte. Falls der Gesamtleiter von GMW-3 eine Verbindung zur mobilen Geheimzentrale HQ PSP unterhielt würde auch Wabenwürfel PSP-Alpha darüber mitgeteilt, ob Bridget Mahony noch lebte oder nicht.
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In den Neuenglandstaaten Nordamerikas war es acht Uhr am Morgen des 20. April 2007. Anthelia/Naaneavargia hielt sich in ihrem sicheren Haus Tyches Refugium bei Boston auf, als sie einen mentiloquistischen Ruf empfing.
„Höchste Schwester, eine Gruppe in sonnengelben Kapuzenumhängen steckender Hexen und Zauberer hat das Haus meiner Cousine Rhoda angegriffen und alle Hexen einschließlich sie ergriffen und entführt. Ich bekam es nur über das Gemälde mit den äsenden Rehen mit“, klang die vor Angst und Wut bebende Gedankenstimme der Mitschwester Melonia Bluetail. Die höchste Schwester des Spinnenordens schickte die Frage zurück: „Wollte Rhoda nicht auch bei uns Mitglied werden?“ „Ja, höchste Schwester, wollte sie. Aber sie wwusste nur, dass ich Verbindungen zu der Führung habe.“
„Dann sieh zu, dass du hierher kommst und genug Gepäck für mehr als vier Wochen mitnimmst!“ schickte Anthelia/Naaneavargia zurück. „Die wird mich nicht verraten“, beteuerte Melonia. „O doch, das wird sie, weil sie keinen Verratsunterdrückungszauber in sich trägt, Schwester Melonia“, widersprach die oberste Spinnenschwester über mehr als 100 Kilometer Entfernung. Ihre Mitschwester schwieg einige Sekunden. Anthelia/Naaneavargia bangte schon, dass die sonnengelben Kapuzenumhänge auch schon bei ihr einfielen. Doch dann bestätigte melonia die Anweisung ihrer höchsten Mitschwester.
Die aus zwei mächtigen Hexen zu einer Person verschmolzene Ordensleiterin wollte sich nicht darauf verlassen, dass Melonia unangefochten untertauchen und zu ihr herüberkommen konnte. Sie zog Sardonias magischen Mantel über, ergriff ihren silbern schimmernden Harvey-5-Besen und disapparierte damit aus dem gegen die meisten feindlichen Zauber gesicherten Haus bei Boston. Nur einen Herzschlag später erschien sie 300 Meter von Melonias Haus entfernt. Sofort spürte sie, dass ihre Mitschwester starke Abwehrzauber um ihr Haus errichtet hatte. Einer davon bezog seine Kraft aus der Erde. Anthelia/Naaneavargia schwang sich auf den tarnfähigen Flugbesen und hob ab. Augenblicklich wurden Besen und Reiterin unsichtbar. Das ließ Sardonias Mantel noch zu, weil Unsichtbarkeit kein feindlicher Fluch war, den er abzuwehren hatte. In etwa 200 Metern Flughöhe näherte sie sich dem Wohnhaus ihrer Mitschwester. Erst hier konnte sie die Gedanken Melonias worthaft hören, wenngleich auch wie durch eine dicke Wand klingend. Das war der Antifernbeobachtungs- und -belauschungszauber, den die höchste Schwester auch mit einer gegen mentalmagische Ausspähzauber wirkenden Komponente ergänzt hatte, um Gedankenhörende wie sie möglichst fernzuhalten.
Wie ein lauernder Greifvogel kreiste die höchste Spinnenschwester über Melonias Haus und verfolgte mit, wie diese Gepäck für mehr als vier Wochen zusammenstellte. Für eine geübte Hexe war das ein Akt von nur vier Minuten, und die höchste Spinnenschwester hielt ihre Mitstreiterinnen an, ständig zu üben, vor allem weil ein Fall wie dieser jede Stunde eintreten konnte.
Als habe sie es herbeibeschworen fühlte Anthelia/Naaneavargia, wie 300 Meter von ihr fort mehrere feindliche Gedankenquellen erwachten und sich sehr schnell näherten. Die höchste Schwester erfasste, dass sie darauf ausgingen, Melonia festzunehmen und in ein ominöses Lager Ost zu schaffen. Sie erfasste jedoch nicht, wo dieses war noch wer die Angreifer waren. Sie begriff, dass diese ihre Identitäten durch den Divitiae-Mentis-Zauber verborgen hatten, womöglich auch jene ihrer Auftraggeber sowie Standort und Beschaffenheit des Befehlsstandes. Doch damit verrieten sie Anthelia genau das, was sie wissen wollte. Die von Atalanta Bullhorn heimlich zusammengetrommelten Kameradinnen und Kameraden rückten nun aus, um ihnen verdächtige Hexen zu ergreifen. Da sie dies nicht im Namen eines regionalgouverneurs oder gar des neuen MAKUSAs taten war das eigentlich ein rechtswidriges Vorgehen, ein Überfall und Entführungsvorhaben. Rechtlich standen diese Bullhorn-Anhänger damit genauso gut oder schlecht wie der Spinnenorden, die Werwolfbruderschaft oder Vita Magica.
Anthelia wusste, dass es Melonia nicht half, sie zu warnen, solange diese noch ihr Gepäck zusammenstellte. Doch die oberste Spinnenschwester wollte auch nicht zusehen, wie diese Banditen ihre Mitstreiterin überfielen und verschleppten, um sie dann auszuforschen, was ihren Tod bedeuten würde. Sie wusste aber auch, dass sie nicht voreilig handeln durfte, um diesen Banditen nicht auf einem goldenen Tablett zu servieren, dass sie bei Melonia goldrichtig waren. Dieses Erfolgserlebnis wollte sie denen nicht gönnen. So vertraute sie zum einen auf die Unsichtbarkeit ihres Flugbesens und zum anderen auf die Haltbarkeit der aufgespannten Abwehrzauber, bis Melonia sich abgesetzt haben würde. Es war jedoch sicher interessant zuzusehen, wielange die angeblich guten Streitkräfte Bullhorns brauchten, um die Abwehr zu beseitigen.
Anthelias Besen vibrierte. Offenbar wechselwirkte sein Flug- und / oder sein Unsichtbarkeitszauber mit einem Erfassungszauber der Angreifer. Anthelia lächelte, auch wenn das gerade niemand sehen konnte. Der aus ihrem eigenen Haar geflochtene, mit eigenem Atem und Blut imprägnierte Ring am Besenende enthielt den Zauber „Hochzeitslied von Mensch und Wind, der einen unsichtbar machenden Gegenstand gegen Enttarnungszauber absichern konnte oder von lebenden Magiekundigen direkt gewirkt deren Anwesenheit für Auge und Fernspürer verbergen konnte. Also suchte jemand gezielt nach getarnten Wesen oder Gegenständen. Wieder vibrierte ihr Besen, besser der um sein Ende gebundene Haarring. Die höchste Schwester wollte nicht allein darauf vertrauen, dass ihre besondere Vorkehrung ausreichte und stieg mit ihrem Besen noch mehrere Dutzend Meter weiter auf und schlug eine enge Kreisbahn um den noch sacht rauchenden Schornstein von Melonias Haus. Sie konnte die einzelnen Gedanken ihrer Mitstreiterin hören. Diese war noch völlig ahnungslos. Das würde aber in den nächsten dreißig Sekunden vergehen.
Anthelia verzichtete ihrerseits auf Enthüllungszauber. Die irgendwie leicht dumpf klingenden Gedankenausstrahlungen der Angreifer reichten ihr. Es schürte ihre Wut, dass unter den zehn Angreifern sechs Hexen waren. Wie konnten die es wagen, sich gegen ihre Schwestern zu stellen? Für die aus zwei mächtigen Magierinnen vereinte galten alle Hexen solange als Mitschwestern, bis diese meinten, mit Gewalt gegen sie vorzugehen oder wem zu helfen, der dies vorhatte. Tja, in dem Fall verspielten die sechs unsichtbaren Angreiferinnen gerade diese Rücksichtnahme Anthelias. Wieder musste die oberste der Spinnenhexen lächeln. Denn ihr kam die Idee, dieser Bande einen unvergesslichen Streich zu spielen.
Jetzt waren die unerwünschten Besucher nur noch knapp hundert Meter von Melonias Haus entfernt. Sie stoppten ihren rasanten Anflug. Also hatten deren Aufspürzauber das Geflecht aus kuppelförmigen Abwehrzaubern erfasst, und sie wollten nicht sehenden Auges hineinkrachen. Die unsichtbar über dem Haus kreisende Anführerin der schwarzen Spinne bekam nun mit, dass Melonia von gleich mehreren Meldezaubern gewarnt wurde. Sie bekam jedoch noch besser mit, dass die zehn Angreifer sich so verteilten, dass acht aus den Haupt- und Halbhimmelsrichtungen auf das Haus zuflogen und die zwei anderen, darunter die Anführerin eine von unten nach oben führende Spirale ausflogen, wobei sie mit breitfächernden Zaubern auf die Abwehrzauber um Melonias Haus einwirkten. Nun erstrahlte um das Haus eine violett flackernde Lichtkuppel, aus der silberne und blaue Funken sprühten. Melonia erhielt eine weitere Warnung. Sie sah auch durch das Schlafzimmerfenster, dass um ihr Haus ein magischer Lichtdom glühte. Anthelia schnappte auf, dass die violette Kuppel ein temporärer Antiapparierrwall war, der solange bestand, wie acht Quellobjekte kreisförmig verteilt waren. Ja, und diese Banditen landeten und rammten Gegenstände in den Boden, um diesen zeitweiligen Einschließungsdom aufrecht zu halten. Das war gar nicht mal so dumm, musste Anthelia anerkennen. Ein richtiger Arrestdom hätte die dreifache Zeit gedauert und würde sich auch nicht so schnell niederreißen lassen. Man hatte also aus allen Fällen gelernt, wo eine derartige Einschließung verwendet wurde. Das violette Leuchten zeigte nur, aus welchen Komponenten der Abwehrzauber bestand, den Melonia errichtet hatte. Das war auch eine schlaue Sache. Denn so konnten sie gleich mit den passenden Gegenzaubern draufhalten.
„Höchste Schwester, werde angegriffen. Disapparieren nicht möglich!“ hörte Anthelia die von Angst getragene Gedankenstimme Melonias. „Flüchte auf deinem Besen, aber lass vorher alle Fenster und Türen aufspringen, damit sie nicht mitbekommen, aus welchem Ausgang du entwischst!“
„Geht nicht mehr, weil die Abwehr alle Türen und Fenster extraverriegelt und verstärkt hat. Wenn die die Abwehr nicht durchbrechen können die mich hier aushungern.“ „Was ist bei Feuer?“ wollte Anthelia wissen. „Öhm, wenn das Haus brennt fällt die Abwehr zusammen und ich könnte durch die Türen. Aber dann kommen die locker zu mir rein. Nein, so geht’s leider nicht, höchste Schwester“, erwiderte Melonia.
„Dann kommen die aber auch nicht an dich heran“, erwiderte Anthelia. Sie sah zwei Möglichkeiten: Entweder forderten sie Melonia auf, sich zu ergeben und sich gefangennehmen zu lassen oder sie durchbrachen die Abwehrzauber und stürmten das Haus. „Wenn Sie dich zur Aufgabe auffordern wechsel in eine nicht hungernde und nicht brennbare Daseinsform über! Falls sie die Abwehr zerschlagen befolge meinen Rat, Schwester!“
„Verstanden, höchste Schwester!“ bestätigte Melonia Bluetail. Anthelia bekam mit, wie Melonia bereits auf dem Weg in den Keller war. Als die höchste Schwester erfuhr, warum sie dort hinging musste sie innerlich grinsen.
„Ultimatum oder Sturmangriff?“ hörte Anthelia die Gedanken eines der vier Zauberer aus der Truppe. „Nein, Sturmangriff unter Aufbietung aller Antimelomaßnahmen, sofern Zielperson nicht längst mentiloquiert hat“, erfolgte die Antwort der Anführerin, deren Namen Anthelia nicht erfassen konnte, weil dieser wohl mit dem Divitiae-Mentis-Zauber versehen war. Sie erkannte nur, dass es nicht Atalanta Bullhorn persönlich war, weil die Gedankenstimme der körperlichen Stimme gleichkam und Atalantas Stimme ja oft genug im Zauberweltradio zu hören war.
Unvermittelt begannen die zehn, auf die violette Lichtkuppel einzuzaubern. Sie gingen dabei nach einem wohl einstudierten Ablauf und einer bereits abgesprochenen Mannschaftsabstimmung vor. Denn die violette Glocke pulsierte und färbte sich mal heller mal dunkler ein. Bereits nach den ersten zehn Sekunden zeigten sich grün und blau geränderte Risse, die wie aufgescheuchte Aschwinderinnen über die Lichtkuppel huschten und dabei immer breiter und länger wurden. Erste Entladungen schlugen aus der Lichtkuppel in Boden und Himmel. Die höchste Schwester des Spinnenordens musste einem blutroten Blitz ausweichen, der mit einem metallisch nachhallenden Knall aus dem Scheitelpunkt der Kuppel in den Himmel überschlug. Dann spotzte eine Funkenwolke aus dem nördlichen Abschnitt, wobei zeitgleich im südlichen Abschnitt vom Rand bis zum Scheitelpunkt ein weißglühender Riss klaffte.
„Siewieiwie kmmm…“ hörte Anthelia noch Melonias Gedankenstimme, bevor wohl der gegen Mentiloquismus zielende Bann wirkte. Anthelia verzog ihr Gesicht und tastete mit ihrer linken Hand in die am Besen hängende Tasche mit Rauminhaltsvergrößerungsbezauberung. Sie bekam einen der spitzkegelförmigen Steine zu fassen, der sofort merklich zu pulsieren begann. Sie ließ den Stein wieder los. Jetzt durfte sie ihn in den nächsten dreißig Sekunden nicht noch einmal anfassen, um nicht die in ihm schlummernde Bezauberung auszulösen. Also hatte sie noch dreißig Sekunden zu warten.
Die zehn Angreifer gingen offenbar davon aus, die Abwehrzauber in weniger als einer Minute niederzukämpfen. Doch da hatten die sich getäuscht. Denn unvermittelt sprang ihnen die bekämpfte Abwehrglocke grün-blau strahlend entgegen, dehnte sich auf mehr als zweihundert Meter Durchmesser aus und stieß die Angreifer mit Urgewalt zurück. Fünf von ihnen wurden dabei förmlich über den Boden geschleift und schwer verletzt. Die fünf anderen schafften es gerade noch, auf ihren Besen zurückzuweichen. Dann sprang die blau-grün leuchtende Lichtglocke auf ihren ursprünglichen Durchmesser zurück und erlosch. Besser, sie wurde für menschenaugen wieder unsichtbar. „Mmmhmm, durchaus beachtliche Eigenleistung, Schwester Melonia“, dachte Anthelia. „Höchste Schwester, Aufbäummkomponente hat den Abwehrzauber noch einmal verstärkt. Kann aber nur noch einmal ausgelöst werden. Danach bricht das Abwehrgeflecht zusammen“, vernahm Anthelia Melonias Gedankenstimme wieder ungestört. „Kannst du disapparieren?“ fragte Anthelia. „Nein, geht noch nicht“, kam nach vier weiteren Sekunden die betrübte Antwort. Dann sah die höchste Schwester, wie die fünf vom Gegenstoß der Abwehrzauber verletzten sichtbar wurden. Die anderen fünf, darunter auch die Anführerin, flogen gerade wieder an. Doch sie wussten, dass sie mit so wenigen keinen aus allen Richtungen gleichzeitig wirkenden Aufhebungszauber wirken konnten. So wunderte es Anthelia nicht, dass die Anführerin über ein gerade nicht sichtbares Fernverständigungsartefakt nach Verstärkung rief. Die Verstärkung sollte eine Gruppe Ost eins bilden.
„Truppführerin O-2, was machen wir mit den Verletzten? Nicht dass die sterben“, wandte einer der vier anfliegenden ein. „Liegen lassen bis Verstärkung mit HVD Ost eintrifft. Jetzt aufpassen, dass Zielperson nicht doch noch mentiloquieren oder den TADA-Wall einreißen kann!“ erfolgte die Anweisung der Truppenführerin. In dem Moment erloschen die von Schmerzensqualen aufgewühlten Gedanken eines der fünf. Anthelia kannte es, wenn jemand in ihrer Reichweite starb. Es war wie ein blitzschnell ablaufender Wechsel zwischen Qual, Erstaunen und Erleichterung, der in nicht einmal einem einzigen Herzschlag ablief und sozusagen den letzten Atemzug des Betroffenen ausmachte. Weil sie genau dies fühlte wusste sie, dass einer der zurückgeworfenen Angreifer gerade verstorben war. Sie brauchte die Meldung eines der unverletzten nicht, der das an seine Anführerin weitergab. Sie flog so leise sie konnte über die Stelle, wo der Tote lag. Gerade als sie genau über ihm anhielt glühte ein Feuerball auf seiner Brusthöhe auf und spie eine Wolke weißglühender Miniaturbruchstücke aus. Dann fiel der Feuerball in sich zusammen. Er hinterließ einen stark qualmenden, lichterloh brennenden Leichnam. „Auch eine Methode, keinen gefallenen Kameraden zurückzulassen“, dachte Anthelia verächtlich. Somit wusste sie nun auch, dass jeder dieser Banditen etwas bei sich trug, das sich nach dem Tod selbstvernichtete und dabei mitnahm, was nicht weit genug weg war. Die vier noch mit dem Tod ringenden zuckten wie sterbende Fliegen am Boden. Anthelia dachte kurz, diese zu fangen und mitzunehmen, um sie zu verhören. Doch wenn deren Todesmeldeartefakte, die wohl auch Fernverständigungsgegenstände sein mochten, den Abtransport weitermeldeten mochten diese Banditen zumindest wissen, dass sich wer in ihre Aktion einmischte. Falls die Truppenmitglieder auch noch mit einem ebenso rigorosen Verratsvereitelungszauber belegt waren, wie Anthelia ihn auf ihre eigenen Mitschwestern angewendet hatte und wie eigentlich jeder skrupellos handelnde Ordensführer ihn auf seine Mitglieder anwandte brachte es auch nichts, die Verletzten in Gewahrsam zu nehmen, nur um ihnen durch das Verhör den Tod zu geben, bevor sie was wirklich wichtiges erfahren konnte. Also kehrte die oberste der Spinnenschwestern auf ihren Beobachtungsposten zurück.
In der folgenden Minute traf die herbeigerufene Verstärkung ein, noch einmal zehn Leute, vier Hexen und sechs Zauberer. Dann flog noch ein zauberer an, der wohl der Heiler vom Dienst war und sich der noch vier mit dem Tod ringenden Kameraden annehmen sollte. anthelia verfolgte mit, wie die nun fünfzehn einsatzbereiten Zauberer und Hexen wieder gegen den Abwehrzauber um Melonias Haus vorgingen. Dann erkannte sie, dass es interessanter war, dem Heiler bei seiner Bergungsarbeit zuzusehen. Sie flog zu ihm hinüber und bekam mit, wie er beim gerade vierten Patienten den Umhang auftrennte und mit seinem Zauberstab über ein sechseckiges Medailon wedelte. Dieses erzitterte kurz, glomm für zwei Sekunden hellgrün und verfärbte sich dann stumpfgrau. Erst dann wandte der Heiler einen zweimaligen Lentavita-Zauber an, um die Körperfunktionen, Gedanken und Bewegungsfähigkeiten des Patienten zu verlangsamen. Bei zweimaligem Zauber auf ein Hundertstel. Dann zog ihm der Heiler einen teilanimierten, golden glitzernden Ganzkörpersack über. Die drei anderen steckten bereits in solchen Säcken. „HVD Ost an TF O-1 und TF O-2. habe Verwundete transportfähig. Erbitte Hilfe für Transport in HB HQ PSP“, übermittelte der Heiler mit einem ähnlichen Medaillon wie er es bei dem Patienten freigelegt hatte an seine beiden Auftraggeberinnen.
„Hilfe derzeit unmöglich. Verbleiben Sie bei Patienten und sichern Sie gegen mögliche Fremdzugriffe!“ bekam der Heiler eine harsche Antwort von jener, die wohl als die erste Truppenführerin auftrat.
„Hinweis an TF O-1, Patienten trotz 2 LV und KFSTS in kritischem Zustand. Umfangreiche, Unverzügliche Heilbehandlung dringend angezeigt“, gemahnte der Heiler die Dringlichkeit seines Einsatzes.
„Abwehrzauber weist auf Dringlichkeit unseres Einsatzes hin. Zielperson oder -personen sind vordringlich in Gewahrsam zu nehmen. Kein Aufschub geduldet“, widersprach TF O-2 ihrem HVD. „Bitte um klaren Vermerk im Protokoll, dass Patienten nicht unverzüglich behandelt werden konnten“, schickte der HVD zurück. „Vermerk erfolgt!“ kam die kurz und knapp lautende Antwort.
„Ihr wollt menschlich sein, das menschliche verteidigen? Lächerlich!“ kommentierte Anthelia diesen magisch übermittelten Wortwechsel mit einem bissigen Gedanken.
Sie konnte nun zusehen, wie die Angriffstruppen erneut den Abwehrzauber zum aufglühen und zu Entladungen brachten. Noch einmal bäumte sich das Schutzbanngeflecht um Melonias Haus auf und blähte die Schutzglocke auf doppelten Durchmesser auf. Diesmal waren die Angreifer jedoch darauf gefasst und blieben im freien Flug, so dass sie im 45-Grad-Winkel entwischen konnten. Erst als der blau-grün leuchtende Lichtdom wieder zusammenschrumpfte und erneut unsichtbar wurde näherten sich die Angreifer wieder. Sie griffen nun wieder den Abwehrzauber an. Dieses mal schossen ihre Zauber gleich im ersten Ansatz große Löcher in die violett flackernde Kuppel. Nach nur zehn weiteren Sekunden brach die schützende Glocke vollständig in sich zusammen. Über dem Haus entlud sich eine Kaskade aus blauen und roten Blitzen. Eigentlich war der Weg nun frei, sowohl nach drinnen als auch nach draußen.
Das unbehördliche Überfallkommando formierte sich, um jedes offene Fenster und jede Tür abzudecken, um jede Flucht zu vereiteln. Dabei feuerten sie aus dem unsichtbaren heraus leuchtende Prüfzauber und Gegenflüche auf das Haus ab.
Als sich alle sicher waren, dass vom Haus kein neuer Gegenstoß ausgehen mochte jagten die fünfzehn Mitglieder des Greifkommandos aus allen erdenklichen Richtungen heran und drangen durch die scheinbar so bereitwillig geöffneten Fenster und Türen ins Haus ein. „Nicht alle zugleich, Leute. Könnten noch Fallen im Haus sein!“ rief der Heiler vom Dienst über die besondere Verbindung mit seinen Kameraden. Doch sie wollten es offenbar hier und jetzt zu Ende bringen. Das war Anthelia nur recht.
Die höchste der Spinnenschwestern prüfte schnell mit ihrem Gedankenhörsinn, ob Melonia nicht gefährdet wurde. Als sie sich sicher war, dass keine Gefahr für ihre Mitschwester bestand tastete sie erneut in die Umhängetasche und ergriff den wieder in Ruhezustand zurückverfallenen kegelförmigen Stein. Sie flog entschlossen auf den Schornstein zu, zog den immer wilder pulsierenden Stein hervor und warf ihn zielgenau in den Kamin hinunter. Kaum hatte der Stein ihre Hand verlassen wurde er sichtbar und flimmerte grün-rot. Anthelia wechselte sogleich die Position und zielte mit einem zweiten solchen Stein auf die offene Hintertür, durch die gerade die Truppenführerin ins Haus eindrang. Anthelia warf den zweiten kegelförmigen Stein mit Schwung von sich und brach sofort nach rechts aus und zog den Besen in einer steilen Aufstiegsbahn über das Dach hinweg, noch bevor die Truppführerin merkte, dass da jemand was ins Haus geworfen hatte. Anthelia hörte noch, wie der Heiler vom Dienst eine Warnung ausstieß, dass da grüne Gegenstände aus leerer Luft fielen. Da setzte auch schon deren Wirkung ein.
Anthelia/Naaneavargia erfasste die plötzliche Angst und Angriffswut in den Gedanken der ins Haus vordringenden. Dann brachen diese abrupt ab. Sie steuerte noch das Schlafzimmerfenster an, durch das sich ein Zauberer des Greifkommandos abzusetzen hoffte und warf den vierten Stein hindurch. Damit beschleunigte und vergrößerte sie die Wirkung des von ihr vorbereiteten Zaubers. Sie konnte sich gerade noch mit einem entschlossenen Aufstiegsmanöver über das Dach hinweg retten. Dabei musste sie bereits der aus dem Schornstein hervorstiebenden grün-roten Lichterflut ausweichen. Selbst wenn sie gerade keinen festen Erdboden unter den Füßen hatte und selbst wenn sie von den Tränen der Ewigkeit gegen die meisten Zauber geschützt wurde musste sie es nicht darauf anlegen, in die Auswirkungen ihres eigenen Zaubers hineinzugeraten.
Sie war gerade weit genug vom Haus weg, als ihr klar wurde, dass der herbeigerufene Heiler es weitermelden mochte, was geschah. Sie raste auf ihrem Besen an den Ort, wo der herbeizitierte Heiler bei seinen Patienten war und gerade ein wabenförmiges Medaillon vor den Mund hielt und „Eilruf an HQ PSP!“ rief. Anthelia überlegte nur eine Sekunde, ob sie den Heiler töten sollte oder nur stumm zaubern sollte. Sie fand einen Mittelweg. „Lentavita! – Lentavita! – Lentavita!“ rief sie in schneller Folge. Der Heiler hörte sie zwar und brach seinen Anruf ab, konnte aber nicht mehr verhindern, wie seine Lebensfunktionen erst auf ein Zehntel, dann auf ein Hundertstel und dann auf ein Tausendstel verzögert wurden. Anthelia wollte das Medaillon haben. Sie bündelte einen geistigen Kraftstrahl über ihren Zauberstab und griff damit nach dem Medaillon. Es machte sich schwer. Doch Anthelias Wille war stärker und zog es in ihre Richtung. Offenbar steckte ein Zauber gegen Fernlenkzauber darin, der auch natürliche Telekinese erschwerte. Doch sie zog das Medaillon näher und näher. Da verging dieses in einer mehrere Meter großen Feuerkugel. Die höchste Spinnenschwester hatte Glück, dass sie das magische Schmuckstück nicht so schnell hatte zu sich hinzerren können.
Jetzt wusste die höchste Spinnenschwester, dass es das Medaillon war, welches jene feurige Selbstvernichtung bei seinem toten oder veränderten Träger herbeiführte. Die oberste Spinnenschwester erkannte dabei auch, dass das Schmuckstück wohl auch ein Todessignal aussandte. Jene, die es angefertigt hatten gingen nun davon aus, dass noch einer der ihren vergangen war. Sicher würden gleich noch mehrere von denen hier erscheinen. Solange wollte Anthelia nicht hierbleiben. Sie wollte jedoch für einige Sekunden zusehen, was ihr großer Erdzauber mit Melonias Haus und allen, die darin waren anrichtete. Sie stieg weit genug nach oben, um zu erfassen, wenn wer fremdes ankam, aber schon weit genug über der Erde war um nicht in Ausläufer des von ihr gewirkten Zaubers hineinzugeraten.
Im Grunde war es der Zauber, der Skyllianris großen Schlangen innewohnte, wenn sie ihre Opfer verschlangen. Wer in den Zauber hineingeriet erstarrte zu der ihm oder ihr am nächsten liegenden Gesteinsart. Das gnädige dabei war, dass ihre Gedanken auf ein vieltausendstel der üblichen Geschwindigkeit verzögert wurden. Zugleich war dies aber auch das grausamste. Denn ihre Körper verharrten auf dem letzten halben Herzschlag zwischen Leben und Tod. Ihre Seelen konnten daher nicht in die Nachwelt entweichen. Außerdem regte der Zauber totes Gestein und ausreichend reines Metall an, sich zu vermehren und jeden Zehntelfingerhut an Raum auszufüllen, der in Reichweite des Zaubers verfügbar war. So mussten die außerhalb des Hauses verbliebenen zusehen, wie das Haus nicht nur größer und größer wurde, sondern dabei alle in den Wänden belassenen Öffnungen zuwuchsen. Alles was aus Holz war wurde dabei zermalmt und entweder ins Freie gespien oder vom wachsenden Gestein vollständig einverleibt und zu feinstem Staub zerkleinert. Nur lebende Wesen, die im Einflussbereich standen blieben eben unzerstört, wenn auch ewig gefangen.
Die Dachschindeln wuchsen im grün-roten Licht, das den Schornstein immer höher und breiter wachsen ließ. Sie drängten einander fort. Anthelia erkannte die drohende Gefahr und flog schnell soweit nach oben, bis sie fast aus der Reichweite ihres Gedankenhörsinns war. Da krachte es auch schon. Die sich gegenseitig verdrängenden Dachpfannen barsten in alle Richtungen auseinander. Im Flug flimmerten die Trümmer und entluden die in sie eingeströmte Erdmagie wie grün-rotes Elmsfeuer. Der Schornstein wuchs nach innen zu und nahm dabei an Länge und Breite zu. Der hölzerne Dachstuhl wurde laut krachend zerstört. Das ganze Haus war nun noch ein einziger unförmiger, grün-rot schimmernder Felsbrocken.
Anthelia/Naaneavargia beobachtete, wie sich dieser unförmige Felsbrocken weiter ausdehnte. Dabei bekam sie mit, wie vier fremde, ebenfalls unsichtbare Gedankenquellen sich dem verwünschten Haus näherten. Bei einem bekam sie mit, dass er wohl zu gerne eine der Rückschaubrillen gehabt hätte und dass dies auf die Liste der noch zu erwerbenden Güter gehörte, wenn sie schon zwanzig neue Harvey-8-Besen einhandeln konnten. Anthelia verfolgte höchst interessiert mit, wie sich die vier anderen darüber verständigten, was mit dem Haus geschah. Einer, wohl ein Fachzauberer für Elementarmagie, stellte mit mehreren Prüfzaubern fest, dass es ein mächtiger Erdzauber sein musste, der eine Verstärkung des Saxicresco-Zaubers war, der gezielt Gestein vermehren konnte. „Geht davon aus, dass die Kameraden im Haus eingebacken sind. Aber warum die MMs kein FS übermittelten fällt mir nicht ein. HVD Ost sehr sicher durch tödlichen Fluch umgekommen. Also noch wen herschicken, falls Zielperson weitere Unterstützung hatte!“
Anthelia beschloss, nun davonzufliegen. Sie wusste, dass Melonia in Sicherheit war, aber auch, dass Bullhorns Hexenjagdgesellschaft nach weiteren Kontaktpersonen von ihr suchen würde. Doch von denen waren nur fünf Schwestern des Spinnenordens. Die sollten so schnell wie möglich in Sicherheit reisen, nicht an bekannte Orte.
Weit genug fort von den nun nachrückenden Truppen O-4 und O-6 disapparierte die oberste der Spinnenschwestern und erschien sogleich im Besprechungsraum des Hauses Tyches Refugium. Dort traf sie Melonia, die scheinbar außer Puste war.
„Der Fluchtweg war sehr einfach wie genial, Schwester Melonia. Dein Verwandlungs-UtTZ hat sich wirklich gelohnt“, sagte Anthelia, nachdem sie ihrer Mitschwester berichtet hatte, was mit ihrem Haus passiert war.
„Die haben doch jetzt Blut geleckt und werden alle meine Kontaktpersonen heimsuchen, höchste Schwester“, sagte Melonia. „Ja, das werden sie wohl. Die fünf, die du unserem Orden zugeführt hast sollen aber ebensowenig ergriffen werden wie du“, sagte Anthelia entschlossen.
„Ja, aber wenn sie unschuldige Hexen foltern oder mit diesem Mentipressionszauber in den Wahnsinn treiben, höchste Schwester …“ „Sind nicht wir die Schuldigen, Schwester Melonia. Doch je mehr unschuldiges Hexenblut von ihnen vergossen wird, desto lauter wird der Aufschrei jener sein, die sich ebenfalls für die Hüter von Recht und Ordnung halten. Darauf baue ich, und darüber wird Atalanta Bullhorn stürzen, sofern sie nicht das fragwürdige Glück hat, mir persönlich über den Weg zu laufen.“
„Hmm, die können sicher mit der Rückschaubrille aus Frankreich nachprüfen, was geschehen ist“, meinte Melonia. „Wenn da nicht der Umstand wäre, dass ich die Quellsteine für meinen großen Gesteins- und Metallvermehrungszauber mit einem Unortbarkeitszauber belegt habe. So werden sie nur weißgrau wabernde kleine Nebelwolken sehen, die aus dem Nichts entstanden und ins Haus hineinflogen. Ins Haus selbst kommen sie jedenfalls nicht mehr hinein, weil dort jeder Zehntel-, ach was, Tausendstelfingerhut an Hohlraum ausgefüllt ist. Auch damit wird jene Widersacherin zu hadern haben. Aber weil sie unbedingt Krieg mit uns will, soll sie ihren Krieg haben.“
„Ja, und bekanntlich ist das erste Opfer eines Krieges immer die Wahrheit. Die kann doch jetzt hingehen und verbreiten, dass wir, der Spinnenorden, uns dazu entschlossen haben, unschuldige Hexenund Zauberer zu töten, bevor es einen neuen stabilen MAKUSA gibt“, wandte Melonia ein.
„Sicher könnte sie das tun, Schwester Melonia. Aber sie wird es nicht tun. Sie hat ihren ganz persönlichen Feldzug ausgerufen, und den will sie bis zur letzten Schlacht kämpfen, Sieg oder Tod, Schmach oder Triumph. Abgesehen davon könnte ihr einfallen, dass jemand den Einsatz bei Rhodas und deinem Haus verraten haben könnte. Nichts piesackt eine Gemeinschaft mehr als die Furcht vor Verrätern in den eigenen Reihen. Oder was meinst du, warum ich euch gegen jede Form von Verrat abgesichert habe?“
„Ja, und aus Furcht wird meistens Hass“, grummelte Melonia. Dann bat sie darum, die anderen fünf Mitschwestern zu warnen, sofern die nicht längst Besuch von jener selbsternannten Gerechtigkeitstruppe bekommen hatten. Anthelia erlaubte und unterstützte dieses Vorhaben. So verschwanden innerhalb der nächsten Stunde fünf weitere Hexen aus den USA. Auf Anthelias eindeutige Anweisung hin stellte sich keine von denen tot. Es war beabsichtigt, die Organisation, die sich PSP nannte und über Selbstvernichtungsmedaillons miteinander in Verbindung stand sooft ins Leere stoßen zu lassen, bis es allen anderen so weh tat, dass sie ihrerseits gegen PSP vorgingen. Die Regionalgouverneure würden es nicht auf sich sitzen lassen, dass sich verfeindete Hexenorden jagten und dabei auch unschuldiges Leben gefährdeten. Der neue MAKUSA wollte sicher nicht, dass er einen mehr oder weniger heimlichen Zaubererweltkrieg auf dem eigenen Hoheitsgebiet wüten ließ. Atalanta Bullhorn und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter würden es schon bald merken, wie es sich anfühlte, zu den Gejagten zu gehören, etwas, dass die Spinnenschwestern schon von Beginn an erdulden mussten.
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Zwei komplette Einsatztruppen bis auf vier schwerverletzte Mitglieder vernichtet. Also stimmte es, dass Rhodas Base Melonia entweder dem Spinnenorden angehörte oder wen kannte, die dazugehörte. Doch wer hatte sie früh genug gewarnt und vor allem, lebte diese Melonia noch oder hatte sie sich für die dunklen Schwestern geopfert, um möglichst viele Feinde mit in den Tod zu reißen?
„PSP-Alpha alias Atalanta Bullhorn ließ sich noch am Abend des 20. Aprils von den Aufklärern berichten, was sie herausgefunden hatten. „Der Spinnenorden verfügt über kundige Elementarzauberinnen, Major Bullhorn“, berichtete Inobskuratorenlieutenant Dwayne Broadcreek, der die vier Aufklärer angeführt und die vier von dem nach dem Einsatz aus seinen drei Lentavita-Bezauberungen befreiten Heiler Wilbur Beechroot transportfertig gemachten Kollegen abgeholt hatte, die bis übermorgen wieder einsatzbereit sein sollten.
„Diese Melonia hatte zu viel Zeit. Sie hat einen nichtmentiloquistischen Weg benutzt, um Hilfe herbeizurufen oder hat den Erstürmungsversuch genutzt, jene Erdmagie-Todesfalle scharfzumachen. Ja, oder durch die gewaltsame Beendigung der Abwehrzauber ist diese Todesfalle erst scharf geworden und hat gewartet, bis genug von uns hineingerieten. Was habt ihr bei der Ausbildung eigentlich gelernt? Niemals in ein mit Abwehrzauber umfriedetes Objekt eindringen, wenn nicht absolut sichergestellt ist, dass von dort kein Widerstand ausgeübt werden kann. Lieutenant Winchester war offenbar zu sehr auf ihren kombinierten temporären Antidisapparier- und Antimentiloquismuswall bezogen. Ich habe ihr bei unserem Projektstart deutlich geraten, nur einen Antimentiloquismus-Wall zu erzeugen und dann noch einen Arrestdom aufzubauen, wenn feststeht, dass das Zielgrundstück magisch abgeriegelt ist. Aber nein, sie meinte ja, dass ein schneller Vorstoß viermal so rasch und genauso zuverlässig erfolgen kann als ein Arrestdom. Wir müssen davon ausgehen, dass sie entweder tot ist oder durch den Erdzauber in einem scheinntodartigen Zustand von massivem Backstein und anderen Mineralien eingebacken wurde. Falls der Spinnenorden Melonia vermisst wird er alle die mit ihr in Verbindung stehenden Hexen warnen. Die werden flüchten oder sich wie Melonia auf einen Vernichtungskampf einrichten. Gleich am ersten Tag ein derartiger Rückschlag ist nicht das, wofür wir uns konstituiert haben, Lieutenant Broadcreek.“
„Ob der Rang noch was taugt?“ grummelte Broadcreek. „Nicht mehr, wenn das Projekt bereits in Phase 2 scheitert. Scheitern ist keine Option, Lieutenant Broadcreek. Oder möchten Sie auch von mir persönlich nur noch mit ATFO angesprochen werden?“
„Sagen wir es so, ich stehe für das Projekt ein, weil ich wie Sie erkenne, dass wir uns zu lange von ausländischen Infiltratoren und Umstürzlern haben schwächen lassen. Ich bin bereit, mein Leben dafür zu geben, wie es auch jene waren, die den Truppen O-1 und O-2 angehörten. Doch zwei Dinge muss ich noch zur Sprache bringen. Punkt eins ist, dass wir unsere Einsatzheiler mit einem Schutz vor Verlangsamungszaubern ausstatten und zugleich immer drei Mann Personenschutz für jeden Heiler abstellen. Melonias Unterstützung hätte Beechroot auch mit dem Todesfluch treffen können. Wir haben nur fünf Heiler, die für die Inobskuratorentruppe gearbeitet haben. Die Zunft könnte auf die Idee kommen, sie alle zu überprüfen. Man wird sie daran erinnern, dass sie vordringlich den zehn Heilerdirektiven verpflichtet sind. Abgesehen davon müssten sie den Pausierzauber auf ihre PSP-Medaillons sprechen, um sie für mindestens einen Tag ablegen zu können, ohne dass diese die Finalaktion ausführen.“
„Ja, die zwei Punkte nehme ich zur Kenntnis, Dwayne“, schnarrte Atalanta Bullhorn. „Entschuldigung, Major Bullhorn, aber das war erst Punkt eins“, wagte es Dwayne Broadcreek, sie zu korrigieren. Sie blickte ihn warnend an. Doch er widerstand dem Blick und sagte schnell: „Punkt zwei ist, dass unser Projekt von denen, gegen die es gerichtet ist erkannt werden mag und jene, denen wir es bis auf weiteres nicht enthüllen dürfen anfangen werden, nachzufragen, wieso bis dahin unbescholtene Hexen verschwunden sind oder schlimmstenfalls als Leichname wieder auftauchen.“
„Oh, da haben Sie aber auch nicht aufgepasst, als unsere Ausbilder uns von Verheimlichung und alternativen Darstellungsweisen instruiert haben. Wir mussten schon im offiziellen Inobskuratorendienst darauf achten, dass unsere Zielpersonen möglichst unauffällig verschwanden oder dass unsere Aktivitäten in der magischen und vor allem nichtmagischen Öffentlichkeit so dargestellt werden, dass keiner uns deswegen Vorwürfe oder gar Disziplinarmaßnahmen erteilen muss. Abgesehen davon steht es im geheimem Projektbeginnprotokoll, dass wir bei allen notwendigen Aktionen darstellen, dass Vita Magica, die Werwolfbruderschaft, die Überlebenden der Feuerrosenschwestern oder der Spinnenorden die instabile Lage in den USA ausnutzen, um die nordamerikanische Zaubererwelt vollständig zu destabilisieren. Also waren nicht wir das mit Rhoda und Melonia, sondern eben der Spinnenorden. Die schwarzen Schwestern wollten demonstrieren, dass sie ein „Nein“ nicht hinnehmen. So und nicht anders werden wir es mit unserenAgenten bei den Zaubererweltmedien darstellen, wenn weitere Hexen verschwinden oder gar tot aufgefunden werden. Wir machen weiter, auch wenn wir im Osten nur noch vier Truppen haben und es zum jetzigen Zeitpunkt sehr ungünstig ist, weitere ehemalige Kameradinnen und Kameraden anzuwerben. Vielleicht ergibt sich dergleichen bei einer künftigen Aktion, bei der die noch auf ihre Regionalgouverneure eingeschworenen Kollegen mit uns zusammentreffen sollten.“
„Öhm, da fällt mir ein, dass wir es auch so drehen könnten, dass der widerspenstige Voodoo-Club aus New Orleans für die Verschwindefälle verantwortlich ist, weil dieser sich als einzige Organisation im Stande und damit verpflichtet sieht, Ladonnas Nachläuferinnen zu suchen und dabei nicht vor Kollateralschäden zurückschreckt“, teilte Broadcreek seiner obersten Vorgesetzten seinen Geistesblitz mit. Atalanta Bullhorn verzog erst das Gesicht und lächelte dann. „Das ist gar nicht mal so übel, Lieutenant Broadcreek. „Damit könnten wir ähnlich wie das tapfere Schneiderlein der Brüder Grimm mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen und die Integrität des Laveau-Institutes in Frage stellen, sodass es vielleicht möglich ist, dieses oder besser dessen Mitglieder für die Inobskuratoren zu gewinnen, wenn Projekt Sol Puritatis vollständig abgeschlossen sein wird.“
„Ja, und wir hetzen die dunklen Schwesternschaften gegen das Laveau-Institut auf, sodass dieses nicht umhinkommt, sich Rückendeckung bei den Gouverneuren oder dem neuen MAKUSA zu erbetteln. Wenn ich dies richtig erinnere steht die Führung des Laveau-Institutes sowieso sehr schlecht da, was ministerielle Unterstützung angeht.“
„Ja, zumindest tat sie es während der Dreizackföderation, als Buggles es unbedingt übernehmen wollte. Für die Pleite mit dem Gefahrenfänger konnten sie leider nicht verantwortlich gemacht werden“, grummelte Atalanta Bullhorn. Sie hatte schließlich selbst darauf gesetzt, dass die Gefahrenfänger des Laveau-Institutes ihre Sache gut machten. Das hatten sie ja auch. Nur hatte Ladonna mehr Feuerrosenkerzen losgeschickt als es Gefahrenfänger gab. Und man hatte sie gefangengenommen. Das lag auch nicht am Marie-Laveau-Institut. Doch die Vorstellung, dessen Mitarbeiter für ihr Projekt oder dessen Nachfolge werben zu können verursachte sowohl Genugtuung wie Verachtung bei ihr. Womöglich hätten die vom LI jedoch die von ihr erwogenen Methoden abgelehnt. Also musste sie das Projekt Sol Puritatis ohne die Unterstützung des LIs zu Ende bringen. Dabei fiel ihr ein, dass das LI sich darauf berief, vom in der stofflichen Welt verbliebenen Geist der legendären, wie auch nicht ausdrücklich auf hellen Pfaden wandelnden Voodoo-Meisterin Marie Laveau Installiert und instruiert worden zu sein. Es gab verlässliche Zeugenaussagen, dass Marie Laveaus Geist ein Duell mit jenem Dunkelmagier geführt hatte, der versucht hatte, die nichtmagischen USA mit einer Zombiearmee zu zerstören. Am Ende hatte sich dann noch die oberste Führerin des Spinnenordens eingemischt und damit auch enthüllt, dass sie wohl die Namensgeberin jenes Ordens war. Das war für die Inobskuratorentruppe sehr peinlich verlaufen, wusste Atalanta Bullhorn. Doch eben jener Spinnenorden musste weg, weil er zu gefährlich war, auch und vor allem, weil er als Anlaufstelle für Ladonnas verlorengegangene Schwestern dienen mochte und weil die Anführerin eben gegen die meisten Zauberflüche immun war und weil sie die dunkle Kunst der Entomanthropenzucht erlernt hatte. Jeden Tag mussten sie damit rechnen, von einem Schwarm todbringender Hybriden zwischen Menschen und Bienen attackiert und besiegt zu werden. Auch deshalb musste der Spinnenorden ausgerottet werden. Doch dabei mussten sie aufpassen, nicht all zu nahe um New Orleans herum zu handeln. Marie Laveau galt auch als Geisterfrau als sehr, sehr mächtig. Sie konnten sie nicht töten, und wie sie sie gefangennehmen konnten war auch sehr fraglich.
„Welche Zielpersonen sind heute noch zu prüfen?“ wollte Atalanta Bullhorn noch wissen. „Dadurch, dass wir diesen Rückschlag erlebt haben bleibt nur die für Trupp Ost 3 ausgeschriebene Zielperson Amalia Whitewater. Sie steht im Verdacht, mit VM konspiriert zu haben oder dies immer noch zu tun.“
„Gut, Zielplanänderung. Erst alle weiblichen Kontaktpersonen von Melonia Bluetail einbestellen und prüfen. Vielleicht gelingt es uns doch, die ganze Eidechse zu fangen und nicht nur den abgeworfenen Schwanz zu erwischen.“
„Okay, ich gebe das weiter an die verbliebenen Truppen. „Ja, und jedenfalls erst den Arrestdom errichten, bevor wieder wer meint, in ein Haus einzudringen. Wir müssen die Zielpersonen dazu bringen, herauszukommen“, sagte Atalanta Bullhorn. „Bei allem Respekt, das wird nicht unentdeckt bleiben.“
„Da wo die Zielpersonen wohnen ist die Entdeckungsgefahr zu gering um sie als Ausschlusskriterium zu werten.“
„Nur, dass Jennifer Wittfield in der Nähe des Pontchartrainsees wohnt. Falls die Order, keine Einbestellungen im Wirkungsbereich Marie Laveaus zu vollziehen weiterhin gültig bleibt …“
„Verwünschtes Voodoo-Pack“, knurrte Atalanta Bullhorn. „Ich beordere eine weitere Truppe aus den Südstaaten dazu und gebe die Order aus, Zielperson Wittfield mit Rauschnebel zu betäuben, bevor ihr Grundstück betreten wird. Schutzmaßnahmen gegen geisterhafte Wesen sind vor dem Aufbruch zu treffen. Gut, gebe ich gleich über die Mitgliedsmedaillons weiter.“ Dann dachte sie, dass sie sich bis auf weiteres weder im Weißrosenweg noch anderswo im Umkreis von 80 Kilometern des Friedhofes St. Louis Nr. 1 blicken lassen durfte. Das schloss auch die eigentliche Hauptstadt von Louisiana Baton Rouge mit ein. Aber das Ziel verlangte den vollen Einsatz. Noch so ein Rückschlag wie bei Melonia Bluetail durfte nicht passieren.
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Sheena O’hoolihan saß am morgen des 21. April in ihrem Büro im gut versteckten Hauptgebäude des Laveau-Institutes und studierte die Ausgaben aller Zaubererweltzeitungen. Da war im Kristallherold die Rede von sechs verschwundenen Hexen, Rhoda Stanford aus New Hamshiere, Melonia Bluetail aus Maryland, Kirstie Woolweaver aus New Jersey, Faye O’Grady aus Michigan, Jennifer Wittfield aus New Orleans – oha, ganz in der Nähe – und Rachel Summerfield aus Rhode Island. Die Regionalgouverneure hatten die ihnenunterstellten Inobskuratoren auf die Fälle angesetzt und dabei herausgefunden, dass die sechs Verschwundenen als Infiltratorinnen eines US-Hexenordens verdächtig waren, der versuchte, den Nachlass von Ladonna Montefiori zu erringen. Dabei, so behauptete der Pressesprecher der Inobskuratoren in New Orleans, sei wohl auch sowas wie Sippenhaft im Spiel, dass Hexen, die mit fragwürdigen Hexen verwandt waren, genauso heimgesucht wurden wie die eigentlich verdächtigen.
„Frage an Personalkorrdinator, wielange bleibt Direktor Davidson noch unerreichbar?“ rief Sheena einem Gemälde zu, auf dem eine Gruppe Blechbläser abgebildet war. Ein Mann im roten Frack mit goldener Trompete nickte und verließ ohne weiteres Wort durch den linken Rand des Rahmens das Gemälde. Die fünf anderen Musiker taten so, als wenn sie ganz harmlose, unbeweglich gemalte Personen waren. Nur zehn Sekunden später kehrte der rotbefrackte Trompeter zurück und blies eine Fünftonfanfare. „Das Personalbüro sagt, dass Direktor Davidson wohl noch bis übermorgen in Peru sein wird, da er dort mit Vertretern der dortigen Organisation zum Schutz vor dunklen Vermächtnissen der Inkazeit zu tun hat. Die Kollegin Garmapak ist deshalb hinterhergereist.“
„Gut, dann mache ich das“, sagte o’hoolihan. Sie setzte den Rundrufzauber in Kraft und bat alle Mitarbeitenden um zehn Uhr zu einer außerordentlichen Vollversammlung.
Als sich sämtliche Mitglieder des Laveau-Institutes zur festgesetzten Zeit einfanden verlas Sheena O’Hoolihan den Artikel aus dem Kristallherold und auch den bereits gedruckten Kommentar, der das von Ladonnas Erbschaft und möglicher Sippenhaftung erwähnte. „Ja, und zwischen den Zeilen schreibt der Kollege vom Kristallherold noch, dass es durchaus auch sein könnte, dass wir vom LI eine schwarze Liste mit hochverdächtigen Hexen führen, die wir nun abarbeiten. Das ist unerhört und für unsere eigene Arbeit sehr gefährlich, wenn genug Leute im neuen MAKUSA das glauben sollten.“
„Könnte es nicht auch der Spinnenorden sein, der eine Art Feme-Feldzug gegen ehemalige Feuerrosenschwestern führt?“ fragte Justine Bristol.
„Ja, oder noch in Freiheit befindliche, nicht dem Feuerrosenzauber unterworfene Feuerrosenschwestern, die mit immer heißer werdendem Quod noch den Weg zum Pot finden wollen“, meinte Solomon Silverstone, ein leidenschaftlicher Quodpot-Fan und derzeitig wie viele seiner Art darunter leidend, dass die Quodpotliga zu einem Schneckenrennen über fünf Kilometer verkommen war.
„Ich kenne das aus meinem ehemaligen Zweitberuf bei der Firma in Virginia, dass in den schlechten alten Zeiten des kalten Krieges gerne solche Ausfegeaktionen angesetzt wurden, wenn aus an sich schon fragwürdigen Quellen Listen angeblich feindlicher Spione oder USA-gefährdender Leute in die Zentrale geflattert kamen. In der McCarthy-Zeit, wo das Wort von der politischen Hexenjagd in Mode kam, sind auf diese Weise an die fünfzig angebliche Feldagenten oder Schläfer umgebracht worden, die angeblich für die Konkurrenz aus Moskau gearbeitet haben. Kann sein, dass das hiesige Sicherheitstruppen der Zaubererwelt noch nicht mitbekommen haben, dass solche Listen gefälscht werden können“, sagte Brenda Brightgate, die derzeitig an einer neuen Identität arbeitete, um in erwähnte Firma zurückzukehren.
„Moment, war da nicht auch die Rede von, dass Ex-Administratorin Bullhorn wegen ihrer traumatischen Gefangenschaft bei Ladonna hinter ehemaligen Rosenschwestern herjagt?“ fragte Jeff Bristol, der ebenfalls an einer neuen Identität arbeitete, um in Washington Fuß zu fassen.
„Ja, es war die Rede davon, dass sie mit ehemaligen Inobskuratorenkameraden Kontakt aufgenommen hat, um die Neuorganisation der Truppe auf Bundesebene zu besprechen. Falls sie wirklich weiß, wer von Ladonnas Feuerrosenschwestern im Lande ist wäre es ihre Pflicht, das mit den regionalen Stellen abzustimmen. Sie kann nicht einfach losgehen und irgendwen verschwinden lassen, ob Feuerrosenschwester oder unschuldige Hexe“, wandte Mia Silverlake ein. Dann erwähnte sie, dass die Heilerzunft derzeitig überprüfte, wer von den approbierten Heilern in den letzten Wochen häufiger von der zugeteilten Niederlassung fortgewesen sei. Immerhin hatten bis zur Regionalisierung der Staaten an die sieben Heiler als Feldeinsatzheiler für die Inobskuratoren gearbeitet. Bullhorn hatte sicher noch die Listen und mochte sich mit den ehemaligen Kameraden in Verbindung setzen.
„Das wird sicher interessant. Da wir ja mit der Heilerzunft einen Gegenseitigkeitspakt geschlossen haben ist es sicher möglich, dass du bei Zunftsprecherin Greensporn anfragst, ob wir was aus den Befragungen erfahren dürfen“, sagte die stellvertretende Direktrice. Da drang weißer Nebel aus der westlichen Wand, der sich zu einer durchsichtigen Erscheinung ausformte, der Erscheinung einer nackten Frau mit langem Haar. Marie Laveaus Geist beehrte die lebendigen Erben.
„Ihr sprecht wohl von den sechs verschwundenen Hexen. Ich rate euch, nicht ohne direkten Angriff auf euch gegen jene vorzugehen, die dafür verantwortlich sind. Sie würden dies als willkommene Begründung nehmen, euch zu schwächen und willfährig zu machen. Lasst es jene unter sich ausmachen, die durch den in die Seele eingewachsenen Dorn in großen Schmerzen leiden und nach Linderung verlangen, die ihr nicht geben könnt“, sprach Maries Geist.
„Wer ist dafür verantwortlich. Wenn wir ihm oder ihr Einhalt gebieten können sag uns das bitte, Marie“, erwiderte Sheena O’Hoolihan. „Wenn ich dies tue rufe ich erst recht viel Unheil in die Welt. Ich habe alle Möglichkeiten gesehen, und jene, die euch zum Stillhalten bringt ist die einzige, bei der nur wenig Blut fließen wird. Denn wenn ich künde, wer dafür verantwortlich ist und ihr diesen armen Menschen ergreift wird er sterbenund das Wissen um alle seine Gesinnungsgefährtinnen und -gefährten mit in die Nachwelt nehmen. Sie werden euch dafür den Krieg erklären und es so auslegen, dass ihr euch mit der Spinne, den Resten der Rose und den Beschwörern neuer Kinder verbündet habt. Lasst also bitte den Fall der verschwundenen Hexen von denen beheben, die sich aus ganz eigenen Gründen dazu berufen fühlen! Mehr kann und darf ich dazu nicht sagen“, erwiderte Marie Laveaus Geist. Dann verschwand die ihren Tod überdauernde Voodoo-Meisterin durch die Wand.
Alle hier blickten einander an. Jede und jeder dachte wohl, wie überdeutlich Maries Ratschlag und Aussage war. Sonst gab sich die in der stofflichen Welt verbliebene Voodoo-Meisterin immer als bildhaftes Orakel. Doch alle die hier saßen wussten auch, dass er oder sie nicht in dieses Institut aufgenommen worden wäre, wenn Maries Geist dem nicht zugestimmt oder dies eindeutig empfohlen hätte. Ja, und ohne den Namen zu nennen hatte Marie verraten, wer für das Verschwinden der Hexen verantwortlich war, nicht eine der schweigsamen Schwestern, auch keine der führerinnenlos gewordenen Feuerrosenschwestern, sondern eine, die unter eben jener Feuerrosenschwesternschaft gelitten hatte, eine, die genug eigene Macht und eine Reihe Freunde mit Macht hatte, um sich derartig vorzuwagen, zwar erst nur heimlich, aber sicher darauf bedacht, eines Tages ans Licht zu treten und zu verkünden, was sie im Namen der friedvollen Zaubererwelt vollbracht hatte.
„Was macht eine Feuerwehrtruppe, wenn sie ein brennendes Haus nicht mehr löschen kann?“ durchbrach Sheena O’Hoolihan die nachdenkliche Stille. „Sie sichert ab, dass die Nachbarhäuser oder angrenzende Anpflanzungen nicht in Brand geraten“, antwortete Martha Merryweather. „Ja, richtig, Martha. Wir sollen laut Marie nur zusehen, dass es keine unschuldigen Opfer trifft und es keinen unbeherrschbaren Flächenbrand im Sinne eines ausufernden Misstrauens und Nachstellens gibt. Wenn wir selbst eingreifen, so Marie, würden wir eben diesen Flächenbrand entfachen. Dabei haben wir nicht einmal die Liste, auf die sich jene Organisation beruft.“
„Wenn ich die Kriterien kennen würde, nach denen diese schwarze Liste erstellt wurde könnte ich sie mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen nachstellen“, sagte Martha Merryweather sehr überzeugt. Jeff Bristol meinte dazu: „Ja, doch dafür bräuchtest du und damit wir alle die vollständigen Personendaten aller in den USA lebenden Hexen und Zauberer. Ja, und glaub es mir bitte, die kriegen wir nicht.“
„Was wiederum heißt, dass jene Person die nötigen Beziehungen hat, um sich eine solche Liste zu erstellen“, schlussfolgerte Martha Merryweather. „Wie erwähnt, deutlicher konnte Maries Geist uns nicht verraten, wer für das Verschwinden der Hexen verantwortlich ist und wie zu befürchten steht sein wird.“
„Ja, nur dass wir immer nur reagieren können, was uns immer einen oder zwei Schritte hinterhertapsen lässt“, bedauerte Sheena O’Hoolihan. Dann straffte sie sich und sagte: „Das einzige was wir machen können ist, zur Besonnenheit aufrufen und weiterhin auf die Vorfälle aus anderen Kulturkreisen einzugehen.“ „Ja, und die, die dafür verantwortlich ist? Marie hat uns ihren Namen nicht verraten, aber eben genug, dass wir sie suchen können“, wandte Jeff Bristol ein.
„Ja, aber außer der Aussage einer Geisterfrau haben wir nichts in der Hand. Auch das würde uns diese Person zu unserem Nachteil auslegen, falsche Verdächtigung, gezielte Verunglimpfung. Sie könnte sich mühelos in eine Opferrolle hineinsteigern und uns damit unglaubwürdig und handlungsunfähig machen. Wir müssten ihr beweisen, dass sie auch als nachweisliches Opfer kein Recht darauf hat, eine Täterin zu sein und sie bei klaren Rechtsbrüchen erwischen, ohne uns selbst von dieser Seite her angreifbar zu machen“, räumte Mia Silverlake ein.“
„Gut gebrüllt, Löwin“, erwiderte Jeff Bristol sarkastisch. Das brachte die stellvertretende Direktrice darauf, um mehr Ernst und Respekt zu ersuchen. Dann sagte sie: „Richtig. Wenn Marie es für geboten gehalten hätte, hätte sie uns den Namen und die Anschrift genannt. Wir wären hingegangen und hätten sie zu ihrem und der Allgemeinheit Schutz in Gewahrsam genommen. Und dann? Wir hätten sie der zuständigen Regionalverwaltung übergeben müssen. Die hätte uns wegen verbotener Eigenmacht belangt und womöglich rechtbekommen. Wir hätten unsere großzügige Arbeitserlaubnis verloren und die Wahl gehabt, entweder für die goldene Triangel von Louisianaa oder dem neuen MAKUSA zu arbeiten oder zu riskieren, wegen einer Kleinigkeit im ehemaligen Doomcastle zu landen, falls die nicht auf die Idee kämen, uns hinzurichten, zu entseelen oder wiederzuverjüngen. Am Ende hätten wir es nur noch schlimmer gemacht. So wissen wir, worauf wir achten müssen.“
„Ja, auf vor kurzem abgetauchte Inobskuratoren“, sagte Jeff Bristol. Dann wandte er noch ein: „Abgesehen davon, wer sagt eigentlich, dass alle sechs Hexen unfreiwillig verschwunden sind. Wenn auch nur eine von denen wahrhaftig mit dem Spinnenorden, den Feuerrosenschwestern oder Vita Magica zu tun hatte könnten es andere, die gleichfalls derartig unterwegs sind vorziehen, mal eben von der Bildfläche zu verschwinden und abzuwarten, bis der Sturm vorbei ist. Ich wage sogar die Hypothese, dass in den nächsten Tagen noch viel mehr Hexen urplötzlich verschwinden und sich im tiefsten Untergrund neu aufstellen, um das Unwetter abzuwarten oder es aktiv zu bekämpfen, ohne dass die ahnungslose Allgemeinheit was davon mitbekommt.“
„Ich kann mich dieser Hypothese nur anschließen. Wenn eine der Verschwundenen zu einem der dunklen Orden gehört hat könnten andere, die ebenfalls in einem solchen Orden sind das früh genug erfahren haben und abgetaucht sein“, pflichtete Martha Merryweather ihrem Kollegen bei.
„Ja, vor allem nachdem, was mit dem Haus von Melonia Bluetail passiert ist“, meinte Quinn Hammersmith. Dem wollte hier keiner mehr widersprechen.
Also beschlossen die Hexen und Zauberer des Marie-Laveau-Institutes, sich umzuhören, wer möglicherweise als nächstes verdächtigt würde und ob die Person dann mal eben verschwand oder gar einen Präventivschlag ausführte. Jedenfalls mussten sie aufpassen, dass die Zauberergemeinschaft der USA nicht weiter daran glaubte, das Laveau-Institut sei auf einer unautorisierten Hexenjagd.
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Millie merkte schon, dass es sie anstrengte, wieder zwei Kinder auf einmal auszutragen. Doch sie freute sich auch, dass alle, die sie zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte erschienen, die Brickstons einschließlich Joe, die Brocklehursts mit den Kindern Leonidas und Brooke, ihre Schwiegermutter Martha mit ihrem Mann Lucky und allen vier Kindern, die beiden in Millemerveilles wohnenden Familien Dusoleil, die aus Belgien herübergeflohpulverten Malones mit ihren beiden Kindern Shivaun Renée und Maurice Sean, ihre eigenen Eltern, ihre Schwester Martine mit Mann und drei Kindern Héméra, Giselle und Odette, Ihre Großeltern, ja auch Madame Delamontagne mit ihren jüngsten Kindern, sowie die sich schon auffällig im Hintergrund haltenden beiden Hexen Laurentine und Louiselle mit der kleinen Lucine, die bereits umherkrabbeln konnte. mann, wie schnell doch die Zeit verging, dachte die werdende Zwillingsmutter. Dann sah sie ihren Mann bei Béatrice, die anders als Millie ihre Schwangerschaft nicht bekanntgeben durfte. Hätte man ihr vor drei Jahren erzählt, dass sie das echt zulassen würde, dass ihre Tante Béatrice von Julius zwei Kinder kriegen konnte hätte sie dem oder der entweder ins Gesicht gelacht oder links und rechts eine saftige Ohrfeige oder gar einen deftigen Faustschlag voll auf die Nase verpasst. Doch sie fühlte keine Eifersucht auf Béatrice, dass die ihr das von ihr geforderte Exklusivrecht an Julius‘ Kindern streitig machte. Denn sie wusste ja zu gut, warum das so war wie es war. Also freute sie sich, dass alle Gäste da waren und die Brocklehursts und Merryweathers bis zum Geburtstag von Aurore bleiben konnten. Zwar gefiel ihr nicht, was Brittany und Martha zu berichten hatten und dass Martha sich wieder Sorgen machte, in den Staaten unwillkommen zu sein. Doch das hatte die zwei nicht davon abgehalten, Millies 25. Geburtstag mitzufeiern. Vor allem Brittany, die nach der Geburt von Brooke wieder die wortgewandte und frei heraus sprechende junge Hexe war, mit der sie sich immer gut verstanden hatte, freute sich „Abstand vom wild umgerührten, brodelnden Kessel“ der US-amerikanischen Zaubererweltpolitik zu haben. Als Dorfrätin Hammersmiths Assistentin bekam sie schlließlich jeden Pups aus Washington, New York und Austin in Texas mit.
Als Millie in die Wandelraumtruhe griff, in der das gerade auf dem Truhendeckel angezeigte Geburtstagskind die Geschenke ertasten und herausziehen durfte bekam sie ein Paket zu fassen, das eindeutig nach einem Buch aussah. Sie zog es aus der tiefschwarzen Leere hervor und präsentierte es. „Für Millie von deiner mehrfach verschwägerten Anverwandten aus dem Land der Mitternachtssonne und der Elche“, las sie laut vor und grinste Britta Gautier an, die ohne ihren Ehemann aber mit ihrem Kind nach Millemerveilles gekommen war. „Meine Mama hat sich sehr gefreut, dass du die schwedischen Kochrezepte haben wolltest, die dein Mann auf unserer Europarundreise kosten durfte“, meinte Britta Gautier und strahlte das Geburtstagskind an.
„Ui, wahrscheinlich viel mit Fleisch und Fisch, oder?“ fragte Brittany Brocklehurst. „Hmm, da sind auch Sachen mit Käse, Yogurt und Honig aufgeführt“, erwiderte Britta, die wusste, dass Brittany auch das nicht essen wollte, weil sie Veganerin war. „So viel Gemüse außer Kartoffeln oder Steckrüben gibt’s bei denen ja nicht, was eine große Palette von Kochrezepten hergibt“, meinte Kevin Malone. „Aber dafür haben die einen ziemlich genialen Branntwein, der doch gut mit anständigem Whisky konkurrieren kann.“
„Ja, und Julius hat keinen davon mitgebracht, um dich rotblonden Kleehüpfer zu einem neuen Duell herauszufordern“, meinte Millies Vater mit lausbübischem Grinsen. „Den haben die Russen, Schwweden, Finnen und Norweger selbst weggebechert, Beau-Papa“, meinte Julius dazu.
„Da wo das Buch herkommt kriege ich bei Bedarf auch was von Snorres Feuertroll her, Berie“, erwiderte Britta. Brittany rümpfte die Nase, während Millie das Buch auspackte und „Die Gaumenfreuden zwischen Ostsee und Nordmeer“ vorlas. Britta hatte es wirklich geschafft, eine französische Ausgabe des schwedischen Kochbuches zu beschaffen, von dem sie Julius erzählt hatte. Als sie dann im Inhaltsverzeichnis ein Kapitel über Gemüsespezialitäten fand winkte sie Brittany zu sich und ließ sie lesen.
„Oh, doch was ohne Elch und Hering, Warmer Gruß aus Großmutters Garten“, las Brittany halblaut. „Darf ich mir das Buch ausleihen, bis wir wieder in die Himmelswurst nach Hause klettern?“ fragte Brittany. Millie genehmigte ihr das.
Von Florymont und ihrem Onkel Otto bekam sie zwei kleine Distantigeminuskästen, die laut Florymont um die ganze Welt reichen konnten. „Weil die große Ausgabe nicht geschrumpft oder in eine RIV-Tasche gesteckt werden kann habe ich eine Miniausgabe gebaut, die ein viertel so große Pergamente fernkopieren kann, Millie“, sagte Florymont. „Otto meinte sowas, dass du Sorgen hattest, Notizen nicht schnell genug zu ihm in die Druckerei zu kriegen, bevor die Nachricht als solche veraltet ist. Mit dem Ding hier kannst du von überall unterwegs Notizen oder Artikelentwürfe verschicken. Zusätzlich kannst du das Gerät auf deine Hand einstimmen und mit dem kleinen Silbertrichter hier sogar Sprachaufzeichnungen auf Pergament übertragen lassen. Bruno hat das schon im Feldeinsatz ausgetestet.“
„Was ist mit mir, Florymont?“ wollte Bruno Dusoleil wissen und kam herüber. „Ach, klar, ein Minidigi, stimmt, sollte jeder rasende Blitzreporter mithaben, wo die großen Apparate nicht geschrumpft oder in Rauminhaltsvergrößerungstaschen herumgetragen werden können, ohne gleich die Verbindung zum Zwillingsbruder zu verlieren. Ja, und ich habe einen Minidigi schon im Einsatz für Radio freie Zaubererwelt ausprobiert, als ich vor einer Woche auf Réunion die Spur von Sandrines Mann gesucht habe.“
„Oha, ist sicher nicht ungefährlich, wo wir wissen, wem er da hinterhergestiegen ist, Bruno“, meinte Millie. „Hat meine holde Apothekenfee mir auch schon um die Ohren gehauen, dass ich mich von deren Rummelplätzen fernzuhalten habe, wenn ich keinen gehörigen Krach mit ihr kriegen will. Aber im Moment gilt ja die Ministeriumsmission, alle ungeklärtenStraftaten der letzten fünf Jahre aufzuklären. Da muss ich mich als rasender Blitzreporter doch mit draufsetzen.“
„Ja, und dann per Direktübertragung aus einem neuen Karussell von Vita Magica oder von einem derer Wickeltische berichten“, grummelte Jeanne, die ebenfalls dazugekommen war und sich sowohl den Minidigeka oder Minidigi ansah als auch einen Blick in das von Brittany aufgeschlagene Kochbuch mit schwedischen Köstlichkeiten warf.
„Jeanne, meine liebste und einzige, ich habe immer einen kleinen Rettungsring mit, mit dem ich noch rechtzeitig abspringen kann, wenn ich fremde Karussell musik höre. Aber du siehst ein, dass wir vom Rundfunk mithelfen sollten, die Schurken und Miststücke zu finden, die nicht nur Gérard einkassiert haben. Es könnte nämlich sein, dass der harte Kern der Babymacherbande aus Frankreich und England kommt. Das sollten wir dann auch wissen, wer das ist.“
„Ja, das Ministerium sollte das wissen. Abgesehen davon hast du auch noch den Vertrag mit den Mercurios und vier Kinder, die dir genug Kurzweile bieten. Öhm, interessantes Gericht. Darf ich mir das Buch auch mal leihen oder wissen, wo ich es kaufen kann?“ erwiderte Jeanne.
„Leihen, wenn Britt es mir wiedergibt und kaufen, wenn Britta dir verraten möchte, wo man es herbekommt“, antwortete Millie grinsend.
„Die Zeit habe ich“, erwiderte Jeanne darauf. Dann zog sie sich wieder in die Reihen der Gäste zurück, die Millie beim Geschenkeauspacken zusehen wollten.
Neben noch mehr Kleidung für alle Gelegenheiten bekam das Geburtstagskind ein eigenes Xenographophon von Laurentine und Louiselle, um ihr unverständliche Schriften in gesprochene Sprache übersetzen zu lassen. Wie hilfreich dieses Gerät war hatte Julius bei seiner letzten Aufgabe für Ashtaria herausgefunden. „Es ist nur günstig, wenn deine Kolleginnen und Kollegen nicht mitbekommen, dass du dieses nützliche Teil hast, weil dann alle eins haben wollen und mir die Verbreitungsbeschränkung und weil ich das eben in Handarbeit machen muss im Weg sind“, sagte Laurentine leise.
Natürlich gab es für die werdende Zwillingsmutter neue Babysachen für zwei, und weil zumindest die Verwandten wussten, dass sie zwei Mädchen erwartete farblich entsprechend abgestimmte Bekleidung für Neugeborene bis Einjährige.
Nach dem großen Geschenkeauspacken kam das Abendessen. Da es draußen gerade sehr windig war blieben die Feiernden in der großen, kreisrunden Empfangs- und Festhalle. Erst als die Kinder unter sechs Jahren immer mehr gähnten oder immer quengeliger wurden, weil sie eigentlich müde waren aber nicht verpassen wollten, was so los war endete die Geburtstagsfeier um neun Uhr abends mit einer Runde im Chor gesungener Wiegenlieder, während die Elternpaare ihren Nachwuchs nach Hause oder in die Betten im Apfelhaus brachten. Als das erledigt war halfen die Gäste noch beim Aufräumen. Dies ging mit den entsprechenden Haushaltszaubern innerhalb von nur fünf Minuten.
Da sie ja Übernachtungsgäste hatten fiel für die kommenden Abende die übliche Dreierrunde im Musikzimmer aus.
Als Julius neben Millie im Ehebett lag und die Schnarchfängervorhänge fest zugezogen waren sagte sie zu ihm: „Ich hoffe, Trice kommt in den Tagen bis Rories siebtem gut damit klar, dass sie nicht zeigen darf, dass sie auch was kleines in Aussicht hat. Heute ging’s ja noch.“
„Wir werden es deinen Eltern und meiner Mutter nicht mehr all zu lange verheimlichen können“, erwiderte Julius darauf. „Das wichtigste ist, dass wir es hinbekommen, dass alle, die es mittelbar oder unmittelbar was angeht es begreifen, dass wir so unseren Familienfrieden erhalten. Ich denke auch, dass Trice sich bis zum zweiten Mai noch gut beherrschen kann. Einen monat später wäre für sie sicher sehr anstrengend. So, und jetzt schlafen wir besser, bevor Trice vor lauter Ohrenklingeln noch eine Heilerin aufsucht.“
„Scherzbold“, grummelte Millie. Doch er hatte ja recht. Über Trice zu reden, wo sie nicht dabei war war schon unangenehm, auch für sie, die früher sonst jede Gelegenheit genutzt hatte, über wen immer Kommentare oder Ansichten zu äußern.
Um halb zwölf legte sich geruhsame Stille über das ganze Apfelhaus am Farbensee von Millemerveilles. Alle Probleme der Welt blieben draußen.
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Die zehn obersten Mitglieder der noch geheimen Bruderschaft freier texanischer Zauberer trafen sich am Morgen des 27. Aprils in jenem geheimen Zelt in der Wüste. Tucker Greengrass wartete schon auf die anderen. „Jungs, Fuenteviva hat gestern richtig deftig eins auf die hochgetragene Nase bekommen. Ihr hattet euch doch beschwert, dass er versucht, über seine Hispanics in Texas Land aufzukaufen und dass die auch versuchen sollten, ihren Nachbarn mehr und mehr Land abzukaufen, weil Fuenteviva der Herr von zwanzig Goldminen in den Bergen von Mexiko ist“, offenbarte Greengrass seinen Mitbrüdern.
„Ich hab’s über zwei Ecken gehört, dass der sich mit den Torrealtas im Süden von Tortillaland angelegt hat“, ergänzte Mitbruder Marvin Dryrock. „Ich hörte aber auch, dass nicht die Torrealtas ihm so viele Leute abgenommen haben, sondern mit irgendwem anderen kungelnde Zauberer aus den dort lebenden Indiovölkern. Kann sein, dass die sauer waren, weil sich die zwei größten Platzhirsche seit dem Zerbröseln des großen Tacos auf geheiligtem Boden geprügelt haben und das den noch lebenden zauberkundigen der Azteken-Nachfahren voll hochkam und sie deshalb dazwischengegangen sind. Aber schon sehr wichtig zu bedenken dass die mit so vielen blitzschnell zaubernden Zauberstabträgern auf einmal fertig wurden.“
„Marve, wissen wir, ob nicht genau das denen geholfen hat?“ fragte Greengrass. „Wenn sich Fuenteviva mit seinem Erzfeind Torrealta auf geheiligtem Boden geprügelt hat konnten die da lebenden Nachkommen von Montezuma und Söhne womöglich alte Flüche in Kraft setzen, dass unbefugte sofort geschwächt werden, wenn sie mit irgendwelchen Zaubern hantieren. Denkt an die Geisterviecher, die nach dieser unheimlichen Welle dunkler Zauberkraft vor vier Jahren aus bis dahin unbekannten Gräbern aufgestiegen sind, weil die Gegenstände, an denen sie gebunden waren, verstärkt wurden. Ihr erinnert euch sicher, dass das in New Orleans ansässige Laveau-Institut und die Experten für Geisterwesen aus dem Zaubereiministerium eine Menge von diesen Biestern zurücktreiben und gleichzeitig die Zaubereigeheimhaltung sichern mussten. Bei dir war doch dieser dreimal so groß wie ein lebendes Exemplar beschaffene Puma aus blutrotem Feuer.“
„Ja, und die Geisterbehörde konnte den nicht mit den üblichen Fangzaubern kriegen, weil der zu schnell für die war. Hat mich zwanzig meiner Langhornrinder gekostet, bis die vom LI es hinbekamen, den Ankergegenstand von diesem Biest zu finden und zu entladen, wobei die ein leichtes Erdbeben und eine zeitweilige Temperaturerhöhung um zwanzig Grad angerichtet haben“, erwähnte Dryrock. „Ja, und dieser sechs Meter große Nachtschatten in Form eines Grizzlybären, der die Ranch der Grovers entvölkert hat, weil da ein goldener Becher aus einem Indianergrab aufbewahrt wurde ist ja durch die Zeitungen gegangen. Da konnten die Laveau-Leute auch nur helfen, weil sie einen Zauber kannten, um den Ankergegenstand zu finden, der diesen Mordgeist in der Welt hielt, einen Totenschädel, der offenbar einem alten Medizinmann gehört hatte“, steuerte Roy Huggins aus der Bruderschaft noch bei.
„Gut, wo das noch mal erwähnt wurde ist euch allen wohl klar, dass womöglich auch ganze Geisterarmeen aufgewacht sein können, die sich gegen Eindringlinge gestellt haben“, sagte Greengrass. Dann beschloss er das Thema damit, dass sie wohl erst einmal Ruhe vor Fuenteviva hatten, wo der erst einmal zusehen musste, sich und die seinen zu verstecken. Greengrass spottete sogar, dass Fuentevivas ganze Sippe jetzt Angst vor „Rachsüchtigen Indianergespenstern“ haben mochte, ja dass seine Leute unter Umständen einen ansteckenden Fluch mit sich herumschleppten, der Angehörige ihrer Familie ins Verderben stürzte. Dryrock gebot seinem Mitbruder Einhalt. „Wenn die echt solche Geisterwesen und Flüche losgelassen haben, Tuck, dann sollten wir uns selbst schön bedeckt halten. Am Ende meinen die noch, unser Gebiet damit zu beballern. Das Ding mit dem Nachtschattenbären sollte echt Warnung genug sein, wie schnell die von ihren Körpern gelösten Seelen von Raubtieren wüten können, wenn ihnen genug Kraft eingeflößt wird. Das ist ja das, was Rockwell seinen nichtmagischen Vorfahren immer wieder beizubiegen versucht hat, dass sie mit den noch bei uns wohnenden Stämmen friedlich umgehen müssen.“
„Ja, ist richtig, Roy. Aber was für uns zählt ist, dass die Landaufkaufskampagne von Fuenteviva erst einmal vom Tisch ist und wir mithelfen sollten, dass sie nicht wieder draufgelegt wird. Ich schreibe Rockwell noch mal an, der soll diesem regierenden Notrat von Tacoland klarmachen, dass die ihre Angelegenheiten bei sich behalten sollen und Texas kein frei verkäufliches Handelsgut ist oder er donnervogelstarken Ärger kriegt.“
„Ui, da wird sich der alte Joel Rockwell aber voll in die Hosen machen, wenn du ihm das so schreibst“, spöttelte Dryrock. „Der kann auch gerne sein Amt aufgeben und jemanden den Job machen lassen, der mehr Vaterlandsliebe im Blut hat“, meinte Greengrass.
Nachdem die Brüder noch besprochen hatten, wie es nach der Schlacht zwischen zwei mexikanischen Familien weitergehen sollte verließen die neun Mitstreiter Greengrasses das geheime Besprechungszelt in der texanischen Wüste.
Tucker Greengrass atmete auf, als alle weg waren. Jetzt hatte er endlich Zeit für drei Dinge. Das erste war, den geheimnisvollen ersten Bewahrer anzuschreiben, was in Mexiko passiert war. Selbst wenn es nichts mit dem Gerangel um die Reunion und die einzelnen Staaten zu tun hatte sollte er das wissen. Die zweite Sache, die er nun angehen wollte war ein Besuch bei seinen Verwandten in Virginia. Die wussten, dass er für Texas einen Sonderstatus erstreiten wollte und mussten noch überlegen, ob sie einer möglichen Südstaatenkonföderation beitreten wollten, wie sie damals zur Zeit der Sklavenhalter gegründet worden war, um ihre Baumwollpflücker behalten zu dürfen. Die dritte Sache war, sich mit dem alten Alan Greengrass zu treffen, seinem Cousin sechsten Grades, der gerade auf einer Vergnügungsreise durch die Staaten war und wohl zusehen wollte, seine hier investierten Galleonen zu sichern. Es sollte bei dem Treffen auch um die angeheiratete Verwandtschaft gehen. Tucker Greengrass konnte es immer noch nicht so recht verdauen, dass Alans Enkeltochter Astoria es geschafft hatte, ihrer älteren Hauskameradin Pensy Parkinson den Kronprinzen der berühmt-berüchtigten Familie Malfoy auszuspannen und den dazu zu kriegen, sie zu heiraten. Tja, weil sich die Malfoys damals zu sehr mit dem offenkundigen Irren mit einem angeblich so unaussprechlichen Namen zusammengetan hatten waren sie von denen, die unter dem zu leiden hatten in einem aufsehen erregenden Prozess zur Abtretung einer Menge Gold und zum Verzicht auf wichtige Ämter verknackt worden. Auch das hatte dem alten Alan Greengrass nicht geschmeckt, und Tucker fürchtete schon, dass Malfoys Stammhalter Draco die amerikanische Schwiegerverwandtschaft anpumpen mochte oder gar meinte, über die an ein einträgliches Amt in Übersee heranzukommen. Tja, von all dem mussten die neun anderen nichts mitbekommen. Die sollten weiterhin glauben, dass er, Tucker Greengrass, der große Macher im Hintergrund und zugleich der einzig wahre Fürsprecher der gemeinsamen Sache war.
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Die idee einer Spinne, die in ihrem Netz sitzt und darauf horcht, was sich darin fängt oder welcher der vielen tausend Fäden berührt wird gefiel ihm, dem geheimen Koordinator aller unabhängigen Zaubererbruderschaften innerhalb der USA. Allerdings galt für ihn, dass er von allen Seiten her bedroht wurde, von oben durch die Regionaladministratoren und wohl demnächst wieder dem MAKUSA, sowie aus allen Himmelsrichtungen von jenen, deren Macht oder Machtanspruch er gefährdete, die großen zehn des Westens, die Babymacherbanditen von Vita Magica, die Blutsaugersekte, die südlich des Rio Grande herumstreunenden Mondanheuler und natürlich alle Hexen, die sich nicht damit abfinden wollten, dass sie nur für die Erhaltung von Familie und Heilkunst zuständig sein sollten. Er, der sich den zwanzig Häuptern der ihm bekannten Bruderschaften gegenüber als erster Bewahrer bezeichnet hatte, empfand die Vorstellung eines heimlichen Kongresses ohne Wahl und ohne öffentliche Rechtfertigungen sehr befriedigend. Im Moment gingen die anderen davon aus, dass er nur die geheime Verbindungsstelle darstellte, um die an regionaler Unabhängigkeit interessierten Bruderschaften auf eine gemeinsame Linie zu bringen. Doch wenn es gelang, die Macht der großen zehn zu brechen und sich jene, die in der zweiten oder dritten Reihe darbten weiter vorwagen und mehr Territorium und Gold erringen konnten, mochte er eines Tages als deren großer Gönner vorsprechen und sie dazu auffordern, den Schattenkongress zu konstituieren. Nach außen würde dann natürlich jeder Staat und jedes größere County weiterhin einen unabhängigen Zaubereiadministrator behalten. Doch wenn er die Zeit fand seine Pläne in der gebotenen Behutsamkeit auszuführen, dann würde in nicht mal zwei Jahren ein neuer Spinnenorden entstehen, kein von herrschsüchtigen, männerfeindlichen Hexen geführter, sondern ein von anständigen, erfahrenen und machtbewussten Zauberern gelenkter Orden mit ihm als Leiter, dem ersten Bewahrer.
Der Zauberer, der sich als neuer Lenker der magischen Gemeinschaft der USA verstand hatte über die vielen ausgeworfenen Fäden mitbekommen, dass die Texaner den verlockenden Happen geschluckt und den drei Triangel-Patriarchen in New Orleans ein gewisses Ultimatum zugestellt hatten. Ebenso wusste er auch von jener geheimen Jagdgesellschaft, die ohne Anweisung und Genehmigung von ganz oben eine veritable Hexenjagd betrieb und dabei schon selbst zu Gejagten geworden war. Noch wusste der erste Bewahrer nicht, wo genau die wohl von ihrem Aufenthalt in Ladonnas Rosengarten angeknackste Atalanta Bullhorn ihr Hauptquartier betrieb und welche ihrer ehemaligen Mitstreiter aus dem Inobskuratorentrupp, der Nachfolgeorganisation der einstigen Aurorentruppe, sie für ihren Vergeltungsfeldzug eingespannt hatte. Das musste er auch nicht wissen. Denn er war sicher, dass die wirklichen dunklen Schwesternschaften sich das nicht gefallen ließen, dass jemand ihre Mitglieder jagte. Auch würden zu viele unschuldige Hexen dran glauben und das Geschrei nach Einhalt immer lauter werden. So konnte und wollte er sich nur auf jene konzentrieren, die er für die gefährlichste Störung seiner Pläne hielt, die großen zehn des Westens. Außerdem musste er aufpassen, dass seine unmittelbaren Ausführungsgehilfen nicht in den Bewegungsradius von Marie Laveau eindrangen. Die als mächtiger Geist in der Welt verbliebene Voodoomeisterin vermochte in gewisser Weise zukünftige Ereignisse vorherzusehen. Falls er ihr ins Gehege kam sollte er nicht dort sein, wo sie in eigener Gestalt erscheinen und handeln konnte.
„Ray, was sagen die freien Zauberer Arizonas?“ fragte der erste Bewahrer das Gemälde eines auf einem geflügelten Rapphengst reitenden Cowboys mit dunkelblauem Hut.
„Die haben deinen Vorschlag umgesetzt, sich auch mit der Schmutzwäsche von den Hammersmiths zu befassen. Sieht so aus, als wenn der amtierende Familiensprecher Otto in den 1940er Jahren doch mehr mit den Grindelwaldianern zu schaffen hatte als er nach dessen Sturz vor dem Ausschuss zur Bereinigung unliebsamer Begebenheiten ausgepackt hat. Der hätte besser nur auf den Divitiae-Mentis-Zauber gesetzt. Aber der war so einfältig, ein in Geheimschrift verfasstes Tagebuch zu führen, und Remo Tallywoods kleiner Kundschafter hat das gefunden und den Inhalt voll in sich aufgenommen. Gut, dass wir wissen, dass mehr als ein Kilo Silber in der Nähe beschriebener Dokumente dieser kleinen Bücherraupen auf Abstand hält. Öhm, wolltest du nicht auch rauskriegen, wie der diese kleinen Spionageschleimer gezüchtet hat?“
„Zu gegebener Zeit. Ich vermute aber, dass der illegal ein paar japanische Zeichenfresser mit einer anderen Art von auf Lichtunterschiede abgestimmten Zaubertieren gekreuzt hat, bis die die einverleibten Buchstaben nicht verdauen, sondern in sich verdoppeln und die Originale wieder ausscheiden wie Regenwürmer frische Erde ausscheiden. Aber wie die genau beschaffen sind bekommen wir heraus, wenn Zeit dafür ist. Ray.“
„Sehe ich auch so“, erwiderte der gemalte Cowboy. „Brauchst du mich dann noch für einen Botengang?“
„Heute nicht. Ich muss warten, wie die von den Texanern ausgestreute Saat aufgeht. Außerdem haben die Arizona-Jungs und die Bruderschaft aus Ohio angefangen, die Anlaufstellen des MAKUSAs, die neu aufgemacht wurden, mit kleinen aber gemeinen Nettigkeiten zu beharken. Da könnte auch noch was nettes bei herumkommen.“
„Wer Wind säht wird Sturm ernten“, erwiderte der Reiter auf dem geflügelten Rapphengst. „Ey, Ray, seit wann liest du denn die Bibel der Juden und Christen? Wusste nicht, dass du irgendwie an so einen Wälzer drankommst“, sagte der Zauberer, der sich als erster Bewahrer bezeichnete.
„Du vergisst, dass dein Großvater ein Spion in der Evangelikalen Kirche von Boston war um da nach den sogenannten Reinigern und Geheimnisbrechern ausschau zu halten. Der hat mir die ganzen Bibeltexte auf mich übertragen lassen und Shadow-Flash hier wurde auch damit gefüttert, nicht war, Shady?“ Das geflügelte Pferd schnaubte und wieherte dann fünf Verse aus dem alten Testament, die sich mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten befassten.
„Ein Gaul, der Bibeltexte wiehern kann“, grummelte der erste Bewahrer. Das Pferd wieherte nun wütend, wuchtete die Vorderhand nach oben, dass Ray auf seinem Rücken fast im hohen Bogen herunterflog, wenn der nicht durch einen Gurt am Sattel gesichert wäre. „‚tschuldigung, … den Gaul nimmst du besser wieder zurück, bevor der mich doch noch abwirft!“ rief Ray und musste sich gut festhalten, weil das geflügelte Pferd nun wild herumsprang und dabei immer mit den Vorderhufen aus dem Bild zu schlagen schien. „Lustig sieht das aus. Aber ich brauche euch zwei noch. Gut, ich nehme hiermit den Gaul zurück“, sagte der erste Bewahrer grinsend. Shadow-Flash bockte noch einmal, dann stand er still und friedlich auf dem gemalten Gras.
Der erste Bewahrer sah einen anderen gemalten Reiter in blau-goldenem Prunkgewand auf einem blütenweißen Streitross an. „Gut, Ryan, besuche meinen Kontakt im Silberpfortenweg in Chicago und frag an, wie die Geschäfte an den großen Seen stehen. Du brauchst vor übermorgen nicht wiederzukommen.“
„Wohl an, dann vollführe ich einen vollendeten Rundritt durch all die Gegenstücke von mir und erheische, was zu künden ist“, sagte Ryan im Stil eines mittelalterlichen Rittersmannes oder Heroldes. Dann trieb er sein Streitross zum schnellen Abflug.
„Grandpa Hemon, das mit dem bibelfesten Klepper hättest du mir aber noch vor deinem Abflug aus der Welt erzählen können“, dachte der Zauberer, der sich als erster Bewahrer bezeichnete. Dann sah er auf seine silberne Taschenuhr, die auf Stimmbefehl hin Weckzeiten vormerken oder an wichtige Termine erinnern konnte. Jetzt war es halb elf abends da, wo er wohnte und in einer Stunde fing der 30. April an. Die francophonen und Nordeuropastämmigen feierten dann in kleinen, gut abgesicherten Kreisen das Beltanefest oder auch die Walpurgisnacht. Das hatte er als junger Zauberer einmal mitgemacht und danach beschlossen, es erst wieder zu besuchen, wenn ein grausames Schicksal ihn als Hexe auf die Welt zurückkehren lassen sollte und er sich nicht mehr daran erinnerte, dass er vorher ein stolzer Großmagier alter Zucht und Ordnung gewesen war.
„Boss, hier Roy“, meldete sich ein Cowboy auf fuchsroter Stute mit Flügeln, der einen orangeroten Hut aufhatte und orange Ledersachen am Körper trug.
„Hi, Roy! Was bringst du mir für Kunde?“
„Mac und Jack machen das, was du vorgeschlagen hast. Allerdings wollen sie dafür Goldbarren im Wert von 100 Goldriesen in einem Sicherheitsverlies, wo auch ihre Hinterbliebenen drankommen. Denn wenn die diesen Streich durchziehen könnte das jemandem sehr, sehr übel aufstoßen, sagt Mac. Aber er will das durchziehen, allein um den Hexenkessel so richtig zum brodeln zu kriegen, darf ich dir ausrichten.“
„Das wird wohl so sein, zumal die Zielperson dann sicher schnell weitermeldet, was ihr passiert ist. Kann sein, dass der Club der zehn dann richtig in Aufruhr gerät.“
„Ja, nur die Sache mit der Stimme ist irgendwie schwierig, meinte Mac. Aber Jack hat gleich gesagt, dass das mit einem dreifachen Gedächtniszauber glattgebügelt werden kann.“
„Wenn er das meint. Er ist schließlich beruflicher Obleviator. Aber er soll dann besser alle Erinnerungen an Planung und Ausführung aus seinem Gedächtnis extrahieren, und zwar so, dass er es selbst nicht mehr weiß. Sag ihm das bitte noch!“ „Geht klar, Boss“, bestätigte der orangerote Roy und preschte auf seinem geflügelten Pferd aus dem Bild, in dem er eben noch gewesen war.
Der erste Bewahrer blickte auf die insgesamt zwölf im Kreis aushängenden Gemälde mit berittenen Boten in unterschiedlicher Kleidung auf unterschiedlich gestalteten Flügelpferden. Darunter waren auch vier Reiterinnen, drei in Kriegerinnenaufmachung und eine rosarot gewandete Prinzessin auf einer schlanken Schimmelstute. Jedes von denen stand mit je elf exakten Gegenstücken in Verbindung. Das war das Vermächtnis einer vor über hundert Jahren beinahe zur vorherrschenden Zaubererdynastie aufgestiegenen Familie, von der in diesen Tagen viele glaubten, dass sie in männlicher Linie ausgestorben war. Ja, das sollten sie auch weiterhin glauben, bis er das Vermächtnis seiner Vorfahren ergreifen und zum obersten Zauberer der USA aufsteigen würde. Anders als all die vor ihm, die das schon vorhatten wollte er sich nicht auf die Hilfe mächtiger geheimer Unterstützer verlassen. Er wollte und würde alle Fäden in den Händen behalten.
Ein Reiter auf einem palominogoldenen Flügelpferd, der einen ockerfarbenen Poncho und einen sonnengelben Sombrero trug, erschien in einem bis dahin freien Bild, dass ein Kaktusfeld in einer Wüstenlandschaft darstellte. „Ai, Jefe, schon neues aus México gehört?“ fragte jener Neuankömmling. Der erste Bewahrer sah den anderen berittenen Boten an und grinste. „Wenn du das mit der Familienfehde zwischen Goldkönig Fuenteviva und Urwaldbaron Torrealta meinst habe ich das vor einer Stunde mitbekommen. Na und?“
„Habe Einzelheiten, Jefe. Weiß jetzt, wie genau la Batalla grande beendet wurde und dass sich Torrealta und Fuenteviva in ihre Stammhäuser zurückgezogen haben wie die Schnecken in Häuser“, sagte der Reiter auf dem goldenen Flügelpferd.
Der erste Bewahrer forderte den Boten auf, in vollständiger Sprache aber kurzen Sätzen zu berichten, sowahr dessen Großvater ein großer Kämpfer im Bigfootkampf von 1892 war. So hörte sich der erste Bewahrer den vollständigen Bericht an, der nur aus dem Boten von dessen Gegenstücken in Mexiko heimlich erlauschten Gesprächhsbestandteilen zusammengesetzt war. Der erste Bewahrer dachte erst, was es sollte, sich mit innermexikanischen Angelegenheiten herumzuschlagen, wo es in den Staaten genug zu bedenken gab. Doch als er das mit den grünmaskierten Reitern hörte, die ganze Hundertschaften von kämpfenden Zauberern handlungsunfähig machen und gefangennehmen konnten und dass diese Reiter Lederstücke mit einer grünen Hand auf gelbem Untergrund zurückgelassen hatten wurde er doch nachdenklich. Wer bitte sollte das sein, La Mano Ayudante, die helfende Hand? War es eine kleine Gruppe zufällig an starke Zauber geratener Leute oder eine bis dahin unbekannte Organisation, die sich herausgefordert fühlte? Falls dieser Notrat aus Weltverbesserern, übertriebenen Menschenfreunden und Geisterjägern doch noch von einer echten Zaubereiverwaltung abgelöst wurde konnte die beschließen, dass die Rückforderungen einstiger Gebiete weitergelten sollte und dass sie diese Rückforderung womöglich mit Gewalt durchsetzen mochte. Dabei konnte dann diese „helfende Hand“ ihnen unter die Arme greifen. Das war etwas, was die Bewahrer und ihren heimlichen Koordinator sehr wohl etwas anging. Doch er konnte Raúl Amarillo, den berittenen Boten, nicht dazu auffordern, seine vier Gegenstücke in anderen mexikanischen Häusern dazu zu bringen, mehr Informationen über die grüne oder auch helfende Hand zu beschaffen. Er selbst hatte die Losung ausgegeben, keine Nachfragen zu stellen, die unangenehme Rückfragen auslösten. Sicher war es ihm schon wichtig, wer da im südlichen Nachbarland Macht hatte und macht einsetzte. Doch wegen eines bisher innermexikanischen Problems auffliegen wollte er dann auch nicht. So befahl er Raúl Amarillo, weiterhin auf Posten zu bleiben und sich umzuhören, welche Auswirkungen der Zusammenstoß zwischen den Fuentevivas und Torrealtas nach sich zog. Kaum hatte Raúl diese neue Anweisung erhalten sprengte er auf seinem Pferd wieder hinaus aus dem Bild.
„Da soll mir noch mal wer vorhalten, im Haus zu hocken sei langweilig“, dachte der erste Bewahrer. Dann beschloss er, sich für drei Stunden hinzulegen, um die nötige Menge Traumschlaf zu bekommen, um bei seinem körper und Seele belastenden Tag-Nacht-Rhythmus nicht dem Wahnsinn zu verfallen.
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Früher war „der Fliegende Fuchs“ die Adresse für schnelles Reisen und noch schnellere Postzustellungen. Denn die in einem sehr gut abgestimmten Verhältnis mit wilden Mustangs gekreuzten Aeton-Pferde konnten über zwei Stunden die doppelte Fluggeschwindigkeit der größten abgerichteten Postuhus erreichen. Im Staffettenflug eingesetzt konnten die geflügelten Pferde sogar die vierfache Geschwindigkeit erreichen, wenn die Maximalstrecke nicht länger als 100 Meilen also 160 Kilometer war. So führten die Steedfords seit 1830 ihr Unternehmen, bei dem schnelles Reisen mit mehr Gepäck als auf einen Besen ging und schnellere Post als mit den da schon sehr flinken Eulen zugestellt wurde. Der damalige Patriarch Jasper Steedford hatte sich königlich amüsiert, als er davon gehört hatte, dass die Nichtmagier im Jahre 1860 ein ähnliches Beförderungssystem mit nur auf dem Boden laufenden Pferden aufgezogen hatten, das dann auch nur anderthalb Jahre lang funktionierte. Tja, was für die legendären Reiter vom Pony Express die Einführung von elektrischer Telegraphie und Dampfeisenbahn war war für Steedfords fliegende Füchse das Flohpulver, die von den Nichtmagiern abgeschaute Kraftwagenlinie Blauer Vogel und natürlich die Himmelswürste, die den Steedfords das einträgliche Transportgeschäft mit den Zaubererschulen vermasselt hatten. So hatte der amtierende Familienpatriarch Cuthbert den Beförderungsdienst als exklusive und auf Bestellung eingerichtete Individualbeförderung umgestellt. Denn die Himmelswürste flogen nur für die Schulen oder den damaligen MAKUSA oder dessen Rechtsnachfolger vom Zaubereiministerium.
Es war in der Nacht zum dreißigsten April, als Duncan Steedford, dritter Sohn von Collin Steedford, dem erstgeborenen Cuthtbert Steedfords, mit seiner sechsspännigen Reisekutsche über die Prärie dahinflog. im Coupé der von außen wie eine langgezogene Schönwetterwolke aussehenden Reisekutsche saßen Philoctetes Moreville und seine Untersekretäre Ronin Woodbridge und Arnold Crosslane, Fachzauberer für Komfortzauber in öffentlichen Gebäuden auf dem Weg von New York nach Dune Ville in Texas. Vor einer Stunde hatten sie an FF 5, einer der Wechselstationen, das komplette Gespann ausgetauscht und wollten in der Nacht noch über die Rocky Mountains hinweg fliegen. Womöglich musste Duncan an Station FF XII. selbst gegen seinen Vetter Elroy ausgetauscht werden.
Die Reisegäste schliefen wohl. Denn Duncan sah nur noch das Licht der Gestirne. Wenn er nicht von seinem Blut her zum Lenker geflügelter Pferde bestimmt gewesen wäre hätte er auch als Astronom und Kalenderzauberer was erreichen können. Aber ein Steedford musste gleich nach Schulabschluss lernen, mit den rassigen Luftrössern umzugehen. Daher blickte er nicht gerne nach oben, weil ihn sonst wieder diese Wehmut überkam, dass er nicht die ganze Nacht durch ein Teleskop gucken und die bahnen der Planeten berechnen durfte.
Der an Station FF 5 übernommene Leithengst des Gespanns schnaubte und wieherte unvermittelt. Die fünf anderen Gespanntiere fielen in das Wiehern ein und begannen nun unregelmäßig mit den Flügeln zu schlagen. Die Bahn der fliegenden Reisekutsche wurde unregelmäßig. Dann sah Duncan Steedford sie.
Acht, nein zehn, nein vierzehn im Mondlicht weiß schimmernde Gestalten schossen auf fliegenden besen heran. Das mussten neue Millennium-Besen sein, weil die die angespannten Ausdaueraetons mühelos einholten, obwohl diese gerade einen neuen Gleichtakt fanden und ohne Duncans Zutun auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigten.
Lautes, triumphierendes Lachen klang von den heranjagenden Besen her. Da erkannte Duncan, dass es alles Hexen waren, hexen in weißen Kapuzenumhängen und mit vor den gesichtern befestigten Schleiern wie sittsame arabische Ehefrauen in der Öffentlichkeit, dachte Steedford. Dann wurde ihm klar, was seinen Pferden bereits klargeworden war. Die fliegenden Ladies wollten ihn überfallen.
Wegen der Nickligkeiten mit den Duchamps in New Orleans reichte die Angst von Flugtieren und die Erkenntnis ihres Lenkers, um die Überfallabwehrvorrichtungen der Kutsche in Tätigkeit zu setzen. Sofort umspannte eine tiefrote Lichtblase Rosse und Kutsche. Zugleich klappten mehrere gewehrlaufartige Vorrichtungen aus, die jeden als Feind eingestuften Flieger mit Lähm- oder Furchtzaubern beharkten. Reichte das nicht aus konnten die Abwehrgeräte auch kleine Ladungen Drachenfeuer und Eiszapfen verschießen. Allerdings galt seit vierzig Jahren die Vorschrift, dass vor dem Einsatz solcher Waffen eine Warnung ausgerufen werden musste. So rief Duncan mit magisch verstärkter Stimme: „Wer immer Sie sind, halten Sie mehr als hundert Meter Abstand. Sonst treten Abwehrmittel in Kraft!“
Die anfliegenden Hexen unterschritten jedoch diesen Sicherheitsabstand. Da flogen ihnen auch schon bunte Zauberflüche entgegen. Diese prallten jedoch auf unsichtbare Schildzauber. Eine der Wegelagerinnen hatte wohl auch den großen silbernen Schild beschworen. Denn sie fing die Hauptwucht der freigesetzten Abwehrzauber ab. Zwei der heranjagenden Hexen wurden zwar aus der Bahn geschleudert, schlugen jedoch verdammt gute Loopings und kamen nun von der anderen Seite. Zwar wurden sie auch aus dieser Richtung mit gespeicherten Zauberflüchen bestürmt, hielten aber ihrerseits mit Betäubungszaubern gegen. Diese prallten auf den roten Schildzauber und zerbarsten daran. Dabei krachte es so laut, dass Duncan schon fürchtete, dass seine Pferde nun endgültig durchgehen würden. In der Kutsche glühte Licht auf. Man war aufgewacht. Da die Reisekutschen solange schalldicht blieben, solange keiner die Durchruffluke öffnete konnte Duncan nicht hören, ob jemand dort drinnen was rief. Er hatte jetzt auch eher damit zu tun, die fliegende Kutsche aus der Reichweite der Angreiferinnen zu lenken. Wieder prasselten und zischten Abwehrzauber los, darunter diesmal auch weißblaue Flammengarben gespeicherten Drachenfeuers. Dessen Einsatz hätte er eigentlich ankündigen müssen. Doch die verwünschten Weibsbilder wollten es ja so. Fünf davon gerieten voll in die weißblauen Flammengarben hinein, schrien laut auf und stürzten auf lichterloh brennenden Besen zu Boden. Zwei weitere der vorhin noch vierzehn Angreiferinnen gerieten in Ausläufer der Flammenstöße. Ihre Besenschweife loderten auf, und die vorhin noch blütenweißen Umhänge hingen als rußschwarze Fetzen von ihren Rücken. Die weiteren wurden von einem wild pfeifenden Schwarm nadelfeiner, tödlich spitzer Eispfeile bestürmt. Doch diese zerplatzten laut krachend an den im Augenblick der Treffer blau aufblitzenden Zauberschilden. Die Hälfte der feindlichen Hexen war jedoch noch unterwegs.
Die brennenden Hexen wurden von ihren Kameradinnen mit Brandlöschzaubern und eiskalten Wasserstrahlen überschüttet. Doch es war klar, dass mindestens zwei von ihnen tödlich verletzt waren. Die magische Abwehrschlacht hörte auf. Duncan Steedford trieb seine Tiere zu einer noch schnelleren Fluggeschwindigkeit, um sich von den scheinbar zurückgeschlagenen Wegelagerinnen abzusetzen. Es klapperte, als die kopfgroße Durchrfluke aufschwang und Morevilles Gesicht darin erschien. „Was zu allen roten Donnervögeln ist los, Steedford?!“ brüllte er.
„Ein Überfall, Sir. Jemand hat unsere Reiseroute ausgekundschaftet und wollte Sie und wohl auch mich gefangennehmen oder umbringen. Ichhabe Notfallgeschwindigkeit angelegt. Aber die können wir nur noch zwei Minuten halten, sonst sind die Tiere zu erschöpft, um bis zur nächsten Wechselstation durchzuhalten, Sir. Bitte schließen Sie die Luke wieder! Ich halte uns auf Kurs und Höhe.“
„Sind diese weißen Hexen wirklich zurückgeschlagen worden?“ fragte Moreville aufgebracht. „Die eingebauten Gegenschlagszauber haben fünf von denen zum Absturz gebracht. Die anderen stehen denen gerade bei. Ich hoffe, wir kommen weit genug von denen weg, bevor die meinen, uns mit den verbliebenen nachzusetzen. Die sitzen auf neusten Broncos, Sir. Ich kann nur hoffen, dass wir denen in den Wolken entwischen“, erwiderte Duncan Steedford.
„Sie sind dafür verantwortlich, dass wir an unserem gebuchten Ziel ankommen, Duncan Steedford. Sie wissen, was geschieht, wenn nicht“, drohte Moreville, bevor er die Durchrufluke wieder zuklappte. „Was du nicht sagst, Fettwanst“, knurrte Duncan im Bewusstsein, dass sein Passagier ihn jetzt nicht mehr hörte.
Steedford hielt die Geschwindigkeit noch eine Minute so hoch es ging. Dann zügelte er die Pferde mit Strängen und Stimme, hielt sie aber auf einem mittelschnellen Reisetempo. Dabei steuerte er das Gespann in die dicksten Wolken, die sich entlang der Bergflanken stauten. Er klappte die in seiner Kutschermütze eingearbeitete Nacht-und-Nebel-Brille herunter, um den Weg zu übersehen. Der kalte, über alles und jeden hinwegstreichende Wolkendunst war nun für ihn nicht mehr vorhanden. Er meinte, in sternenklarer, vollmondheller Nacht zu fliegen. Er sah die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains wie die Häupter uralter Riesen weit voraus im Mondlicht glänzen.
Die sechs Aetons, die bisher nur vor Anstrengung keuchten, schnaubten und wieherten ungehalten. Dann pflanzte sich ein warnendes Wiehern vom Leithengst über alle sechs Gespanntiere fort. Steedford blickte nach hintenund verzog sein Gesicht. Acht Gestalten auf von goldenen Sphären umhüllten Besen jagten schneller als ein Pfeil heran. Die Wegelagerinnen kamen zurück.
Auch wenn er wusste, was er seinen Tieren zumutete trieb er sie wieder zum schnelleren Flug an. Viel Mühe musste er sich nicht geben. Denn die Aetons hatten die Feindinnen ja schon vor ihm erspürt und wollten ihnen entkommen. Duncan wollte diesmal nicht warten, bis die Abwehrzauber von sich aus ansprangen und gab das Stimmkommando: „Alles bekämpfen, was nicht zu uns gehört!“
Wieder fuhren die rohrartigen Ausrichter für die eingewirkten Flüche und Elementarzauber aus. Diesmal dauerte es nicht, bis die Angreiferinnen die 100-Meter-Sicherheitsdistanz unterschritten. Die der Kutsche am nächsten fliegenden wurden mit weiteren Drachenfeuerladungen bestürmt. Duncans Hoffnung, dass der Flug durch die geballten Wolken die Feindinnen blind oder wenigstens orientierungslos machte zerplatzte genauso wie die weißblauen Flammengarben an den goldenen Sphären. Die Biester hatten sich auf seine Abwehr eingestellt und eine besonders wirksame Form des Aura-Sanignis-Zaubers in Kraft gesetzt.
Die bis zu 200 Meter weit reichenden Eispfeile zerplatzten in violetten Dampfwolken an den goldenen Sphären. Seit wann wehrte Aura Sanignis auch Eiszauber ab? Jedenfalls rückten die acht verbleibenden Angreiferinnen von Sekunde zu Sekunde um zehn Meter näher heran. Im Augenblick schleuderten sie keine eigenen Flüche. Doch das beruhigte Duncan überhaupt nicht. Ihm war klar, dass diese verschleierten Räuberbräute auf ihren hochgezüchteten Besen selbst den mit Höchstgeschwindigkeit dahinjagenden Aeton-Pferden überlegen waren. Wie lange konnten die neuesten Besen so schnell fliegen? Die Antwort war, lange genug, um die fliehende Kutsche einzuholen.
Weitere Feuer- und Eisattacken schlugen den anrückenden Angreiferinnen entgegen. Doch sie erzielten keine Wirkung mehr. Jetzt kamen die acht weißen Widersacherinnen auf und schwärmten aus, um die fliegende Kutsche aus vier Richtungen zugleich in die Zange zu nehmen. Duncan versuchte, durch rasche Steig- und Sinkbewegungen der Einschließung zu entrinnen. Doch seine Tiere wollten einfach nur noch vorwärtts, vorwärts, vorwärts.
Die acht verbliebenen Angreiferinnen johlten laut und triumphierend. Sie durchbrachen die Flammengarben und entgegenschwirrenden Eisgeschosse, auch wenn ihre eigenen Schutzsphären bereits bedenklich flackerten. Duncan überlegte, ob er seinen eigenen Zauberstab ziehen und aktive Gegenwehr leisten sollte.
Was dem Lenker der Reisekutsche noch mehr zu schaffen machte war, dass die verwünschten Wegelagerinnen den unausräumbaren Schwachpunkt des Gespanns beharkten, die geflügelten Pferde. Da sie denen mit Flüchen nicht beikommen konnten verlegten sie sich auf überlaute, schrille Töne, Knalllaute unterschiedlichster Stärke und grelle Lichtblitze. Die noch so gut trainierten Tiere gingen nun davon aus, mitten durch eine wilde Gewitterwolke zu fliegen und versuchten auszubrechen. Dabei drängten die einen nach links, die anderen nach rechts. Es kam zu einem wilden Wirbeln und Rollen. Duncan war froh, dass er vorschriftsmäßig am Kutschbock festgeschnallt war und dass die Kabine zu einhundert Prozent innertralisiert war, sodass die Reisenden schon aus dem Fenster sehen mussten um zu wissen, wohin sie sich gerade bewegten. Die Kutsche schlingerte, bockte, ruckte vorwärts und sackte durch, legte sich auf den Rücken oder schlingerte auf einer Seite liegend durch die Luft.
Mit einem finalen Schwirren verpuffte der letzte Abwehrzauber aus den angesetzten Vorrichtungen. Die acht Angreiferinnen rückten nun näher und verstärkten ihre Angriffe auf die Pferde. Duncan griff in die Seitentasche seiner bei Tag rotgoldenen Kutscheruniform. Dann sollte es eben sein eigener Zauber sein, der diesen Räuberbräuten das Lebenslicht ausblies. Ja, und er wollte Dienstanweisung vier durchführen: „Sind Reisende und Lenker in tödlicher Bedrängnis muss die Gefahr mit allen bekannten Mitteln auch dauerhaft schädlichen abgewehrt werden.“
Duncan zielte auf die Anführerin, um ihr den tödlichen Fluch entgegenzurufen. Da bäumten sich die geflügelten Pferde auf und rasten in einem fast senkrechten Winkel nach oben. Im nächsten Augenblick knallte das Heck der Kutsche gegen ein festes Hindernis und schabte laut und unheilvoll über etwas unnachgiebiges. Sie hatten allen ernstes einen Berghang gestreift. Dann waren sie darüber hinweg. Doch diese halbe Kollision zerstörte die Fluglagebeherrschung der Kutsche. Zugleich brach der rote Schildzauber zusammen. Denn bei einem Zusammenstoß mit unmagischer, wesentlich massiverer Materie wurde der überlastet. Duncan fragte sich, ob die Angreiferinnen genau darauf abgezielt hatten. Da trafen sechs Schockzauber gleichzeitig die Pferde. Diese ließen ihre Schwingen hängen und begannen mit der Kutsche zu trudeln. Duncan senkte seinen Zauberstab. Wenn die Gefahr nicht beseitigt werden konnte, ohne das eigene Leben zu gefährden oder gar Reisende oder Transportgut, so galt Anweisung fünf, Landung und Flucht mittels Portschlüssel. Hierfür musste er nur den Hebel betätigen, der die beiden Deichseln vom Rest der Kutsche löste, bevor er das Auslösewort für den Fluchtportschlüssel rief.
Er griff bereits nach dem Abkopplungshebel, als ihn eine Flut grenzenloser Glückseligkeit alle Ängste und Gedanken aus dem Hirn spülte. Seine Hand rutschte führungslos von dem Notabkoppelungshebel herunter. Dann vernahm er eine laute, in jeden Winkel seines Bewusstseins dringende Stimme: „Lös die Notlandung aus und ergib dich! Lös die Notlandung aus und ergib dich!“
Einen winzigen Moment schimmerte die Frage in seinem Verstand auf, wieso diese Stimme männlich klang. Doch dann überwog der von ihr erteilte Befehl. Er fühlte, wie seine Hand ohne sein willentliches Zutun zwei Hebel drückte, jenen für die Gespannlösung und jenen für eine Federleichtbezauberung, die die Kutsche wie auf Wolken niederschweben ließ.
Kaum berührte die ramponierte Kutsche den Boden klappten die Türen auf. Die drei Reisenden stiegen wie an unsichtbaren Fäden gezogen aus und stellten sich mit ihrem Handgepäck in eine Reihe. Dann überkam Duncan Steedford eine zweite Woge von Glückseligkeit. Ihr folgte eine neue unablehnbare Anweisung: „Steig vom Bock und zieh dich ganz aus!“ Dieser Befehl erfolgte noch einmal, um jeden Funken Widerstand auszulöschen. Duncan Steedford glaubte, sein Körper führe ein Eigenleben. Wie in einem Traum bekam er mit, wie er vom Kutschbock herunterstieg und dann schnell und ohne zögern seine Kleidung ablegte. Er spürte die Kälte der Gebirgsnacht. Aber der ihm in den Geist gepresste Befehl musste befolgt werden. Als er endlich alle Ober- und Unterkleidung abgestreift hatte und nun neben den ebenfalls nackten Mitreisenden stand erhielten sie alle vier einen Erstarrungszauber. So konnten sie nicht verhindern, wie die Räuberinnen in Weiß die Kutsche und die abgelegten Kleidungsstücke durchsuchten und auch das Reisegepäck der Mitreisenden durchwühlt wurde. Dann traf je ein Schockzauber die vier Beraubten.
Als Duncan wieder aufwachte lag er in einem Bett in einem kleinen Zimmer. Über ihn gebeugt stand ein Zauberer, der vom Gesicht her eindeutig mit den Goldfields verwandt sein musste. „Ah, da sind Sie wieder, Mr. Steedford. Lawrence Honeydew, Heiler der Clayton-McEathan-Station für mittelschwere Fluchschäden. Woran können Sie sich erinnern?“
„Überfall! Hexen in Weißen Kapuzenumhängen mit Schleiern“, presste Duncan hervor. Alle seine Glieder schmerzten. Offenbar musste sich sein ganzer Blutkreislauf neu einspielen. Dann berichtete er auf weitere Fragen, dass ihn die fremden mit Imperius-Flüchen zur Landung gezwungen hatten. Die Pferde seien mittlerweile Dank der in ihre Schweife eingeflochtenen Fernortungszauber aufgespürt worden und würden sicher wieder eingefangen“, sagte der Stationsheiler. „Ach ja, der lautlose Hilferuf Ihrer Kutsche hat Ihre Kollegen und dann uns zu Ihnen hingeführt. Sind Sie sicher, dass es Hexen in Weiß waren? Wie klangen die Stimmen, die Sie unter den Imperius-Fluch gezwungen haben?“
„Wie die von herrschsüchtigen Frauen mittleren Alters“, brach es aus Duncans Mund hervor, als habe es die ganze Zeit darauf gewartet, in die Welt zu springen. Ja, er erinnerte sich, dass ihn zwei eindeutig weiblich klingende Stimmen gezwungen hatten. Ja, nur gehässigen Frauenzimmern konnte einfallen, vier erwachsene, selbstbewusste Männer dazu zu zwingen, sich splitternackt auszuziehen und sich diesen Biestern zur Schau zu stellen. Er hoffte nur, dass sich keine von denen an ihm vergangen hatte. Dann dachte er daran, dass Moreville kein schlechter Vererber sein mochte. Wer meinte, Fleisch und Blut mit ihm zu teilen konnte auf sowas kommen. Dann waren diese Biester vielleicht noch von Vita Magica.
„Wir behalten Sie und Ihre Mitreisenden noch eine Nacht zur Beobachtung hier. Offenbar wurden sie mit mehr als drei Schockern zugleich betäubt. Das verkraftet nicht jeder Organismus.“
„Was Sie nicht sagen“, stieß Steedford aus. „Ist überhaupt was von unseren Sachen übriggeblieben?“
„Ja, die Unterkleidung. Was auch immer die Angreiferinnen mit Ihren Umhängen und Schuhen vorhaben, sie haben Ihnen nur die Unterwäsche zurückgelassen. Alles andere wurde entwendet, auch das Reisegepäck.“
„Wenn das die Spinnenschwestern waren gnade denen jede Göttin, die sich dafür zuständig fühlt. Aber den Job wird keine machen“, brummelte Duncan. Dann fühlte er, wie sein Bewusstsein schwand. Er sah gerade noch den Zauberstab in Honeydews Hand. Dann versank die Welt um ihn wieder in Dunkelheit und Stille.
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Acht menschliche Wesen apparierten in einer Blockhütte. Sofort baute sich über dieser ein silberner Schild auf. Die acht keuchten. Sie fühlten, dass die festgelegte Zeit gleich vorbei war. Schnell streiften sie die weißen Umhänge und das auf ihre Körper abgestimmte Unterzeug ab. Jetzt standen da acht nackte Frauen im Zimmer. Eine von ihnen keuchte: „Oh, wenn der Rückverwandlungsvorgang genauso heftig ist … Uaarg!“ da krümmten und wanden sich alle acht. Ihre Körperformen zerflossen in wellenartigen Schüben. Dann formten sich neue Körper. Die erst weiblichen Stimmen gingen krächzend und stöhnend in Männerstimmen über. „Das mach ich nicht noch mal. bei der nächsten solchen Schnapsidee soll der Alte das Zeug selbst saufen“, murrte einer der Zurückverwandelten. „Na ja, wenn wir schon das Ziel erreicht haben brauchen wir sowas nicht noch einmal zu machen“, sagte der Mann, der vorher noch als Anführerin der angeblichen Hexenbande aufgetreten war. „Wird auf jeden Fall erst einmal von uns ablenken. Steedford wird in alle Richtungen auskeilen wie einer seiner rammdösigen Hengste, wenn ihm wer die Weichteile einklemmt. Vielleicht trifft er ja wen, dem es so richtig weh tut. Aber mit uns Arizona-Brüdern wird er nicht rechnen.“
„Ja, und gut, dass wir die Moreville-Unterlagen sichergestellt haben. Das dürfte uns einige Türen nach New York öffnen, falls wir die nötig haben.“
„Glaubst aber nur du. Sobald ein Krümel von dem Gold oder ein Fitzel Pergament von den Unterlagen irgendwo auftaucht kassieren uns entweder Morevilles Putzteufelchen oder der jeweilige Inobskuratorentrupp des Staates, in dem wir gerade herumlaufen. Also lasst bloß die Finger davon. Das alles ist heißer als das Feuer von schwedischen Kurzschnauzen!“
„Ja, Daddy“, antwortete einer der jüngeren Mitverschwörer frech. „Hättest du wohl so gerne gehabt, Jack“, sagte der Zauberer, der die Truppe angeführt hatte. „Okay, ich mache nur Meldung, dass die Operation trotz vier Verluste gelungen ist.“
„Stimmt, Jim, Rob, Lee und Abe haben es nicht geschafft. Die müssen jetzt in den Körpern bestattet werden, die sie sich ausgeborgt haben. Ach ja, was machen wir eigentlich mit den Originalen?“ wollte Jack wissen.
„Die bleiben noch im Tiefschlaf. Die Welt soll annehmen, dass sie den Überfall durchgezogen haben und danach untergetaucht sind. Die vier Kameraden, die diese verflixten Flammenwerfer zerbrutzelt haben werden vollständig verbrannt und ihre Asche in der Halle der ehrenvoll gefallenen Helden eingestellt“, bestimmte Mac. „Die anderen, die relativ gut wegkamen werden von unserem Vertrauensheiler behandelt. Kann sogar sein, dass sie bei der Rückverwandlung alle Brandverletzungen kuriert bekommen.“
„Stimmt, wenn das nur gespeichertes Drachenfeuer war geht das womöglich. Bei Dämonsfeuer ginge das nicht“, stellte einer der vorhin noch als Hexe auftretenden Zauberer fest. „Wir hätten gleich den neuen Elementarschutzzauber anwenden müssen, dann wären wir ohne Verluste aus der Sache rausgekommen“, sagte Jack mit dem Wissen, dass man hinterher immer schlauer war. „Hätten wir nicht, weil wir dann Ausdauer von den Besen abgezogen hätten. Erst mussten diese geflügelten Riesenponys müde werden“, erwiderte Mac sehr ungehalten. Natürlich ärgerte er sich auch darüber, dass vier seiner Mitstreiter bei diesem Überfall gestorben waren und zwei schwer verletzt wurden. Aber so war es eben. Wer was erreichen wollte musste auch bereit sein etwas zu opfern. Es blieb nur zu hoffen, dass sie das Ziel erreicht hatten.
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Cuthbert Steedford stampfte auf wie einer seiner Hengste, wenn er wütend war und seinen Rang bekunden musste. Wer hatte es gewagt, eine seiner Reisekutschen im Flug zu überfallen und auszurauben? Er konnte sich echt nicht vorstellen, dass ausgerechnet die Spinnenschwestern oder eine andere dunkle Hexenbande es auf seinen Reisedienst abgesehen haben mochte. Oder ging es nicht um ihn, sondern eben um die Fluggäste? Ja, das musste es sein. Moreville hatte garantiert Feinde, die ihm so richtig eins auswischen wollten. Was bot sich da an, als ihn auf einer sicher wichtigen Geschäftsreise abzufangen und dann auch noch wortwörtlich buchstäblich bloßzustellen. Ja, und wer immer diese Hexen waren, sie hatten alles Gold und alle mitgeführten Geschäftsunterlagen von Moreville einbehalten. Insofern war das ein echter Postkutschenraub wie im von Pulverdampf und alkoholisierten Schlägertypen bevölkerten wilden Westen der Nomajs von 1860 bis zum Ende von Grindelwald.
„Collin, Komm sofort her!“ bellte der Familienälteste der Steedford-Sippe einem Gemälde zu, auf dem ein junger Mann in rot-goldenem Umhang aber mit kirschrotem Cowboyhut auf dem Kopf auf einem durch weiße Wolken dahinschwebenden Aeton-Pferd saß. Der Reiter gab seinem Tier die Sporen und war in einer Viertelsekunde aus dem Bild verschwunden. Nur zehn Sekunden später tauchte der Reiter durch die andere Seite des Bilderrahmens wieder zwischen den gemalten Wolken auf. Sein Pferd keuchte, knirschte mit den Zähnen im Stahlgebiss und landete auf einer der Wolken, ohne durchzusacken. „Auftrag ausgeführt, Boss. Collin ist gleich bei dir!“ sagte der junge Reiter auf dem Bild. Da läutete auch schon die Glocke des auf einem Hügel mitten in Deltaville gelegenen Anwesens namens Wolkensturm.
Eine halbe Minute später betrat der Erstgeborene von Cuthbert das Kontor seines Vaters. „Was liegt an, Dad? Haben die Duchamps unsere Futterlieferanten bestochen, uns vergorenes Zeugs zu liefern?“ fragte Collin.
„Hmm, das nicht. Aber vielleicht hat dieser franzosenstämmige Feuerspieler eine Truppe gelangweilter Hexen bestellt, die im Stil nichtmagischer Postkutschenräuber Duncans Fuhre überfallen und ihn und alle seine Passagiere per Imperius zum Ablegen von allem gezwungen haben. Unsere sechs Pferde von Fliegender Fuchs Station fünf sind gerade in den Rockies unterwegs. Ich habe Bryan und Orville auf Besen losgeschickt, die Tiere wieder einzusammeln.“
„Wie bitte?! Sind wir wieder im 19. Jahrhundert oder was?“ fragte Collin. „Öhm, was ist mit Duncan?“ wollte er dann noch wissen.
„Stimmt, du bekommst ja nur die Nachrichten von der Zentrale, nicht von den Zwischenstellen. Also, Duncan geht es den Umständen entsprechend gut, wenn wir mal davon absehen, dass ihm die Oberbekleidung, sein Zauberstab, sein privater Geldbeutel und die Würde abhanden gekommen sind. Die Notrufvorrichtung der Kutsche hat die Hilfstruppen von FF 5 und 6 alarmiert. Aber als die eintrafen war der freche Hexentanz schon vorbei.“
„Hexentanz. Hat Duncan nicht den alten Moreville und seine Untersekretäre befördert?“
„Genau da könnte der Grund für diesen frechen Überfall liegen. Es könnte Duchamp darum gehen, mich in den hohen Kreisen zu diskreditieren, die sich unsere Exklusivreisen leisten. Es könnte auch ein Konkurrent oder gar Erzfeind von Moreville sein, der durch eine bei uns oder ihm liegende Indiskretion erfahren hat, wann er wohin unterwegs ist. Da müssen wir dran, um mögliche Löcher zu stopfen. Eine Frechheit bleibt es dennoch. Am Ende sind es doch irgendwelche dunklen Hexen, die der Meinung sind, unsere Rangstellung abzusägen, ob mit oder ohne Hilfe von Duchamp und seinen Feuerspielern.“
„Was genau soll ich jetzt machen?“ kam Collin auf den Grund, weshalb er zu dieser frühen Morgenstunde bei seinem Boss und Familienvater anzutreten hatte. „Wir müssen die Buchungsabteilungen, die Stationsleiter vom Dienst und die Protokolle der Postzustellungen überprüfen, ob von da nicht etwas an wen auch immer durchgesickert ist. Öhm, wir müssen auch klären, ob jemand außerhalb der Familie Zaubererweltbilder hat, die mit anderen Bildern in Verbindung stehen. Das vergessen viele gerne, dass gemalte Leute auch gute Spione und geheime Boten sein können. Also krieg das heraus, möglichst gründlich, aber nicht zu langsam!“
„Verstanden, Boss. Gründlichkeit vor Schnelligkeit aber doch so zeitnah wie möglich“, fasste Collin die nun rein geschäftliche Anweisung zusammen. Dann fragte er, woran sein Bruder Duncan sich noch erinnern konnte. Als er erfuhr, dass die Truppe in Weiß ihn nach der erzwungenen Entkleidung betäubt hatte fragte er: „Hmm, wieso haben sie ihn betäubt, wenn sie ihn schon unter Imperius hatten? Abgesehen davon, wenn er betäubt wurde, woher wissen er und damit wir, ob er nicht einem Gedächtniszauber unterzogen wurde, der ihn denken lässt, von dieser Hexentruppe überfallen worden zu sein? Am Ende soll das ganze eine falsche Spur sein, und der wirkliche Bandit sitzt in New Orleans und grinst sich eins.“
„Duncan ist im HPK in der Station für mittelschwere Flüche, weil ihn drei Schocker zeitgleich erwischt haben. Der betreuende Heiler ist Lawrence Honeydew, ein Schwiegerenkel von Goodwin Goldfield“, gab Cuthbert seinem Sohn und voraussichtlichem Nachfolger in allen Belangen Auskunft.
„Goldfield, der seine Verwandtschaft in der halben Heilerzunft untergebracht hat und einige Indianerstämme mit seinem Blut veredelt hat?“ fragte Collin abfällig.
„Das sehen die Indigenen, die sich auch als erste Amerikaner bezeichnen lassen möchten, anders, dass nämlich das alteuropäische Goldfield-Blut mit dem freien Blut einstmals frei und naturverbundener Völker aufgefrischt wurde“, wies ihn sein Vater zurecht. „Wie dem auch sei, Dad. Aber dann könnte es auch sein, dass die Goldfields mit den Duchamps gemeinsame Sache machen und Duncan so beeinflusst haben, dass er glaubt, von Hexen überfallen worden zu sein, damit wir nicht darauf kommen, dass es in Wirklichkeit wer anderes war.“
„Dannhätte er bei dir und mir da schon voll verspielt, Collin. Denn was machen wir gerade? Wir denken darüber nach, ob uns nicht Duchamp diesen Streich gespielt hat. Obwohl Streich ist hier das falsche Wort, weil ja eine Gewalthandlung gegen ein fliegendes Fahrzeug und seine Insassen und ein veritabler Diebstahl stattfanden, was im Tatzusammenhang ein eindeutiger Raubüberfall ist. Das ist kein Spaß und nicht zu entschuldigen.“
„Da stimme ich dir voll zu“, bekräftigte Collin. „Das will ich dir auch geraten haben“, grummelte sein Vater.
„Ja, und was den Vorwurf gegen die Goldfields angeht, Collin, ich wüsste nicht, dass Duchamp mit wem anderen außer seinen Triangelgebrüdern kungelt. Abgesehen davon würde das HPK seinen ehernen Anspruch auf Vertrauen verlieren, wenn die Heiler dort mutwillig mit den Gedächtnissen der zu ihnen geschickten Patienten und Zauberer herumfuhrwerken. Sollte das nämlich irgendwann doch herauskommen kann das noch bis zu dreißig Jahren rückwirkend angeklagt werden, abgesehen davon, dass sowohl der ausführende Heiler als auch dessenVorgesetzter seine oder ihre Approbation verliert. Soweit bin ich mit den Strafgesetzen und den Regeln der Heilerzunft vertraut. Aber ich will nicht ausschließen, dass da echt wer unserem Duncan und seinen Mitreisenden einen Gedächtniszauber verpasst hat, dass sie sich nur an den Überfall und dass der von Hexen verübt wurde erinnern und …“
„Boss, Nachricht von Station Fliegender Fuchs sechs, Ermittler der Abteilung für magische Strafverfolgung hat Tatort besucht und mit Rückschaubrille den Tathergang nachbetrachtet. Zunächst vierzehn Hexen auf Bronco Millennium 2020 haben den Überfall begonnen. Unsere durchschlagenden Elementarzauber haben sechs von ihnen kampfunfähig gemacht, vier davon final. Deren Kameradinnen haben sie zunächst falls da schon tot eingeschrumpft und falls Lebendig auf Tragen wegdisappariert, um dann zu acht den Überfall abzuschließen. Die ganze Aktion hat nur drei Minuten gedauert, zu schnell für die Hilfstruppe“, meldete ein gemalter Reiter auf geflügeltem fuchsfarbenen Pferd.
„Rückfrage: Konnte der Ermittler erkennen, ob die Angreiferinnen neben Flüchen auch Gedächtniszauber anwendeten?“ fragte Cuthbert Steedford den gemalten Boten. „Rückfrage wird übermittelt“, meldete der Bote und war wieder fort. Eine Minute später kehrte er zurück und vermeldete: „Es konnten nur sichtbare Anzeichen für Betäubungs- und Aufrufezauber nachbetrachtet werden. Angreiferinnen waren verschleiert und somit nicht lippenlesbar.“
„Hat der Ermittler die Nachbetrachtung aus allen ihm zugänglichen Blickwinkeln und mit der so gerühmten Zeitdehnungsfunktion durchgeführt?“ wollte Collin Steedford wissen. Der Bote sah den Patriarchen an. Dieser nickte. „Der Ermittler hat aus allen ihm durch Besenflug und fußläufige Fortbewegung möglichen Beobachtungsstellungen nachbetrachtet. Es wurden Zauberstabgesen beobachtet, die sowohl als Auslöser für Gedächtniszauber als auch Aufspürzauber eingeordnet werden können. Angreiferinnen verließen den Tatort nach Erbeutung aller für wertvoll erachteten Gegenstände und Dokumente durch zeitlosen Ortswechsel. Zielort nicht durch Nachbetrachtung zu ermitteln.“
„Was zu erwarten war, wo jeder Kleinganowe mittlerweile weiß, dass es diese französischen Rückschaubrillen gibt“, knurrte Collin. „Abgesehen davon, woher wissen wir, ob Duchamp nicht auch einen Draht zu dem Hersteller dieser angeblich so trefflichen Rückschaubrillen hat und ob die nicht doch manipuliert werden können, beispielsweise verdächtige Bildfolgen überspringen? Ich meine, bei einer Nachbetrachtung werden doch vergangene Ereignisse wiedergegeben. Was wenn in die Dinger nicht ein Bilderfilter eingebaut ist, der bei bestimmten Bildern einfach überspringt, was verdächtig ist?“
„Jetzt werde nicht noch paranoid, Kleiner“, knurrte Cuthbert verärgert. „Am Ende ist noch das französische Zaubereiministerium schuld daran, dass unsere Kutsche überfallen wurde, oder was?“
„‚tschuldigung, Dad, aber als Juniorchef unserer Firma muss ich alle Gegebenheiten hinterfragen, vor allem, wenn sie sich als so offensichtlich anbieten“, rechtfertigte Collin seine Frage. „Dime und Buggles haben diese Brillen schon benutzt. Denkst du echt, die hätten es nicht gemerkt, wenn deren Erfinder irgendwelche Filter eingebaut hätte?“ fragte Cuthbert.
„Hmm, stimmt wohl. Die hätten dann sofort Sabotage und betrügerische Manipulation geschrien“, brummelte Collin. „Gut, dann hat der Ermittler eben nur gesehen, dass erst vierzehn und dann noch acht Hexen mit Schleiern vor den Gesichtern Duncans Kutsche zwischen Station fünf und sechs überfallen haben. Es bleibt also dabei, wir müssen prüfen, ob denen wer was von uns mitgeteilt hat oder nicht.“ Cuthbert nickte heftig. „Also los, fang an!“ befahl er seinem Sohn dann noch. Dieser bestätigte die Anweisung und verließ das Kontor wieder, um in seinem eigenen Büro die Bestelllisten für Futtermittel und Stationsverpflegung abzuarbeiten.
„Wer immer das war wird Ärger kriegen. Und wer immer das war sollte hoffen, dass ich den eher erwische als irgendwelche angepieksten Schwesternschaften, die sich in ihrem Revier gestört fühlen“, dachte Cuthbert Steedford. Dann dachte er noch: „Und sollte ich rauskriegen, dass die Louisianische Kanalratte Duchamp dahintersteckt lasse ich den von den vier stärksten unserer Hengste über seinem himmelblauen Häuschen in der Luft vierteilen.“
Collin Steedford apparierte nicht gleich in der Firmenzentrale, sondern genoss kurz einen Rundflug über dem Anwesen Wolkensturm mit seinen zehn Ställen, in denen je 255 Aeton-Pferde gehalten wurden, insgesamt 200 Stuten und 50 Hengste, die jedes Jahr überprüft wurden, ob sie noch für die Kurier- und Kutschdienste oder nur noch zur Zucht geeignet waren. Wie es seine ganz eigene Tradition war besuchte er den Stall, in dem der zu seinem sechsten Geburtstag feierlich geschenkte Hengst Morning Light stand, der bereits 50 treffliche Fohlen gezeugt hatte, von denen einige ins Mutterland der Aetons zurückgekehrt waren, um da in die jahrhundertealten Zuchtlinien eingebunden zu werden.
„Na, Lighty, gestern wieder ’ne heiße Nacht gehabt?“ fragte Collin und tätschelte seinem Pferd den Hals. Leise rauschend bewegte Morning Light seine rubinrot gefiederten Flügel und schnaubte selig. „Ich kann nicht lange bleiben. Aber wenn ich wieder mehr Zeit hab reiten wir zwei noch mal über das Mississippidelta und ärgern die Alligatoren“, versprach Collin dem 30 Jahre alten Hengst, der, wenn er weiterhin gut in Pflege und Form gehalten wurde noch 20 Jahre leben konnte, bevor er auf die Gnadenkoppel in New Mexico umziehen durfte. Collin hoffte, dass er bis dahin noch genug entspannte Ausflüge mit ihm genießen konnte und dass Morning Light die 100 eigenen Nachkommen hinbekommen haben würde.
Um nicht noch mehr Zeit zu vergeben disapparierte Collin hundert Meter von den Stallgebäuden entfernt, um im Foyer der Reise- und Kurierfirma Fliegender Fuchs aufzutauchen. Die Arbeit ging weiter.
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Anthelia hatte ihren noch nicht verdächtigten Schwestern geraten, erst einmal so weiterzuleben wie bisher. Denn jetzt in Deckung zu gehen und abzuwarten, wann der Sturm sich legte würde genau das bewirken, was die selbstberufene Vollstreckerin gegen dunkle Hexenorden erreichen wollte, nämlich dass die Spinnenschwesternschaft lahm, taub und blind allen äußeren Ereignissen gegenüber wurde. Sie war jedoch nicht untätig geblieben, sondern hatte für jede ihrer treuen Schwestern innerhalb Nordamerikas einen Notfallportschlüssel erstellt, der sie in dem Moment in das sichere Haus befördern würde, wenn die zwei ersten Ankersteine für einen Arrestdom in der richtigen Anordnung Bodenkontakt hatten. Auch hatte sie jeder von ihren Schwestern eine besondere Haarschleife zugespielt, die vibrierte, sobald ein Mentiloquismussperrzauber in Kraft trat. Dann konnte der Notfallportschlüssel auch durch vier Töne einer gesummten Melodie ausgelöst werden. Das mit dem Summen war deshalb wichtig wie praktisch, weil die Schwestern die sorgfältig abgerundeten und weichen Portschlüsselgegenstände notfalls in ihrem Unterleib verstecken konnten.
Weil sie so umsichtig war und ihre Schwestern nicht alle auf einmal in Deckung befohlen hatte bekam die höchste Schwester des Spinnenordens mit, dass eine Truppe aus in Weiß gekleideter, durch Schleier unkenntlich gemachter Hexen eine von geflügelten Pferden gezogene Reisekutsche überfallen und deren Insassen bis auf die Unterkleidung ausgeplündert hatte. Tatsächlich titelte der Kristallherold: „Haben es die Spinnenschwestern nötig, harmlose Reisende zu überfallen???“ und die Stimme des Westwindes titelte: „Wildwesthexen berauben bekannten Geschäftsmann. Haben die dunklen Schwestern kein Gold mehr?“ Doch wer wie Anthelia die an den Schlagzeilen hängenden Artikel las konnte gleich herauslesen, dass die Verfasserinnen und Verfasser nicht im Ernst glaubten, dass ein dunkler Hexenorden sich auf klassische Postkutschenüberfälle der Magielosen einließ. Selbst wenn es in den Staaten noch unbekannte Schwestern von Ladonnas Feuerrosenorden geben sollte wäre das für diese doch all zu auffällig, einen fliegenden Reisewagen auszurauben, statt sich direkt an die Schaltstellen der Macht selbst heranzupirschen. Auch die Temps de Liberté befasste sich mit dem Überfall auf eine Steedford-Kutsche und ihre Insassen. Gilbert Latierre, Herausgeber, Chefredakteuer und Nordamerikakorrespondent in Personalunion fragte nach, wer denn einen Vorteil von einem frechen Überfall hatte und warum ausgerechnet dunkle Hexenorden Tatzeugen zurückließen, wo es bisher bei allen Übergriffen von böswilligen Hexen und Zauberern darum gegangen sei, möglichst keine Zeugen und keine Spuren zu hinterlassen. Gilbert stellte auch die Frage: „Kann es nicht eher sein, dass da jemand die in den letzten Wochen hochgekochte Stimmung ausnutzen will, dass nach letzten Angehörigen von Ladonnas Hexenschwesternschaft gefahndet wird und dass es wohl wen gibt, der oder die auf eigene Rechnung echtre oder vermeintliche Anhängerinnen der Feuerrose oder anderer dunkler Orden jagt?“ Er gab natürlich auch gleich eine Antwort, die Anthelia schmunzeln ließ: „Da will wohl wer zwei oder drei Seiten gegeneinander ausspielen und wartet ab, wer am Ende übrig bleibt.“ Dann fragte er: „Wer sind diese zwei oder drei Seiten.“ Danach folgten mehrere Gegenüberstellungen miteinander widerstreitender Gruppen und Institutionen. Am Ende schrieb Gilbert:
Von allen gerade aufgezählten Konflikten erscheint die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der Reunion und denen der Regionalen Abgeschiedenheit am zutreffendsten. Hier will jemand den Unmut zwischen zwei Gruppen schüren, die sich eindeutig zur Widerherstellung der Staatenunion bekennen, aber untereinander in einem jahrzehntelangen Streit um Ansehen, Macht, Gewinn und Vertrauen liegen. Jemand will es ausnutzen, dass diese beiden, sich zur Reunion bekennenden Parteien miteinander in Streit geraten und dadurch der Rückhalt für den neuen MAKUSA ins Wanken gerät. Dies passt dann auch zu dem, was im Silberpfortenviertel von Chicago passiert ist. Dazu lesen Sie bitte auf den Seiten 5 und die folgenden weiter! Allerdings darf bei all der Spekulation um den Grund für den dreisten Überfall nicht verschwiegen werden, dass die Täter nicht nur Gold, sondern höchst interne Geschäftsdokumente der Reisenden erbeutet haben. Natürlich werden sie erst einmal nichts damit anstellen, was auffällt. Aber konkurrenzfirmen könnten von einer unbekannten Stelle her Tips bekommen, was die Morevilles geschäftlich vorhaben. Im Sinne eines anständigen und sportlichen Wettbewerbs auch unter noch so harten Konkurrenten schlage ich allen in derselben Sparte tätigen Unternehmen vor, nichts anzukaufen, was angeblich aus Morevilles geheimen Unterlagen stammt. Erstens machen Sie sich dann mitschuldig an diesem Raubüberfall. Zweitens könnten sie Betrügern aufsitzen, die das Wissen um die verschwundenen Dokumente nutzen, um mit Fälschungen davon eigene Gaunereien zu begehen. Auch wenn Sie ganz und gar nicht auf meine Ratschläge angewisen sind bitte ich die erwähnten Konfliktparteien darum, diesen dreisten Angriff auf die Freiheit und das Eigentum unserer Mitbürger nicht zum Anlass zu nehmen, einander zu bekriegen. Denn das mag genau das sein, was die wahren Täter oder Täterinnen erreichen wollen. Ja, die nachweislich am Überfall beteiligten Hexen könnten auch verkleidete oder verwandelte Zauberer gewesen sein, die es für ulkig halten, sich als bitterböse Banditenschwestern auszugeben, um von sich abzulenken. Leute, der Trick ist mittlerweile so alt, dass eine Frau Spuren hinterlässt, die einen angeblich männlichen Täter darstellen sollen oder Männer, die so tun, als seien sie Frauen, um sich aus dem Kreis der Verdächtigen herauszuhalten. Wer immer diesen Coup gelandet hat stammt eindeutig aus einem früheren Jahrhundert, insofern passt das mit dem wilden Westen, wie ihn die Kolleginnen und Kollegen der anderen Nachrichtenmedien heraufbeschwören. Das ist dann aber auch das einzige das wohl der Wahrheit entspricht.
„Wohl wahr, werter Monsieur Latierre“, pflichtete Anthelia dem Kommentator in Abwesenheit bei.
Gegen halb sieben erschien für eine Sekunde eine blaue Lichtspirale. Als diese verging stand Anthelias Mitschwester Pauline Rushford vor ihrer höchsten Schwester. Diese konnte die aufgeregten Gedanken ihrer Mitschwester erfassen. Dennoch fragte sie sie, was geschehen war.
„Zwei Sachen, wobei die erste wohl nicht unmittelbar mit mir zu tun hat. Das Büro für unabhängige Interessen Illinois’scher Zauberer wurde von Dämonsfeuer zerstört. Beinahe hätte es die angrenzenden Geschäfte im Silberpfortenviertel mitvernichtet. Ich wollte es dir gerade mitteilen, da hat die Haarschleife zu zittern angefangen. Ich habe dann gleich meine kleine Tasche gegriffenund mir umgehängt. Da wwachte auch das von dir zugesteckte Glücksbaby auf und brachte mich hierher. Also muss wer zwei aktivierte Ankersteine für einen Arrestdom platziert haben, und ich kam gerade noch weg.“
„Ja, dafür habe ich dir den Portschlüssel übergeben“, sagte Anthelia ruhig. Dann forderte sie Pauline Auf, näheres über den Dämonsfeueranschlag zu berichten.
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Der erste Bewahrer blickte den gemalten Boten Ryan verdrossen an. „Was hat dieser Mensch gemacht? Das hätte er sein lassen sollen!“ rief er verärgert. „Ihm deuchte, es sei eine von hohen Mächten gesandte Eingebung, dass die streiter für die neuerliche Vereinigung der Neuweltlande nun die Duldsamkeit verlieren und mit Gewalt nach dem Ziel ihres Strebens trachten um ihre Widersacher nicht nur zum schweigen zu verdammen, sondern diese mit Stumpf und Stiel auszurupfen wie missfallendes Unkraut.““
„Ja, mit Dämonsfeuer. Superidee!!“ blaffte der erste Bewahrer. „Drei Häuser sind fast mitabgebrannt. Außerdem können uns Rushford und seine obersten Mitbrüder so nicht mehr helfen. Denn wer tot ist kann schlecht in der Welt herumlaufen.“
„Dein Bundesgenosse Toddy verheißt, dass er nun so auftreten möge wie weiland der nazarenische Zimmermannssohn, den seine Anhänger zum Erlöser erkläret haben, und somit entweder seine Auferstehung feiern oder sich als Märtyrer verehren lassen kann“, erwiderte Ryan. „Gute Idee, wenn der sich noch mal bei mir blickenlässt lasse ich ihn kreuzigen“, erwiderte der erste Bewahrer. Dann überlegte er, ob die Lage nicht doch zu was nützlich war. Immerhin konnte es dem MAKUSA angelastet werden, gewaltsam gegen seine Widersacher vorzugehen, noch bevor er wieder eingesetzt war. Nein, nicht der MAKUSA, sondern jene bereits Macht ausübenden Gruppen – und vor allem Familien – die ihn unbedingt wiederhaben wollten. Insofern … Ja, aber trotzdem war Chicago gerade für ihn abgebrannt, selbst wenn es nur das Büro der unabhängigen Interessensgemeinschaft Illinois’scher Zauberer, eine Apotheke, einen Laden für Hexenmoden und einen für Schreibwaren getroffen hatte.
Rick, ein weiterer seiner gemalten Botenreiter, trabte auf einem silbergrauen Flügelpferd in sein Bild und vermeldete: „Während die Feuerwehrtruppe den Block um das Haus der IIIZ gelöscht hat wurde Rushfords Haus mit einem Arrestdom abgeriegelt. Hexen und Zauberer in sonnengelber Gewandung drangen mit Hilfe darauf abgestimmter Schlüsselsteine auf das Grundstück vor und stürmten das Haus. Zwei Minuten später waren sie wieder außerhalb des Doms und ließen ihn zusammenfallen. In dem Haus war zu der Zeit nur Tod Rushfords Frau Pauline.“
„Ach neh, die Hexenjägerin aus Ladonnas verwelktem Rosengarten hat sich wieder gerührt. Hmm, wusste die etwa von Toddys feurigem Einfall?“ Fragte der erste Bewahrer. „Keine verfügbare Auskunft auf Grund fehlender Zugangsmöglichkeiten“, antworteten Ryan und Rick zeitgleich. Das hatte der, der sie gemalt und bezaubert hatte für den Fall einer uneinholbaren Auskunft festgelegt. „Ja, aber ob sie Pauline im Haus gelassen oder mitgenommen haben wirst du sicher mitbekommen haben, wo du im Außenposten der Chicagoer Bruderschaft gewesen bist, Rick. „Die Arrestdombauer kamen alleine wieder heraus. Entweder ist Pauline getötet worden oder noch im Haus oder wurde unsichtbar und / oder eingeschrumpft herausgeschafft. Jedenfalls hatten sie keinen für menschengroße Wesen ausreichend großen Behälter dabei“, meldete Rick.
„Wird Todd nicht gefallen, dass sein Haus bestürmt wurde“, meinte der für den Südwesten der Staaten zuständige Cowboy Ray dazu. Der erste Bewahrer räusperte sich und sagte: „Ryan, hat er wenigstens dein Gegenstück mitgenommen?“ Ryan bestätigte das. „Gut, dann lass ihm von mir ausrichten, dass er nur noch über die Bilder mit mir sprechen darf. Kommt er persönlich her oder trifft sich nachweislich mit einem der anderen freien Brüder verschwindet er wahrhaftig. Das mag er sehr gerne als Drohung verstehen.“
„Öhm, er könnte dem Zorn verfallen, mein Gegenstück zu zerstören,, wenn ich ihm dieses verkünde“, wandte Ryan ein. „Du gibst das so und nicht anders weiter, Herold, oder ich zerstöre dieses Bild hier, wo du darinsteckst“, drohte nun der erste Bewahrer dem gemalten Boten auf dem blütenweißen Streitross mit Flügeln. Ryan nickte und trieb sein Reittier an, mit ihm das Bild zu verlassen.
„Das fangt ihr nicht mit mir an. Ihr seid alle zum Gehorsam dem lebenden, durch eigenes Blut bestätigten Eigentümer verpflichtet“, wandte sich der erste Bewahrer an Rick und Roy, der auch gerade in sein Bild zurückkehrte. „Jede Botschaft, die ich übermitteln will, wird wörtlich übermittelt. Alles was ihr erfahrt wird mir wahrheitsgetreu berichtet“, bekräftigte er noch einmal. Roy fragte schüchtern an, was geschehen sei. Rick erhielt die Erlaubnis es ihm zu berichten. Dazu wechselte der Reiter des silbergrauen in das Bild des Reiters auf dem fuchsfarbenen Pferd hinüber und flüsterte es ihm zu. Dann kehrte er in sein Stammbild zurück, um auf neue Anweisungen oder von den Gegenstücken eintreffende Botschaften zu warten.
Der erste Bewahrer verließ den zylinderförmigen Saal der zwölf Botenbilder und zog sich in seine bilderlos gebliebenen Privaträume zurück. Er musste nachdenken und wollte dabei nicht gestört werden. Vor allem ging es ihm darum, ob Bullhorns neue Söldnertruppe Pauline Rushford entführt hatte oder gleich an Ort und Stelle ermordet hatte, weil sie angeblich eine bitterböse Hexe aus einer düsteren Schwesternschaft war. Da er hierzu keine befriedigende Antwort fand blieb ihm nur, seine Aktionspläne einstweilen ohne die Mitstreiter aus Chicago auszuarbeiten.
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„Das war eine fingierte Aktion, höchste Schwester. Toddy hat mich ausdrücklich aufgefordert, zu Hause zu bleiben, während er mit fünf anderen eine Sondersitzung abhielt. Na ja, der hat bis dahin ja immer noch geglaubt, ich sei ein biederes, altbackenes Haushexlein.“
„Also hat er seine eigenen Leute veranlasst von außen Dämonsfeuer an dieses Männerhaus zu legen, damit der Eindruck entstand, es sei von Anhängern der Reunionisten angesteckt worden?“ fragte die höchste Schwester.
„Ich bekam mit, dass er von unserem Bekannten Raymond eine Flasche mit moorschlammartigem Trank und mehrere fingerhutgroße Phiolen bekommen hat. Auf meine Frage, was das sollte sagte er, dass das Feuerschutztränke seien, da er ja jeden Tag mit einem Überfall der Reunionisten rechnen müsse. Aber der Dummkopf hat vergessen, dass ich in Thorntails die höchste Note für Zaubertränke bekommen habe. Ich hätte ihn fast gefragt, wozu er illegal beschafften Vielsaft-Trank bekommen hatte und wessen Haare oder Fingernägel in den Phiolen waren. Aber dann hätte ich ja gleich zugeben dürfen, dass ich alles andere als einfältig bin.“
„Ja, war vor drei Jahren gut, dass du ihm den Gedächtniszauber auferlegt hast, du hättest nur die Grundausbildung für Zaubertränke geschafft, weil Professor Purplecloud dich für zu unfähig hielt, bei ihr die fortgeschrittenen Tränke zu lernen, nachdem er das mit dem Veritaserum fast herausbekommen hat“, erwiderte Anthelia. „Gut, dann hat er also wen angestiftet, wohl in Vielsaft-Trank-Verwandlung sein eigenes Bruderschaftshaus anzuzünden. Du hast nicht mitbekommen, in welcher Gestalt die Brandstifter auftraten. Sag jetzt bloß nicht, es waren alles Hexen!“ Anthelia lauschte in Paulines Bewusstsein hinein. Dann sagte diese: „Kann sein. Überfälle von Hexen sind ja jetzt wieder an der Tagesordnung.“
„Wehe ihm. Er hat sich sicher wie du mit einem Portschlüssel abgesetzt, oder?“
„Nein, hat er nicht. Er erwähnte zwei Schränke, die das, was in den einen hineingerät und die Tür schließt im anderen Schrank wieder auftauchen lässt.“
„Achso, und jener eine Schrank stand im Bruderschaftshaus und ist wohl im Dämonsfeuer verbrannt, richtig?“ fragte Anthelia. „Hmm, wird wohl so sein, höchste Schwester“, antwortete Pauline behutsam. „Ja, und war das Haus gegen Dusoleils Rückschaubrille abgesichert?“ fragte Anthelia noch. „Stimmt, er hat mal was von einem Unortbarkeitsstein erzählt, der unerwünschtes Nachbetrachten vereiteln soll. „Dann werden die nicht herausfinden, wohin er verschwunden ist. Nur darf er sich bis auf weiteres nicht mehr blicken lassen, es sei denn, er hat selbst genug Vielsaft-Trank dabei und bekommt ab und an genug Haarbüschel, um für eine gewisse Zeit herumlaufen zu können.“ Pauline nickte. So konnte es gehen.
Gut, wie besprochen darfst du bis zur Entmachtung von Atalanta Bullhorns Hexenjagdtruppe in diesem Haus bleiben. Ganz sicher kommen noch weitere Schwestern dazu. Langweilig wird es also für dich nicht. Abgesehen davon feiern wir heute wieder Walpurgisnacht. Da kommen vor allem europäische Mitschwestern, die sich für geraume Zeit absetzen können.“
„Ich hoffe, ich muss nicht all zu lange bei dir untertauchen“, sagte Pauline. „Keine Sorge. Wenn es zu viele von euch werden losen wir aus, wer in Überdauerungstiefschlaf versenkt wird“, erwiderte Anthelia. Pauline sah ihre oberste Führerin an, als hoffe sie, dass diese gleich „April April!“ rufen würde. Doch das geschah nicht. „Schwester Pauline, wir sind in den Staaten an die hundert Schwestern. Ich kann im Haus nur dreißig von uns dauerhaft unterbringen und über Lebensmittelbeutezüge verköstigen. Also werde ich wohl zu diesem zugegeben drastischen Mittel greifen müssen, sollten wir gezwungen sein, uns in unserem Haus einzuigeln und wie eben Igel in einen Winterschlaf von unbestimmter Dauer übergehen.“
„Das stimmt wohl, leider“, seufzte Pauline Rushford. „Außerdem darrfst du dich vorerst nicht mit deinem Mann in Verbindung setzen. Betrachte ihn als tot und geh davon aus, dass er dich auch für tot halten muss!“ wies Anthelia ihre Mitschwester noch an. Pauline nickte verstehend. Dann ließ sie sich von der höchsten Schwester ihr einstweiliges Zimmer zeigen. „Kann sein, dass du es noch mit drei bis sieben weiteren Schwestern teilen musst. Ich bitte mir aus, dass ihr keinen Ärger miteinander kriegt!“ ermahnte Anthelia die neue Mitbewohnerin. Diese versprach, von sich aus keinen Ärger anzufangen.
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„Wie, das Haus war leer?“ fragte Atalanta Bullhorn alias PSP-Alpha ihren Boten aus Chicago.
„Sie muss disappariert sein, als das Dämonsfeuer drei Blocks weiter ausbrach. War wohl ein sehr ungünstiges Zusammentreffen von Ereignissen“, sagte der Bote.
„Dann überwacht das Haus. Wenn sie sicher wieder aufgetaucht ist festnehmen, aber ohne Arrestdom. Der ist in der Stadt selbst doch zu auffällig.“
„Ja, aber dann könnte sie uns entwischen“, widersprach der Bote. „Geruchloser Betäubungsnebel zuerst. Dann Türöffnungszauber, nach Ausschaltung möglicher Alarmzauber!“ befahl Atalanta Bullhorn. „Ich will sie ja auch erst einmal nur verhören.“
„Verstanden, PSP-Alpha“, erwiderte der Bote und durfte wieder in sein Einsatzquartier zurückkehren.
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Ashton Sunnydale gehörte zu den Sicherheitstruppen der MAI, der Magieadministration Illinois und war neben den für Zauberfeuer und andere Elementarzauber zuständigen Kollegen mitgereist, um die Brandstifter zu erkennen. Denn es war sowas von überdeutlich gewesen, dass hier am nur noch aus verrußtem Schutt und qualmender Asche bestehenden Haus einer unabhängigen Zauberervereinigung für Illinois jemand nachgeholfen hatte. Dämonsfeuerkreaturen in Form von lodernden Löwen, flammenden Greifvögeln oder aus sich heraus weitere Flammenungetüme speiende und ausscheidende Drachen waren untrügliche Ausprägungen des weithin gefürchteten wie auch geächteten Dämonsfeuers. Wer sowas an bewohnte Häuser legte oder gar ein Stadtviertel damit gefährdete hätte unter dem ersten Kongress oder dem Zaubereiministerium in Washington glatt die Entseelungsstrafe abbekommen, insbesondere, wenn dabei Menschliche Wesen getötet wurden. Im gerade auf sich selbst gestellten Staate Illinois galten für sowas nur Gefängnisstrafen bis zu hundert Jahren, was im Grunde lebenslängliche Haft war. Die MAI hatte darüber diskutiert, nicht auch die Todesstrafe einzuführen, wie sie in Texas, Alabama, Georgia und Mississippi eingeführt worden aber bisher noch nicht vollstreckt worden war.
Mit der für jeden Bundesstaat einzigen Rückschaubrille aus der Manufaktur von Florymont Dusoleil stellte sich Ashton Sunnydale die letzte Stunde vor dem Brand ein. Einer ihrer Kollegen blieb in ihrer Nähe, um sie bei Bedarf vor Zusammenstößen mit Menschen und Dingen zu schützen. Denn wer gerade in die Vergangenheit sah blieb solange für die Gegenwart blind.
Oha, wird sehr, sehr unwahrscheinlich“, sagte Ashton. „Da ist graublauer, flirrender Dunst, der das Haus selbst wie eine halbe Eierschale umschließt. Ich vermute einen Unortbarkeitszauber. Aber moment, an den Rändern kann ich noch was erkennen“, sprach sie zu ihrem gerade nicht sichtbaren Kollegen, der wiederum eine Schallsammelvorrichtung bereithielt, um alle gemachten Beobachtungen zu sichern. „Aha, sechs Leute, äußerlich Zauberer, gerade appariert. Sie tragen mittelblaue Umhänge und gleichfarbige Zaubererhüte. Es erfolgt eine genaue Beschreibung, wenn ich die Gentlemen genauer ansehe. Chuck, bring mich bitte sofern mmöglich zehn Schritte weiter nach vorne!“ Chuck, der sie führende Kollege, befolgte diese Bitte. So konnte Ashton Sunnydale nun einen nach dem anderen genau beschreiben und musste sich beherrschen, nicht vor Aufregung zu brüllen. Denn vier der sechs Männer erkannte sie. Doch wie vereinbart beschrieb sie die Fremden, bevor diese durch den graublauen Dunstschleier traten, der ja nur ein Sichthindernis war, kein festes Hindernis. Ashton ließ sich noch hinterherführen, bis sie meinte, in einem langsam kreisenden Wirbelsturm aus graublauen Wolken und Nebelschwaden zu stehen, der die Sicht auf null beschränkte. Selbst als sie auf die ersten noch leicht dampfenden Trümmer trat und sie wie bröckelnden Kies unter sich knirschen hörte sah sie nur noch den Nebel. Sie hantierte an der Rückschaubrille und stellte die Zeit des Dämonsfeuerausbruchs ein. Von dem Feuer sah sie wegen des graublauen Nebels nicht mal ein Flackern. „Gut, ich kann den Verlauf des Brandes nicht nachbetrachten, weil semifluenter Unortbarkeitszauber. Da nützt es auch nichts, wenn unter dem stinkenden Aschehaufen noch der entsprechende Stein gefunden wird, sofern das Dämonsfeuer den nicht mitzerstört hat.“
„Du bist dir aber sicher, Ash, dass die sechs die Brandstifter sind und dass sie wohl in das Haus reingekommen sind?“ hörte sie Chucks Stimme aus unmittelbarer Nähe. „Sagen wir so, ich habe sie nicht beim dunklen Zündeln beobachtet. Kann daher auch sein, dass die Gentlemen nur das Haus angesehen haben. Ich prüfe nach, ob sie außerhalb des Unortbarkeitszaubers disapparierten oder noch innerhalb davon verschwanden“, sagte Ashton Sunnydale. Dann ließ sie sich wieder aus dem Wirkungsbereich des rückwirkenden Unortbarkeitszaubers hinausführen und ließ die nachbetrachtete Zeit mehrmals um Minuten vor und wieder zurücklaufen, ja ließ sich sogar eine Minute in zehnfacher Zeitdehnung wiedergeben. Dabei sah sie zwei der fremden, wenn auch nur deren Gesichter, wie sie aus dem wabernden, eierschalenförmigen Dunst herauslugten und dann in einer schnellen Drehbewegung flimmernd verschwanden. „Zwei haben es knapp nicht geschafft, innerhalb der Unortbarkeit zu disapparieren. Die vier anderen werden wohl gleich nach ihrer Tat entflohen sein. Vom Zeitpunkt her war es keine Viertelminute vor den ersten herausdrängenden Dämonsfeuerkreaturen. Das lässt ebenso vermuten, dass sie das Feuer entfacht haben, aber auch, dass sie vor ihm fliehen wollten, als sie es im Haus selbst antrafen. Aber hierfür sollten wir die Herren finden und befragen, was schwierig ist, weil die laut eigenem Erkennen nicht aus Illinois stammen und wir noch keine gerichtliche Vollmacht haben, jemanden aus einem anderen Bundesstaat vorzuladen oder gar zu verhaften. Das kann dann erst wieder das Inobskuratorenkommando, wenn es reinstitutionalisiert ist.“
„Du hast vier von denen erkannt. Zwei von denen könnte ich auch kennen, wenn du sie ganz genau beschrieben hast“, sagte Chuck auch zu seinem Schallsammelgerät. „Ja, drei von ihnen gehören zum Hammersmith-Clan aus Pennsylvania, Louisiana und Kalifornien. Der Vierte von mir erkannte sieht aus wie Epimeteus Groover, der mit den Dexters in Louisiana verwandt ist. Die anderen beiden kenne ich nicht vom Aussehen her. Ich werde aber eine hoffentlich brauchbare Eidetographische Kopie von ihren Gesichtern erstellen und den gerade worthaft berichteten Beobachtungsabschnitt auch für spätere Nachbetrachtungen in das Denkarium der MAI kopieren. Womöglich kennt und erkennt jemand anderes die zwei fehlenden Leute.“
„Gut, halten wir für das schriftliche Protokoll fest, dass sechs nicht in Illinois heimische Zauberer unmittelbar außerhalb des nebelhaft sichtbaren Unortbarkeitszaubers um das Haus der unabhängigen Interessensgruppe Illinois appariert sind und gezielt kurz vor Ausbruch des Dämonsfeuers in den von jenem Zauber erfüllten Bereich eindrangen. Da zwei von ihnen um die fünfzehn Sekunden vor Ausbruch des Feuers disapparierten und die vier anderen trotz ausführlicher Nachbetrachtung nicht mehr in den Nachbetrachtbaren Bereich zurückkehrten steht zu vermuten, dass sie alle sechs das Dämonsfeuer entfacht und sich sogleich auf zeitlose Weise vom Tatort entfernt haben. Der Verdacht der magischen Brandstiftung im schwersten denkbaren fall kann nur erhärtet oder entkräftet werden, wenn es gelingt die beobachteten Personen für eine Befragung vorzuladen. Dies ist wegen der gegenwärtigen Rechtslage zwischen den einzelnen Staaten der USA nicht möglich. Ende der Zusammenfassung“, schloss Chuck die Beobachtungen seiner Kollegin ab. Diese bestätigte das und stellte die Rückschaubrille wieder auf die Gegenwart ein. Danach konnte sie sie abnehmen und wieder alles so sehen, wie es gerade um sie herum geschah.
Innerhalb der MAI-räume unterhalb des Chicago-Turmes besprachen Ashton und das Einsatzkommando die gemachten Beobachtungen und ausgeführten Handlungen. „Wir können bestätigen, dass mindestens vier Leute das Feuer gezündet haben. Auch wenn Dämonsfeuer die unterschiedlichsten Beutegreifer nachbildet gibt es doch sowas wie eine Handschrift, einen mentalen Abdruck dessen, der sie initiiert hat“, sagte Rolf Deepwater, Fachzauberer für Elementarflüche und dunkle Wesen. Er zählte die Eigenschaften auf, an denen ein Fachzauberer wie er erkennen konnte, ob einer alleine oder mehrere, ob Zauberer oder Hexe ein Dämonsfeuer entfacht hatte. „Nicht selten entsprechen die Dämonsfeuerkreaturen der ersten Generation dem Gegenteil des vollgestaltlichen Patronus des Auslösers. Falls jemand ein fleischfressendes Tier als Patronus besitzt wird dessen größerer Widersacher generiert, bevor die Zündung brennbarer Materialien unterschiedliche, meist für Mensch und Tier gefährliche Feuerkreaturen gebiert. Wenn also jemand einen Löwen als Patronus hat, kann eine der ersten Dämonsfeuerkreaturen ein Feuerlöwe sein oder eine überdimensionierte Gift- oder Würgeschlange. Von afrikanischen Feuermagiern hörte ich auch, dass deren Abwandlung, die sie Angstfeuer nennen, sogar brennende Aasgeier und hausgroße Elefanten mit brennenden Stoßzähnen und feuerstrahlen verschießenden Rüsseln erlebt haben wollen, wenn jemand einen Löwen als sein Kraft- oder Schutztier besitzt. Aber damit kenne ich mich nicht weit genug aus. Da können wir dann hiesige Medizinleute der ersten Völker fragen oder uns beim Laveau-Institut erkundigen. Die haben die Experten für vorzeitliche Zauberkunst und natürliche Tier- und Seelenmagie bei sich.“
„Was ich in diesem Fall noch nicht empfehlen möchte, da zu klären ist, ob deren Mitarbeiter Quinn Hammersmith nicht familiär mit den Brandstiftern verbunden ist“, sagte Fitzroy Greenlake, der amtierende Zaubereiadministrator von Illinois. Ashton Sunnydale nickte zustimmend.
„Jedenfalls steht fest, dass mindestens vier Kundige das Dämonsfeuer auslösten. Der Umstand, dass wir eine Stunde brauchten, um alle betroffenen Bereiche davon zu befreien spricht auch für eine vielfache Initialzündung … was soll bitte das alberne Grinsen? Das ist genau der fachkundlich korrekte Ausdruck für die Freisetzung jener dunklen Feuerkraft“, beendete Deepwater seinen Vortrag, der schon einer akademischen Vorlesung ähnelte.
„Die identifizierten Zauberer leben nicht in Illinois. Haben sie denn wenigstens hier lebende Verwandte?“ wollte Greenlake wissen. Das wurde vom Verwalter der Registratur magischer Personen und Zauberwesen verneint. „Das gibt auch zur Vermutung anlass, dass gerade jene Familie, die zum Club der großen zehn des Westens gehört, in unserem Staat herumzündelt, weil wir sie nicht dingfest machen können.“
„Leute, nach dem Motiv hat bisher keiner gefragt“, sagte Chuck Ballenger, der Ashton bei ihrer Nachbetrachtung assistiert hatte. „Die in jenem Haus untergebrachte Hauptstelle einer Interessensgruppe unabhängiger Zauberer von Illinois stand bisher in Opposition zur Reunion. Aber jetzt zu mutmaßen, dass Anhänger der Reunion das Haus deshalb vernichtet und womöglich alle darin lebenden getötet haben ist vielleicht zu einfach und womöglich absichtlich insinnuiert“, erwiderte Greenlake verdrossen. Denn falls es doch so war konnten die Reunionsbefürworter mit Gegenwind von den noch lebenden Unabhängigen rechnen. „Wie geheim war die Vereinigung? Ich meine, kennen wir vielleicht wen davon?“ wollte der Leiter der Gesetzesüberwachung wissen. Der Verwalter der Personenregistratur prüfte nach, ob er eine entsprechende Anmeldung und eine Mitgliederliste hatte. Das Ergebnis war, dass sie nur drei kannten, die sich als Sprecher jener Gruppierung betrachteten, Todd Rushford, Lincoln Fenwick und Ryan Finnigan. Nach diesen sollte nun gesucht werden. Auch sollte die Asche des Hauses gründlich untersucht werden. Es war zwar bekannt, dass Dämonsfeuer zwanzigmal zerstörerischer war als natürliches Feuer und sogar magische Kräfte aufzehrte. Doch es musste geklärt werden, ob nicht doch die Reste von Knochen gefunden wurden, die Aufschluss über ihre einstigen Träger geben konnten. Deepwater musste jedoch alle Hoffnungen enttäuschen, durch die bekannten Verfahren zur Identifikation unkenntlich gewordener Leichname verfügbaren Möglichkeiten Aufschluss auf die im Feuer verstorbenen zu gewinnen, da Dämonsfeuer eben die tückische Nebenwirkung hatte, jede Magie aus der von ihm berührten und zerstörten Materie herauszusaugen, womit diese auch nicht als Komponente für einen Vielsaft-Trank taugten. „Mit anderen Worten, wenn wir verkohlte oder zu Asche verbrannte Knochenreste finden könnten das Menschenknochen oder Knochen von entsprechend großen Tieren sein?“ wollte Greenlake wissen. „Das kannich um der vollständigen Wahrheit wegen nicht ausschließen. Hier müssten wir dann wohl auf die anderen Mittel zurückgreifen, um im Falle einer geglückten Flucht vor dem Feuer nach den Flüchtigen zu suchen, und je weiter sie entfernt sind desto unwahrscheinlicher wird es, sie zu finden. Ja, und noch ein bitterer Dämpfer, Ladies and Gentlemen, wenn die Flüchtigen in einem ähnlich unortbaren Bereich Zuflucht fanden, wie es das Versammlungshaus im Silberpfortenviertel war, dann können die bekannten Aufspürzauber nichts ausrichten. Hier müsste dann jener vom Laveau-Institut durchgeführte Ritualzauber mit Blut von Blutsverwandten zum Einsatz gebracht werden, mit dem damals der Schlupfwinkel von Vita Magica in Chile gefunden werden konnte.“
„Womit wir wieder da sind, dass wir das Laveau-Institut vorerst nicht in diesen Fall einschalten sollten, weil wir nicht wissen, ob deren Mitarbeiter Quinn nicht mit den Brandstiftern in Verbindung steht“, grummelte Greenlake.
„Herr Administrator, gerade bekommen wir Meldung, dass sich im Silberpfortenviertel mehrere Dutzend Zauberer versammelt haben, um eine Andacht für angeblich sechs verstorbene Mitstreiter zu halten“, drang eine Männerstimme aus leerer Luft in den Besprechungsraum. „Nichtuniformiertes Sicherheitspersonal im Silberpfortenviertel verstärken! Nicht dass aus einer stillen Andacht ein wütender Proteststurm wird“, sagte Greenlake. „Ach ja, sichern Sie vor allem das Registraturbüro für Kandidatur und Wahlberechtigung für den magischen Kongress. Nicht dass dieses einem voreiligen Vergeltungsakt anheimfällt
„Wird erledigt, Herr Administrator“, bestätigte die unsichtbare Stimme.
„Das fehlte noch, einen offenen Aufruhr mitten im Silberpfortenviertel. Am Ende werden da noch die räumlichen Abschirmungen beschädigt, und das Viertel dringt in das laute, von Autowagen überfüllte Chicago der Nomajs vor. Dann ist aber was los“, meinte Chuck.
„Alsoo, die Sicherheitsbeauftragten wieder ins Silberpfortenviertel!“ befahl Greenlake. Damit endete die krisensitzung nach dem Dämonsfeueranschlag auf das Haus der unabhängigen Interessengruppen von Zauberern aus Illinois am 30. April 2007.
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Wäre er als Hexe geboren worden hätten sie ihn wohl als Walpurgisnachtsängerin bezeichnet. Da er jedoch als Zauberer geboren worden war hieß es nur, dass er die magische Bedeutung dieses Tages, der den wechselhaften April beendete und den frühlingshaften Mai einleitete, voll und ganz ausschöpfen konnte. Das stimmte sogar, dachte Quinn Hammersmith immer wieder, wenn er zur nicht absagbaren Feier seines Geburtstages ins Stammhaus seiner Familie, die Villa Athena, 27 Meilen westlich vom Stadtrand Philadelphias zu reisen hatte. Denn auch wenn er sich für größtenteils unabhängig und eigenständig hielt wusste er sehr wohl, wie wichtig seine Familie war und dass er, der übernächste Patriarch der Hammersmiths, immer gutes Wetter machen musste, wenn er es sich mit den vierzig Namensträgern und den insgesamt 250 Angeheirateten Familienangehörigen und deren Nachkommen nicht verderben wollte. Gerade als Ausrüstungswart einer von jeder Zaubereiverwaltung unabhängigen Institution galt es, sich die Kontakte warmzuhalten, um an dieses oder jenes heranzukommen, immer auf dem neuesten Stand der magischen Forschungen in Thaumaturgie, Alchemie, heller und dunkler Kräfte und Zauberwesen zu sein und immer wen zu kennen, der oder die ihm Türen aufmachen konnte, um weitere Quellen zu erschließen oder im Auftrag seines Institutes Nachforschungen zu ermöglichen, wo er dann die für ihn geöffneten Türen für seine Kolleginnen und Kollegen offenhielt, bis alles zu erledigende erledigt war.
Da sein Geburtstag nun auf genau den Tag fiel, der von keltischen Hexen und Zauberern als Wendepunkt zum Sommer gefeiert wurde und er in diesem Jahr auch noch den 50. Geburtstag feierte blieb ihm nichts übrig, als seinen bereits 101 Jahre alten Großvater Otto einen Besuch abzustatten.
Wie es sich für Familienangehörige gehörte reiste Quinn weder per Flohpulver noch apparierend an, sondern benutzte den in seinem Privattrakt im Laveau-Institut verstauten silber-blauen Verschwindeschrank, um im Untergeschoss der Villa Athena herauszukommen. So entging ihm zwar immer wieder der imposante Anblick jenes Stammhauses, das wie eine Mischung der Akropolis und eines goldenen Champignons aussah, wie sein Neffe James das mal genannt hatte. Doch er hatte ja zu seinem Abschluss in Thorntails ein Modell im Maßstab 1 : 20 bekommen, dass bei ihm auf dem mittleren Bücherregal thronte.
Schon beim Verlassen des mit zehn silber-blauen Schränken möblierten Kellerraums hörte er die Probe eines vollständigen Symphonieorchesters. „Er kann es nicht lassen“, knurrte Quin. Sein Großvater liebte das volle Orchester und führte immer ganz stolz vor, dass er zwölf Musikinstrumente spielen konnte, von der Mundharmonika bis zur Orgel. Deshalb stand so ein kolossales Instrument auch im Musiksaal der Villa. Doch für Partys galt immer der goldene Festsaal, in den gut und gern 200 Leute hineinpassten und der eine eigene Bühne hatte.
„Ah, Quinn, schön, dass du kommen konntest“, grüßte ihn sein Onkel Heron, der offenbar Begrüßungsdienst hatte. Denn er trug einen Umhang in den Farben der Hammersmiths, Grün, Gold, Rot und Silber und auf dem Kopf einen Spitzhut mit dem Wappen der Familie, einem goldenen, vier Funken versprühenden Zauberstab über einem silbernen, kleine Wölkchen ausdünstenden Kessel und den eingravierten griechischen Großbuchstaben Alpha und My, was für Agora Magica stand, rechts daneben ein goldener Hammer mit einem aufgeprägten roten H und alles auf grünem Hintergrund.
„Ach, Onkel Heron, darfst du heute den Zeremonienmeister und Herold machen?“ fragte Quinn. „Ich war gerade in der Gegend“, sagte der an die 80 Jahre alte Zauberer grinsend. „Klar, näher als du haben es nur noch die Verwandten aus VDS“, meinte Quinn. „DA liegst du sowas von richtig“, erwiderte sein Onkel Heron. Denn Heron musste aus Arizona anreisen, während Quinns Verwandten Fornax und Stella aus Viento del Sol in Kalifornien anreisten und einmal wegen der von Vita Magica über das Dorf gestülpten Käseglocke nicht zu seiner Geburtstagsfeier kamen, bis es gelungen war, diese Glocke zu sprengen.
Heron geleitete den Jubilar des Tages die mit einem roten Läufer bedeckten Marmorstufen hinauf zum goldenen Saal, dem größten Raum der Villa Athena. „Ladies and Gentlemen, Mädchen und Jungen, hier kommt er, der Gast des Tages, der zu ehrende und feiernde Quuuuuuiiiiiiiinnnnn Hammersmith!“ rief Heron im Stiel eines Stadionsprechers und genoss es, wie seine Stimme von den Wänden und der zwanzig Meter hohen Decke widerhallte. Applaus brandete auf, und das auf der Bühne aufgestellte Orchester spielte einen Tusch. Quinn sah, dass sein Großvater persönlich einen goldenen Taktstock schwang. Wollte der etwa heute die ganze Musik dirigieren? Dass er das konnte hatte er schon oft vorgeführt.
Otto Barnabas Hammersmith wirkte mit seinem silberweißen Haarkranz und dem bis auf die Brust wallenden Bart wahrhaftig wie ein in Ehren erbleichter Patriarch. Dazu passte auch die Goldrandbrille mit von Quinn nach Vorgaben aus Millemerveilles geschliffenenund bezauberten Gläsern, die auf reine Gedankenbefehle Nah- und Fernsicht regeln und zwischen Sehen bei beinaher Dunkelheit und blendfreiem Blick auf helle Lichtquellen eingestimmt werden konnten. Das hatte seinem Großvater einen gehörigen Anteil eigener Lebensqualität zurückgegeben, hatte der erzählt. Ebenso wie die in zwanzig Unterhemden eingearbeitete flexible Rückenstütze, die wie eine externe Rückenmuskulatur jedes Bücken und heben erleichterte und den Träger für mehr als eine Stunde aufrecht und gerade stehen lassen konnte, ohne dass er Rückenschmerzen bekam. Wann würde er, Quinn, derartige Unterstützungen nötig haben?
„Quinn, schön, dass du da bist. Da hinten der Stuhl mit der goldenen Fünfzig drauf ist für dich reserviert, gleich neben meinem Patriarchenthron“, grüßte Otto Hammersmith. Quinn dankte höflich und respektvoll und steuerte den für ihn reservierten Stuhl an. Doch setzen durfte er sich erst, als nacheinander die noch verbliebenen Verwandten aus Pennsylvania, Louisiana, Arizona und Kalifornien eingetroffen waren. Otto blieb solange auf der Bühne und dirigierte je nach Wichtigkeit der Gäste einen Tusch mit allen Instrumenten oder nur mit vier Trompeten. Dann befahl er allen Gästen, dem Geburtstagskind das Lied vom glücklichen Leben zu singen, dass ihm schon einen Tag nach der Geburt gesungen und an jedem Geburtstag wiederholt wurde. Außer denen, die Musik auch selber machen konnten schaffte es hier immer noch keiner, mehr als drei Töne in Folge richtig zu treffen, erkannte Quinn. Doch er wartete geduldig, bis alle das Lied beendeten und dann im Chor „Alles Gute zum Geburtstag, Quinn!“ riefen. Dann durften sich alle setzen. Otto Hammersmith verließ die Bühne. Der einbestellte Dirigent übernahm das Orchester wieder und ließ zu einer ruhigen, jede in gesitteter Lautstärke geführten Unterhaltung unterlegende Musik spielen. Quinn fürchtete, dass es diesen Abend auf einen Ball hinauslaufen würde. Was genau sein Großvater und sein Vater Polydoros sich ausgedacht hatten wusste er nicht. Er wusste nur eins, mit welchem Anfangsbuchstaben die Geschenke seines Vaters und seines Großvaters väterlicherseits beginnen würden.
Nachdem alle Gäste dem ein halbes Jahrhundert alt gewordenen Verwandten persönlich gratuliert hatten wurde eine große Geburtstagstorte aufgetragen, auf der fünfzig goldene Kerzen fröhlich flackerten. Quinn wartete, bis die bei jedem Geburtstagskind vorgeschriebene Aufforderung kam: „Blase die Kerzen aus und vereine ihre Kraft mit deiner, auf dass du für das nächste Lebensjahr Glück, Segen, Gesundheitund Freude empfängst und dass der Wunsch, den du gerade in deinem Herzen trägst, sich erfüllen möge!“
Quinn holte tief Luft, zielte mit dem Mund auf die fünfzig kleinen Flammen und pustete kräftig. Dabei dachte er: „Möge uns dieses Jahr doch mal sowas wie eine herrschsüchtige dunkle Lady oder ein brutaler Massenmörder erspart bleiben!“ Die Kerzenflammen kämpften gegen den Luftstrom an, bogen und verzogen sich. Dann fielen sie eine nach der anderen in sich zusammen, bis nur noch die goldenen Kerzen mit dem nach Bienenwachs duftenden Dochten übrigblieben. Alle applaudierten. Das Orchester spielte einen Tusch und eine fanfarenartige Fassung des vorhin gesungenen Geburtstagsliedes. Dann schnitt Quinns Oma Alva die Torte an und verteilte die Stücke an alle, auf die Quinn deutete. Er bekam das größte Stück. Dann durften sie alle essen.
Während die Torte von über hundert gierigen Mündern vernichtet wurde sprachen die Gäste über ihre Erlebnisse in den letzten Wochen oder Monaten. Da Quinn vor zwei Monaten das letzte Mal hier war, um den Geburtstag seiner Cousine Iphigenie zu feiern gab es nicht viel, was er erzählen konnte, weil es auch sehr wenig gab, was er auch erzählen durfte. Über die verschwundenen Hexen konnten sie aber alle sprechen. Ja, und der freche Überfall auf eine Reisekutsche von Steedfords fliegenden Füchsen war ja auch durch die Presse gegangen. Quinn wurde gefragt, was er aus dem Institut darüber erzählen durfte. Er zitierte dann aus dem Kommentar von Gilbert Latierre. „Wer immer das war will einen Streit zwischen den Steedfords, Morevilles oder den Duchamps auslösen. Es ist ja eine alte Geschichte, dass Duchamp der Familie Steedford die Exklusivtransporte verleiden wollte. Aber nach dem Zwölferratsurteil im Jahre 1952 war eigentlich ruhe. Aber jemand könnte das ausnutzen, um die zwei wieder aufeinanderzuhetzen. Vielleicht will wer den Club der zehn durcheinanderbringen, weil der sich so klar und laut für die Reunion ausgesprochen hat. Das darf ich wenigstens jedem erzählen, der wegen dieser leidigen Sache nachfragt“, sagte Quinn.
„Und ihr vom LI forscht da nicht nach?“ wollte Quinns Vater Polydoros wissen. „Es sieht nicht nach einem größeren dunkelmagischen Akt aus, sondern nach einem relativ einfachen Verbrechen. Wir sind zuständig für echt heftige Ausuferungen, wobei die Einzelstaatenpolitik uns da im Moment eher behindert als hilft, Dad.“
„Na ja, aber ihr kümmert euch noch, auch wenn es außerhalb von Louisiana passiert“, hakte Polydoros Hammersmith nach. „Das ist unser Auftrag und alle brennen noch dafür, einschließlich meiner Person, Dad“, sagte Quinn. „Wir können auch nicht ausschließen, dass versprengte Rosenschwestern einen eigenen Club aufmachen, um das von Ladonna hinterlassene Vakuum aufzufüllen. Das ist ja bei so übergroßen Dunkelmagiern und -hexen das Problem.“
„Ja, aber wenn es dunkle Hexen waren, warum tragen die dann blütenweiße Kleider wie jungfräuliche Bräute?“ fragte Quinns Onkel Fornax. „Weil Weiß nicht immer nur für Unschuld steht, sondern vor allem für Neubeginn und Eiseskälte. In Asien ist Weiß die Trauerfarbe und steht somit auch für den Tod an sich“, wusste Quinn zu erklären. „Deshalb haben unsere aus Indien und China stammenden Spezialisten für deren Heimatmagie auch immer blöd geguckt, wenn Abwehr- und Heilszauber als „weiße Magie“ bezeichnet wurden, bis wir uns dann alle darauf geeinigt haben, die beiden Extreme der Magie als helle und dunkle, förderliche und schädliche, heilende und zerstörerische Zauber zu bezeichnen, unabhängig von irgendwelchen Farben. Kann sein, dass die oberste Hexe vom Spinnenorden viel in der Welt herumgekommen ist und das auch kennt. Ja, und nein, meine Kolleginnen, Kollegen und ich glauben es nicht, dass der Spinnenorden für den Überfall verantwortlich ist. Das ist genauso gelaufen wie bei Wishbone damals, wo jemand unbedingt verbreiten wollte, die Spinnenhexen hätten ihn ermordet. Bekannte Bösewichte bieten gute Vorgaben für jeden Schweifhalter, sagte damals unser Direktor Davidson. Wir müssenimmer aufpassen, ob echte Anhänger eines dunklen Magiers am Werk waren oder eben welche, die dessen Stil kopieren, obwohl das für die Leute meistens übel ausgeht. Deshalb hoffe ich mal, dass die Spinnenschwestern diesen Überfall nicht als Angriff auf ihre Identität einstufen und ihrerseits nach denen suchen, die ihn begangen haben. Denn wirkliche anhänger der dunklen Künste hinterlassen nur dann Zeugen, wenn sie irgendwem ganz gezielt was mitteilen wollen. Wenn es dem Spinnenorden echt um Moreville ginge hätten die den kassiert, ohne dass wer darüber berichten kann. Womöglich hätten sie ihn mit verändertem Gedächtnis zurückgeschickt, dass er nicht einmal selbst wusste, dass wer ihn abgefangen hat. Also, werte Anverwandte, wer immer diesenÜberfall ausgeheckt hat meint, reine Verkleidung macht schon was aus. Könnte ihm oder ihnen nur passieren, dass der Spinnenorden, die schweigsamen Schwestern oder Vita Magica nachforschen, wer da warum so einen Überfall durchgeführt hat. Doch wie gesagt sind wir im Moment nicht dafür zuständig.“
„Das mit Chicago habt ihr schon gehört?“ wollte Quinns Nichte Joy wissen. Sie arbeitete für den Kristallherold als Korrespondentin für die Staaten nördlich der Mason-Dixon-Linie. Alle hier wollten wissen, was los war und erfuhren, dass nach einem Ausbruch von Dämonsfeuer mehrere hundert meist männliche Protestler erst in friedlicher Andacht vor dem Haus versammelt waren und dann gegen das Registraturbüro für den neuen MAKUSA vorrückten, um die dort tätigen als Brandstifter und Mörder zu beschimpfen. Erst die Sicherheitstruppen der Magieadministration Illinois habe die wütende Menge zurückgetrieben. Doch ab jetzt müsse damit gerechnet werden, dass Kandidaten für den neuen Kongress bedroht oder tätlich oder magisch angegriffen werden mochten.
„Ja, und ich bekam vor meiner Abreise einen Hinweis aus dem MAI, dass sie vier Leute erkannt haben wollen, die mit dem Feuer zu tun haben sollen. Als sie auf vier hier am Tisch sitzende zeigte legte sich angespannte Stille über alles und jeden hier. Zehn Sekunden lang traute sich keiner was zu sagen. Dann fragte Otto Hammersmith die vier angeblich erkannten, ob sie allen Ernstes in Chicagos Zaubererviertel Dämonsfeuer entzündet hätten. Die vier Befragten beteuerten, dass sie nur davon wüssten, dass es das gab, aber nicht, wie genau es zu entzünden war. Quinn überlegte und bat ums Wort. Sofort sahen ihn alle an und lauschten.
„Noch so ein Fall von falschr Fährte. Also nicht das Dämonsfeuer an sich, das ist leider wohl echt gewesen. Aber warum sollte ausgerechnet die im Aufbau befindliche Organisation des neuen Kongresses sechs Leute schicken, um Landespatrioten das Haus über den Köpfen anzuzünden. Ja, was die angebliche Beteiligung von euch angeht, Fred, Luke, Norman und Onkel Bruster, so gibt es dafür eine verdammt einfache Erklärung: Vielsaft-Trank. Wart ihr in den letzten Tagen irgendwo, wo ihr Haare oder Fingernägel zurückgelassen habt?“ Wieder erfüllte völlige Stille den Saal. Die vier angesprochenen wiegten ihre Köpfe. Dann fassten sie sich fast zeitgleich in die Haare. „Beim Frisör war ich, um mich für heute herzeigbar machen zu lassen, weil Sally im Haarkürzungszauber nicht so fit ist wie Stella oder Granny Alva“, sagte Fred Hammersmith. Die anderen drei bestätigten, dass auch sie zum Haareschneiden Frisöre aufgesucht hatten oder sich die langen Bärte auf vorzeigbare Kürze herunterstutzen ließen. „Die haben unsere Haare aber mit Sammelzaubern zusammengekehrt und dann verschwinden lassen.“
„Sind das eure Stammfrisöre?“ fragte Quinn im Stil eines Ermittlungsbeamten. „Ja, da gehe ich schon seit dreißig Jahren hin“, erwiderte sein Onkel Bruster. „Ja, dann könnte wer das wissen und deinen Frisör bestochen haben und auch euren, Fred, Luke und Norman. Sie haben denen sozusagen eure Haare abgekauft und womöglich auch die von anderen aus dem Club der zehn.“
„Echt? Glaubst du dass wirklich, Onkel Quinn?“ wollte Joy Hammersmith wissen. „Wenn die vier nicht selbst am Tatort waren und mit Dämonsfeuer nichts anstellen können bleibt das eine der wahrscheinlichsten Lösungen. Irgendwer will da Unruhe stiften und hat es auf unsere Familien abgesehen, auf die Steedfords, womöglich auch auf die Duchamps, überhaupt die goldene Triangel von New Orleans, auf uns und womöglich auch auf andere, um uns in der Öffentlichkeit abzuwerten und uns dazu zu bringen, aufeinander loszugehen. Irgendwer will wohl den Aufbau des neuen Kongresses verhindern und muss dafür Streit in den zehn großen Familien sähen.“
Otto Hammersmith wiegte den Kopf, als müsse er was wichtiges überlegen. Dann deutete er ein leichtes Kopfschütteln an. Quinn sah es jedoch und fragte, ob er was sagen wolle. Otto Hammersmith verneinte es. Das war für Quinn genauso aussagekräftig wie ein langer Bericht. Jetzt wusste er, dass sein Großvater wohl bei einem Treffen der zehn Patriarchen gewesen war und die was besprochen hatten, was zu diesem Fall und seiner einstweiligen Vermutung passen mochte. Doch er hatte auch gelern, dass die Patriarchen ihre Treffen zu Staatsgeheimnissen erklärten und alles verschwiegen, was nicht unmittelbar für zu beauftragende Verwandte bestimmt war. Nachzuhaken würde jetzt nichts bringen. Aber Quinn war sich sicher, dass sein Großvater alles das hier weitergeben würde. Auch wenn das hier eine Familienfeier war. So sagte er noch: „Falls sie nicht erreichen, was sie wollen könnten sie sogar soweit gehen, jemanden in Gestalt eines Angehörigen einer der großen Familien einen Mord verüben zu lassen, oder, was noch gemeiner wäre, jemanden dazu zwingen, Vielsaft-Trank mit Körperessenz eines Familienmitgliedes schlucken zu lassen und den dann, wenn die Verwandlung vollendet ist umbringen, um es so hinzustellen, als hätte ihn oder sie jemand aus einer rivalisierenden Familie umgebracht. Okay, das sollte dann doch ein Fall für das LI sein, sofern du, Grandpa Otto, mir die Erlaubnis gibst, dem nachzugehen beziehungsweise die für sowas zuständigen Kollegen einzuspannen.“
„Hmm, meinst du das echt, was du sagst? Ich meine, ihr vom LI habt ja immer schon einen Hang, etwas schwärzer zu malen als es ist. Aber das was du sagst klingt verflixt nachvollziehbar, zumal ich mir denken kann, dass der alte Steedford dem alten Duchamp durchaus noch an den Kragen geht, wenn seine Reisekutschen überfallen werden. Öhm, dann könnten die fremden Hexen aber auch solche Vielsaft-Kopien sein, oder?“
„Richtig, extra für alle mit Rückschaubrille“, sagte Quinn. „Okay, Quinn, du darfst ab morgen mit deinen Leuten drüber reden, was da in Chicago los war und ob das so gelaufen sein kann. Die Vorstellung gefällt mir nicht, dass wer Leute aus meiner Familie nachmacht, um die als Dämonsfeuerzündler darzustellen. Am Ende schicken die noch wen los, um Fred, Luke, Norman und Bruster zu verhaften und auszuforschen.“
„Hätten die schon, aber die regionale Eigenständigkeit verhindert das“, sagte Polydoros zu seinem Vater. Polydoros hatte amerikanisches Zaubererweltrecht studiert und kannte daher die Wege und Hindernisse zwischenstaatlicher Verfahren. Sein Vater Otto hatte ihn sogar schon für einen Sitz im neuen Kongress oder gar der neuen Administration vorgeschlagen. ob das was für ihn war wusste Polydoros noch nicht.
„Leute, beenden wir dieses Thema!“ bestimmte Otto Hammersmith. „Wir sind hier zum feiern. Also lassen wir die Politik und das Unrecht dieser Welt für ein paar Stunden draußen vor der Türe. Quinn ist ja auch nicht hergekommen, um mit uns seinen Job durchzusprechen. Also, Haut rein und freut euch des Augenblicks und aller schönen Momente, die da noch kommen mögen!“
Nach dem Kuchenessen spielte das Orchester einen beschwingten Marsch, zu dem mehrere ausgewählte Familienangehörige Wagen mit Geschenkpaketen hereinholten, ganz ohne Zauberkraft, wie es die Tradition war. Magie konnte so vieles, doch der Genuss des besonderen musste mit eigenen Sinnen und Händen stattfinden, so eine der Regeln der Familie, seitdem sie sich in der neuen Welt angesiedelt hatte.
„Nun, mein vielbegabter Enkel und Hoffnungsträger unserer Familie, erweise uns die Ehre, die dir dargebrachten Gaben zu deinem goldenenWiegenfeste zu enthüllen“, sprach Quinns Großvater Otto mit schon theatralischer Betonung. Das Orchester spielte zu einer französischenOuvertüre auf, zu deren Takt Quinn nun an den langen Tisch treten musste, auf dem alle Geschenke geordnet aufgereiht für ihn bereitlagen.
Er hielt jedes Kleidungsstück, jeedes neue Buch oder einen weiteren Kristall für seine private Sammlung hoch und bedankte sich persönlich bei dem oder der Schenkenden. von den Hammersmiths aus Viento del Sol erhielt er eine Saisonkarte für die Windriders. „Wir hoffen immer noch, dass sich nach der Reunion die Mannschaften wieder auf anständigen Sport besinnen. Die Karte ist für jedes Heimspiel“, sagte Fornax Hammersmith. Von seiner Tante Stella aus Viento del Sol bekam Quinn ein neuartiges Teleskop, mit dem nicht nur die Sterne und Planeten noch näher betrachtet werden konnten, sondern ihr Licht oder Widerschein in alle Farben des Regenbogens aufgelöst werden konnte, um beispielsweise ihre Zusammensetzung nachzubetrachten. Außerdem hatte seine Tante Stella ihm noch einen Filteraufsatz besorgt, der nicht nur das Flackern und den Dunst der Erdatmosphäre ausfiltern konnte, sondern die Anteile infraroten Lichtes auf das für Augen gerade noch erträgliche verstärkt sichtbar machte, sodass Quinn auch für unbewaffnete Augen dunkle Objekte am Himmel finden und betrachten konnte. Auch für dieses Rundumpaket für Hobbysternengucker und Profiastronomen bedankte er sich. Dann fand er eine kleine Schachtel, die mit „von deinem dich liebenden Vater“ beschriftet war. Quinn grinste. Er öffnete die Schachtel und fand drei golden gerahmte Pergamentstücke mit silberner Schrift. „Einladungen für die Feier zur erfolgreichen Reunion des magischen Kongresses der vereinigten Staaten von Amerika“, las er vor. „Drei Karten. Waren sicher nicht leicht zu kriegen, Daddy. Danke schön!“
„Bitte sehr. Vielleicht findest du ja bis dahin jemanden, mit der du diesen feierlichen Anlass erleben möchtest. Falls nicht kannst du ja zwei deiner Kollegen oder Kolleginnen einladen“, sagte Polydoros Hammersmith.
Der Mann an der kleinen Trommel spielte leise einen Wirbel, als Quinn die längliche Schachtel anhob, die übriggeblieben war. „Mit hoffnungsvollem Blick auf die Zukunft, die du für mich und unsere Familie bist, Quinn, von deinem dich liebenden und achtenden Großvater Otto“, las er laut vor und öffnete dann die Schachtel. Alle anderen der Familie raunten „rrrrr“. Quinn grinste jede und jeden hier an. Dann öffnete er die Schachtel. Zum Vorschein kam ein goldenes Etui. Diesem entnahm er eine Brille mit blauen Gläsern in einem goldenen Rahmen. Dabei rutschte ein kleines Viereck heraus. Das Viereck wuchs innerhalb weniger Sekunden zu einem blauen Lederband und klappte sich von alleine auf. Auf der ersten Seite stand: „Retrocular recordans, was du siehst wird auch gezeichnet“. Dann verschwand die Schrift. Statt dessen erschien ein kurzer Einführungstext über die Weiterentwicklung dieses nützlichen Rückschaugerätes. Das konnte nun auch Wärmebilder aus der Vergangenheit nachbetrachten und den bisher als störend geltenden Unortbarkeitszauber dadurch umgehen, dass es die Durchdringungen des Unortbarkeitszaubers von belebter Materie erfassen und hervorheben konnte. Außerdem konnte der Benutzer damit Objekte bis auf vierhundert Metern so nahe sehen wie auf zehn Meter, auch bei Zeitdehnung oder Zeitraffung. Zudem wurde Quinn beglückwünscht, weil er der erste außerfranzösische Zauberer sein würde, der dieses weiterentwickelte Gerät bekam. „… Aber bitte bauen Sie es nur in kleinen Stückzahlen für Ihre hervorragende Einsatztruppe nach, sonst müssen meine vielen Kinder noch verhungern“, las er laut vor, was Florymont Dusoleil ganz zum Schluss auf die Seite geschrieben hatte. „Ich kann damit bis zu eintausend Standbilder mit der Verbildlichungsanweisung in dieses Album hineinfügen und wieder herauslöschen. Wie genial ist das denn?“ fragte Quinn mit ehrlicher Begeisterung für was, dass selbst ein kundiger Ausrüstungstüftler wie er noch nicht kannte. „Moment, aber wenn die Unortbarkeit für Lebewesen wie Veelas in Kraft ist geht da immer noch nichts, oder?“ fragte er in den Raum. Doch keiner konnte ihm dazu eine Antwort geben. „Auf jeden Fall ein sehr, sehr nützliches R-Geschenk, lieberrrr Grrrroßvaterrrrr!“ sprach Quinn, jedes einzelne R und r genießend. Alle lachten lauthals. Denn es war ein familieninterner Wiederholungswitz, dass Quinn zu jedem Geburtstags seit seiner Volljährigkeit von Vater und Großvater ein Geschenk bekam, das mit R anfing. Das war eine Anspielung auf die Vornamenstradition der Hammersmiths in den Staaten. Jeder Erstgeborene erhielt einen Vornamen, der mit dem im Alphabet nachfolgenden Buchstaben des Vaters anfing, sowie Polydoros Ottos Sohn war und er, Quinn, der Enkel von Otto war. Also würde es an ihm sein, irgendwann demnächst einen eigenen Sohn zu haben, dem er einen Vornamen mit R geben durfte. Denn solange durfte dieser Buchstabe bei keinem anderen neu dazukommenden Blutsverwandten verwendet werden. Auf diese Weise wollten ihm sein Großvater und sein Vater verdeutlichen, dass er doch bitte bitte bald eine Hexe finden und sie zur Frau nehmen sollte. Doch Quinn war der Bastelfreund, der Abenteurer, versessen darauf, immer was neues zu erfinden und auszuprobieren. In seiner Arbeit kam er nicht dazu, sich nach möglichen Ehefrauen umzusehen, selbst wenn er durchaus einige hübsche Kolleginnen hatte. Doch wie der Fall Justine und Jeff gezeigt hatte wurde das im LI nicht gerne gesehen, wenn Kollegen und Kolleginnen was miteinander anfingen, was über Feldeinsätze oder Einsatzplanungen hinausging.
„Du schenkst mir den Blick in die Vergangenheit, damit ich unser aller Zukunft schütze, Grandpa Otto. Vielen, vielen Dank!“ sagte Quinn dann noch einmal. Mehr wollte er über seine eigene Zukunft nicht erwähnen.
„Wie bist du denn an dieses Gerät gelangt, Grandpa?“ fragte Quinn, nachdem sie sich alle wieder hingesetzt hatten. „Über Stella. Die hat ja Beziehungen nach Millemerveilles und hat sich erkundigt, ob die dort für uns was neues haben, was wegen der gerade vorherrschenden Lage nicht offiziell vertrieben werden kann aber für uns alle wohl sehr nützlich sein kann. Da dein Fachkollege Florymont Dusoleil ja schon von dir gehört hat war er bereit, dir eines der durchentwickelten Kombipakete aus neuem Retrocular und der Verbildlichungsmappe zu überlassen. Er meint aber dass du es bitte nicht kaputtanalysieren solltest, weil es gewisse Vorkehrungen hat, um seine Geheimnisse zu behüten. Er rechnet jedoch damit, dass du es herausfindest, wie es funktioniert, wenn du es oft genug ausprobierst, aber dann eben nicht in großer Stückzahl nachbauen mögest, zumal sich ja leider erwiesen hat, wie schnell wirkliche Dunkelleute das mit der Unortbarkeit herausgefunden hatten. Ob er Veelas und die Abgrundstöchter damit irgendwann auch nachbetrachtbar machen kann weiß er noch nicht. Dazu müsste er wohl Proben von deren Magie haben, und die sind nur unter Einsatz des eigenen Lebens oder der eigenen Seele zu beschaffen, meint er. Beides sei ihm, gerade wegen der vielen Kinder, die er hat, zu wichtig, um es für ein paar Stunden Nachbetrachtbarkeit zu opfern.“ Quinn konnte dem nur beipflichten. Doch ihm ging schon durch den Kopf, dass er die Sache in Chicago mit diesem neuartigen Gerät nachbetrachten konnte und vielleicht mehr entdeckte als mit dem Vorgängermodell, dass die staatlichen Inobskuratoren dort verwenden durften. Vor allem wenn die sich die Frechheit erlaubt hatten, Familienangehörige von ihm mit Vielsaft-Trank zu kopieren durfte er das als persönliche Angelegenheit einstufen.
„Und du hast echt in diesem Jahr keine gefunden, mit der du einmal in den goldenen Kreis aus Funken treten möchtest?“ fragte Otto seinen Enkel. „meine Arbeit gibt das nicht so gut her wie damals deine oder die von Dad. Ja, ich weiß, mich gibt’s nur, weil du damals auf bestimmte Angebote verzichtet hast, Grandpa. Aber im Moment ist gerade wegen solcher Unruhestifter wie in Chicago und wegen der Vampire, Werwölfe und auch noch Vita Magica zu viel zu tun. Hätten wir damals mehr Vorbereitungszeit gehabt wäre uns Ladonnas Feuerrosenföderation erspart geblieben und Atalanta Bullhorn trüge nicht an ihrem unaufgearbeiteten Trauma herum“, sagte Quinn. „Mag alles sein, Quinn. Aber unsere Familie ist ebenso wichtig wie deine Arbeit im LI, auch gerade jetzt, wo so viel im Umbruch ist und es eben solche Chaoten gibt, die unser Leben verderben wollen. Ja, und bevor du es mir wieder um die alten Ohren schlägst, Quinn, Daedalus, James und Joy sind nicht die vorgesehenen Erben der Fackel. Das Neue ist nur ehrenvoll, wenn es auch Rücksicht auf das althergebrachte nimmt. Du wirst nicht jünger, Quinn. Selbst wenn du mit hundert Jahren noch Vater werden könntest müsstest du eine Menge mehr Gold haben, um eine jüngere Frau dazu zu kriegen, deine Kinder zu bekommen. Also sieh bitte zu, dass du bald eine findest, die es ehrlich mit dir meint!“
„Ach, verstehe, euch sind die Rs ausgegangen. Da haben wir aber alle noch einmal Glück gehabt, dass dieses Jahr noch zwei neue Rs dazukamen“, wagte Quinn einen gewissen Spott. Sein Großvater verzog das Gesicht und wollte schon zu einer harschen Ermahnung ansetzen. Doch dann grinste er. „Hoff mal lieber, dass ich das noch erlebe, dass ein kleiner R. Hammersmith durch diese heiligen Hallen wuselt. Denn ich denke, dass dein Daddy nicht so geduldig ist wie ich. Der hat mir glatt vorgeschlagen, dich dieses jahr vor allen Leuten hier aufzufordern, in einem halben Jahr eine Braut zu präsentieren und in zwei Jahren das erste Kind vorzustellen.“
Quinn musste sich einige Sekunden sehr zusammenreißen und die Lippen aufeinanderpressen, um bloß nicht herausrutschen zu lassen, dass es Schade war, dass Igor Bokanowskis Burg vernichtet worden war, weil er ja sonst von dem die Kunst der dauerhaften Doppelgänger erlernt hätte. Als er diesen Anflug größter Dreistigkeit überwunden hatte sagte er: „Ich gehe davon aus, Grandpa, dass du noch viele Kinder ankommen sehen wirst und Daddy es einsieht, dass ich nicht der Traditionszauberer bin, den er dir und allen anderen gerne vorgibt. Ja und ich denke, irgendwann wird auch ein kleines R. mit Namen Hammersmith durch diese heiligen Hallen wuseln. Doch du weißt auch, dass sowas nicht überstürzt und schon gar nicht erzwungen werden sollte. Wir sind keine europäische Königsfamilie, die auf Biegen und Brechen und mit mehr Tränen als Lachen ihre Dynastie in Gang halten muss.“
„Wie gesagt und leider immer wiederholt: Unsere Familie ist ebenso wichtig wie dein Beruf beim LI, wichtig für alle, die von ihrem Dasein leben, denen wir Ordnung und Aussicht geben. Du hättest deine Studienzeit an der arkanen Akademie fortgeschrittener Thaumaturgie und Alchemie sicher nicht so locker bestreiten können, wenn dein Vater und ich nicht genug Gold dafür erübrigt hätten.“
„Fang jetzt bitte nicht mit Gold an, Grandpa. Der Tag ist so schön bisher. Denn Daddy weiß, was ihm passiert ist, als er mir das letzte mal vorgerechnet hat, was er alles in mich investiert hat. Ich möchte dir diese Erfahrung ersparen, Grandpa.“
„Ich weiß, du hast ihm auf die kleinste Bronzemünze alles erstattet, was er meinte, dir an Gold vorrechnen zu müssen. Deshalb fange ich besser nicht davon an, denn ja, der Tag verläuft bisher so schön.“Nachdem dieses fast schon wie weihnachten alle Jahre wiederkehrende Thema der Dynastieverlängerung überstanden war genoss Quinn die restliche Feier, zu der es dann wie vermutet einen dreistündigen Ball gab zudem das Orchester aus allen tanzbaren Werken der europäischen Musikgeschichte und aus dem Fundus vieler Broadway-Stücke für Nichtmagier und magisches Theater aufspielte und als Überraschungsgast die Bayoo-Blues-Königin Marietta Lovejoy auftrat, die Quinn schon seit seiner Jugendzeit gerne hörte. Sie sang ihm dann noch einmal das auch in der Zaubererwelt bekannte „Zum Geburtstag viel Glück!“ und sang zur Orchesterbegleitung alle Lieder, die Quinn gerne hören wollte. Um Mitternacht endete der Geburtstagsball. Laut kreischend und lachend stürzten sich nun alle Hexen aus der Gesellschaft auf die hier versammelten Zauberer und zogen sie mit sich hinaus. Dabei geriet Quinn an seine Cousine Joy, die fünfzehn Jahre jünger als er war. Draußen vor dem Haupthaus warteten mehrere Dutzend Besen. Joy lud sich den Vetter auf einen Bronco Millennium. Dann rief Alva Hammersmith, die Dame des Hauses: „Auf, ihr Hexen! Walpurgisnacht ist da!!“
Kaum waren alle Hexen mit ihren auserwählten Zauberern gestartet flammte unter ihnen ein gewaltiges Feuer auf und leuchtete in allen Farben des Regenbogens. Wildes Streicherspiel und dazu trillernde Flöten untermalten den nun wilden Flug in den Mai hinein. Quinn, der vieles ausprobierte und doch bei Besenflügen immer eher der Zurückhaltende war musste sich stark zusammennehmen, seine Cousine nicht zur Mäßigung aufzufordern, zumal er sah, wie seine Großmutter Alva mit Großvater Otto hinter sich wilde Manöver ausflog. Ja, da kamen die südeuropäischen Erbanteile zur Geltung, dachte Quinn, während er es mit genug Geduld und doch ein wenig Freude hinnahm, wie seine Cousine Joy mit ihm um das magische Walpurgisnachtfeuer herumwirbelte. Das ganze Spektakel dauerte eine Stunde. Dann landeten die Hexen mit ihren Auserwählten wieder und tanzten im Freien um das Feuer herum. Das dauerte auch wieder eine Stunde. Danach bedankte sich Alva Hammersmith bei allen Mitfeiernden für diesen herrlichen Einstieg in die fruchtbare Frühlings- und Sommerzeit. Danach kehrten alle Gäste wieder in die Villa Athena zurück.
Quinn blieb noch solange, bis die letzten Gäste in den Keller und zu den auf ihre Wohnhäuser abgestimmten Verschwindeschränken gegangen waren. Dann verabschiedete er sich auch von seinen Gastgebern und trug den rauminhaltsvergrößerten Rucksack mit allen Geschenken die Treppe hinunter. „Danke, Quinn, dass du uns heute wieder ausgehalten hast“, sagte Polydoros zu seinem Sohn. „Ich hoffe, das nächste Jahr wird auch in fröhlicher Hinsicht abwechslungsreich.“ Quinn teilte diese Hoffnung, wenngleich er genau wusste, wie sein Vater das meinte und dass er, Quinn diese Ansage schon zu oft gehört hatte, um sie noch beeindruckend oder gar anspornend zu empfinden. Doch das wollte und durfte er seinem Vater nicht sagen. Er musste schließlich gutes Wetter bei allen machen, die für seine Arbeit wichtige Sachen beschaffen oder ihm Türen zu wichtigen Stellen öffnen konnten. Allein schon dass er einer der ersten Nichteuropäer war, die das neue Retrocular bekommen hatten bewies diese die Richtigkeit dieser Einstellung zu seinen Verwandten. Er musste nicht heucheln oder wem hinten reinkriechen. Doch freundlich zu sein und respektvoll mit jedem umgehen war ihm wichtig.
Als er wieder in seinem eigenen Wohntrakt im Marie-Laveau-Institut war genoss er für einige Minuten die völlige Ruhe und Einsamkeit. Er hatte ein halbes Jahrhundert erlebt. Wie mochte das nächste verlaufen?
Als Quinn sich aus der angenehmen Stimmung des wohltuenden Alleinseins nach der trubelhaften und pompösen Familienfeier löste setzte er seine Idee in die Tat um.
Mit einem Unsichtbarkeitsgürtel, der ebensogut half wie ein Tarnumhang, aber mehr Bewegungsfreiheit bot, begab er sich in das nächtliche Silberpfortenviertel von Chicago. Doch es war dort nicht so ruhig, wie er erhofft hatte. Dutzende von Zauberern lieferten sich mit Ordnungshütern der Magieadministration Illinois eine wilde Zauberschlacht vor dem Registraturgebäude für Kandidaten und Wahlberechtigte des neuen MAKUSAs. Quinn kam nicht umhin, mehrere der Randalierer mit demimmer mitgeführten Ventus-Sedans-Spray die Wut zu nehmen. Er selbst trug ja einen Gasvorgreifer der neuesten Entwicklung, der nicht nur eine Kopfblase mit Frischluft erzeugte, sondern eine unsichtbare Aura um den Körper legte, die hautunverträgliche Partikel in ihre harmlosen Grundbausteine auflöste. Nachdem er mehr als genug über Kontaktkampfstoffe gelesen hatte war es ihm gelungen, diesen Gasabweiser zu erschaffen. Die nächste Stufe davon, so hatten er und seine Leute beschlossen, sollte ein Abwehrschild gegen radioaktive Stoffe oder deren Strahlung sein. Während er durch eine kleine Gruppe wütender Zauberer huschte und diese für eine Stunde quasi wutlos sprühte beshloss er, dass diese Weiterentwicklung seine Gegenleistung an Florymont Dusoleil und die von ihm dafür auserwählten sein würde. Er dachte da auch an Marthas Sohn Julius, der ja über mehrere lautlose Pfade auch einen Gasvorgreifer von ihm bekommen hatte.
Als er vor den Überresten des verbrannten Hauses stand musste er erst die letzten Spuren des von ihm versprühten Beruhigungsgases abwarten. Dann konnte er die neue Brille aufsetzen und gemäß der erlernten Feineinstellungen erst auf Wärmebildsicht und dann auf Unortbarkeitsdurchdringung umstellen. Dabei fand er heraus, dass die Kombination der beiden neuen Funktionen die aus sich selbst leuchtenden Gestalten der Eindringlinge wie von der Mittagssonne beschienen darstellte. Auch konnte er erkennen, dass sie wahrhaftig die Gesten für Dämonsfeuer ausführten. Damit stand es fest, dass sie die Brandstifter waren. Dass sie wie seine Verwandten aussahen beeindruckte ihn nicht mehr, jetzt wo er wusste, wie das gelaufen sein musste. Auch konnte er erkennen, dass beim Disapparieren eines Zauberers aus dem Unortbarkeitsbereich eine Art Wackelpuddingeffekt auftrat, der dessen Abbild an- und abschwellend darstellte und erst nach einer Sekunde restlos auflöste. Als er sicher war, alles gesehen zu haben was er sehen wollte und sehen musste disapparierte er ebenfalls, nachdem er herausgefunden hatte, dass dieser Ort nicht mit entsprechenden Fangzaubern bestückt war.
Wieder zurück im Institut ließ er alle im Speicher für gesehene Standbilder aufbewahrten Betrachtungen in die magische Bildermappe übertragen. Es war schon interessant, zuzusehen, wie die geisterhaften Schemen der gesehenen Bilder in negativer Lichtabstimmung auzwischen den Brillengläsern hervorquollen und dann lautlos auf die gerade aufgeschlagene Seite trafen, die unverzüglich ein wie darauf gedrucktes Farbbild des gesehenen Bildes enthielt. Vor allem die Szene, wo die sechs Brandstifter im Haus selbst das Feuer entfacht hatten kopierte er auf diese Weise in seine neue Mappe. Als er alles übertragen hatte, was er sichern wollte war ihm klar, dass das LI diesen Fall weiterverfolgen musste, auch um Nachfolgetaten dieser Art schnellstmöglich aufzuklären. Denn falls diese Gangster so weiter machten und damit die Reunion vereitelten und jeden Staat gegen jeden Nachbarn aufhetzten oder den Club der großen zehn Familien in einen wilden Daseinskampf hineintrieb konnte nur das für alle Staaten eintretende Laveau-Institut dagegen ankommen. Ja, und er wollte die Reunionsfeier miterleben, jetzt, wo ihm drei Einladungen dazu geschenkt worden waren. Er dachte daran, wen er dazu mitnehmen würde.
Gegen halb drei lag Quinn im Bett. Er hatte noch vier Stunden, bevor sein unerbittlicher Weckwolf ihn wieder aus dem Schlaf heulen würde.
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Die Tage zwischen dem 30. April und dem 2. Mai waren eine einzige Geburtstagsfeier, nur dass jeden Tag eine andere kleine Latierre in die schwarze Leere der Wandelraumtruhe hineingreifen durfte. Dabei bekamen Flavine und Phylla fast identische Geschenke, zumindest was Bekleidung und Pflegeartikel anging.
Als Aurore, die Kronprinzessin der Apfelhaus-Latierres, ihren großen Tag feiern durfte, waren erstens viel mehr Kinder da, weil sie alle Klassenkameradinnen und -kameraden eingeladen hatte. Außerdem waren die Geschenke natürlich entsprechend größer, vor allem weil die ersten Bücher mit genausoviel Bildern wie Text aus der Truhe hervorgeholt wurden. Dabei war auch ein illustriertes Buch über magische Haustiere, dass Béatrice ihrer Großnichte besorgt hatte.
Die Gäste aus Übersee freuten sich, dass Aurore sich sogar freute, wenn sie das eine oder andere englischsprachige Buch aus der Truhe zog. Julius ertappte sich dabei, dass er seiner erstgeborenen Tochter fast den Bildband über nordamerikanische wildlebende Zaubertiere entführt hätte, so spannend war es, die Abbildungen von Donnervögeln, Wampuskatzen und anderen aus den unergründlichen Kräften frei wirkender Magie entstandenen Tiere zu betrachten und die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren geeigneten Begleittexte zu lesen. „So kriegst du auch was das Lesen angeht genug mit, um in Britts und Mémé Marthas Heimat Zeitung zu lesen“, meinte Julius zu der stolz und glücklich strahlenden Jubilarin.
„Na ja, ob sie echt schon alles lesen will, was bei uns in den gerade einzelnen Staaten von Amerika los ist“, flüsterte Brittany einen absichtlich unvollendeten Satz in Julius‘ Ohr. Er wandte sich ihr zu und erwiderte leise: „Stimmt, bei euch brodelt ja gerade der große Kessel, weil es wem eingefallen ist, Unruhe reinzuwerfen, von wegen dieses Postkutschenüberfalls und den tanzenden Feuerdämonen in Chicagos Zaubererweltviertel. Bin ich froh, dass uns Schacklebolts Truppe die Reise nach New York abgenommen hat.“
„Vor allem wo jetzt wieder in jeder hinsicht heiß debattiert wird, ob der neue Kongress gegründet werden soll oder es nicht doch mindestens noch ein Jahr bei der Einzelstaatenlösung bleiben soll, bis zwischenstaatliche Gesetze durch sind, um den Kongress auf eine feste Grundlage zu stellen. Meine Chefin hat dazu nur gesagt: „Britt, genießen Sie Ihren Urlaub und hören sie bloß nicht zu sehr hin, was bei uns rauscht, donnert und knallt!“
„Wo sie wohl recht hat“, erwiderte Julius. Dabei beobachtete er weiter, was Aurore aus der Wandelraumtruhe zog.Von Laurentine und Louiselle bekam Aurore ein Pflegeset mit Taschenspiegel, Nagelfeile mit abgerundeter Spitze, Kamm, Haarbürste, Zahnbürste mit einer Tube Blütenweißzahncreme und einen silbernen, kreisrunden Gegenstand, von dem Julius erst nicht wusste, was es war, bis Laurentine erklärte, dass es ein Kleiderfreund war, eine magische Vorrichtung, die ohne Anwendung von Zauberstäben Löcher und Risse in allen Kleidungsarten von Seide bis Leder also auch an Schuhen beheben konnte und sogar eine Fleckenentfernungsfunktion hatte, die bei Aufsetzen auf die zu behandelnde Stelle den Fleck vollständig aus der Kleidung entfernte und die ihn bildende Substanz in Wasser und Kohlenstoff auflöste, ohne sie zu erhitzen oder mit ätzenden Mitteln zu tränken. „Das wurde mir vor kurzem Patentiert“, verkündete Laurentine stolz.
„Florymont bekommt eine Lizenz für kommerziellen Vertrieb. Könnte nur sein, dass mir einige Schneider und Hersteller magischer Schmutzentferner was vorheulen, dass ich denen die Kundschaft streitig mache.“ Sie zeigte Aurore, wie sie das völlig kindgerechte und in der Handhabung ungefährliche Helferlein gegen Probleme mit der Kleidung benutzen konnte. „Also, der Fleck-weg-zauber kann bis zu hundertmal angewendet werden, bevor er nachgeladen werden muss. Das kann dann Florymont machen, weil ich dem die entsprechende Ladevorrichtung gegeben habe“, sagte Laurentine nicht ohne Stolz.
„Dürfen den nur kleine Mädchen benutzen?“ fragte Viviane Dusoleil. Aurore funkelte sie dafür mit ihren hellblauen Augen an. „Nein, den dürfen auch große Mädchen benutzen, wenn sie wo sind, wo sie nicht mit Zauberstäben herumwedeln dürfen. Du brauchst einfach nur an einen ruhigen Ort, beispielsweise in einen Toilettenraum zu gehen und den Kleiderfreund an die betroffene Stelle zu drücken und warten, bis er zweimal kurz zittert. Dann ist er mit dem fertig, was er machen sollte, und du kannst ihn wieder sicher fortpacken. Die Idee dafür kam mir, als ich in den Staaten war und mitbekam, wie bei einer Musicalaufführung in New York einer Dame das lange Kleid aufgerissen ist und sie deshalb mit ihrer Freundin in eine Toilettenkabine ging, um es notdürftig nähen zu können. So schubladenmäßig das klingt, ich finde schon, dass jede Frau was mithaben soll, um Haare, Nägel und Kleidung in Ordnung zu bringen.“
„Und was macht der Kleiderfreund mit Hundekacka?“ fragte Callie Latierre herausfordernd. „Ja, oder mit Latierre-Kuhmist“, legte ihre Zwillingsschwester Pennie nach.
„Stimmt, dafür gehen soviele Fleck-weg-zauber auf einmal drauf, wie der betreffende Haufen oder Mistbrocken Schuh oder Kleidung verdreckt hat“, erwiderte Laurentine. „Aber es geht, ihr zwei wilden Landhexen. Wir haben das in Paris mehrmals ausprobiert. Da liegen ja genug Hundehaufen auf den Straßen herum, wo wer unaufmerksames reintreten kann. Wichtig ist dabei nur, dass der Kleiderfreund nicht im Kot versinkt, sondern nur in die Nähe gehalten wird. Er gibt aber ein kurzes Quengeln von sich, wenn kein Fleck-weg-Zauber mer drin ist. Außerdem, typisch Lehrerin, habe ich, weil noch ein Meldezauber möglich war, eingewirkt, dass jemand, der oder die andauernd in was reintritt, was andere haben fallen lassen, eine kurze Ermahnung über Sorgfalt und Reinlichkeit ausgerufen wird. Ja, und Babywindeln damit wieder sauber zu kriegen geht auch nur, solange Fleck-weg-Zauber geladen sind und wenn du noch nicht die Grenze für die Abmahnung erreicht hast.“
„Ja, und wie erwähnt habe ich die Produktions- und Vertriebslizenz“, erwähnte Florymont und sah nicht zufällig seinen Fachkollegen Otto Latierre an.
„Ich brauch nur einen zu kaufen und bau euch morgen annähbare Reinhaltungsknöpfe für alle Hosen und Hemden oder baue das als Zierrat in Gebrauchs- und Festtagsschuhe ein“, meinte Otto dazu. „Aber dann kann der Kollege Lachaise den Vertrieb von Wash-Trocken-Schränken in den Mülleimer klopfen. Könnte Krach mit der Thaumaturgenzunft geben.“
„Deshalb habe ich Ihrem Kollegen auch geraten, den Kleiderfreund als Gebrauchsgegenstand für Kinder zwischen sieben und fünfzehn Jahren zu vermarkten. Bis dahin sollten die einfacheren Reparaturzauber und Reinigungszauber erlernt sein“, wies Laurentine auf eine selbstgewählte Verbreitungsbeschränkung hin. „Ja, oder wer in der nichtmagischen Welt unterwegs ist und echt mal was an den Klamotten hat“, meinte Martine. „Öhm, schlagen die Zauberkraftspürsteine dabei an?“ wollte sie noch wissen. Laurentine und Louiselle erwiderten, dass die Spürsteine nur dann anschlugen, wenn sämtliche Fleck-weg-Zauber auf einmal aufgebraucht würden, aber die tausend Reparaturzauber unaufspürbar waren. „Eben darauf habe ich ja hingearbeitet“, erwiderte Laurentine. Jedenfalls freute sich Aurore, und Julius dachte, ob Laurentine nicht irgendwann ganz in die praktische Thaumaturgie wechseln würde. Dafür, dass sie in ihren ersten drei Schuljahren alles ablehnen wollte, was mit Zauberstäben gewirkt werden konnte hatte sie jetzt offenbar richtig viel Freude an magischen Versuchen gefunden. Offenbar war das nicht nur Claires Vermächtnis, sondern auch Louiselles Einfluss geschuldet.
„Wann kommst du denn noch zu solchen Versuchen, wo du täglich Schulaufgaben berichtigen musst?“ fragte Julius nach. Laurentine erwiderte, dass sie für diese Vorrichtung fünfzig Arbeitsstunden gebraucht hatte, die sie über das ganze letzte Halbjahr verteilt hatte.
Nach dem Kleiderfreund von Laurentine folgte noch ein Schnellratespiel von Claudine, bei dem eine kleine, rosarote Sphinx eine Frage stellte und durch Drehen eines waagerechten Glücksrades der Anfangsbuchstabe der Antwort ermittelt werden musste. „Das geht auch englisch, Deutsch und flämisch, also was die Belgier an der Nordsee sprechen“, erwähnte Claudine. „Ja, und es kann von allen gespielt werden, die schon genug sprechen können, egal ob sechs oder hundertneunzig“, meinte Catherine dazu.
Von Babette bekam Laurentine noch ein Paar aus himmelblauem Löwen mit goldener Mähne und goldener Schwanzquaste und einer rosaroten Löwin mit goldener Schwanzquaste, die drei Tage vorher den aktuellen Spieltag der Lyoneser Löwen verkündeten und die nebenbei auch als Sparwächter benutzt werden konnten, wenn der beiliegende Lederbeutel mit dem Emblem der berühmten Quidditchmannschaft von der Person, die was wertvolles darin aufbewahren wollte vor die Nasen der beiden Raubkatzen gehalten wurde und das gemischtfarbige Löwenpaar danach gestreichelt wurde. War dann etwas im Beutel konnte nur der Mensch, der zuerst die Löwen gestreichelt hatte was daraus nehmen, wenn er nicht von den beiden Wächtern gekratzt oder gebissen werden wollte. „Und wenn der Dieb Handschuhe trägt?“ hakte Callie nach. „Bleibt er mit dem Finger im Maul des Löwens oder der Löwin stecken und kann sich nicht mehr befreien“, erwiderte Babette unverzüglich. „Ja, und weil ja dann noch ein zweiter Wächter parat ist kann der einem Dieb den Zauberstab aus der Hand pflücken und festhalten, bis der Eigentümer „Lasst los, meine Wächter!!“ befiehelt.
„Na ja, bisher hattest du ja immer das bekommen, was du gebraucht oder dir ganz doll gewünscht hast“, sagte Julius zu Aurore. Aber dabei dachte er, dass es schon bald losgehen mochte, dass Aurore eigenes Taschengeld erhielt und dass diese Sparwächter schon praktisch waren. „Öhm, die fallen auch Kinder an, wenn die an den Lederbeutel wollen?“ fragte Ursuline Latierre besorgt.
„Also, erst einmal bleiben die bleischwer, ja zentnerschwer auf dem Beutel sitzen, ohne was drin ist kaputtzudrücken“, sagte Babette. „nur wenn jemand versucht, sie da herunterzuziehen kratzen und beißen die um sich. Ja, und es ist eine Kindersicherung eingebaut, habe ich schon wegen Claudine und Justin überprüft. Kinder, die was aus dem Beutel klauen wollen werden mit ganz gefährlichem und lautem Gebrüll bedacht. Ach ja, der Eigentümer, der den Beutel auf sich einstimmt muss den silbernen Ring mit den zwei aneinanderkuschelnden Löwen abziehen. Ist der Sparbeutel eingestimmt dient der Ring als Meldevorrichtung, wenn wer unbefugtes da heran will. Reichweite so zwei Besenflugstunden“, sagte Babette beruhigend.
„Wollte schon sagen“, erwiderte Ursuline.
Nach dem großen Geschenkeauspacken gab es wie üblich Abendessen in der großen runden Festhalle. Danach wurden die neuen Spiele ausprobiert, die Aurore bekommen hatte. Wie bei den beiden vorangegangenen Feiern endete die Party, als die kleineren Kinder zu müde waren, um noch aufrecht sitzen zu können.
„Du hast auch dran gedacht, dass wir uns mal langsam überlegen müssen, wie viel eigenes Gold wir Aurore in die Hand drücken, nicht wahr, Monju?“ fragte Millie ihren Mann, als sie hinter den Schnarchfängervorhängen in ihrem Bett lagen. „O ja, habe ich. Meine Eltern gaben mir aber erst mit acht Jahren zehn Pfund im Monat, verteilt auf Fünfzig-Pence-Stücke. Das ging auch erst los, als ich gelernt habe, bis hundert zu rechnen und die einzelnen Geldstücke zu unterscheiden. Und von Jahr zu jar wurden es dann je zehn Pfund mehr.“
„Auch interessant, das zu wissen“, sagte Millie. „Schon heftig, wie schnell so’n wildes Hexenmädchen wächst. Auch wenn die zwei, die da gerade in meinem Bauch kuscheln noch bis November brauchen sehe ich die auch schon mit sieben Jahren herumtobenwie damals Callie und Pennie.“
„Frag mich mal. Ich habe immer noch die Kleinen von Roseanne auf dem Arm, wenn ich an meine Umschulung nach Beauxbatons denke. Und die sind jetzt schon in der dritten Klasse von Beaux.“
„Ja, und du hast Rorie in mir heranwachsen gesehen, ihre Geburt mitbekommen und mir immer geholfen, wenn sie gewindelt werden musste. Ja, und heute kriegt sie einen Zauberknopf, um ihre eigenen Sachen in Ordnung zu halten. Kann man mal sehen, wie wichtig es Laurentine ist, alles in Ordnung zu halten, wo sie ja auch Lucines zweite Mutter ist. Da lernst du doch eine Menge, was für alltägliche Sachen anfallen können.“
„Du glaubst also auch, dass die zwei was gedreht haben, dass Louiselle von Laurentine schwanger wurde?“ fragte Julius. „Wenn ich Lucines Augen sehe und wie sie lächelt sehe ich Laurentine oder ihre Mutter, auch wenn ich die nie lächeln gesehen habe. Die haben sicher einen Zauber ausprobiert, um sich vor ungewollter Unfruchtbarkeit zu schützen, und Laurentine hat den ihr geltenden umgedreht, nicht mit dem Fluchwender, sondern mit einem anderen Umkehrungszauber, und Louiselle hat den in den eigenen Bauch bekommen. Tja, und daraus wurde dann die kleine Lucine. Hera weiß das garantiert und hält die Hand drüber, weil Louiselle ihre Großnichte ist und sie die Laurentine als Privatlehrerin für höhere Fluchabwehr empfohlen hat. Ist nur die Frage, ob Königin Blanche das auch schon weiß und falls nicht, wie die das findet, wenn Lucine nach Beaux soll?“
„Stimmt, wenn ich noch dran denke, wie sehr die sich aufgeregt hat, als sie hörte, dass wir zwei zusammen sind und wie tief betroffen sie war, als sie hörte, dass wir in der Mondburg geheiratet haben“, erwiderte Julius. Dann meinte er: „Hmm, ich soll ja immer noch die zwei Kinder von den Ex-Werwölfen suchen. Aber die sind sicher an einem mit Fidelius-Zauber geschützten Ort.“
„Sonst hätten dir die sechsunddreißig Schwestern garantiert schon einen Traum geschickt, du möchtest sie bitte da oder dort abholen“, erwiderte Millie. Julius immitierte darauf ein Klingelzeichen und die für Kaufhäuser übliche Durchsage: „Die kleine Millie-Line möchte an Kasse vier abgeholt werden.“
„Lümmel“, schnarrte Millie und kniff ihrem Mann in die Nase. Dann führte sie seine Hand zu ihrem langsam runder werdenden Bauch und meinte: „Die beiden da drinnen haben noch keine Namen in Aussicht. Das müssen wir noch klären, und Trice will sicher auch, dass du dir für Félix‘ Vollgeschwisterchen einen Namen aussuchst.“
„Ja, stimmt. Aber erst, wenn sie weiß, wen sie erwartet“, erwiderte Julius darauf. „In einem Monat, Monju, dann dürften alle äußeren Geschlechtsmerkmale erkennbar sein.“
„Falls der oder die kleine nicht irgendwann findet, was anderes zu sein als der äußere Schein.“
„Das kam bisher so selten vor und konnte durch sorgfältig dosierten Psychopolaris-Trank behoben werden. Bei uns in der Zaubererwelt ist die körperlich-seelische Angleichung eine rein seelische Sache, während die magielosen Flickschuster den Körper umarbeiten und dem Menschen dann die geschlechtsbezogenen Botenstoffe verabreichen. Ob das der Seele gutut ist wohl dann auch Glückssache. Aber wie erwähnt, wer bei uns in der Familie mit Pullerdöschen zur Welt kam wurde eine durch und durch damit zufriedene Hexe und wer mit einem Pullerzipfel zur Welt kam hat das als seine größte Errungenschaft gegenüber den Hexen angepriesen, die ihm im Leben über den Weg liefen. Also darüber müssen wir uns bei Aurore, ihren Schwestern und Halbgeschwistern wohl keine weiteren Gedanken machen und wenn doch sowas eintritt sollten wir sie trotzdem achten und lieben, damit sie nicht vom fliegenden Besen springen.“ Julius ließ Millies letzten Satz nachwirken. Ja, im Grunde war es für Eltern nur wichtig, die eigenen Kinder gleichwertig zu achten und zu lieben, sie nicht für das zu verurteilen, wie sie sich empfanden. Doch bei dem Familienbezug der Latierres mochte das leichter gesagt sein als getan, dachte Julius. Doch weil er da gerade selbst keine alles entscheidende Antwort drauf fand sagte er nichts mehr dazu. Er wünschte seiner frau und den beiden ungeborenen Mädchen eine gute Nacht und drehte sich in seine bevorzugte Einschllafstellung.
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Das Dämonsfeuer in Chicago und die Folgen beschäftigten nicht nur die dortigen Sicherheitstruppen und den Administrator von Illinois, sondern auch die zehn großen Familien, die sich für die Wiedereinsetzung des magischen Kongresses der USA stark machten. Quinn Hammersmith hatte seinem Großvater Otto umgehend alle Hinweise weitergegeben, dass die sechs fremden, die wie vier aus ihrer beider Familie ausgesehen hatten, tatsächlich das bösartige, sich selbst schnell und zerstörerisch vermehrende Feuer entzündet und damit Eigentum und Leben von über zweitausend Männern, Frauen und Kindern riskiert hatten.
Am zweiten Mai trafen sich die zehn Familienoberhäupter auf dringende Einladung von Otto Hammersmith in der Villa Athena bei Philadelphia. Natürlich ließ es sich der Hausherr nicht entgehen, die neun Gäste durch sein Anwesen zu führen und ihnen die Herrlichkeit seines stattlichen Herrenhauses zu zeigen. Das dauerte bereits eine Stunde. Dann trafen sich alle im Herrenzimmer, dem privaten Rückzugsraum von Otto Hammersmith, wo laut seiner eigenen Behauptung keine Hexe hineingelangte, weil eine magische Bannlinie von innen entlang der Wände verlief, die Mädchen und erwachsene Frauen aussperrte. Deshalb konnte nur der männliche Hauself Hitchy hier herein, um die Bücher und Trophäen abzustauben, den Boden zu Schrubben und die Fenster zu putzen. An den Wänden hingen die goldgerahmten Gemälde der bisherigen nordamerikanischen Hammersmith-Patriarchen von Archimedes III., der 1661 mit der ersten Gruppe englischer Magier in die neue Welt kam bis Nelson, Ottos direktem Vorgänger. Irgendwann würde auch sein Bild hier hängen, wusste Otto. Auch das von Polydoros und Quinn würde eines fernen Tages hier aushängen.
„Setzt euch, Jungs“, grüßte Otto lässig, als spräche er zu seinen eigenen Söhnen oder Enkelsöhnen. Hier war er der Hausherr, Patriarch, der Boss und durfte sich sowas erlauben.
Als alle saßen präsentierte Otto Hammersmith seinen neun Ehrengästen einen dicken Umschlag. Aus diesem zog er einen auf blaues Pergament geschriebenen Brief und dann noch die dauerhaften Kopien von zehn fotogleichen Bildern, die eine Gruppe von sechs aus sich heraus hellrot leuchtenden Zauberern in einem dichten, wabernden graublauen Nebel zeigten. Den Brief belegte er mit den beiden Zaubern „Scriptorvista“ und „Scriptum audietur!“ Über dem Pergamentblatt erschien erst die typische blaue Lichtsphäre, die den Zauber einleitete. Dann formte sich das Bild von Quinn Hammersmith, der einen hellblauen Umhang trug und die Miene eines unterrichtenden Akademikers darbot. Zugleich klang seine Stimme aus der Richtung, wo der Brief lag. Quinn berichtete, was er gleich am Abend nach dem Dämonsfeuer mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln herausgefunden hatte. Welche Mittel das waren erwähnte er nicht, nur dass es ihm möglich geworden sei, die von fester, magisch getränkter Materie durchdrungenen Zonen der Unortbarkeit teilweise aufzuheben. Er erwähnte, dass er sechs Zauberer erkannt habe, die alle aus dem Hammersmith-Clan zu stammen schienen. Doch, so fügte er an, er habe erfahren, dass alle für den Tatzeitpunkt ein hieb- und stichfestes Alibi besaßen. Eher sei davon auszugehen, dass die sechs durch erbeutete Haarbüschel der sechs Zauberer im Stande waren, einen Vielsaft-Trank anzusetzen, um deren Körperform und Stimme zu übernehmen und so bei Nachbetrachtung der Tat die Spur auf die Hammersmiths zu lenken. Er erwähnte auch, dass seine Methoden enthüllt hatten, dass diese sechs wahrlich das gefährliche Dämonsfeuer entzündet hatten. Dann schloss er mit den Worten: „Wenn du dich mit den neun anderen aus eurem Club der zehn triffst, Grandpa, darfst du denen diesen Brief präsentieren und denen die erstellten Abbilder dessen zeigen, was ich beobachten konnte. Ich hoffe, das hilft euch, einander nicht gleich zu Staub zu zerfluchen. Ach ja, das darfst du ihnen auch gerne sagen, dass meine Nachforschungsergebnisse die Direktion des Laveau-Institutes davon überzeugt haben, dass dieses die Angelegenheit weiterverfolgt und nach ähnlichen Aktionen fahndet. Wollen wir hoffen, dass das Silberpfortenviertel in Chicago nicht doch noch in Schutt und Asche gelegt wird oder, was ja viel schlimmer wäre, die zweiundsiebzig Pfeiler der Verborgenheit zerstört werden und das gute alte Viertel in das laute neue Chicago der Nichmagier hineindrängt. Noch eine erfolgreiche Zeit, Grandpa und Grüße an Granny Alva.“
„So, jetzt wisst ihr, was ich seit gestern weiß, Jungs“, sagte der 101 Jahre alte Familiensprecher der Hammersmiths. „Sollte also wer vom LI bei euch vorsprechen, weil jemand von eurer Familie angeblich an irgendeiner Gaunerei oder einem offenen Angriff auf eine Institution beteiligt war, seid bitte so gnädig und helft ihnen, rauszufinden, ob echt wer von euch bei sowas mitgemacht hat. Ach ja, sagt euren Angehörigen bitte auch, dass sie vorerst nicht zu einem fremden Frisör oder Barbier hingehen sollen. Noch wissen wir nicht, welche von denen mit diesen Chaoten zusammenarbeiten. außerdem kann jede in Haushaltsdingen gut ausgebildete Hexe einem mal eben die Haare kurzzaubern, und für die Bärte gibt es mittlerweile auch nützliche Vielzweckrasierer.“
„Nett, dass dein erfinderischer Enkel das rausgekriegt hat“, meinte Anaximander Greendale. „Gut, er will nicht verraten, wie er das gefingert hat, einen Unortbarkeitszauber zu überlisten. Aber wenn das LI jetzt unsere Leute auskundschaftet, um rauszukriegen, wer da mit irgendwelchen Chaosbrüdern oder -schwestern zusammengeht könnte das meinen Familienfrieden stören. Wir kriegen ja jetzt schon dauernd Missfallensbekundungen, weil meine Enkelin es wagt, Präsidentin werden zu wollen, als sei sie die erste Hexe, die dieses Amt anstrebt. Sie musste extra einen unzerstörbaren, schalldichten Papiercontainer vor ihr eigenes Arbeitszimmer stellen, um die ganzen Heuler darin zu versenken, die sie aus den fünfzig Staaten und Kanada zugeschickt kriegt. Ja, und die Bruderschaft freier Texaner hat angedroht, die Reunion aufzukündigen, wenn nicht ein anderer, unbescholtener Zauberer, bestenfalls aus den Südstaaten, gegen sie antritt. Aber soweit wir wissen ist außer Rollin Firepan keiner bereit, dieses Amt zu ergreifen.“
„Ach, Howdy-hi und Yippi ya yeh“, erwiderte Priapus Southerland. „Die in Texas haben anderes Wasser und atmen zu viel Wüstendreck ein. Deshalb kommen die auf sowas“, fügte er hinzu. „Also, Nax, deine Enkeltochter erfährt von meiner Familienbande alle nötige Rückendeckung“, versicherte der Patriarch mit den meisten lebenden Namensträgern seiner Familie dem Großvater einer nicht unumstrittenen Präsidentschaftskandidatin.
„Ach, wolltet ihr keinen farbigen Präsidenten, Priapus. Würde doch mal langsam Zeit, wo wir schon vier Frauen und einen Französischstämmigen und zwei Hispanos im Hexagonalbüro des MAKUSAs hatten“, warf Goodwin Goldfield ein.
„Ich habe nichts gegen N…, öhm, afrikanischstämmige Mitbürger“, grummelte Greendale. „Aber unsere Nation wurde auf den Grundlagen europäischer Zivilisation errichtet und sollte nicht wegen angeblicher oder gerechtfertigter Entschädigungsforderungen in den Bankrott getrieben werden“, grummelte Greendale. Darauf meinte McDuffy: „Meine Rede, Anaximander. Was Firepan da ankündigt ist ein Aufruf zur Schröpfung aller Familien, die in ihrer Geschichte einmal einen dunkelhäutigen Nomaj-Sklaven schief angeguckt haben. Dabei weiß Firepan ganz genau, dass wir Magier überwiegend auf Hauselfen setzen und keine Bück-und-Pflück-Brigaden brauchten und keine willfährigen Hausmamies, die immer brav: „Ja, Sir“ und „Sehr wohl, Mister“ sagen.
„Jungs, bitte mehr Gesprächsdisziplin“, mahnte Otto an, der gemäß der Absprache als Gastgeber Wortrecht besaß und bestimmte, wer wann sprach oder nur zuhörte. Dann erteilte er Cuthbert Steedford das Wort, der immer wieder zu Jean Duchamp hinüberblickte, als erwarte er von diesem beschimpft oder tätlich angegriffen zu werden.
„Also, was dein Enkel da geschrieben hat, Otto klingt glaubhaft. Dennoch muss ich wissen, wer sich die Frechheit erlaubt hat, meinen eigenen Enkel Duncan und seine Passagiere zu überfallen und bis auf die Unterhosen auszuziehen. Die Reisegäste waren nicht unwichtig und zu einem verdammt diskreten Treffen unterwegs mit entsprechend vertraulichen Unterlagen. Schon schlimm, dass dieser dreiste Raubüberfall von allen Zeitungen und Rundfunkstationen ausgeschlachtet und breitgetreten wird. Aber die Kunden haben den Paragraphen der Sicherheitsgarantie und Entschädigungsverpflichtung bei höchst unangenehmen Reiseerlebnissen gezogen. Ja, und beraubt zu werden dürfte wohl als zweithöchste Unannehmlichkeit hinter Tod durch Mord oder durch Unfall rangieren. Die drei Passagiere wollen eine Entschädigung, die deren zweifachem Gewicht in Gold entspricht. Ich habe morgen einen Termin beim Handelsbeauftragten von New Orleans, um das amtlich abwägen zu lassen, wie schwer die drei sind. Mein Rechtsbeistand will das zwar noch auf einfaches Gewicht in Silber runterhandeln, aber er meinte, mit dem Entschädigungsanspruchsparagraphen käme ich nicht um eine Zahlung herum, und das nervt. Selbst wenn ich nicht mehr glaube, dass Duchamp diesen Streich ausgeheckt hat und ich ihm wünsche, dass ich niemals rausfinde,falls er doch dahintersteckt, will ich wissen, wer das war. Waren das echt Hexen von einem der Schlüpfrigen Schwesternschaften oder hat die einer aus der zweiten oder dritte Reihe angeheuert, um mich in die Drachenkacke reinzureiten?“
„Wohl eher Pferdeäpfel, Cuthbert“, grinste Jean Duchamp schadenfroh. „Eh, pass ja auf, dass ich dir nicht gleich ein Pferdegesicht verpasse, Sohn eines Pferdestechers“, erwiderte Cuthbert Steedford.
„Jetzt aber Ruhe hier!“ brüllte Otto Hammersmith, dass die gerahmten Ahnen in ihren Bildern erst zusammenfuhren und dann Respektsgesten machten. „Möchtest du vielleicht um finanzielle Hilfe bitten, dass deine Firma und deine Familie nicht bankrott gehen?“ fragte Otto Hammersmith Steedford. „Öhm, erst wenn drachen Schokokekse speien und die Sonne grün im Westen aufgeht“, erwiderte Cuthbert sichtlich angenervt. Hammersmith hatte ihn bei seiner Ehre gepackt, niemals auf fremde Hilfe angewiesen sein zu wollen, und dieser Kerl hier in der Villa Athena wusste das auch ganz genau. „Bitte sage es so, dass wir alle es verbindlich zur Kenntnis nehmen und beachten können“, forderte Otto Hammersmith mit ernstem Tonfall. Steedford erbebte und rang jede Regung nieder, sich wie ein geprügelter Hund zu winden. Dann atmete er angenervt aus, holte neu Luft und sagte laut und verbindlich: „Nein, Otto Hammersmith und alle anderen einschließlich Jean Duchamp, ich, Cuthbert Steedford, Oberhaupt der ruhmreichen Familie Steedford, erbitte keine finanzielle Unterstützung für den mir entstandenen Schaden und stelle bis auf weiteres keine Forderung auf Entschädigung für den mir zugefügten Schaden. Ja, und ich hoffe sehr, dass nicht doch rauskommt, dass einer von euch mich in diesen Unrat hineingetrieben hat. Moreville – die Presse hat ja seinen Namen mit lautem Törö hinauspoosaunt – behält sich Folgeanforderungen vor, falls die ihm entwendeten Unterlagen gegen seine Firma verwendet werden sollten. Auch das kann er über den Entschädigungsanspruchsparagraphen unseres Reisebeförderungsvertrages durchziehen, ich riesenross.“
„Riesenross? Ich dachte, ihr führt nur die schlanken britischen Aeton-Pferde und keine elefantengroßen Abraxas-Pferde aus dem Mittelmeerraum“, feixte Duchamp. „Öhm, was an dem Satz „Jetzt aber Ruhe hier“ hast du nicht verstanden, Jean Duchamp?“ schnarrte Otto Hammersmith. „Abgesehen davon hängt immer noch dieses Damoklesschwert über dir und deinen beiden Triangelconfrères, dass da wer schmutzige Wäsche von euch aus dem Keller geholt hat und jederzeit öffentlich auswringen kann. Schon daran gedacht, dass das dieselben Spitzbuben und Schmutzgören sein könnten die deinem Erzfeind das Geschäft verderben wollten?“
„Ja, leider jeden Tag“, zischte Duchamp. Diesmal feixte Steedford. „Und schon einen Platz in New Doomcastle gebucht, Jean Duchamp?“ revanchierte er sich für die Sticheleien von gerade eben.
„Besteig du deine Stuten vom Hinterteil her, Cuthbert … Mpfffff!“ Otto Hammersmith hatte schneller als jeder Revolverheld seinen Zauberstab freigezogen und dem Lästermaul einen unsichtbaren Knebel zwischen Lippen und Zähne gezaubert. „Ich nagel dir beim nächsten Schulhofspruch die Zähne zusammen und vernähe dir die Lippen wie einst der Zwerg Brock dem ebensolchen Lästermaul Loki. Du hast jetzt erst mal fünf Minuten Redepause“, legte Hammersmith fest. Duchamp fischte nach seinem Zauberstab und versuchte, das unsichtbare Sprechhindernis aus seinem Mund zu entfernen. Doch es piffte und knisterte nur, und Duchamps schlanker Zauberstab blähte sich an der Spitze auf und drohte dort zu zerplatzen. Erst als Duchamp seinen Stab von sich weghielt nam dieser seine gewohnte Form an. „In diesem Zimmer wirken nur meine Zauber. Alles dagegen aufgebotene könnte den Zauberstab zerstören“, wies Hammersmith auf die Besonderheit dieses Zimmers hin, sofern die noch nicht jeder kannte oder bereits wieder vergessen haben sollte.
„also, um unserem Mitstreiter Steedford den nötigen Nachtschlaf wiederzugeben sollten wir uns umhören oder umhören lassen, wer Schuld an seiner Misere hat“, legte Otto Hammersmith fest. Dann sah er Myles V. McDuffy an und fragte: „Hast du immer noch Zugang zum Hauselfenvermittlungsbüro oder hältst weiterhin Kontakt zu den Stammeltern der in den Staaten dienenden Hauselfen?“
„Yep!“ erwiderte McDuffy. „Und um gleich deine nächste Frage zu beantworten, Otto Hammersmith, die in Europa gültige Verschwiegenheit jedes Hauselfen ist mittlerweile auch in den Staaten etabliert. Selbst wenn ich alle meine Verbindungen ausnutze kann ich keinen Hauselfen dazu bringen, mir zu verraten, ob seine Meister was gegen Steedford, dich oder mich ausgeheckt haben oder immer noch aushecken, so sehr mich das selbst anstrullt. Aber was ich machen könnte ist eine Botschaft an alle Hauselfen zu verbreiten, dass jeder Übergriff auf Unternehmungen von mir oder euch bedrohliche Auswirkungen auf den oder die hat, von dem er ausgeht. Der Schutz der Meister vor feindlichen Angriffen ist bei den Hauselfen nämlich auch sehr tief und schier unaufhebbar verwurzelt. Selbst den Imperius-Fluch können die älteren Elfen abschütteln.“
„Oh, schön zu hören“, meinte Otto und sah am Gesicht Steedfords, dass er ihm die Worte aus dem Nund genommen hatte. „Dann gib bitte über deine Verbindungen heraus, dass wir, der Club der zehn, ein Kopfgeld auf jeden ausgesetzt haben, der sich allein oder im Verbund mit anderen zu Aktionen gegen uns verbündet und diese durchführt. Selbst Vielsaft-Trank ist für uns kein Hindernis mehr, um rauszufinden, wer dahintersteckt.“
Goldfield hob die Hand zur Wortmeldung, bevor McDuffy Ottos Empfehlung bestätigte. „Ja, und lass deine Elfen bitte weitertragen, dass wir Mittlerweile unsichtbare Aurenspürer haben, die selbst mit Vielsaft-Trank verwandelte Gegner an ihrer orginalen Geistesaura erkennen können. Mal sehen, wie das ankommt.“ Otto Hammersmith sah Goldfield erst kritisch an, grinste dann aber sehr überlegen und nickte McDuffy zu. „Ja, Myles, lass deine Elfen das an ihre Angehörigen weitergeben, dass wir sowas können und deshalb jeden kriegen, der uns ans Bein urinieren will oder uns auf unsere sauberen Schuhe koten will. Bitte in diesem Wortlaut weitergeben. Die die es betrifft sollen schließlich nicht glauben, es mit einer Bande Gossenrüpel zu tun zu haben und trotzdem klar verstehen, was wir meinen!“
„Geht klar, Otto Hammersmith. Vielleicht haben dein Enkel Quinn und seine Spezialisten sogar sowas in ihrem Ausrüstungslager, um bitterböse, unsichtbare Dunkelmagier zu verfolgen oder deren Wirken an Tatorten nachzuweisen. Wissen wir das? Insofern kann ich das dem Elfenvermittlungsbüro und den von meiner Familie damals ins Land geholten Hauselfenstämmen so weitergeben, ohne mich als Lügner oder Aufschneider zu fühlen.“
„Na ja, Myles, dass das LI diese Aktionen nachverfolgt müssen deine Elfen nicht rumgehen lassen. Ist nämlich nicht schlecht, wenn die nicht wissen, von wem die schon alles gejagt werden“, sagte Otto Hammersmith.
„Stimmt, einige Hexenschwestern könnten sich auch – wie sagtest du? – ans Bein uriniert fühlen, dass da jemand Hexen als Postkutschenräuberinnen anheuert“, sagte McDuffy. „Pat war über diese Meldung sichtlich aufgebracht. Ich konnte sie davon abhalten, Interviews anzubieten, um klarzustellen, dass selbstbewusste Hexen keine magielosen Banditen nachmachen müssen.“
„Apropos, wann spielt deine Urenkelin wieder anständiges Quodpot?“ wollte Chester Gladfield von Myles McDuffy wissen.
„Jungens, ihr kennt doch die Antwort“, stöhnte McDuffy genervt. „Solange die Bezahlungen für die Profispieler nicht das Nieveau von vor der Goldebbe erreichen wird jede Partie im Schneckenmodus ausgespielt. abgesehen davon haben sich die Wettbüros längst umgestellt und nehmen Wetten an, ob jemand es schafft, einen Quod nach einer oder zwei Stunden heiß genug zu spielen, dass er eingetopft werden muss.“
„Ja, nur dass Bronco Umsatzeinbrüche verzeichnet, weil keiner mehr einen neuen schnellen Besen haben will, solange die bisher benutzten Besen nur zeigen, wie langsam sie fliegen können“, sagte Gaston Lachaise, der viele Anteile an der Besen-Manufaktur Bronco hielt.“
„Darf ich dich dann auch fragen, ob du unsere finanzielle Hilfe brauchst, um dich und deine Familie über Wasser zu halten?“ fragte Otto Hammersmith den Gast aus dem Weißrosenweg von New Orleans. Duchamp und Centretour sahen den Mitstreiter erwartungsvoll an. „Derzeitig liegt kein Notfall vor, der mich dazu drängt, um Hilfe von außen bitten zu müssen. Danke der Nachfrage“, erwiderte Lachaise.
„Gut, sind wir uns dann zumindest darüber einig, dass wir uns nicht wegen der Sache mit Steedfords Kutsche und den angeblichen Angehörigen meiner Familie in Chicago gegenseitig beschuldigen?“ Alle neun Gäste stimmten zu. „Also gilt es, die Zündeleien, ob mit Dämonsfeuer oder mit Überfällen oder Verunglimpfungen, ohne Getöse nachzuverfolgen und zugleich aufzupassen, dass aus diesen Aktionen kein alle Staaten erfassender Flächenbrand wird. Also sprechen wir weiter über die Unterstützung des neuen Kongresses“, legte Otto Hammersmith fest.
Fünf Minuten nach dem Sprechbehinderungszauber löste sich der Knebel aus Duchamps Mund. Jean Duchamp sah Otto Hammersmith erst verstimmt an, wagte jedoch nichts zu sagen. Er beteiligte sich an der Unterhaltung über die bisher laufenden Kampaagnen und musste einräumen, dass die Zusammenarbeit der zehn großen Familien mehr Vorteile brachte als die früheren Alleingänge in den jeweiligen Hoheitsgebieten. Er stellte jedoch auch klar, dass das nichts an seiner Einstellung zu Steedford ändern würde. „Ich habe das mit den Beeinträchtigungen nicht angefangen, Jean Duchamp, sondern du, weil du keine Konkurrenz wolltest und meine Pferde trotzdem sie nicht so schnell wie Flohpulver sind immer noch zuverlässiger an ihre Bestimmungsorte finden und diskreter zu handhaben sind.“ Duchamp schien eine verächtliche Antwort darauf geben zu wollen, schluckte diese jedoch hinunter. Er legte es nicht darauf an, zweimal am selben Tag mit einem spürbaren Sprechverbot abgestraft zu werden. Vielleicht, so argwöhnte Otto Hammersmith, dachte Duchamp auch schon daran, wie er ihm das mit dem unsichtbaren Knebel vergelten konnte, wenn sie sich bei ihm im achteckigen Haus treffen würden. Doch bis dahin würden noch Monate vergehen und hoffentlich ein neuer Anfang in den Staaten gemacht sein.
Als die Gäste alle die Villa Athena verließen winkte Alva Hammersmith ihren Mann zu sich ins kleine Esszimmer. „Mir ist klar, dass du mir nichts aus eurer Männerrunde erzählst, Otto. Aber falls du denen angeboten hast, dass Quinn ihnen zuarbeitet, wer denen übel mitspielen will sei bitte darauf gefasst, dass Quinn uns seine Unterstützung verweigern könnte, falls die ihn und das LI bedrängen sollten.“
„Alva, ich habe denen nicht angeboten, dass Quinn für sie alle arbeitet. So dämlich bin ich echt nicht. Im Gegenteil. Ich habe denen nur erzählt, dass sich das LI um dise leidigen Vorfälle kümmert, weil zu befürchten steht, dass da jemand unser Land ins Chaos stürzen will. Wer dieser Jemand ist, ob die dunklen Orden aus Hexen und Zauberern, die Blutsaugersekte, die pelzigen Vollmondanheuler oder diese Babymacherbande Vita Magica ist egal. Irgendwer will uns alle fertigmachen. Das haben die anderen neun auch eingesehen und dass das LI sich deshalb drum kümmert, weil unschuldige Leute dabei zu Schaden kommen können wie in Chicago“, sagte er. „Mehr musst du nicht wissen.“
„Ja, und mehr will ich auch nicht wissen“, schnarrte Alva Hammersmith geborene Powell.
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Annabella Greywater hatte mehrfach beteuert, keiner dunklen Schwesternschaft anzugehören. Nach ihrer verschwundenen Cousine Griselda befragt hatte sie immer wieder ausgesagt, dass diese sie nicht für eine der „verruchten“ Schwesternschaften geworben hatte. Außerdem hatte sie mehrmals auf ihr Recht auf Verteidigung gepocht und versucht, durch die Nennung von Entlastungszeugen dieses unheimliche Gericht von ihrer Unschuld zu überzeugen. Sie hatte am Ende noch damit gedroht, dass ihre Verwandten, von denen einige zu gleich drei ranghohen Familien der USA gehörten, sie suchen und Vergeltung für alles üben würden, was ihr ohne amtliche Gesetzmäßigkeit zugefügt wurde.
Wie lange sie nun gefangen war bekam sie nicht mit. Sie lag in einem hölzernen Ding, was wie ein Sarg oder eine Reisetruhe sein konnte. Hände und Füße waren mit im dunkeln bläulich schimmernden Ketten gefesselt. Ihr Unterleib steckte in etwas, das wie eine vergrößerte Windel sein mochte. So konnte sie nicht einmal über Körperausscheidungen bestimmen, wieviele Tage sie schon festgehalten wurde.
Sie hörte die vier starken Riegel in der Tür zu ihrer fensterlosen Gefängniszelle. Dann fiel ein senkrechter, leicht flackernder Lichtstreifen herein. Sie hörte die Schritte von mindestens drei Leuten, zwei Zauberern und einer Hexe, wie sie selbst eine war.
„Das Gremium hat beschlossen, Sie einer intensiven Erinnerungsdurchsuchung zu unterziehen, Ms. Greywater. Wir müssen sicherstellen, dass ihre Cousine Sie nicht zu unstatthaften Handlungen verleitet hat oder Ihnen gar ohne Ihr Wissenund Einverständnis geheime Botschaften zur Weitergabe anvertraute. Aufstehen und mitkommen!“ sagte einer der Zauberer.
„Ihr habt mich doch schon legilimentiert, ihr feigen Kerle“, dachte Annabella Greywater. Laut sagte sie: „Was wollen Sie denn noch aus meinem Gedächtnis holen, was Sie bisher nicht gefunden haben? Ich habe alles berichtet, was ich weiß, auch wenn Sie sich bis heute nicht als rechtmäßige Instanz der magischen Verwaltungsbehörden ausgewiesen haben.“
„Wir sind die Übergangsbehörde für Aufklärung und Gesetzesvollstreckung gegen zaubererweltfeindliche Hexenorden. Wir müssen uns nur dem Gesetzesüberwachungsleiter des MAKUSA gegenüber ausweisen“, sagte einer der drei. „Aufstehen, mitkommen!“
Unvermittelt wurde Annabella Greywater aus ihrer liegenden Haltung in die senkrechte Haltung gerissen, ohne dass eine Hand sie angefasst hatte. Sie fühlte, wie sie an unsichtbaren Halteseilen in der Luft hängend hinter den drei Gefängniswärtern herschwebte. Die ließen sie nicht einmal auf ihren eigenen Füßen hinterdreingehen. Dies und die Verpackung und die Fesseln waren eine unerträgliche Entwürdigung. Sie hatten doch längst ihren Zauberstab eingezogen, auch wenn sie sich nicht für dazu berechtigt ausgewiesen hatten. Somit konnte sie doch gar nicht mehr gefährlich werden.
Sie wurde im Haltegriff des Mobilicorpus-Zaubers durch die fensterlosen, nur von kleinen Hängelampen erleuchteten Gänge befördert und in jenen Raum geschafft, den sie als Vorhof ihrer eigenen Hölle ansehen mochte. Denn hier hatte sie die bisherigen Befragungen überstehen müssen, teilweise auch unter Einwirkung eines ihr gewaltsam eingeflößten Wahrheitstrankes. Manchmal hatte sie die Angst und den Hass in den Augen der Fragenden gesehen.
Vier Hexen saßen in diesem Raum. Sie saßen in hochlehnigen Sesseln jenem eisernen Stuhl gegenüber, auf dem sie angekettet die Befragungen erdulden musste. Mit dem Körperbewegungszauber bugsierten sie die drei, die sie aus der Zelle geholt hatten auf den Stuhl. Dann hoben sie den Transportzauber auf. Unmittelbar danach schnellten die unzerreißbaren und mit einem unheimlichen Eigenleben erfüllten Eisenketten aus Lehne und Stuhlbeinen und umschlangen die Gefangene. Diesmal umspannte auch eine hauchdünne Eisenkette ihren an die Rückenlehne zurückgedrückten Kopf, sodass sie ihn nicht mehr drehen konnte. Das machten sie nur, wenn sie eine legilimentische Befragung durchführen wollten.
„Ms. Annabella Greywater. Nach ausführlicher Beratung und Erörterung Ihrer bisherigen Aussagen und der mit Ihnen in Beziehung stehenden Verdächtigen in mehreren Fällen zaubererweltfeindlicher Umtriebe mussten wir uns dazu entschließen, Sie einer letzten, höchst intensiven Erinnerungsdurchsuchung zu unterziehen“, sprach eine der Hexen. Jetzt erkannte Annabella sie. Das war Verena Peppermill, eine Inobskuratorin im Gefolge von Atalanta Bullhorn. Nachdem ihr das klar wurde erkannte sie auch die drei anderen. Doch Atalanta Bullhorn war nicht dabei. „Sie werden nun genau auf uns sehen und keine Anstalten machen, ihre Augen zu verschließen oder sich durch Abwehrtechniken gegen die Durchsuchung des eigenen Geistes zu wehren. Jeder körperliche Abwehrversuch wird mit heftigen Schmerzen bestraft. Jede geistige Abwehr wird von uns mit aller verfügbaren Kraft niedergerungen. Dies kann zu dauerhaften Gehirnschäden oder seelischer Verstümmelung führen. Also verzichten Sie darauf, falls Sie Wert darauf legen, uns als freie Hexe zu verlassen.“
„Ihr werdet mich nie freilassen, jetzt wo ich euch erkannt habe“, dachte Annabella. Sie wurde gefragt, ob sie verstanden hatte und ob sie bereit war, zu kooperieren antwortete sie beidemale „Ja!“ Es war ihr, als habe sie gerade das Ehegelübde mit einem der vielen Erzdämonen der nichtmagischen Glaubenswelten geleistet.
Vier Augenpaare blickten sie an. Die Blicke bohrten sich in ihre eigenen Augen. Sie hörte das geflüsterte Zauberwort „Legilimens!“ Dann verlor ihr Bewusstsein den Halt in der stofflichen Wirklichkeit.
Es war wie ein wildes Rennen durch einen Tunnel aus Bildern, Geräuschen und aufflackernden Gefühlen. Dann meinte sie, von unsichtbaren Kräften mal in die eine und mal in die andere Richtung geschleudert zu werden. Zeitgleich blitzten Bilder und Geräusche aus verschiedenen Erlebnissen auf. Sie fühlte, wie die Stoßwellen der sie durch ihre tiefsten Erinnerungen wirbelnden Kräfte auch ihrem Körper zusetzten. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Wie auf einem sich um mehrere Achsen zugleich drehenden Karussell, das schneller und schneller wurde, jagte sie durch die Erinnerungen. Immer wieder hörte sie den Namen ihrer Cousine Griselda heraus und dann auch Namen, die sie nicht mehr kannte aber die trotzdem in den Tiefen ihres Gedächtnisses vergraben waren. Immer wilder wurde die gnadenlose Treibjagd durch ihre bisherigen Erlebnisse. Ihre schönsten, erhabensten und schrecklichsten Erinnerungen tauchten wie die Eindrücke besonders starker Träume auf, um sie dann weiter durch den bunten Wirbel ihrer Erinnerungen schleudern zu lassen. Dann fühlte sie, wie etwas in ihr aufquoll, alles an bunten Bildern verdrängte, um sich dann mit einem grellweißen Licht und einem lauten Knall zu entladen. Danach war Finsternis um sie herum. Sie fühlte sich schwerelos und völlig frei.
Aus der Finsternis schälte sich ein leuchtender Nebel heraus, und hektische Stimmen drangen zu ihr vor. Dann sah sie, dass sie mehr als drei Meter über dem Boden hing. Nein, sie schwebte. Doch als sie sah, was unter ihr war erschrak sie. Sie schwebte über vier hektisch miteinander diskutierenden Frauen und ihrem schlaff und reglos in den fesselnden Ketten hängenden Körper. Ihr wurde klar, dass ihr Geist den gepeinigten Körper verlassen hatte. Sie kannte das aus Berichten fast verstorbener Leute, die nur durch einen letzten winzigen Funken Lebenskraft zurück in ihr körperliches Leben gelangt waren. Hatte sie noch diesen Lebensfunken? Oder würde sie gleich aus dieser sie am Ende quälenden Welt hinausgleiten und in eine nicht näher erklärbare Welt eintauchen, wo ihre Urgroßmutter Alice auf sie warten mochte? Dann sah sie ihren gefesselten Kopf. Aus Nasenlöchern und Ohren quoll langsam aber unerbittlich Blut hervor. Das versetzte ihr den zweiten Schrecken. Dieser war wie ein Auslöser, um sie in eine neuerliche Finsternis hinüberzuschleudern, einer Finsternis, an deren Ende ein kleiner, heller Lichtpunkt leuchtete.
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„Ich habe es euch gesagt, dass ihr nicht alle vier auf einmal rangehen dürft“, zeterte ein Zauberer, als er den leblosen Körper von Annabella Greywater vor sich auf dem Tisch liegen hatte. „Mentipression ist schlimmer als der Cruciatus-Fluch, weil er das Gehirn körperlich überlasten kann, wenn sie nicht fachgerecht durchgeführt wird. Ihr habt ihr Gehirn regelrecht zerquirlt“, sagte er und hielt einen kleinen runden Spiegel an den von Blut gereinigten Kopf der Toten. Atalanta Bullhorn, die nach diesem erstmaligen Einsatz der Mentipression seit fünfzig Jahren hinzugezogen worden war, blickte nach außen hin ungerührt auf die Leiche der Verhörten. Als sie sah, dass dort, wo bei gesunden Menschen das Gehirn war, nur eine formlose feuchte Masse zu sehen war meinte sie: „Sie muss einen inneren Abwehrmechanismus besessen haben, der bei intensiveren Nachforschungen immer stärker wurde. Die Kameradin Verena hat von immer wieder wahrgenommenen Blitzen gesprochen. Das können tief in ihrem Gedächtnis eingelagerte Verratsunterdrückungszauber oder der Divitiae-Mentis-Zauber gewesen sein. Es mag sein, dass die Art der Durchsuchung zur Überlastung des Gehirns führte. Daher werde ich mit den Fachkollegen beraten, wie diese Technik organschonender verwendet werden kann. Am Ende standen die vier Kameradinnen unmittelbar vor der gesuchten Antwort, ob Annabella Greywater mit den schweigsamen Schwestern oder dem Spinnenorden zu tun hat. Da Divitiae-Mentis fünf wichtige Erlebnisse oder Kenntnisse versiegeln kann werde ich auch beraten, ob bei den anstehenden Befragungen nicht fünf Legilimentoren eingesetzt werden sollen um beim Brechen dieses Zaubers eine der fünf Kenntnisse zu erhaschen.“
„Dann wollen Sie diese Art von Befragung fortsetzen, Major Bullhorn?“ fragte der Zauberer, der den Leichnam von Annabella Greywater untersuchte. „Unsere Gegnerinnen werden jede Gnade als Schwäche auslegen und uns immer einen Schritt vorausbleiben, wenn es uns nicht endlich gelingt, wichtige Mitglieder der verächtlichen Gemeinschaften aufzugreifen und ihre Mittäterschaft zu enthüllen“, sagte Atalanta Bullhorn. „Also verabschieden Sie sich endlich von diesem Luxusgut, das Sie Gewissen nennen, Lieutenant Mellow! Ihre zehn Heilerdirektiven gelten seit Ihrem Eintritt in unsere Organisation nur noch eingeschränkt. Sie haben sich unserem Projekt verdingt, auch wenn sie wussten, dass wir nicht zimperlich sein dürfen, um erfolgreich zu sein. Wir sind in einem Krieg, Lieutenant Mellow. Wanken heißt fallen.“
„Sie machen es sich sehr einfach, Major Bullhorn. Sie rechtfertigen unerlaubte Festnahmen und fortgesetzte Freiheitsberaubungen, ja und jetzt auch zurecht mit einer internationalen Acht belegte Verhörmethoden. Wir sind noch nicht gesetzlich zertifiziert und haben keine von der ordentlich vereidigten Verwaltung der Zaubererwelt erteilte Erlaubnis. Ich habe mich dem Projekt nur angeschlossen, weil mir in dem Moment klar wurde, dass Sie selbst zu den Methoden der dunklen Seite greifen mögen, wenn Sie mit erlaubten Methoden nicht weiterkommen, um Sie auf den Pfad des menschenwürdigen Verhaltens zurückzuführen und …“
„Genug! Aufhören! Sie sind eingeschworen und daher verpflichtet, alle notwendigen Schritte unseres Projektes mitzugehen, bis zum Erfolg. Wagen Sie es auch nicht noch einmal, mir mit der nutzlosen Moraldoktrin der Heilerzunft zu kommen, wenn es darum geht, unsere Feinde zu stellen und zu vernichten. Sie sind schon viel zu weit mit uns vorangegangen, um jetzt noch umzukehren. Diese letzte Brücke ist bereits durchgesägt und in den Tiefen der Unumkehrbarkeit verschwunden.“
„Natürlich sagen Sie sowas, weil Sie das für sich und wohl für viele andere hier so empfinden. Aber da auf diesem Tisch liegt ein Opfer unserer Tat, Major Bullhorn. Wir haben diese Hexe auf dem Gewissen, auch wenn dieses Wort und was es bedeutet für Sie gerade purer Luxus zu sein scheint. Aber mit dem Ende der Reue und dem Willen zur Gnadenlosigkeit tritt jeder über die Schwelle zur dunklen Seite. Und diese Schwelle habe ich noch nicht übertreten und werde dies auch nicht tun. Somit gebe ich Ihnen nur einmal und verbindlich den Rat des für dieses Quartier eingeteilten Heilers vom Dienst: Überdenken und überarbeiten Sie Ihre Vorgehensweise und gehen Sie wie es vor Ladonnas Zauber üblich war von der Unschuld eines Menschen aus, statt ihn bereits für schuldig zu halten, sobald Sie seiner habhaft werden. Der neue MAKUSA wird dieser früheren Verfahrensordnung folgen. Wenn wir dagegen verstoßen sind wir nicht besser als jene, die wir zu Feinden der Zaubererwelt erklärt haben“, sagte Mellow ohne Anflug von Einschüchterung.
„Wie gesagt, Lieutenant Louis Mellow, wir sind im Krieg. Wer da nicht bereit ist zum äußersten Mittel zu greifen wird selbst zum Opfer. Zielt sorgfältig und schlagt ohne Zögern zu oder werdet selbst das Ziel! Sie kennen diese Instruktion aus der Grundausbildung noch? Ja, natürlich kennen Sie sie noch.“
„Ich wurde erst Heiler und trat der heilmagischen Unterstützungseinheit der Inobskuratoren bei, um geheimzuhaltende Operationen nicht durch Verbringung von Kampfopfern in die Heilstätten wie das HPK aufzudecken“, erwiderte Mellow ruhig. „Dann ist es an Ihnen, zu klären, was Sie sind, Heiler oder Kämpfer, Mellow. Offenbar ist beides gleichzeitig nicht möglich.“
„Ich habe meine Pflicht erfüllt und diese Frau dort untersucht. Ich sende Ihnen und der Führungsgruppe des PSP meinen Bericht zu. Ich werde darin vermerken, dass ich Sie auf weitere Todesopfer hingewiesen habe und auch, dass Sie mir gerade eben unmissverständlich versicherten, diese in Kauf zu nehmen, weil Ihnen der Erfolg des Projektes wichtiger ist als der Schutz von unschuldigen Menschen, wie wir alle ihn bei unserer Vereidigung geschworen haben“, sagte Mellow.
„Die anderen wissen schon, dass sie dort unter dem Mentipressionsverhör tödlich zusammengebrochen ist. Sie brauchte ich nur für die anatomische Nachprüfung, ob es durch das Verhör tatsächlich zu einem organischen Gehirnversagen kam.“
„Wie kann es nicht versagen, wenn es regelrecht deformiert wird?“ erlaubte sich Mellow eine freche Bemerkung. Atalanta Bullhorn sah ihn drohend an. Doch weil er einer von nur fünf angeworbenen Heilern war durfte sie ihn nicht bestrafen. Doch diese unerschütterliche Widersätzlichkeit würde sie nicht mehr lange hinnehmen. Spätestens, wenn ihr Projekt abgeschlossen war würde sie ihn dafür büßen lassen.
Louis Mellow sah der Leiterin des Projektes Sol Puritatis nach. Für einen Moment hatte sie ihre starre Maske der unerschütterlichen Entschlossenheit vernachlässigt. Er hatte den lodernden Hass in ihren Augen gesehen, wie auch den Schmerz in ihrem Gesicht erkannt. Diese Frau litt. Sie litt unter ihrem eigenen Versagen gegen Ladonnas Zauber und dass jene sie über Monate hinweg gefangengehalten hatte, angeblich als eine langstielige, in bezauberte Erde eingepflanzte Rose. Falls sie diese Art der Gefangenschaft in ihrem Gedächtnis behalten hatte wirkte es wie ein glühender Stachel in ihrem Fleisch, immer vorhanden, immer schmerzhaft. Doch sie lehnte jede heilmagische Untersuchung ab, jede psychomorphologische Erinnerungsaufarbeitung. Sie meinte, mit der Vernichtung dunkler Hexenorden dieses Trauma loszuwerden. Er selbst fragte sich nun wirklich, was für ein pechschwarzer Wichtel ihn da geritten hatte, sich diesem Projekt anzuschließen und den Eid zu schwören, dessen Ziele zu wahren und mit allem was dazu notwendig war zu verfolgen. Aussteigen konnte er nicht, weil ihm das sein eigenes Gedächtnis kosten würde. Einen winzigen Augenblick flackerte der Gedanke auf, dass ihm eigentlich nichs besseres passieren konnte. Dann aber dachte er daran, was er alles aufgab. Er hatte das ganze Leben damit zugebracht, sein Gedächtnis zu vergrößern. Freiwillig wollte er sich nicht davon trennen. Natürlich wusste er, dass diese reflexartige Ablehnung einer Gedächtnislöschung ein Teil jenes magischen Eides war, der ihn auf Gedeih und Verderb an die Handlungen dieser vom Hass und von Selbstzweifeln zerfressenen Frau band, wie auch alle anderen, die sie von „ihrer Sache“ überzeugt hatte. Doch Louis Mellow war bewusst, dass dieses Projekt niemals den Segen und die Genehmigung eines neuen MAKUSAs finden würde, selbst wenn der erste MAKUSA nicht selten skrupellos vorgegangen war, wie gegen die Reinigerbewegung bis in die 1950er Jahre oder gegen die Grindelwaldianer oder wie das ihm nachfolgende Zaubereiministerium gegen echte oder scheinbare Feinde. Ihm wurde bewusst, was der damalige Zunftsprecher der panamerikanischen Heilerzunft ihm noch mitgegeben hatte: „Sie werden für Ihre neue Anstellung bei den Inobskuratoren Dinge zu hören und sehen bekommen, die Ihr Feingefühl erschüttern oder verletzen können. Man wird Sie auf Geheimhaltung verpflichten. Doch bedenken Sie dabei bitte, dass Sie uns und vielen tausend unschuldigen Menschen helfen werden, jene zu verfolgen, die ihnen nach Leib, Seele und Leben trachten.“
„Sie wird mich irgendwann umbringen oder in einen tödlichen Einsatz hineinschicken“, dachte Mellow. „Diese kranke Hexe wird sich das nicht bieten lassen, was ich ihr gesagt habe.“
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Priapus Southerland hatte Otto Hammersmith und Goodwin Goldfield in seine kalifornische Residenz bei Malibu eingeladen, weil er sich um den Verbleib seiner verschwägerten Großnichte Annabella Greywater sorgte. Da die Greywaters um zwei bis vier ecken auch mit den Hammersmiths und Goldfields verwandt waren hielt er es für nötig, die beiden aus dem Club der großen zehn des Westens anzueulen und für eine kleine Besprechung einzuladen.
Es war der 7. Mai 2007 um neun Uhr morgens Pazifikstandardzeit, als die zwei geladenen Gäste bei der Residenz Himmelsgipfel eintrafen. Wie üblich wurden sie dort von der zum Selbstflug fähigen Hauselfe Twinky begrüßt und durch den Hain aus Palmen mit blauen Wedeln zum Haupthaus geführt, wo wie üblich eine Menge Kinder zwischen Krabbelalter und Grundschule herumwuselten, beaufsichtigt von Feodora Southerland, der Schwester des Hausherren und Hüterin von Personal und Hausrat, wie sie sich immer so schön ausdrückte.
„Jungs, ihr habt es sicher über eure eigenen Nachrichtenwege mitbekommen, dass Annabella Greywater, die Tochter von Alwin und Hannah Greywater, verschwunden ist. Hannah hat noch einen gemeloten Hilferuf gehört und dass eine Gruppe von Besenfliegern ihr Haus umzingelt habe. Dann riss die Verbindung ab. Das war vor drei Tagen. Alle uns bekannten Suchzauber haben sie nicht gefunden, also ist sie an einem unortbaren Platz, vielleicht einem Fidelius-Ort.“
„Wir müssen davon ausgehen, dass sie von jenen einkassiert wurde, die auch schon andere Hexen haben verschwinden lassen“, grummelte Otto Hammersmith. Dann packte er aus, was Quinn ihm für den Fall einer eindeutig unschuldigen Hexe von seinem Direktor freigegeben hatte. „Leute, es gilt für das Laveau-Institut als gesichert, dass Atalanta Bullhorn und von ihr beschwatzte Veteranen aus der Inobskuratorentruppe dafür verantwortlich sind. Allerdings soll Marie Laveau ihren Schützlingen eingeschärft haben, sich nicht in diese Angelegenheit einzumischen, da sie sonst noch viel mehr Opfer fordern würde. Aber wir sollten davon ausgehen, dass wir Annabella entweder als verstörtes bis geistig geschädigtes Wesen, als irgendwo deponierte Leiche oder gar nicht mehr zu sehen bekommen. Ich bin davon ausgegangen, dass die zuständigen Regionaladministrationen unserer Aufforderung folgen, nach den eigenmächtigen Hexenjägern zu suchen.“
„Mein Neffe Paul, dessen Frau die geborene Tante von Annabella Greywater ist, hat auch die Heilerzunft angeschrieben, weil sie fürchtet, dass Annabella irgendwo auftaucht und dann dringend Hilfe braucht“, sagte Goodwin Goldfield, der gleich mehrere Heiler und Heilerinnen in der näheren und ferneren Verwandtschaft besaß. darunter seine Schwiegermutter, Eileithyia Greensporn.
„Okay, Quinn hat mir den Brief vom LI-Direktor gegeben, ich konnte den eindeutig vorlesen lassen. Ich kenne Davidson ja von verschiedenen Treffen, wo seine und meine Interessenssphären sich doch mal berührten“, sagte Otto Hammersmith. „Den Brief darfst du deiner Schwiegermutter weitergeben, Googo.“
„Das ist aber sehr nett von euch und dem LI, Otto Hammersmith“, grummelte Goodwin Goldfield, weil ihn dieser Kerl aus Pennsylvania mit dem blöden Spitznamen bedacht hatte, den er ihm schon in Thorntails angehängt hatte, wo er in Haus Bluesprings und er im Haus Greenscale gewohnt hatte.
„Jungs, nicht zanken. Dafür seid ihr zu alt und ich will keinen Krach mit meiner Schwester wegen einer unordentlichen oder total versauten Wohnung kriegen“, schritt Priapus Southerland vorbeugend ein. „Also, das Original bekommt Goodwins Schwiegermom und ich kriege eine Kopie für meinen großen Hühnerhof.“
„Kikereki!“ rief Goodwin Goldfield. „Vorsicht, wer das in meiner Anwesenheit dreimal innerhalb von zwei Minuten ausruft wird in einen Hahn verwandelt und muss auf meinem Hühnerhof neue Küken machen“, erwiderte der alte Southerland. „Neh, und der Mond ist ein Pfannekuchen“, erwiderte Goodwin und imitierte erneut das Krähen eines Hahnes. Da meinte er, ein Kribbeln zu fühlen und betastete sein Gesicht. Er meinte, dass seine Barthaare dicker geworden seien und er irgendwie ein wildes Kribbeln in seinen Füßen fühlte. „Na, probieren wir es aus und heiraten hundert weiße und braune Bräute?“ fragte Priapus Southerland. Goodwin Goldfield schüttelte den Kopf. Denn er meinte gerade das Gackern vieler Hühner zu hören und daraus eine gesteigerte Lust zu verspüren, die er das letzte mal vor zwanzig Jahren verspürt hatte.
Während er darauf hoffte, dass in zwei Minuten nicht noch ein Hahnenruf aus seinem Mund kam planten er und die beiden anderen, wie sie die Suche nach Annabella und den anderen verschwundenen ankurbeln wollten. Denn mit Annabellas Verschwinden, so waren sich die drei einig, hatte die Truppe eigenmächtiger Hexenjäger unter Atalanta Bullhorn ihnen den Krieg erklärt. Ja, und es stand zu befürchten, dass sie bald auch die Mitglieder der sieben anderen Familien behelligen würde.
„Wäre es nicht günstig, wenn sämtliche Hexen der Staaten nach Viento del Sol reisten und da in Zelten oder dem Gasthaus oder bei Verwandten wohnen würden, bis wir diese tollwütige Füchsin gestellt haben?“ fragte Southerland an die Adresse von Otto Hammersmith, der ja zwei Verwandte in Viento del Sol wohnen hatte.
„Damit der Feindeswehrzauber ermittelt, wer von denen gutartig und bösartig ist? Keine schlechte Idee, Chef vom Hühnerhof. Aber sobald eine solche Aufforderung rausgeht kriegen es natürlich auch die geheimen Helfer und Helfershelfer der Bullhorn mit und könnten noch gnadenloser zulangen.“
„Die können aber auch nicht tausend Hexen pro Stunde hoppnehmen, wenn die nicht an ein und demselben Ort versammelt sind“, sagte Priapus Southerland. Dem pflichteten seine Gesprächspartner bei.
„Öhm, was machen wir, wenn wir Atalanta Bullhorn aufstöbern, Jungs?“ wollte Goodwin wissen und freute sich, dass das merkwürdige Kribbeln auf der Haut und das leise Hühnergackern in seinem Kopf abebbten. „Was würde deine altehrwürdige Schwiegermutter machen, wenn sie weiß, dass jemand aus einem gehörigen Dachschaden heraus was anstellt?“ Fragte Otto Hammersmith. „Klar würde sie diesen Menschen in die geschlossene Abteilung, Unterabteilung für gemeingefährliche Personen einweisen. Ja, und ihr beiden alten Gockel dürft gackern vor lachen, aber das hat sie beziehungsweise eine ihrer Kolleginnen zumindest schon angedacht, hat mir Pia erzählt. Allerdings gäbe es noch nicht genug berechtigende Gründe für eine derartig drastische Maßnahme.“
„So, dass sie mal eben über hundert Hexen verschwinden lässt, die nicht mehr auftauchen ist kein rechtfertigender Grund?“ wollte Southerland wissen. Hammersmith übernahm es zu antworten: „Weil keiner weiß, wie viele von denen wirklich unfreiwillig verschwunden sind und wie viele vielleicht vorsorglich abgehauen sind, weil sich das rumgesprochen hat, dass da wer aus der Zaubererwelt Hexen jagt.“ Priapus Southerland knirschte mit den Zähnen. „Stimmt, wir müssten das beweisen. Aber wenn wir die auf frischer Tat erwischen …“
„Denken sicher auch die echten dunklen Hexenschwestern“, sagte Otto Hammersmith. „Das könnte genau der Grund sein, warum Maries Geist ihren Schützlingen abrät, sich da reinzuhängen. Aber wir sind weit weg von New Orleans. Marie Laveau hat keine Befehlsgewalt über uns. Also machen wir das mit dem Aufruf?“
„Ja, wir machen das. Und ich schicke den auch an die anderen sieben, beziehungsweise du, Otto, gibst es gleich an deinen Enkel weiter, dass der die Triangel zum klingen bringen soll, dass alle Hexen aus deren Familien nach VDS rübersollen, bestenfalls per Flohpulver in die öffentlichen Kamine bei der Post, dem Quodpotstadion, dem Haus zum sonnigen Gemüt und dem Pflanzenladen beim herbologischen Garten“, legte Priapus Southerland fest. Die beiden anderen waren einverstanden.
Die kleine Gesprächsgruppe verabschiedete sich, nachdem sie Feodoras unablehnbare Einladung zu einem zweiten Frühstück angenommen hatten.
„Also doch die Bullhorn“, knurrte Feodora, als sie mit ihrem Bruder alleine war. „Doch die Bullhorn. Du hattest zum feuerroten Donnervogel noch mal recht, Feo. Offenbar hat die Dame von Ladonnas Rosenduft einen totalen Gehirnschaden abbekommen.“
„Viele von Ladonnas Opfern haben sich auf die Folgen dieser Zeit behandeln lassen. Sie wollte das nicht, weil sie sich als Inobskuratorin über alle seelische Beeinträchtigungen erhaben wähnt.“
„Ja, und jetzt könnte ihr bestenfalls blühen, dass sie in der geschlossenen Abteilung vom HPK landet. Schlimmstenfalls könnten ihr und ihren Leuten echt üble Racheakte zustoßen. Ich weiß im Moment nicht, was ich tun würde, wenn ich dieses tollwütige Wesen zu fassen bekäme. Immerhin ist Annabella Alwins Tochter.“
„Richtig. Sie hat uns damit übel beleidigt und die Familien der zwei anderen grauen Bärte auch. Hat der das keiner gesagt, dass sowas gefährlich werden kann?“
„Falls ja hat sie es überhört oder denen mit Strafen gedroht, die ihr das zu sagen wagen sollten“, sagte Priapus.
„Wohl wahr“, antwortete Feodora. Dann fand sie, das Thema wechseln zu müssen. „Also unsere ferne Verwandte Mildrid trägt ganz sicher wieder zwillinge. Orion lästert darüber ab, dass ihr der Ruster-Simonowsky-Zauberer nur Mädchen machen kann, was er aus der Sache mit seinem verfluchten Buch im Sonnenblumenschloss als gelungene Rache ansieht.“
„Ach, hat die große kleine Millie, deren Maman ich noch in Ursulines prallem Bauch habe strampeln sehen dürfen wieder Zwillinge in Aussicht“, erwiderte Priapus Southerland. „Aber sie hat doch den einen Jungen, den sie nicht selbst tragen konnte. Der ist doch von Julius und klar von den Latierres, weil der Rolands grüne Augen bekommen hat.“
„Pri, die zwei haben bei den Mondtöchtern in den Pyrenäen geheiratet und da ihr erstes Mal erlebt. Wenn die nicht drei Jahreund dreimal so viele Jahre wie sie Töchter haben mit Nachwuchs warten kommen dabei nur Töchter heraus“, wusste Feodora. „Den Jungen hat die hilfsbereite Béatrice wohl deshalb getragen, weil sie mit Julius und Millie ein Abkommen hat, dass er vor dem Jahre 2020 einen eigenen Sohn hat, damit seine Eauvive-Anverwandten nicht blöd dreinschauen oder aus einem mir nicht bekannten Grund.“
„Hmm, ach, diese Sonderregel, dass ein Ehepaar eine ledige Hexe unentgeltlich dafür anwerben kann, ein Kind für sie beide zu kriegen, Feo? Hmm, dann ist da aber schon eine Menge Dampf im Kessel gewesen, wenn die sich auf sowas einlassen mussten. Hmm, hat Orion da nichts von erzählt?“ fragte er.
„Der ärgert sich, dass er es nur von Vivianes Bild-Ich serviert bekommt, was sie meint, was er wissen darf oder er nur dann was mitbekommt, wenn die Familie aus Millemerveilles im Sonnenblumenschloss ist.“
„Dann kriegt die standhafte Barbara noch zwei wilde Hexenmädchen in die Familie hinein“, sagte Priapus zum Abschluss. Dann ging es um weitere Maßnahmen, bevor der neue MAKUSA zusammentreten sollte. Bis dahin wollten sich die großen zehn noch drei mal treffen, einmal im Haus von Goodwin Goldfield, dann im Haus von Jean Duchamp, falls der bis dahin keine Blutfehde mit Steedford auszufechten hatte und das letzte mal im Stammsitz der Greendales, wo sie die Präsidentenwahl mitverfolgen wollten. Ob er wollte, dass es Greendales Enkeltochter Godiva wurde oder doch Rollin Firepan wusste er noch nicht. Mit Anaximander Greendale kam er gerade auf der Ebene sich respektierender Nachbarn aus, die ihre eigenen Gärten bestellten. Der mochte seine Familie nicht, weil die sich auch mit Nichtmagiern, Afrikanischstämmigen und Hispanoamerikanern zusammentaten, während er ausschließlich die britischen Zaubererlinien als für seine Familie geeignet und erlaubt hielt. Der wusste aber auch, dass dies immer schwieriger war. Ob der kleine Chrysander, der vorher Milton geheißen hatte, noch eine reinblütige Hexe aus einer anderen reinblütig magischen und dito britischen Familie abbekam war fraglich, und das wusste der alte Platzhirsch von Greendale Cottage auch.
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Die Nachricht ging über Bilder, Eulenpost und Mentiloquismus durch alle fünfzig Staaten der USA. Alle Hexen, die befürchten mussten, Opfer jener Entführungsgruppe zu werden, von der noch niemand wisse, wer dahinterstecke, mögen sich schnellstmöglich für mehr als einen Monat in Viento del Sol einfinden. Jene, die zu den zehn großen Familien gehörten erfuhren es jedoch, wen sie dafür verantwortlich machten.
Als am Morgen des 10. Mai der als Wildwassermundwerk bekannte Morgenmoderator Roderic Krueger das Sendehaus von VDSR 1923 betrat warteten schon Stella Hammersmith, Brittany Brocklehurst und Linda Latierre Knowles auf ihn. „Ah, unser Morgenherold hat sich verspätet“, grüßte Brittany ihn. „Es ist erst halb fünf. Wieso seid ihr lustigen Ladies denn schon so früh auf den Beinen?“
„Weil wir bereits die ersten hundert sicheren Neuzugänge für die Zeit bis zur Präsidentenwahl haben“, sagte Stella Hammersmith. „Da ich nicht andauernd zwischen den öffentlichen Kaminanschlüssen herumapparieren will habe ich beschlossen, die Flüchtlinge von hier aus zu begrüßen. Wir haben an allen öffentlichen Stellen die Radioschränke hingestellt, die wir bei den letzten Heimspielen der Windriders aufgebaut haben.“
„Auch wenn es nicht viel gab, was Kelly hätte reportieren müssen“, sagte Brittany bissig. „Jedenfalls werden wir alle, die zu uns kommen und nicht gleich von der Feindeswehrmagie über VDS abgewiesen werden höflich begrüßen und ihnen sagen, wo sie bis zu einem gewissen Zeitpunkt leben können. Ach ja, viele werden auch in die zehn Stammsitze des Clubs einziehen, sofern familiär damit verbunden“, sagte Stella Hammersmith.
„Oh, dann habe ich wohl nichts zu melden heute und … öhm … für wie lange?“
„Du machst deine Morgenschau wie jeden Werktag, Roddy. Viele stellen sich extra ihre Wecker, um nichts von dir zu verpassen.“
„Ja, und ich liefere die Nachrichten für unsere Gäste aus Übersee“, sagte Linda Latierre Knowles. Außerdem habe ich nachher ein Interview mit Feo Southerland, die ich ja irgendwie mitgeheiratet habe.“
„Und das geht alles über unseren Sender?“ fragte Roddy Krueger. „Grell!“
„Sonnengrell, Roddy“, legte Brittany Brocklehurst nach.
Um Punkt sechs startete die Morgensendung von VDSR 1923 mit den Nachrichten. Roddy war nun ganz auf seine Arbeit eingestimmt.
„Morgen zusammen, ein neuer Tag grüßt mit herrlichem Morgenrot und vielen Neuigkeiten. Neuigkeit eins, wir in unserem friedlichen Kurort Viento del Sol erhalten ab heute bis auf unbestimmte Zeit eine Menge Zuwachs. Nein, liebe Freunde der Sensationen, nicht Vita Magica oder deren Ableger Mora Vingate beschert uns diesen Zuwachs. Es ist jene in den letzten Tagen und Wochen auffällig gewordene Gaunerbande, die offenbar aus sehr üblen Gründen meint, alleinstehende oder irgendwann mal auffällig gewordene Hexen einzukassieren und einzubehalten. Wir hatten es ja schon mal davon, dass sowas nicht lange gut geht. Deshalb haben die Sprecherin von VDS, die zugleich auch als zeitweilige Regionaladministratorin der Zauberergemeinschaft Kalifornien jobt und der Club der großen zehn des Westens einen Aufruf gestartet: Alle unschuldigen Hexen nach VDS, weil hier kein böser Bube und kein mörderisches Mädchen mehr reinkommt, nachdem wir Buggles‘ Käseglocke gegen unseren bewährten Feindesabwehrzauber ausgetauscht haben. Damit ergibt sich auch das einzige und durchschlagende Ausschlusskrieterium, nur wer ohne Schuld ist die komme zu uns herein. Deshalb rücke ich gleich mal vom Schallsammler weg und übergebe das Wort an unsere großartige Stella Hammersmith. Doch vorher noch ein paar andere Nachrichten aus der weiten Zaubererwelt diesseits und jenseits der zwei großen Teiche.“
In seiner schnellen, lockerflockigen, teilweise frechen Art verlas er weitere Nachrichten und ließ Lino, die als Auslandsnachrichtenhexe fest eingespannt war die Sachen aus Europa einbringen, vor allem, dass die britische Verhandlungsdelegation nach dem erfolgreichen Gespräch mit allen fünfzig Regionaladministratoren wieder auf dem Heimweg nach London sei und sich Gloria Puddyfoot, die zeitweilig laut über eine Aufenthaltsgebühr für menschenförmige Zauberwesen nachgedacht habe, doch entschieden habe, lieber nicht für einen Sitz in der Verwaltungsetage empfehle, da sie sich nicht vorstellen könne, mit einem der beiden Präsidentenkandidaten eine tragfähige Übereinkunft treffen zu können, nachdem die meisten Regionaladministratoren, bei denen Veelastämmige und immigrierte Zwergenfamilien wohnten, die Idee von einem friedlichen Miteinander in gegenseitiger Hilfsbereitschaft so gut fanden, wie sie in Frankreich und Großbritannien praktiziert werde.
Nach Lindas Auslandsnachrichten las Roddy noch einmal die Wettermeldungen für heute und morgen vor. Dann ließ er eine zwanzigsekündige Fanfare aus dem Musikfass des Senders erklingen und übergab das Wort an Stella Hammersmith. Diese begrüßte nun alle Hexen, die es bis zu dieser Stunde geschafft hatten, nach Viento del Sol zu gelangen und allein durch ihr Hiersein bewiesen, dass sie keiner feindlichen Gruppe angehörten. Sie erzählte ihnen, wo sie ihre Besorgungen machen konnten, wo die öffentliche Badeanstalt und das Musikhaus war und dass sie bis auf weiteres auf Mindestlohnbasis als Helferinnen für Gartengestaltung und handwerkliche Dinge angestellt seien, sofern es keine wohlhabenden Damen seien, die jederzeit genug Gold für notwendige Einkäufe aus Gringotts abholen konnten. Sie bedankte sich bei der Gelegenheit noch einmal bei den Kobolden, dass sie nach Ladonnas Ende zu einer friedlichen Fortsetzung der jahrzehnte überdauernden Geschäftsbeziehung zurückgefunden hatten.
Als Roddy einen beschwingten Tanz für die ganze Familie über den Sender schickte und die Schallsammler verschlossen waren meinte er: „Das mit Puddyfoots Rückzug ist doch garantiert auf Pri Southerlands und Otto Hammersmiths Mist gewachsen, weil der eine Verwandte mit Zwergenabstammung hat und der andere von deinem Neffen Q. im LI sicher gesagt bekommen hat, wie wichtig es sei, von Zauberwesen freiwillige und bereitwillige Haar- und Ausscheidungsproben zu kriegen, um seine Alchemistenküche in Schwung zu halten.“
„Ja, die auch. Aber vor allem hat der alte Greendale ihr klargemacht, dass das Verhältnis zu den Kobolden wieder in Schieflage gerät, wenn wir menschenförmige Zauberwesen unterschiedlich besteuern würden. Aber das Pacific-Moon-Projekt bleibt bestehen.“
„Ach, kommt Glo Puddyfoot nicht mit Goddy Cartridge klar, wo ihr Mann doch dieses Frauenzimmer von allen Vorgängern übernommen hat, weil ihre Eltern einen Handel mit dem Ministerium haben, dass sie da bis zum hundertsten Geburtstag ausgesorgt hat?“ fragte Roddy und sah auf den Restzeitanzeiger des Radiomusikfasses.
„Stimmt, mit dem Ministerium, nicht mit den Regionaladministratoren und auch nicht mit dem neuen MAKUSA“ spann Stella den von Roderic Krueger ausgeworfenen Faden weiter. „Aber das bleibt erst mal unter uns, weil ich da mit den anderen Admins noch mehr klären will, wer von den früheren Mitarbeitern in der Exekutivbehörde des Kongresses arbeiten darf oder wer sich mit einem anderen Beruf anfreunden soll. Ah, deine Musik ist gleich durch, Roddy.“
„Noch genau fünf Sekunden“, sagte Roddy und betätigte den lautlosen Verschluss seines Schallsammlers. Dann war das Stück zu ende. „Ja, mit solchen flotten Klängen lassen sich die schwersten Reisekoffer locker in die Zimmer schaffen. Da wird der nette Mr. Bean aber in den nächsten Tagen richtig viel Gold in die Bank reintragen. Passt das alles noch in sein Verlies rein? Vielleicht erzählt der uns das mal, falls er Lust hat“, kommentierte Roddy den Zustrom von flüchtigen Hexen. Dann fragte er Stella Hammersmith, ob sie konkrete Hinweise hätten, vor wem die vielen verfolgten Damen denn jetzt flüchten müssten.
„Netter Versuch, Mr. Morgenschau, aber ob wir von den Regioadmins wissen, wem wir das zu verdanken haben oder nicht unterliegt der Geheimhaltung, damit die Person oder Personen sich nicht noch geehrt fühlen, weil sie im Rundfunk erwähnt wurden. Nur soviel, solange diese Person oder Personengruppen nicht davon abrücken, alle Hexen pauschal für Verdächtige zu halten und widerrechtlich entführen ist es an uns, deren mögliche Opfer in Sicherheit zu bringen. Wir behalten uns jedoch vor, die betreffende Einzelperson oder Gruppierung für alle entstandenen und noch entstehenden Schäden zahlen zu lassen. Ja, auch darf ich als amtierende Regionaladministratorin von Kalifornien verkünden, dass wir, das Komitee zur Reunion der magischen Gemeinschaften der USA, mehrheitlich festgestellt haben, dass die Vorgehensweise dieser hexenfeindlichen Macht keine Empfehlung für eine spätere, amtliche Verwendung ist. Was sie da tun ist kriminell, soweit unsere klare Botschaft an diese Macht. Das Recht der Inhaftierung und Aburteilung haben derzeit die regionalen Inobskuratoren und die Vereinigung der Zwölf überregionalen Richter. Und sollten sie, die sie für die bisherigen Verschwindefälle verantwortlich sind, beschlossen haben, Ihnen unliebsame Hexen der Einfachheit halber hinzurichten ist und bleibt dies Mord, und auf Mord steht die lebenslange Inhaftierung, sofern wir die Wiederverjüngungsstrafe nicht im neuen MAKUSA in Kraft setzen. Sie sind hiermit belehrt und gewarnt, wer und wo immer Sie auch sind.“
„Na ja, Frau Regionaladministratorin, dieser Aufruf bringt es nur, wenn die in Kalifornien sitzen. In Texas interessiert das schon keinen mehr“, sagte RoddyKrueger.“Mr.Krueger, gehen Sie davon aus, dass die obskure dunkle Organissation, die für die Verschwindefälle verantwortlich ist, auch Beobachter und Einsatzhelfer im Empfangsbereich unseres Senders hat. Die werden das schon weitergeben“, erwiderte Stella Hammersmith. Linda raschelte dderweil mit Pergament. Dann sagte sie: „Wir erhalten bereits Rückmeldungen, dass die ersten zweihundert unserem Aufruf folgenden Hexen sicher in den bereitgestellten Unterkünften angekommen sind. Es sind noch genug Unterkünfte frei, und nach der Absprache mit unserem residenten Schank- und Pensionswirt Mr. Charles Beam konnen auch die ihm gemeldeten Ausweichquartiere rechtzeitig für bis zu 1200 zeitweilige Bewohnerinnen bereitgestellt werden. Außerdem sind die Zeltplätze rund um das Dorfzentrum frisch gepflügt und glatt genug, dass dort noch einmal so viele Camperinnen unterkommen können.“
„Danke Linda. Wir sind also bestmöglich vorbereitet“, fasste Stella Hammersmith die Nachricht zusammen. Dann durfte Roddy das nächste Lied abspielen. Er verzichtete auf Lieder mit eher derben Texten, weil er nicht wusste, ob nicht doch einige puritanische Hexen aus dem Norden und die eine oder andere Südstaatenkönigin im Sendebereich weilte, die daran Anstoß nehmen konnten.
„Sie müssen übrigens nicht andauernd mit Pergament rascheln, Linda. Wer weiß, dass Sie hier wohnen weiß auch, wie gut Sie hören können. Sie müssen das nicht offen hinausposaunen, aber können ruhig so tun, als hätten sie die Nachricht zugetragen bekommen. Aber für’s erste gilt wohl nur, die freien Unterkünfte zuzuteilen. Aber das machen Charlie und seine fleißigen Mitarbeiter schon ohne mich.“
Während Roderic Krueger seine übliche Morgensendung veranstaltete wiederholte Stella Hammersmith ihre Begrüßungsansprache an die vielen Flüchtenden, die nicht alleine, sondern mit ihren Familien anreisten, sofern sie schon Verschwindefälle in der eigenen Verwandtschaft mitbekommen hatten. Linda lauschte dabei immer nach draußen, ob es etwas neues gab.
„Das nächste Musikstück muss ich wohl auf ein Hundertstel Geschwindigkeit herunterbremsen, denn es ist die Einflughymne der Viento del Sol Windriders von 1967. Bei dem Originaltempo dieses Stückes kommen unsere Leute heute nicht mehr mit“, scherzte Roddy Krueger und spielte etwas ab, dass wie ein stark verzerrter Klavierton klang. „Och nöh, sehe gerade, dass die Originalzeit dreieinhalb Minuten ist. Bei einem Hundertstel Geschwindigkeit wären das ja dreihundertfünfzig Minuten, also fünf Stunden und fünfzig Minuten. Neh, solang dauert die Sendung nicht mehr. Also doch die Originalgeschwindigkeit“, trieb der Moderator den Scherz bis zum Anschlag. Der verzerrte Ton wurde zu einem Brummen, verebbte dann und wurde durch einen beschwingten Marsch abgelöst, zu dem sich ein Frauenchor gesellte, der die Vorzüge der Viento del Sol Windriders besang.
„Ui, dir fallen immer noch Witze zu unserer Rekordschleichmannschaft ein“, meinte Brittany. „Glaub’s mir, Britt, dass die in der nächsten Saison wieder normalschnell spielen, weil die sonst keine Zuschauer mehr haben“, sagte Roddy.
„Stella, Annabella ist wieder da“, empfing Stella zehn Minuten vor Sendungsschluss eine Gedankenbotschaft von ihrem Mann Fornax, der im Ratssprecherbüro saß und da alle Verbindungen zur Verfügung hatte.“Wo ist sie aufgetaucht?“ schickte Stella zurück, während Roddy Krueger gerade das ausklingende Musikstück kommentierte, das den weiten Weg westwärts besang. „Sie ist bei den Rushfords in New York aufgetaucht. Ich texte es gerade in das kleine rote Buch, dass wir von Quinn bekommen haben.“
„Gut, ich warte noch bis Roddy fertiggesendet hat“, schickte Stella Hammersmith zurück.
Linda Latierre Knowles sah sie fragend an, weil sie eine Minute lang wie geistesabwesend ausgesehen hatte. Doch Stella schüttelte behutsam den Kopf, während Roddy Krueger mit Brittany darüber flachste, ob die Herbstwindtruppe, die Seniorenmannschaft der Windriders, bei ihrem Treffen mit den Old Rokies aus Misty Mountain nur drei- oder fünfmal so schnell spielen würden wie die Profiauswahl. „Also laut meiner ehemaligen Mannschaftskollegin Venus Partridge könnten die glatt zehnmal so schnell spielen“, ging Brittany auf diese Spöttelei ein. Roddy meinte dazu: „Dann lohnt es sich, den rüstigen Rennbesenrentnern das Gehalt vor der Goldebbe zu zahlen.“
„Besser nicht, weil die das dann als Berufliche Entlohnung anmelden müssten“, erwiderte Brittany. „Oha, ja, wo Kalifornien bereits auf dem letzten Goldkörnchen läuft, was die Regionaladministration zur Verfügung hat“, setzte Krueger noch einen drauf. Stella räusperte sich und hakte ein: „Das ist aber sehr unvorsichtig, wo ich zuhören kann und als amtierende Regionaladministratorin auch die Finanzen überblicken muss.“
„Also, Stella Hammersmith bekundet, dass wir noch genug Gold haben, Leute. Also keine Panik!“ erwiderte Roddy und setzte das Musikfass in Gang, um das übliche Abschiedslied der Morgensendung zu spielen. „Ich übergebe gleich an die Kollegin Lilly Tinspoon mit ihrer Sendung „Neues nund nützliches. Die sitzt sicher schon mit ihren Gästen draußen im Mithörraum. Lilly, ich bin jetzt durch! An alle hier wohnenden und alle dazugekommenen Gäste: Dies war die muntere Morgenschau für ein beschwingtes Erwachen und morgentaufrische Nachrichten. Bis dann moooargen frühühühüh wieder euer Rrrrrroddy Krrrruegerrrr!!“
„Golden lacht der Sonnenschein
in mein Herz und Fenster rein.
Möge jeder neue Tag
so erwachen wie ich’s mag“, sang der Sänger des Schlussliedes mit seiner weit über die Grenzen der USA hinaus bekannten Tenorstimme.
„Die wohlgenährte Lilly Tinspoon betrat den Senderaum und winkte zwei anderen Hexen, hereinzukommen. Brittany erkannte eine von ihnen, Adelheid Birkenklotz, Urenkelin eines deutschen Einwanderers, der noch zur Zeit des ersten MAKUSAs eingewandert war. Stella begrüßte die beiden, weil sie erkannte, dass sie zu den Schutzsuchenden gehörte. Dann winkte sie Brittany und Linda, ihr zu folgen.
Im Gemeindehaus von Viento del Sol suchte Stella das Büro von Ratssprecher Fornax Hammersmith auf. Dieser hatte das kleine Radio an, um VDSR 1923 zu hören. „Hier, darfst du lesen und falls dir was einfällt was hinten anfügen wie üblich“, sagte Fornax. Stella nickte und nahm das kleine boordeauxrote Buch mit silbbernem Rand, dass sie und Fornax von ihrem Neffen Quinn bekommen hatten. Darin konnte jeder, der durch einen Tropfen Eigenblut bekundet hatte, zur Hammersmith-Familie zu gehören oder für diese bereits einen Nachkommen gezeugt oder geboren zu haben für alle anderen wichtige Notizen hineinschreiben. Ein mehrfacher interaktiver Proteuszauber machte es möglich, dass jedes der 36 bestehenden Bücher mit jedem anderen aus „Quinns Lesezirkel“ verbunden war.
Sie las, dass Annabella in New York aufgetaucht sei und da dem Regionaladministrator gegenüber behauptet habe, aus der Gefangenschaft von Vita Magica entkommen zu sein, weil sie ein nur den Greywaters bekanntes Familiengeheimnis ausgenutzt habe, um aus deren Zugriff zu verschwinden, bevor sie sie in eines jener bereits bekannten Auswahlkarussells stecken konnten. Allerdings lehnte Annabella den Besuch der New Yorker Heilerniederlassung ab, da sie wie erwähnt ein nur den Greywaters bekanntes Geheimnis ausnutzte, dessen Spuren die Heiler nicht nachweisen durften, falls denen nicht daran gelegen war, sie zu töten. Danach sei sie zu ihrem eigentlichen Wohnsitz zurückgekehrt und habe sich dort zurückgemeldet.
„Wenn die echt bei VM war wundert es mich nicht, dass die sich nicht untersuchen lassen will“, meinte Fornax, nachdem Stella den Eintrag gelesen hatte. „Du meinst, dass die ihr da neue Erinnerungen und womöglich doch ein unerwünschtes Kind in den Leib getrieben haben?“ fragte Stella ihren Mann. „Das zum einen. Zum anderen könnte es sein, dass sie wirklich was an oder in sich hat, womit sie denen von VM eins auswischen konnte. Aber dass die dafür drei Tage gebraucht hat ist seltsam.“
„Stimmt. Wenn VM wen für ihre höchst unzulässigen Nachwuchsförderungsmethoden ergreifen zögern die nicht lange, ihn oder sie zur sogenannten Erfüllung der Nachwuchspflicht zu treiben. Irgendwas stimmt da nicht. Am Ende haben die uns eine Spionin zurückgeschickt, die ausloten soll, wie wir gegen VM oder wen immer vorgehen. Ja, und noch was, dass ich gleich, wo ich das Buch schon mal in der Hand habe eintragen werde: Warum ist sie genau dann wieder aufgetaucht, als drei aus dem Club der zehn sie bundesweit mit großem Aufwand gesucht haben? Das sieht doch verwünscht noch mal danach aus, als hätten die unterschätzt, wie weit Annabella mit anderen Familien verbunden ist. Kann auch sein, dass jemand uns ein wandelndes Basiliskenei ins Nest gelegt hat, vielleicht Vita Magica, vielleicht auch die Spinnenschwestern oder unsere einstige Hoffnungsträgerin und jetzt wohl vom irrlichtfarbenen Wichtel des Wahnsinns gerittene Ex-Föderationssprecherin.“
„Schon sehr starker Tobak, dass Atalanta Bullhorn derartig aus der Bahn geflogen sein soll und jetzt Jagd auf angebliche dunkle Hexen macht. Ja, und warum sie Annabella einkassiert haben soll verstehe ich dann auch nicht, Stella. Aber bitte, trage ein, was du noch anmerken willst!“ sagte Fornax.
Stella Hammersmith hielt das Buch noch einmal in die Sonne. Das Buch sollte erfassen, dass es noch beachtet und gebraucht wurde. Dann schlug sie die Seite mit dem Eintrag „Verlorene Tochter Annabella unverhofft wieder aufgetaucht 09.05.2007“ auf und schrieb mit rubinroter Tinte unter den in smaragdgrüner Schrift verfassten Text:
An alle mitlesenden im Club der kleinen roten Bücher!
Ich habe gerade die Mitteilung über Annabellas unverhoffte Rückkehr gelesen und habe dazu noch einige Fragen, die, wie ich finde, dringend beantwortet werden sollten.
Wie kann es sein, dass VM drei volle Tage gewartet haben soll, um eine zur Empfängnis zu zwingenden Hexe in eines ihrer Auswahlkarussells zu stecken? Denn laut der gerade gelesenen Aussage ist sie ja erst entkommen, als man sie in ein solches einschließen wollte.
Ist es nicht sehr verwunderlich, dass sie ausgerechnet dann wieder auftauchte, als öffentlich wurde, mit welchen der zehn großen Familien sie verwandt ist. VM hat das sicher schon längst gewusst und hätte sie dann sicher schon viel früher entführt, als das mit den Auswahlkarussells noch größtenteils unbekannt war. Warum also jetzt die späte Entführung und die fastzeitgleiche Rückkehr, nachdem herumging, dass die drei mit ihr verwandten Familien alle Anstrengungen unternahmen, ihren Aufenthaltsort zu finden?
Welches Familiengeheimnis haben die Greywaters, mit dem jemand aus der Gefangenschaft von VM entkommen kann? Soweit wir alle aus den leidigen Zwischenfällen mit dieser Schattenorganisation wissen haben sie sehr umfangreiche Fluchtvereitelungsmittel. Der Urenkel von Heilerin Greensporn konnte nur durch einen massiven Translokalisationszauber von blutsverwandten Hexen aus drei Generationen befreit werden. Es steht zu befürchten, dass VM aus dieser Sache gelernt und die Ausbruchsverhinderungsmöglichkeiten verstärkt hat.
Warum lehnte Annabella die Untersuchung der Heilerzunft ab? Welcher Zauber darf den Heilern nicht offenbart werden?
Kann es nicht sogar sein, dass wir es hier mit einer Betrügerin, einer in Annabellas Gestalt wandelnden Spionin oder gar Attentäterin zu tun haben? Am Ende soll sie auskundschaften, wer denen, die Annabella entführt haben, gefährlich werden kann, um diese da selbst zu verschleppen. Also, Ladies und Gentlemen, äußerste Wachsamkeit ist dringend geboten. Hoffentlich hat uns da niemand ein Basiliskenei ins Nest gelegt. Dann sei es geboten, mindestens vier stolze Hähne in Hörweite zu haben, um das, was daraus schlüpft, bereits im ersten Augenblick unschädlich zu machen.
An Quinn Hammersmith, versucht hinzubekommen, dass die Hexe, die als Annabella Greywater aufgetaucht ist, auf ihre Identität und auf alle Formen dunkler Zauber, Verwandlungen oder Gedächtnisbeeinflussungen untersucht wird, notfalls mit Anträgen bei der Heilerzunft! Klärt bitte die Fragen, die ich gerade niedergeschrieben habe!
Stella Hammersmith
Stella wollte das Buch gerade zuklappen, als es merklich vibrierte und sich wie von unsichtbarer Feder niedergeschrieben neue Zeilen in saphirblauer Schrift über der dünnen Pergamentseite bildeten. Erst als das Buch nicht mehr vibrierte und sie las, wer da aus der Ferne einen weiteren Nachtrag zu dem ursprünglichen Eintrag verfasst hatte las sie den neuen Text.
Hallo Grandma Alva und alle anderen Mitglieder in dem von mir gegründeten Lesekreis!
Ich habe die Erlaubnis von Direktor Davidson und unserer residenten Heilerin Silverlake, euch allen mitzuteilen, dass wir vom LI die Angelegenheit nachprüfen dürfen. Heilerin Silverlake klopft bereits bei ihrer Zunftsprecherin E. Greensporn an, um eine offizielle Sonderuntersuchung zu beantragen. Die kann aber nur dann genehmigt und durchgeführt werden, wenn genug Gründe für eine allgemeine Gefährdung der Gesundheit oder von Leib und Leben unbeteiligter magischer Mitmenschen vorliegen. Diese Gründe werden geprüft. Des weiteren sollen unsere Fachleute für Infiltration und Manipulation mit dunkler Magie die unverhoffte Rückkehrerin erst aus der Ferne überprüfen und dann, wenn eine Genehmigung der Heilerzunft und der Regionaladministration vorliegt eine direkte Überprüfung durchgeführt werden. Aber wo die Regioadmins gerade die letzten Wochen ihrer Einzelstaatenmachtfülle genießen könnte es bis zur Präsidentenwahl am 4. Juli dauern, bis diese Genehmigungen vorliegen. Ich verweise auf den Fall Moody in den Jahren 1994 und 1995 in Hogwarts. Wer Annabella beobachten kann, ohne ihren Argwohn zu erregen möge darauf achten, ob sie in gleichbleibenden Zeitabständen etwas trinkt oder sich in einen Raum für sich selbst zurückzieht und nach nur wenigen Minuten wieder herauskommt. Ja, und wer mit ihr sprechen kann sollte immer auf der Hut sein, dass sie mit ihrem Zauberstab auf den oder die zielen kann. Ja, seht bitte zu, dass niemals einer oder eine alleine mit ihr zusammentrifft! Gut, für versierte Duellantinnen sind bis zu drei oder vier Gegner bei einem Überraschungsangriff zu überwältigen. Doch wer eine magische Manipulation wie mit dem Confundus-Zauber oder gar dem Imperius-Fluch beabsichtigt kann sich immer nur auf eine Person zur Zeit konzentrieren.
Wenn jemand von euch findet, unsere Eingreiftruppe müsste sofort zu Hilfe kommen möge bitte die dem kleinen roten Buch beigefügte Trillerpfeife benutzen und dreimal kurz, dreimal lang und dreimal kurz hineinblasen. Dann kann ich orten, wo der Hilferuf herkommt und die Sondereinsatzgruppe unseres Institutes losschicken. Die Genehmigung dazu habe ich von Direktor Davidson.
Also, bleibt bitte wachsam und zögert nicht, Hilfe zu rufen, wenn ihr findet, dass was ganz übles bevorsteht!
Quinn Hammersmith
Stella gab ihrem Mann das Buch. Denn eine mit dessen Weitergabe verbundene Abmachung besagte, dass die darin auftauchenden oder hineingeschriebenen Einträge nicht laut vorgelesen werden durften. Quinn hatte behauptet, dass das Buch dann in den Händen dessen zu rotem Staub zerfiel, der die Hände des Lesenden dauerhaft bordeauxrot einfärbte. Da sie alle wussten, was Quinn auf dem Kasten hatte und dass er beim LI jede Freiheit hatte, von der viele Alchemisten und Thaumaturgen nur träumten nahmen sie ihm das alle ab, dass er diese Vorkehrung eingebaut hatte.
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„Das ist aber sehr nett, dass ihr uns das noch am selben Tag erzählt und nicht erst im Familienrat besprecht, wer das überhaupt erfahren darf“, meinte Priapus Southerland zu Polydoros Hammersmith, der eine Stunde nach Verbreitung der Nachricht, dass Annabella Greywater zurückgekehrt war bei den Southerlands vorsprach. „Mom und Agnes haben mich bekniet, Ihnen vom Himmelsgipfel das gleich weiterzugeben, weil ihr ja auch mit den Greywaters verwoben seid, Mr. Southerland.“
„Das ist richtig. Offenbar sollten wir unsere Verbindungen nach New York noch einmal streicheln und füttern, dass wir solche Blitznachrichten auch blitzschnell kriegen. Immerhin haben wir Southerlands doch noch das größte und vielschichtigste Nachrichtennetzwerk der Staaten“, erwiderte Priapus Southerland nicht ohne Stolz.
„Mag sein. Doch wissen Sie dann auch, welches Familiengeheimnis die Greywaters haben?“ fragte Polydoros Hammersmith, der sich in der Rolle des Botens nicht sonderlich gefiel.
„Wenn die Greywaters sowas haben werden die es uns Southerlands und euch Hammersmiths nicht aufs Brot schmieren. Schließlich habt ihr ja auch eure und wir unsere Geheimnisse“, antwortete Priapus Southerland. „Aber mich wundert das, dass VM drei Tage wartet, bis die wen in eines ihrer verdammenswürdigen Auswahlkarussells stecken. Ja, und falls VM nichts damit zu tun hatte sollte Annabella verdammt gut aufpassen, dass VM sie nicht heimsucht, weil da jemand eine falsche Spur gelegt hat.“
„Stimmt, sie hätte das besser nicht behauptet, dass sie denen entkommen ist. Aber sie hat es ja nur uns und den noch lebenden Greywaters erzählt, was passiert ist. Da die Greywaters wohl keinen Einspruch erhoben haben muss das mit dem Familiengeheimnis stimmen“, meinte Polydoros.
„Muss es nicht, Polydoros. jetzt wundert mich echt, dass dein Sohn ein solcher Tausendsasser beim LI geworden ist. Na ja, wird an seiner Mutter liegen“, erwiderte Southerland ungeachtet dessen, dass er den Besucher gerade der Dummheit bezichtigte. „Ja, und bevor du mich zum Duell fordern magst, weil ich deine Intelligenz beleidigt haben soll, junger Mr. Hammersmith, so weise ich nur darauf hin, dass viele Spione und Spioninnen aus der magischen Welt jene, die sie auskundschaften oder über die sie mit anderen in Kontakt treten wollen mit Gedächtniszaubern oder anderen den Geist beeinflussenden Zaubern belegen können, sobald sie mit dem oder der alleine im Raum sind. Unsere Obleviatoren machen ja tagtäglich nichts anderes mit den Magielosen. Wenn die Greywaters eingehämmert kriegen, dass sie ein Familiengeheimnis haben, dass Annabella zur Flucht verholfen hat kann sie denen auch eintrichtern, dass sie nicht die Kenntnisberechtigten sind, aus welchem Grund auch immer.“
„Das mit der Manipulation hat Quinn auch angeführt“, grummelte Polydoros und nickte. „Ich ziehe also meine Bemerkung von eben zurück.“
„Und was hat er noch erwähnt?“ fragte Priapus Southerland. „Aufzupassen“, war Hammersmiths lakonische Antwort. „Joh! Dem kann ich mich da nur anschließen“, erwiderte der Patriarch der Southerlands.Polydoros wollte sich gerade verabschieden, als Priapus‘ Schwester Feodora ohne anzuklopfen in das Herrenzimmer von Haus Himmelsgipfel hereinstürmte und den beiden eine unaubschiebare Mitteilung machte.
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Pia Goldfield hörte über die Verbindungen zur Heilerzunft, dass die seit Tagen verschollene Annabella Greywater wieder aufgetaucht war. Sie erfuhr auch, dass sie sich jeder heilmagischen Untersuchung verweigerte und es darauf bezog, dass bei Enthüllung eines ihrer Familiengeheimnisse ihr Körper leiden oder gar sterben würde. Da Heiler nicht bewusst die Gefahr eingehen durften, jemanden durch eine Untersuchung zu töten konnten sie erst einmal nichts machen, solange keine begründete Annahme einer Gefahr für die magische Allgemeinheit vorlag.
Als Jacqueline Corbeau bei ihr vorsprach, die gar nicht in dem ihr zugeteilten Revier wohnte kam die Nichte von Agnes und Polydoros Hammersmith gleich auf den Punkt. „Ich habe mich mit Teresa Hammersmith verabredet, Annabella Greywater zu interviewen. Leroy Greywater will uns begleiten, um zu erfahren, was mit seiner Enkeltochter passiert ist. Da Ihre Familie mit ihr verwandt ist schlagen wir vor, dass Sie uns als niedergelassene Heilerin begleiten, um zunächst inoffizielle Untersuchungen anzustellen“, sagte Jacqueline Corbeau.
„Inoffiziell heißt illegal“, meinte Pia Goldfield. „Abgesehen davon dass eine Untersuchung wahrhaftig den Tod der Patientin herbeiführen kann und mich das nicht nur die Approbation kosten kann sehe ich keinen Grund, dass Sie drei diese Befragung nicht auch ohne einen Heiler durchführen können, ja sogar mehr erfahren, wenn Annabella nicht davon ausgeht, unter heilmagischer Überwachung zu stehen.“
„Interessant, das Argument brachte auch Teresa Hammersmith. Doch die verwies auf eine der Heilerdirektiven, die besagt, dass Heilmagier, die erfahren, dass eine strafbare Handlung verübt wurde oder unmittelbar bevorsteht darüber Meldung machen müssen. Eine magische Beeinflussung oder Vortäuschung einer Identität ist doch eine strafbare Handlung, oder?“
„Moment, wie kommen Sie darauf?“ fragte Pia Goldfield. Jacqueline erwähnte, dass Annabella durchaus nicht die sein mochte, als die sie sich ausgab, auch wenn sie bereits mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter gesprochen habe und die sie alle als ihre Verwandte erkannt hatten. Pia Goldfield fragte deshalb, warum Annabellas Großvater und sie nicht überzeugt waren. „Weil es mehrere Ungereimtheiten gibt. Annabella hat eine halbe Minute vor ihrem Verschwinden was von fremden Leuten erzählt, die einen Arrestdom aufbauen wollten. Als Mrs. Greywater sie danach befragt hat meinte sie nur, dass sie da schon längst in der Gewalt von Vita Magica gewesen sein soll.“
„Wenn sie wirklich von denen entführt wurde“, erwiderte Pia Goldfield, die daran dachte, dass sie eine Menge ungewollter Kinder auf die Welt geholt hatte, die auf das Konto dieser ungesetzlichen Gruppierung gingen.
„Es gibt Heilermethoden, die nicht unmittelbar zum Tod führen und trotzdem Aufschluss über die Identität und Absichten einer Person erbringen“, murmelte Pia Goldfield. „Hmm, ich müsste das vor Zunftsprecherin Greensporn geheimhalten oder sie als Mitwisserin in die Sache verwickeln. Das wird ihr nicht gefallen. Aber gut, wenn VM wirklich mit dieser Sache zu tun hat sollten wir das wissen“, sagte sie entschlossen.
Nur fünf Minuten später trafen Leroy Greywater, die Zauberwesenexpertin Teresa Hammersmith, Jacqueline Corbeau und die alle um um mindestens einen Kopf überragende Heilerin Pia Goldfield vor Annabellas Haus ein. Leroy übernahm es, zu läuten und sie alle anzukündigen.
„Was will Pia Goldfield hier? Ich habe bereits eidesstattlich bekundet, dass ich keiner Untersuchung zustimme, die darüber Aufschluss gibt, was mir passiert ist“, hörten sie Annabellas Stimme aus dem neben der Tür angebrachten goldenen Katzenkopf, einer magischen Version elektrischer Gegensprechanlagen. „Mädchen, wir haben uns zusammengesetzt, weil wir alle, mit denen du Verwandt bist, sicherstellen müssen, dass keiner mit dir irgendwas angestellt hat, was denen, von denen du geflüchtet bist in die Hände spielt. Sie wird dich nicht heilmagisch untersuchen, wenn du das nicht willst, wenngleich ich nicht weiß, was du an dir haben sollst, was dich umbringt. Sie soll nur dokumentieren, dass es dir gut gehtund dass keine weiteren Untersuchungen nötig sind. Das willst du doch so, oder?“
„Dann kommt rein! Ich habe aber nur eine halbe Stunde. Mein Boss will haben, dass ich mich wegen der Fehlzeit bei ihm rechtfertige.“
„Hmm, und der besteht auf keine heilmagische Beurkundung, dass du aus gesundheitlichen Gründen dem Arbeitsplatz ferngeblieben bist?“ fragte Leroy Greywater.
„Wenn ich dem erzähle, was mir passiert ist wird er mir das glauben. Insofern schon eine gute Generalprobe“, sagte die Stimme aus dem goldenen Katzenkopf. Dann rasselten fünf Türriegel. Die Tür schwang von alleine auf. Die vier Besucher wurden nun namentlich aufgefordert, aus freiem Willen und ohne Arg über die Türschwelle zu treten und hereinzukommen. Pia musste an nichtmagische Schauergeschichten denken, wo sowas einem Vampir gesagt werden musste, damit er ein Haus betreten konnte. Einer der vielen gefährlichen Irrtümer, wie sie wusste.
Annabellas kleines Haus bot alles, was einer alleinstehenden Hexe so zum Leben gefiel. Farbige Tapeten an den Wänden zeigten verschiedene Naturlandschaften, darunter den berühmten Geysir Old Faithful im Yellowstone-Nationalpark und die Niagarafälle, deren Rauschen jeder hörte, der im Abstand von unter einem Meter an dem Abschnitt vorbeiging.
Annabella erwartete sie im Wohnzimmer. Helles Tageslicht fiel durch drei Rundbogenfenster herein. Unvermittelt erklang ein leicht schwirrendes Summen von Teresa Hammersmith her. Die Hexe, die eindeutig wie Annabella Greywater aussah blickte verdutzt auf die Besucherin.
„Och, mein Terminmelder“, meinte Teresa Hammersmith scheinbar ganz ruhig. „Eigentlich wollte ich bei meiner Stammkosmetikerin sein. Gut, die kann es verkraften, wenn ich eine halbe Stunde später bei ihr bin“, sagte sie.
„Dann stell bitte ab, was da schwirrt!“ forderte die Hexe im grünen Hausumhang. „Das geschwirre mmacht mich nervös.“
„Kind, du hast deiner Gran gesagt, die hätten dich in eines dieser Karussells reinstecken wollen und du hättest dich nur mit einem unserer Familiengeheimnisse retten können“, sagte Leroy Greywater. „War es das von Horatio Greywater aus dem Jahre 1735?“ fragte er nach.
„Nein, das war das, worüber Urgroßmutter Lavinia mich aufgeklärt und eingeweiht hat, nachdem sie wusste, dass ich die dafür nötigen Voraussetzungen habe. Es ist nur ein Hexengeheimnis, Grandpa Leroy.“
„Soso, nur ein Hexengeheimnis“, sagte Leroy, während Teresa Hammersmith ihre Handtasche öffnete. Das Schwirren wurde lauter. Dann griff sie hinein und zog ein wild um sich kreiselndes, wild blinkendes Ding hervor, ein Taschenspickoskop. Pia Goldfield fühlte im selben Moment, wie ihr Frühwarner erzitterte, den sie seit den vielen Vorfällen der letzten Jahre neben ihrem Heilerarmband trug. Annabella Greywater blickte auf das kreiselnde, schwirrende Objekt und erkannte, dass dieses gerade verriet, dass hier was verheimlicht wurde. Unvermittelt stampfte sie mit ihrem linken Fuß auf. Es ploppte laut, und eine haselnussgroße Silberkugel erschien in der Luft. Noch ehe die vier Besucher darauf reagieren konnten zersprang diese mit scharfem Knall und setzte eine gelbliche Dunstwolke frei. Fast gleichzeitig ploppte es bei Teresa Hammersmith und Pia Goldfield. Als die gelbe Wolke sich blitzartig im Raum ausbreitete umschlossen die von außen her leicht bläulichen Sphären des Kopfblasenzaubers die Köpfe der zwei Besucherinnen. Jacqueline und Leroy erstarrten und sanken langsam zu Boden. Doch Teresa und Pia blieben stehen. Das merkte Annabella sofort und hielt blitzartig ihren Zauberstab in der Hand.
„Sensofugato!“ rief sie. Doch während sie das rief umstrahlte Teresa eine silberne Schildaura, und Pia fühlte, wie sich ihr hellblauer Umhang enger um sie zusammenzog und sah wie durch einen violetten Schleier auf eine aus sich heraus hellrot leuchtende Gestalt. Sie hörte einen mittelstarken Knall und sah für eine Sekunde alle Möbel violett leuchten.
„Stupor!“ rief Teresa Hammersmith. Doch ihr Zauber verfehlte Annabella um zwanzig Zentimeter und schlug ein qualmendes Loch in die Wand hinter ihr. Die Hexe auf dem Sessel zielte so, dass sie Pia und Teresa zugleich mit einem breitfächernden Zauber treffen konnte. Pia vermutete den Mondlichthammer und dachte „Mondschutz!“ In dem Moment, wo ein silberweißer Lichtfächer auf sie und Teresa zuraste ploppte eine nachtschwarze Kugel halb so groß wie Pias Körper zwischen sie und Annabella. Die Kugel schluckte den Pia geltenden Anteil des flächendeckenden Umstoß- und Betäubungszaubers. Teresas silberne Aura formte eine vollständige Sphäre um sie und machte, dass der ihr geltende Anteil des Zauberfluches sie gegen die Wand warf, aber sie wie ein kräftig aufgepumpter Quod davon abprallte und auf Annabella zuraste. Diese begriff, dass sie die zwei Hexen nicht so leicht niederkämpfen konnte. Wieder zielte Teresa auf sie und wollte ihr einen Erstarrungsbann auferlegen. Doch offenbar vermochte Annabella auch diesem Zauber auszuweichen. Da hatte Pia aus ihrer Außentasche einen Gegenstand gezogen, der wie ein Tennisball mit weichem Bezug aussah und schleuderte ihn auf Annabella zu. Diese zielte darauf und wollte ihn mit einem Dismittozauber zurücktreiben. Doch der kugelförmige Gegenstand flog weiter. Er schien das Ziel genauso zu verfehlen wie Teresas Zauber. Doch dann barst er zu einem blütenweißen Dunst auseinander, der sich um ein unsichtbares Ziel ballte und zu einem kokonartigen Gewebe verdichtete. Annabellas Erscheinung waberte, flackerte und erlosch, um unverzüglich dort wieder aufzutauchen, wo Pias besonderes Wurfgeschoss sein Ziel getroffen hatte. Jetzt konnten sie sehen, dass Annabella in jenen weißen Kokon eingesponnen war und sich nicht mehr regen konnte.
„Holla, nette Spielsachen bekommt ihr von der Heilerzunft“, meinte Teresa. „Wusste nicht, dass ihr auch Gasvorgreifer bekommt“, fügte sie noch hinzu.
„Neue Abmachung zwischen LI und Heilerzunft, dass alle Schutzgegenstände auch den in den USA residenten Heilerinnen und Heilern zur Verfügung gestellt werden“, erwiderte Pia Goldfield. Durch die ihren Kopf umschließenden Kopfblasen klangen die Stimmen dumpf wie hinter dicken Wänden.
Pia fühlte, wie ihr Frühwarner noch schneller vibrierte. Die Gefahr war noch nicht vorbei. Daher griff sie schnell in die Tasche, aus der sie gerade den Einspinnball oder auch Arachnoglobulus hervorgeholt hatte und warf einen kleinen goldenen Gegenstand in Form eines spitzen Kegels in die Luft. Der goldene Kegel überschlug sich mehrmals und landete dann mit der breiten Seite nach unten. Die Luft erbebte, und gerade noch meinte Pia, zwei aus schwarzen Schlieren starrende Geistergesichter zu sehen, die dann aber wieder verschwanden. Jetzt hörte der Frühwarner zu vibrieren auf.
„Ja, werte Dame, damit konnten Sie und ihre Mitverschwörer wohl nicht rechnen“, sagte Pia Goldfield. Die Eingesponnene versuchte, sich zu bewegen. Doch der sie umschließende Kokon zog sich noch enger. Da er sie auch knebelte und ihre arme fesselte konnte sie ihren Zauberstab nicht benutzen. Sie konnte noch mentiloquieren. Doch Pias Goldkegel war ein zeitweiliger Apparierwall, der das Disapparieren am Einsatzort und das Apparieren im Umkreis von zwei Kilometern unterband, solange die auf ihn abgestimmte Person ihn nicht vom Boden aufhob und für mehr als eine Minute in einem lichtdichten Gefäß barg.
„Was macht das gelbe Gas?“ wollte Teresa wissen, die sich nun auf die zwei scheinbar bewusstlosen Begleiter besann. Pia Goldfield öffnete statt einer Antwort ihre mitgebrachte Heilertasche und nahm ein kleines, spiralförmiges Gerät aus Glas und Metall heraus. Sie drückte mehrmals einen daran befestigten Blasebalg. Dann las sie an den sich verfärbenden Spiralwindungen etwas ab. „Oha, Vapor Victoris voluntatis Stufe drei, auch 3V3 genannt, die Krönung der Fügsamkeitsmixturen. Die wollte uns damit ihren Willen aufzwingen, wobei wir nach dem Aufwachen nur das geglaubt und erinnert hätten, das sie uns mit Worten zu denken und erinnern eingeredet hätte. Ja, und wir hätten dann auf ein mitbefohlenes Auslösewort hin jeden Auftrag für sie ausführen müssen, wobei anders als bei Imperius das Bewusstsein völlig ausgeschaltet wird.“
„Schweinerei“, knurrte Teresa. „Sie ist dagegen immun, nehme ich an?“
„Gegen dieses Gebräu gibt es ein wirksames Immunitätselixier, dessen Bestandteile jedoch nicht in jeder Apotheke zu bekommen sind. Die dürfen nur zertifizierte Heiler oder Inobskuratoren an den zertifizierten Verkaufsstellen erwerben und müssen das auch belegen, wofür sie die Zutaten brauchen, nicht wahr, Ms. womöglich-nicht-Greywater?“
„Vorsicht! Wenn sie mit einem Verratsunterdrückungsfluch belegt wurde könnte sie sterben“, wisperte eine Stimme in Pias Geist. Das war ihre Zwillingsschwester Eulalia, mit der sie kurz vor ihrer Reise hierhin vereinbart hatte, dass sie in geistiger Verbindung blieben. Da sie beide Zwillingsschwestern waren ging das besonders gut.
Pia belegte die eingesponnene Hexe mit einem Schlafzauber. Dann führte sie viermal hintereinander den Luftaustauschzauber aus, um auch wirklich alle Spuren des tückischen Unterwerfungsgases zu beseitigen. In dem Moment, wo kein Hauch mehr davon im Zimmer schwebte erwachten die beiden davon betroffenen wie aus einem tiefen Schlaf. Da sie während der Exposition, wie Pia es nannte, keinen an sie gerichteten Befehl oder eine Suggestive Beschreibung vernommen hatten waren sie eben nur ohnmächtig gewesen. Als sie erfuhren, was Annabella angestellt hatte und dass sie wohl nicht Annabella war erblasste Leroy Greywater. Jacqueline Corbeau verzog ihr Gesicht und ballte ihre Fäuste gegen die gerade tief schlafende. „Dann hat sie das Ding mit dem Gas wohl auch schon bei ihren letzten Besuchern durchgezogen.“
Pia wollte gerade was dazu sagen, als ihr Frühwarner wieder zu vibrieren begann und diesmal sehr heftig erbebte. Sie sah auf die Gefesselte und sah, dass auch sie erbebte. „Raus hier!“ rief sie allen zu. Die drei, die mit ihr gekommen waren sprangen unverzüglich durch die Tür hinaus. Ein immer lauteres Brummen erklang aus dem Zimmer. Dann knallte es dumpf, und ein unheilverheißendes Tosen verriet, dass in dem Zimmer gerade eine vernichtende Kraft wütete. Orangerote Flammen schossen aus dem Salon hervor und reichten fast bis zu den so schnell wie sie konnten durch den Flur eilenden. Dann zogen sich die Flammen ebenso schlagartig wieder zurück. Jetzt konnten sie ein einfach loderndes Feuer im Salon erkennen. Das Zimmer brannte lichterloh.
„Das war der Verratsunterdrückungszauber“, bemerkte Pia Goldfield dazu. „Wenn mein Frühwarner nicht darauf reagiert hätte hätte die uns alle mit in den Tod gerissen.“
„Aber das war doch nicht meine kleine Annie?“ fragte Leroy Greywater jetzt sehr erschüttert. Teresa und Pia schüttelten die Köpfe. „Wir sollten das glauben, dass sie das war, Mr. Greywater. Sie wollte uns das glauben machen und vielleicht mit einem Auftrag für diejenigen belegen, die sie zu uns geschickt haben. Entweder war es eine verwandelte Helferin jener Leute, die für die Verschwindefälle verantwortlich sind, oder es war ein lebendiges Ebenbild Annabellas, hervorbeschworen aus Haar- und Blutproben von ihr, ein Simulacrum.“
„Wer macht sowas?“ fragte Greywater nun eher wütend als erschüttert. Jacqueline Corbeau zählte drei in Frage kommende Organisationen auf: „Vita Magica, die Spinnenschwestern oder eben die Jäger angeblich dunkler Hexen und ihrer Verwandtschaft.“
„Wenn das die Spinnenschwestern waren werden wir die alle nacheinander an den Eichen von Greywater Forest aufkmüpfen“, knurrte er.
„Und Sie sind sich ganz sicher, dass es nicht die echte Annabella war, die zu diesem Selbstmordauftrag gezwungen wurde?“ fragte Teresa Hammersmith.
„Dann hätte sie dieses 3v3-Gas nicht freisetzen müssen, sondern uns weiterhin das den Fängen seiner Peiniger entronnene Opfer vorspielen können, womöglich durch Divitiae-Mentis-Zauber auf allen verräterischen Erinnerungen oder durch Fidelius-Zauber am Geheimnisverrat gehindert.“
„Offiziell sind wir also jetzt tot?“ fragte Jacquie Corbeau. „Das könnte denen so passen, junge Dame“, knurrte Leroy Greywater. Pia schüttelte ebenfalls den Kopf. „Tot sind wir nicht. Aber wenn wir das öffentlich machen lösen wir genau die Panik und das Misstrauen aus, dass wer immer sähen will. Wir bleibt weiterhin verschwunden. Was hier abging war der Versuch jener, die sie entführt haben, mehr über sie herauszufinden und dabei einen Selbstvernichtungsbrandsatz ausgelöst …“ Plopp! Wieder reagierte der Gasvorgreifer von Pia Goldfield und Teresa Hammersmith. „Oha, Rauchgasentwicklung gefährlich!“ meinte Pia und trieb die nicht von jener praktischen Schutzvorrichtung abgesicherten Begleiter nach draußen, während aus dem Salon immer dichterer Rauch wölkte und das Feuer sich ungehemmt darin austobte.
Als Pia wenige Minuten später mit ihrer Zwillingsschwester Eulalia bei Zunftsprecherin Greensporn vorsprach und ihr berichtete, was geschehen war sagte diese sehr verärgert: „Mädchen, geht davon aus, dass Annabella nicht mehr lebt. Die wollten, dass es entweder zu Chaos innerhalb ihrer Familie kommt oder dass es lautstark in die Öffentlichkeit posaunt wird, dass sie von feindlichen Kräften in diesem Vernichtungsfeuer umkam, vielleicht auch, dass bis dahin unbescholtene Mitbürger dieses Mordanschlages beschuldigt würden. Wie menschenverachtend muss jemand sein, der oder die sich sowas ausdenkt?“
„Wenn das die Spinnenschwestern waren ist doch sicher, dass die so weit gehen“, sagte Eulalia Goldfield. Eileithyia Greensporn wiegte ihren mit silbernem Haar geschmückten Kopf und erwiderte: „Möglich ist es. Aber im Moment gehe ich davon aus, dass jemand anderes uns genau das denken machen will um zu vertuschen, was wirklich mit Annabella Greywater geschehen ist. Hmm, womöglich ist sie nicht tot, aber muss als jeder Erinnerung beraubter Säugling in einer Familie von Vita Magica neu aufwachsen, um ihr dreifach veredeltes Blut zu vermehren, sofern sie nicht in einem dieser verfemten Fortpflanzungskarussells gelandet ist und nun solange gefangengehalten wird, bis das ihr aufgezwungene Kind geboren ist. Aber ich gehe im Moment von diesen angeblichen Jägern dunkler Hexen aus, dass die sie entführt und verhört haben und nur wegen unserer Entschlossenheit reagiert haben. Vielleicht sollte das auch eine Warnung sein, uns nicht weiter in deren Pläne einzumischen. Aber, Mädchen, da sind die bei mir und sicher auch bei euren Verwandten voll und ganz auf dem Holzweg.“ Die beiden an die zwei Meter großen Zwillingsschwestern nickten ihrer obersten Dienstherrin zustimmend zu.
Es wurde völliges Stillschweigen über die angebliche Rückkehr Annabellas gelegt. Die von Eileithyia Greensporn verordnete Untersuchung jener, die die angebliche Annabella Greywater seit ihrer Rückkehr gesprochen hatten ergab, dass sie wohl den Auftrag hatten, bei einer Familienzusammenkunft auf bestimmte Worte hin Todesflüche um sich zu schleudern. Diese durch das 3v3-Gas in das Unterbewusstsein gepflanzte Anweisung musste mit sehr großer Sorgfalt aus den Gedächtnissen der Patienten entfernt werden. Die vier betroffenen Familien stimmten Eileithyia Greensporns dringendem Ratschlag zu, nichts über Annabellas angebliche Rückkehr in Umlauf zu bringen. Sie sollte weiterhin verschollen sein. Sie mussten jedoch darauf achten, sie nicht gleich für tot zu halten. Denn wenn sie noch lebte mochte sie für ihre Entführer in dem Moment wertlos werden, wenn sie sowieso für tot gehalten wurde.
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PSP-Alpha erhielt die Mitteilung über die Auslösung des Finalfeuerzaubers und dass daraufhin Annabellas Haus niederbrannte. Als sie erfuhr, dass jene vier, die vor der Feuerexplosion zu Annabellas Haus gekommen waren und eigentlich dem 3V3-Gas unterworfen werden sollten nicht mitverbrannt waren rief sie ihre Mitstreiterin Verena Peppermill in ihr Büro.
„Sie werden das nicht in die weite Welt hinauströten. Genau das mag für unsere Sache noch gefährlicher werden als die großangelegte Suche nach ihr. Die vier haben einen Locorefusus-Zauber ausgelöst, der unsere Hilfstruppe zurückgeworfen und besinnungslos gemacht hat. Bevor wir erfuhren, dass die Entsatztruppe versagte kam bereits die Meldung über das Finalfeuer. Die vier waren auf eine Gasattacke vorbereitet und haben sich offenbar erfolgreich der anderen Zauber erwehrt und sogar ein Mittel gegen den Dislocimaginus-Zauber besessen, um das Simulacrum handlungsunfähig zu machen. Ab da lief die Zeit zur Selbstvernichtung.“
„Das heißt, diesen Zug können wir nicht mehr machen?“ fragte Verena Peppermill, die dem Simulacrum alle nötigen Informationen aus Annabellas Gedächtnis eingeflößt hatte. „Nein, dieser Zug ist nun unwiederholbar. Wir können nicht einfach wen zurückkehren lassen. Aber damit haben die auch das Urteil über alle gesprochen, die wir für unschuldig befinden. Denn die können wir dann auch nicht zurücksenden, bis wir vor dem neuen MAKUSA die rückwirkende Legitimation erhalten, gegen Ladonnas Gesinnungsschwestern und die anderen dunklen Orden vorzugehen“, sagte PSP-Alpha. Verena Peppermill nickte unterwürfig. „Aber dann darf nicht herauskommen, dass Annabella Greywater schon tot ist. Wenn wir mit ihrem Tod in Verbindung gebracht werden halten die uns für Mörderinnen. Ja, und de jure sind wir das ja auch, solange wir keine Legitimation besitzen, verdächtige Individuen so zu verhören, wie wir es getan haben und dabei Kollateralschäden einkalkulieren müssen.“
„Ja, Captain Peppermill. Das steht zu befürchten. Daher werden Sie, wenn wir uns aus der bisher so wichtigen Deckung hervorwagen, Annabellas Ebenbild darstellen, kein Simulacrum, dass durch einfache Prüfzauber entlarvt wird, sondern eine vollständige und dauerhafte Ausgabe von Annabella Greywater.“
„Moment, das geht aber nur mit genug Vielsaft-Trank. Wir haben aber nur noch für vier Dosen davon Haarproben“, wandte Verena Peppermill ein.
„Wir benötigen Haarproben von Greywaters Eltern“, sagte PSP-Alpha. Verena erblasste. Denn diese Aussage bedeutete für sie, dass sie ihr bisheriges Leben aufzugeben hatte und dann nur noch als Annabella Greywater weiterleben sollte. Da fiel ihr der Spruch ein, den ihre eigene Mutter mal geäußert hatte: „Böse Taten sind wie Blattläuse. Sie entstehen dort, wo kein moralischer Schutz besteht und gebären ständig neue Untaten aus sich heraus.“ Verena erkannte, dass ihre Anführerin bereits auf einem Weg war, der immer schneller und tiefer in einen unentrinnbaren Abgrund führte und dass sie sich im Augenblick nicht von ihr freimachen konnte, um diesem Abgrund doch noch zu entrinnen. Keine und keiner hier konnte das, weil die Anführerin sie alle darauf eingeschworen hatte, bis zum Sieg oder bis zum Tod gegen die Feinde zu kämpfen und sich durch keinen Rückschlag vom Weg abbringen zu lassen.
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Für seine 160 Jahre wirkte der alte Alan Greengrass noch sehr kräftig. Nur das schneeweiße Haar, dass in einen kecken Backenbart überging, und die tief in das hellbraune Gesicht eingegrabenen Falten verrieten das hohe Alter des britischen Zauberers, der als heimlicher Schatzmeister des dunklen Lords gearbeitet hatte und es bis heute geschafft hatte, den andauernden Nachstellungen der wie die Phönixe aus der Asche entstiegenen Auroren Shacklebolts zu entgehen. Doch langsam wurde dem betagten Familienpatriarchen der einstigen Nobelfamilie Greengrass der Boden etwas zu heiß. Die Kobolde hatten einen Pakt mit Shacklebolts Leuten geschlossen, sogenannte Geisterkonten in Gringotts aufzudecken und die in den dazu gehörenden Verliesen lagernden Wertanlagen weiterzugeben. Zu diesen Geisterkonten gehörten auch drei Verliese von Alan Greengrass, die zwar nicht unter seinem Namen liefen, aber einen Großteil seiner eigenen Goldrücklagen bildeten. Gingen die verloren, drohte ihm nicht nur der Bankrott, sondern auch die wie das über ihm schwebende Damoklesschwert der Verhaftung und Verhandlung wegen seiner Umtriebe mit den Todessern. Auch musste er befürchten, dass der einst so überhebliche Kronprinz von Abraxas Malfoy oder dessen Söhnchen Draco einknicken und ihn an die Finanzabteilung und damit auch an Blutschänder Weasleys Vergeltungstruppen verraten mochten.
Es war Alan Greengrass schon schwergefallen, zuzulassen, dass Draco Malfoy seine Enkeltochter Astoria geheiratet hatte, weil die unbedingt einen Nachfahren einer aus mehreren reinblütigen Familien bestehenden Verbindung suchte, der noch dazu sowohl Hogwarts als auch Durmstrang besucht hatte und somit auch slawische Zauberstücke erlernt hatte. Das Problem war nur, dass dieses Jüngelchen wegen eines Gerichtsurteils wegen Mittäterschaft bei den Aktionen des dunklen Lords an die zwanzig Jahre lang keinen öffentlichen Beruf ergreifen durfte und somit nicht viel eigenes Gold zusammenbekommen konnte. Ja, und dann hatten Astoria und er nach mehreren Jahren Zweckehe doch noch gemeint, ihrer beiden Blutlinien zu verlängern und einen Sohn namens Scorpius in die Welt gesetzt, der womöglich wegen Dracos Erfahrungen mit dem dunklen Lord dazu erzogen werden sollte, keinem auf reinblütige Vorherrschaft ausgehenden Zauberer mehr zu trauen. Sicher, für Alan war es auch ein mittelschwerer Schock gewesen, als er erfahren hatte, dass der dunkle Lord der Sohn eines mittelmäßigen Muggels war. Doch das ihm eingebrannte dunkle Mal hatte ihn daran gehindert, dem Halbblut den Rücken zu kehren. Außerdem hätte er da schon alles verloren, was er sein ganzes langes Leben lang zusammengerafft und von seinem Vater Alfred geerbt hatte. Denn es war damals fraglich, ob der dunkle Lord ihn gnädigerweise einfach so umgebracht oder als mahnendes Exempel einer lebenslangen Folterhaft unterworfen hätte, sowie es dessen Vorbild Grindelwald getan hatte, mit dem Alan ja damals auch eine Zeit lang marschiert war.
Um seine gewaltigen Goldreserven von mehr als zwei Millionen Galleonen noch rechtzeitig aus den Geisterverliesen herauszuholen war wichtig, wo er diese hinschaffen konnte. Da war dem alten Alan eingefallen, seinen Vetter sechsten Grades im fernen Texas seine Aufwartung zu machen. In Texas und den angrenzenden Staaten gab es noch genug tiefe Berghöhlen, die mit entsprechenden Schutzzaubern gegen unbefugten Zutritt abgesichert werden konnten. Außerdem konnte er seinem fernen Verwandten anbieten, ihm Astoria und den gestutzten Kronprinzen der Malfoys herüberzuschicken. Denn das Berufsverbot galt ja nur für den Raum Großbritannien und die britisch verbundenen Inseln im Kanal und zwischen Europa und Amerika.
Es war am 11. Mai, als sich der alte Alan Greengrass und sein Vetter sechsten Grades Tucker Greengrass auf einem Plateau des Davis-Gebirges traf. Es war später Abend und die Luft war bereits entsprechend heruntergekühlt. Daher trugen die beiden knöchellange, dunkle gefütterte Fellumhänge und statt der üblichen spitzen Hüte Bärenfellmützen mit Ohrenschützern, die jedoch so bezaubert waren, dass Schall ungehindert hindurchdringen konnte wie durch reine Luft. Daher brauchten die zwei heimlich zusammentreffenden Verwandten nicht laut zu reden.
„Du hast dich gut gehalten, Cousin Alan“, grüßte Tucker Greengrass den Besucher aus der alten Welt. „ich halte mich seit über hundertfünfzig Jahren mit Kraftsport und Fechten in Form und trete immer wieder in Wettbewerbe mit den alten Whiskypanschern aus Schottland, Baumstammwerfen und Steinstoßen, du verstehst, Cousin Tucker. Und wie hältst du deinen Körper in Form?“
„Ich habe eigene Wälder, wo ich ab und an alte Bäume umhauen und neue einpflanzen muss und das ohne Zauberkraft. Außerdem trete ich mit meinen Mitbrüdern immer wieder zu Wildpferdfangtournieren und Stierbändigungen an. Aber ich denke, meine Leibesertüchtigung interessiert dich nur mäßig.“
„Nun, immerhin hast du meinen Körper bewundert und gefragt, wie ich ihn in Form halte“, erinnerte Alan seinen entfernten Verwandten an dessen Begrüßung. Dann sagte er: „Dir ist sicher zu Ohren gekommen, dass dieser Schlammblut- und Blutschänderfreund Kingsley Shacklebolt einen neuen Handel mit den Kobolden gemacht hat. Angeblich ist deren Geheimpolizei von dieser dreifachhybridin aus Italien aufgemischt und größtenteils ausgelöscht worden. Deshalb meinen die Gringotts-Bierbäuche, jetzt auf gute, brave Kobolde machen zu müssen. Die wollen meine verdeckten Verliese aufmachen und diesem afrikanischen Importbriten und seinem Stiefellecker Pots zeigen, was da so drin ist. Dir ist klar, dass ich da nicht so einfach aufspringen und rufen kann, dass diese Verliese meiner Familie gehören.“
„Wobei deine Familie das wohl nicht mal weiß, dass es diese Konten gibt, nicht wahr?“ kiebitzte Tucker Greengrass.
„Es gab nur drei, die wussten, dass es diese Verliese gibt, der alte Abraxas Malfoy, möge er im Land der verdienten Zauberer wohnen, Robur Cleaver, der in Grindelwalds letztem Aufgebot von einem von Dumbledors Nachläufern umgebracht wurde und ich. Ja, und offenbar wusste es auch jemand, der damals noch unbedeutend war und mich nach Jahrzehnten dazu gezwungen hat, ihm zu helfen, wenn ich nicht dem Zaubereiministerium oder dem Koboldgeheimdienst ausgeliefert werden wollte, jener, der dann zu Grindelwalds legitimem Nachfolger wurde.“
„Ihr habt euch damals von einem Halbblut kommandieren lassen“, scherzte Tucker. „Als wenn deine Familie hier in den Staaten ihr Blut immer rein gehalten hätte“, schnaubte Alan Greengrass verärgert. „Ja, weil wir es veredeln mussten und weil wir auch Verbindungen zu den nichtmagischen Machtstrukturen gebraucht haben“, rechtfertigte sich Tucker Greengrass. „Aber jetzt bis du hier, weil du nicht mehr weißt, wohin mit all dem Gold.“
„Zur dreifachgeschwänzten Gorgone ja, du Spottdrossel“, knurrte Alan Greengrass. „Dann musst du dich ja gutstellen mit mir und meiner Verwandtschaft. Abgesehen davon könnte es verdammt schwer sein, fremdes Gold in die Staaten reinzuholen und an den Kobolden hier vorbeizuschaffen. Die dürften nämlich wieder in Gringotts arbeiten, haben die schwächlichen Regionaladministratorinnen und -administratoren beschlossen. Die wollen schließlich handel treiben.“
„Will sagen, ich kann zwar die Verliese leerräumen, weil ich noch genug Handlanger habe, die an die versteckten Verliese herankommen. Aber wo ich das Gold hinschaffen kann weißt du nicht?“
„Sicher, du köntest es bei mir in einem Verlies von Gringotts in Austin unterbringen. Die Kobolde da kuschen noch vor mir und meinen texanischen Freiheitsbrüdern, eben gerade, weil deren Geheimpolizei nicht mehr auf dem Posten ist und sich bei denen immer mehr eigenständig machen wollen. Mit der richtigen Menge Schweigegold könnte ich da was drehen.“
„Schweigegold? Du willst doch nicht echt diesen gierfingrigen Spitzohren mein Gold in die Schlünde schütten“, schnarrte Alan Greengrass. „Dann könnte ich denen das selbst in ihre Wampen hineinblasen“, fügte er verdrossen hinzu.
„Ich habe nur eine der Möglichkeiten erwähnt, wie ich dein Gold aus Britannien bei uns unterbringen kann, bevor die schwarze Billardkugel darüber hinwegrollt und es für dich unerreichbar macht. Es gibt noch zwei andere“, sagte Tucker Greengrass. Er erwähnte drei Höhlen, die von ehemaligen Ureinwohnern als Versammlungsstätten genutzt worden und von Greengrasses hiesiger Familie zu eigenen geheimen Schatzräumen umgestaltet worden waren. Seit der weltweiten Woge dunkler Magie war es sogar noch sicherer dort, weil die an das Blut der Greengrasses gebundenen Wächtergeister noch stärker geworden waren und jeden Unbefugten sofort erschlugen und erwürgten oder mit zeitweilig verstofflichten Messern und Tomahawks töteten. Außerdem lag in diesen Höhlen ein von den Greengrasses mit eigenem Blut und Bindungszaubern belegtes Gold, dessen Fluch sich mit dem Fluch der dort lagernden indianischen Knochen verbunden hatte. „Wenn du beweißt, dass in dir auch Greengrass-Blut fließt kann ich dir Zutritt verschaffen, und du kannst dein Gold dort einlagern und jederzeit was davon herausholen. Allerdings wird dich das etwas deines Blutes und einen Schwur auf die dort ruhenden Knochen kosten, abgesehen davon, dass ich ebenfalls Zugang zu dem Gold erhalten will.“
„Öhm, und die zweite Möglichkeit?“ fragte Alan Greengrass. „Du wechselst die Staatsbürgerschaft, trittst meiner Bruderschaft bei und lagerst dein Gold in unserer Gemeinschaftshöhle in den Guadelupe-Bergen ein. Allerdings hieße das wie bei uns anderen, dass ein Drittel des eingebrachten Goldes der gesamten Bruderschaft gehört und für deren Tätigkeiten verwendet werden darf.“
„Ein Drittel?!“ ereiferte sich Alan Greengrass laut, dass seine Stimme von den nahen Berghängen widerhallte. Tucker legte schnell seine Finger an die Lippen und deutete um sich. „Krämerseelen! Offenbar gibt es bei euch auch Blutschänder, die sich nicht geschämt haben, mit Koboldfrauen herumzumachen und zu kurz geratene Halblinge mit denen auszubrüten“, knurrte Alan Greengrass noch.
„‚tschuldigung, werter Vetter aus England, aber das sind die vor sechzig Jahren beschlossenen Bestimmungen der Bruderschaft. Das Gold wird an allen Kobolden vorbeigeschmuggelt, wegen der von dir schon erwähnten Verhedderung mit den Nomajs kriegen wir ja auch Gold aus der Förderung oder aus dem Handel mit Erdöl und haben so bald genug, um das gesamte Finanzwesen des neuen MAKUSAs zu stemmen, falls wir das wollen, ohne dass die Kobolde das wissen. Du wolltest ja wissen, was du für Möglichkeiten hast, deinen Reichtum an allen raffgierigen Leuten vorbeizuschaffen und vor den Kobolden zu verstecken, bevor die auch hier auf die Idee kommen, die vergessenen Verliese aufzumachen und alles was drin ist an die Zaubereiadministration zu übergeben. Außerdem wissen wir nicht, wer die Präsidentschaft gewinnt. Wenn es der Rächer der Ebenholzfraktion Firepan wird sackt der womöglich von jedem hier ein Drittel des Goldes ein, dass er oder sie nicht schnell genug im eigenen Garten verbuddeln kann. Ja, und wenn es die Witwe von Ex-Zaubereiminister Milton Cartridge wird könnte sie mit den Kobolden einen Handel machen, dass die hier unbehelligt schalten und walten und auch die Verliesmieten beliebig festlegen können. Könnte sein, dass du dann bei jedem Gang in die Katakomben von Gringotts ein Drittel des dort herumliegenden Goldes an die begleitenden Kobolde abdrücken darfst.“
„Ja, und jetzt darf ich mir überlegen, ob ich lieber deiner Familie, die ich nicht ausreichend genug kenne, um ihr zu vertrauen oder deiner provinziellen Freiheitsbruderschaft mein Gold anvertrauen soll, immer darauf gefasst, dass ihr irgendeinen haarsträubenden Unsinn damit anstellt.“
„Vetter Alan, ich habe dich nicht hergerufen, um deine Hilfe zu erbitten, sondern du willst meine Hilfe und meinen Rat haben“, erinnerte Tucker Greengrass den Besucher daran, wer hier Helfer und wer Hilfesuchender war und dass der, der Hilfe suchte meistens sehr behutsam und Unterwürfig mit dem umgehen sollte, der ihm helfen sollte.
„Ich habe noch eine Möglichkeit“, sagte Alan. „Ich erzähle meinem verschwägerten Enkelsohn Draco und seinem achso schlau tuenden Vater, dass sie hier in Texas neu anfangen könnenund gebe denen mein Gold mit, wenn ich sichern kann, dass die Hälfte davon für die Erziehung meines Urenkels und dessen weitere Ausbildung zurückgelegt wird. Dann bin ich zwei lästige Probleme zugleich los.“
„Stimmt, das wolltest du mir ja auch erzählen. Ich hörte, dass du Urgroßvater geworden bist. Gratulation! Das habe ich bisher nicht geschafft, obwohl ich fünf erwachsene Enkelsöhne und -töchter habe.“
„Gratulation angenommen und danke“, grummelte Alan. „Nur habe ich mit dem Kleinen den Ballast dieser selbstherrlichen, dabei so trolldummen Bande Malfoy geerbt. Die meinten ja, weil sie selbst genug Gold hatten, sich mit dem dunklen Lord ganz gut stellen zu müssen, bis der sie an einer immer dickeren und schmerzhaft eng anliegenden Kette geführt hat. Deshalb dürfen Abraxas‘ sohn und dessen Papasöhnchen Draco erst einmal kein öffentliches Amt ausüben, und Lucius musste eine Menge seines eigenen Goldvermögens herausrücken, um nicht ins Gefängnis zu gehen. Das ärgert den mehr als der Umstand, dass sein großes Vorbild am Ende von einem mickrigen Schuljungen plattgemacht worden ist. Seitdem muss ich ja selbst in Deckung bleiben, habe alle Brücken zu denen abgebrochen, die mich mit dem dunklen Lord in Verbindung bringen können und spiele Shacklebolts Leuten den vergrätzten alten Kerl vor, der mit gerade mal hundert Galleonen pro Monat seine alten Tage bestreiten kann. Aber wenn diese Kobolde … Na ja, hatten wir schon. Also, ich könnte Astoria und den unbedingt von ihr gewollten Prinzen der Malfoys zusammen mit deren Söhnchen zu euch schicken und denen sozusagen als Starthilfe alles in den Geisterverliesen liegende Gold mitgeben. Mit denen kann ich sicher eher einen gescheiten Handel abschließen als mit deiner hurrapatriotischen Bruderschaft.“
„Jahaha, was jedoch an zwei Dingen scheitern könnte, werter Besucher von der alten Insel“, setzte Tucker Greengrass an. „Die Einwanderungsbedingungen für die USA sind nach Buggles‘ schmachvollem Abgang verschärft worden und könnten beim neuen MAKUSA noch strickter werden. Vorbestrafte Burschen wie dein Schwiegerenkelsohn Draco dürften da ganz schlechte Chancen haben, eingebürgert zu werden. Es sei denn, die können nachweisen, dass sie keine Gefahr für die Staaten darstellen und bringen zudem genug eigenes Gold mit, um hier die ersten fünf Jahre unverschuldet überstehen zu können, ob mit oder ohne Arbeit. Das würde dann sicher überprüft, wie viel Gold wer mitbringt. Damit auch schon der zweite Haken deiner glorreichen Idee, Alan: Es könnte dem neuen Schatzkanzler des MAKUSAs einfallen, rauszukriegen, woher das Gold von jemandem stammt, um sicherzustellen, dass es von keinen ausländischen Umstürzlern ist, wie Vita Magica oder den Mondanheulern oder eben Leuten wie dir, die eine dunkle Vergangenheit haben. Sie könnten dabei finden, dass du deine Enkeltochter mit ihrer Familie zu uns geschickt hast, um von hier aus eine Umsturzbewegung zu finanzieren, die entweder erst die Staaten und dann Großbritannien oder erst Großbritannien und dann die Staaten unterwerfen soll. Oh, habe ich da gerade einen ganz empfindlichen Punkt getroffen?“ Alan war bei der Erwähnung eines möglichen Umsturzes erbleicht. Verflucht, wieso konnte er sich nicht mehr so beherrschen wie früher? Immerhin hatte er dem dunklen Lord all die Jahre vorenthalten, wie viel Gold er tatsächlich besessen hatte, solange der genug für die nicht so begüterten Todesser abschöpfen konnte, was Alan Greengrass ebenfalls bis heute ärgerte.
„Aha, ist es also so, dass du die Fachsen dicke hast und Shacklebolts Hypertoleranztruppe aufmischen möchtest und jetzt Angst hast, dass die dich über dein Gold am Hinterteil kriegen und am Ende doch alles rauskommt, was du für den unnennbaren Hoffnungsträger aller Reinblüter gemacht hast? Gut zu wissen“, schnarrte Tucker Greengrass und sah, wie Alan seine rechte Hand an den Umhang führte, wo das Griffende seines Zauberstabes herauslugte. „Ich würde nicht daran denken, mir irgendwas aufzuhalsen, Vetter Alan. Sobald mich ein den Körper oder Geist betreffender Zauber trifft petzen gleich mehrere unacciierbare Gegenstände, die ich am Körper trage, und eine halbe Minute später hast du alle meine Mitbrüder am Hals. Je danach, wie die mich vorfinden könnten sie dich in der Wüste einbuddeln, in eine Grube mit Klapperschlangen werfen und zusehen, wie lange du brauchst, bis du an deren Gift verreckst, deine Glieder einzeln von dir abfluchen oder noch schlimmer, dich in einen Zuchtbullen verwandeln und auf dem Viehmarkt von San Fernando verkaufen, wo du froh sein kannst, die letzten Jahre deines Lebens noch ein paar dralle Damen mit langen Hörnern besteigen zu können, sofern du dafür keine Trittleiter brauchst. Also lass den Zauberstab besser wo er ist, bis ich wieder weg bin.“
„Ich spiele zwischendurch auch Poker. Ich bringe diese zwanzig Goldstücke hier und will sehen“, knurrte Alan und warf aus der linken Umhangtasche eine Handvoll leicht staubverkrusteter Galleonen vor Tucker hin. Der beging den Fehler, dem Fall der Münzen zuzusehen. Keine halbe Sekunde später traf ihn bereits ein Schockzauber.
Alan sah den fünfzig Jahre jüngeren Verwandten umfallen. „Na, die Zeit läuft“, grinste er. Dann ließ er die geworfenen Goldmünzen mit dem Aufrufezauber zu sich zurückfliegen und wollte nun Tucker Greengrass das Gedächtnis aufpfropfen, er habe ihm angeboten, sein Gold in der Indianerhöhle zu verstecken und ihm einen unbeschränkten Zugang dazu zu erlauben, ohne was davon abgeben zu müssen, als wahrhaftig zwanzig viel jüngere Zauberer mit einsatzbereiten Zauberstäben in den Händen apparierten.
„Eh, wer bist du denn, Alter. Was hast du mit Bruder Tucker gemacht?“ fragte einer von denen und zielte auf Alan. Dieser erkannte, dass Tucker offenbar nicht geblufft hatte und riss seinen Zauberstab hoch. „Sensofugato!“ stieß er aus, bevor drei Entwaffnungs- und vier Schockzauber zugleich auf ihn zurasten. Das grelle licht und der ohrenbetäubende Knall des zeitweiligen Flächenzaubers warf die herbeigeeilten Gesinnungsbrüder Tuckers zwar zu boden. Doch alle vier Schockzauber landeten voll in der Brust Alans und machten ihn nicht nur bewusstlos, sondern hielten auch Herz und Lunge an. Er stürzte wie ein gefällter Baum zu boden und blieb genauso liegen wie seine Gegner. als diese nach zwei Minuten wieder erwachten fanden sie ihren betäubten Mitbruder Tucker und den leblosen Körper des alten Greengrass. Wiederbelebungszauber schlugen nicht mehr an. „Drachenmist, wer bitte war das?“ fragte Dryrock verunsichert. Als Tucker mühsam auf die Beine kam seufzte er: „Das ist mein entfernter Verwandter Alan Greengrass. Der wollte mit mir was wegen Gold für uns … Eh, ihr habt den nicht etwa mit dem Todesfluch …“
„Wir haben fünf Schocker auf den losgelassen, weil der den Sensofutatus bringen wollte. Kann sein, dass der alle voll abbekommen hat. Jedenfalls sind dabei wohl alle Organe ausgefallen“, meinte ein anderer Mitbruder. „Donnervogelscheiße! Ihr habt ihn umgebracht. Ihr solltet einen, der mir was anhext nur die Besinnung nehmen und dann beschließen, was der zu leisten hat. Jetzt kommen wir nicht mal mehr an alles Gold ran, was der in London im Koboldkeller liegen hat.“
„Gold?! Wie viel genau?“ fragte Marvin Dryrock, der seine Verunsicherung für einen Moment verloren zu haben schien.
„Fünf randvolle Verliese, angeblich mehr als zwei oder drei Millionen britische Galleonen und dazu noch Goldbarren, die für andere Zwecke weiterverarbeitet werden sollten. Das kriegen wir alles jetzt nicht mehr“, beklagte Tucker. „Ich war dabei, dem zu raten, alles Gold bei uns in der Höhle der Bruderschaft zu bunkern, wenn wir dafür ein Drittel davon abbekommen. Doch das war dem eindeutig zu viel. Ich wollte mit dem handeln, da zog der seinen Zauberstab. Bevor ich meinen ziehen konnte hatte der mir den Schocker übergebraten.“
„Der konnte’n Zauberstab ziehen, ohne dass du deinen rausgekriegt hast, Bruder Tuck. Wirst du alt?“ fragte Joss Horntip.
„Noch so ’ne Frage und du erlebst es, wie alt du aussiehst“, drohte Tucker Greengrass und zog seinen Zauberstab frei. Doch Joss grinste nur und deutete auf vier der mitgekommenen Brüder, die ihre Zauberstäbe noch in der Hand hielten, alles stramme Söhne von Joss Horntip, ihrem Vater eher verpflichtet als dem Sprecher der Bruderschaft. „Feige Sau!“ knurrte Tucker Greengrass. „Sagt einer, der sich von einem uralten Engländer da hat umschubsen lassen.“ Tucker hatte erwartet, dass Joss die Beleidigung zurückwies und ihm zeigen wollte, dass er doch kein Feigling war.
„Also Brüder, was machen wir mit ihm da. Wieder aufwecken geht nicht mehr. Der strahlt keinen Funken Leben mehr aus“, sagte Dryrock, der hingesehen hatte, wie einer seiner Mitbrüder den Vivideo-Zauber über den leblosen Alan Greengrass geführt hatte. „Hat der was bei sich gehabt, um dir zu zeigen, wo sein ganzes Gold liegt?“ fragte Joss Horntip Tucker. „Großes Maul und kleine Ohren, Joss Horntip, habe ich gerade erzählt, dass ich mit ihm drüber geredet habe, wie der sein Gold bei uns unterbringen kann. Der hat mir keine Unterlagen und auch keine Bankverliesschlüssel gezeigt. Wenn der das alles in seinem Kopf und die Schlüssel in seinem Haus in England hat sind wir voll am Hintern gekniffen, Chicos.“
„Hmm, echt? Hmm, Mist!“ erwiderte Horntip darauf. „Tja, Tuck. Wenn du deinen Zauberstab schneller gezogen hättest würden wir den jetzt in Ruhe befragen können. Aber du wolltest ja alleine mit dem sein, hast uns nicht mal erzählt, dass du Verwandtenbesuch aus Übersee kriegst.“
„Ja, und so wie du redest bin ich auch voll bestätigt, dass ich das euch nicht auf die Nasen gebunden habe. Ihr habt einen echten Goldesel totgeschlagen, ihr Wüstenmausgehirne. Jetzt kriegen das entweder die Kobolde in London oder dem seine missliebigen Verwandten, sofern die schlau genug sind, es vor dem Finanzhüter des Zaubereiministeriums zu verheimlichen, dass die so viel Gold geerbt haben“, schimpfte Tucker Greengrass.
„Erstmal nimmst du die Wüstenmausgehirne zurück“, begehrte Ray Woodley, einer der zehn obersten Brüder auf, der mit seinem Neffen Edward am Tatort war. „Zweitens, wenn du uns das bei unserer letzten Versammlung erzählt hättest, dass du an eine ergiebige Goldquelle rankommst und wir dir da nur den Rücken freihalten sollten hätten wir den da garantiert nicht mit so hammerharten Betäubungsflüchen umgehauen, dass der wie von zwei Todesflüchen zugleich umgeblasen wurde. Zum anderen mal die Frage, wem der erzählt hat, dass der überhaupt hier war. Ich meine, die Berge hier sind ja nicht gerade der Marktplatz von El Paso oder gar das von Nomajs übersähte Stadtzentrum von Houston. Also wollte der nicht beobachtet werden. Weiß also wer, wie der hergekommen ist, mit einem der Himmelswürste zu den Sandkastenspielern von Viento del Sol oder per Reisesphäre zu den Voodoo-Tänzern in New Orleans oder über das Flohnetz oder mit dem fliegenden Holländer in die Sonnenaufgangsbucht unterhalb von New York? Also, wie ist der in unser Land reingekommen?“
„Privatschiff ähnlich wie der fliegende Holländer, damit durch den Golf von Mexiko bis zur Mündung des Rio Grande bei Matamoros und von da an mit einem Flugbesen bis hierher. Es galt, dass möglichst wenige Leute mitbekamen, dass er unterwegs war.“
„Accio Flugbesen!“ rief Joss Horntip. Zwischen zwei Felsen flimmerte die Luft. Dann schwirrte ein Bronco Centennial unter einer silbernen Tarndecke hervor zu ihm hin. „Matamoros unten an der Rio-Grande-Mündung?“ wollte Drylock wissen. „Liegt das Schiffchen da noch?“
„Wenn er damit wieder ins Heimatland wollte garantiert noch, du Flubberwurm“, knurrte Tucker Greengrass.
„Matamoros liegt schon auf mexikanischem Gebiet. Der war aber leichtsinnig, wo da die Fuentevivas das Sagen haben“, meinte Joss Horntip. „Am Ende hat der mit denen auch schon was ausgehandelt, Tuck“, warf Marvin Dryrock ein. „Will sagen, wir kommen an das Boot von dem nicht ran, ohne die verbliebene Sippschaft von Don Carlos aufzuscheuchen, sofern die sich noch an die Luft wagt.“
„Ja, und wenn die es nicht finden findet es wer von diesem Notrat von der Gesellschaft gegen dunkle Erbschaften, ihr Spitzenkönner. Merkt ihr jetzt schon, was ihr da angestellt habt?“ fragte Tucker Greengrass. „Halt den Quod flach, Bruder. Wie schon gesagt hättest du uns mal in dieses Treffen einweihen und uns fragen können, wie wir es noch besser absichern können“, wandte Joss Horntip ein. „Neh, damit ihr den da gleich drauf abklopft, wie viel Gold er an jeden von euch persönlich abzudrücken hat, um euer Wohlwollen zu bekommen? Ich hätte ihn dazu bekommen, das Gold in unserer Gemeinschaftskammer unterzubringen und uns unbeschränkten Zugang für die Bruderschaft zu sichern. Der stand schon mit anderthalb beinen im Gefängnis. Der hätte alles gemacht, um sich davor zu schützen.“
„Wo du Gefängnis sagst, Tuck, wir sollten mal zusehen, ganz schnell wieder zu verschwinden, bevor irgendein hier herumliegender Spürstein uns Rockwells Rudel auf die Hälse hetzt“, wandte Dryrock ein.
„Schlotterbacke, die wären dann schon längst da, wenn hier in der Gegend ein Spürstein rumliegt. Die haben genug damit zu tun, die Städte abzusichern, dass da keiner von uns die Nomajs durcheinanderbringt“, wandte Joss Horntip ein. Tucker nickte. „Aber recht hat er. Wir müssen uns schnellstens von hier absetzen. Accio Kleidung!“ rief Tucker und zog seinem toten Verwandten alles aus, was er am Leibe trug. Dann führte er noch einen Metallsuchzauber über ihn, für den Fall, dass er etwas wichtiges in seinem Körper trug. Doch der Metallsucher zeigte nichts an, nicht einmal Goldzähne oder metallische Zahnfüllungen. Dann verwandelte er den Körper des Toten in einen porösen Felsbrocken, der jedoch nicht genauso groß war wie der Tote. Dann verstaute er die Kleidung in seinem mitgebrachten Rucksack.
„Was hoffst du von der Kleidung zu erfahren?“ fragte Marvin Dryrock. „Notizen für die im Heimatland verbliebenen Verwandten“, sagte Tucker Greengrass. Dann verschwand er einfach mit scharfem Knall im Nichts. Das war für die anderen das Zeichen, ebenfalls zu disapparieren. Das Schweigen der Berge legte sich über das Plateau, auf dem Alan Greengrass nach 160 Jahren, 6 Monaten und zwanzig Tagen sein unrühmliches Ende gefunden hatte.
Doch sein Ende war nicht unbemerkt geblieben. In der Bucht von Matamoros, Mexiko, klimperte eine goldene Spieluhr in Form eines Phönixes ein trauriges Lied. Eine junge, von überstandener Schwangerschaft noch leicht übergewichtige Hexe hörte das Lied und wusste, dass ihr Großvater gerade gestorben war. Denn diese Spieluhr stand mit dessen Herzen in einer magischen Verbindung. Die junge Hexe, Astoria Greengrass, legte ihre Hände auf den metallischen Kopf der phönixförmigen Spieluhr. Das trauerlied verklang in einem immer leiser wabernden Mollakkord. Dann wandte sich Astoria der verschlossenen Kabine zu. „Goldstück, Opa Alan wurde umgebracht. Seine Herzensspieluhr hat das verraten. Am besten, wir verduften wieder, bevor uns seine Mörder kriegen.“
„Die haben ihn umgebracht?! Der wollte doch mit unserem amerikanischen Großonkel aus Texas verhandeln, ob der dem nicht das Geistergold zuliefern soll“, grummelte Draco Malfoy. Von seiner einst stolzen, überheblichen Art war seit den Gerichtsprozessen nach dem Tod des dunklen Lords nicht mehr viel geblieben. ER war froh, dass er in die Greengrass-Familie hatte einheiraten können, wo Pensy ihn nicht mehr haben wollte, weil er und seine Mutter so weichherzig gewesen waren und die Gelegenheiten verpasst hatten, Harry Potter an den dunklen Lord auszuliefern und dem sogenannten Auserwählten noch geholfen hatten, ihn zu entmachten.
„Wie war das, dein Daddy hat die geheimen Passwörter zu den Hinterklappenschlüsseln, wenn wir beweisen, dass Opa Alan tot ist?“ fragte Draco. „Ja, hat er. Ja, und die Spieluhr hier hat die letzten vierzig Sekunden von ihm im Kopf. Da kommt aber nur ein männlicher, erwachsener Blutsverwandter von ihm dran“, sagte Astoria Greengrass.
„Dann sag dem Halbzwerg in der Kapitänskajüte, dass wir alles erledigt habenund wieder nach Hause fahren“, meinte Draco. Astoria nickte. Sie verließ die Passagierkabine, die sie mit Draco und ihrem gemeinsamen Sohn Scorpius bewohnte. Dabei dachte sie, dass die Mörder ihres Großvaters nicht ungestraft bleiben würden. Wenn ihr Vater Auric Greengrass würde aus dem Kopf des Phönix die Bild und Namen des oder der Mörder entnehmen und dann beschließen, was mit ihnen zu geschehen hatte. Doch dafür war es eben verdammt wichtig, diese goldene Spieluhr schnellstmöglich nach England zurückzubringen.
Der verschwigene Kapitän des kleinen Schiffes, dass durch besondere Windkraftsammelzauber und Wellenkraftausnutzung halb so schnell wie das magische Linienschiff Fligender Holländer fahren konnte, blickte die noch sehr mollige, oben sehr üppig gestaltete Passagierin aus seinen kleinen, dunkelbraunen Augen fragend an. „haben Sie Nachrichten von Mr. Greengrass?“ fragte er. „Mein Großvater wurde bei seinem Unternehmen von jemandem ermordet, den wir nicht kennen. Wir müssen unbedingt sofort zurück nach England, bevor die Mörder uns hier auch noch auffinden“, sagte Astoria. Der kleinwüchsige Kapitän, der kein halber Zwerg, sondern ein halber Kobold war, sah sie sehr eindringlich an. Er hatte gelernt, den großen Leuten anzusehen, ob sie logen oder die Wahrheit sagten. Die Hexe da, die dieses nervig plärrende Baby mit aufs Schiff gebracht hatte, log nicht. Sie war sich zum großen grauen Eisentroll ganz sicher, dass stimmte, was sie sagte. Also sagte er: „Gut, in einer Minute sind wir wieder auf dem Meer. Sagen Sie Ihrem Mann, es könnte etwas ruckelig werden, weil wir gegen die aufkommende Flut anfahren müssen. Außerdem darf er schon mal die Bezahlung bereitlegen. Wenn wir in der Grauen Bucht anlegen will ich Gold sehen“, sagte der Kapitän. Astoria nickte bestätigend. Dann verließ sie die Kapitänskajüte. „Nie wieder junge Familien“, knurrte er, als er mit seinen empfindlichen Ohren das erste Hungerquengeln des kleinen Jungen hörte, den sein alter Bundesgenosse Alan Greengrass mitgebracht hatte. Er rief einer der Wände zu: „Klar zum Auslaufen. Alle Taue und Anker einholen! Es geht nach Hause.“
Das kleine Schiff klappte die zwei Masten mit den darum gewickelten Segeln hoch. Drei Zauberer brachten die Segel mit hundertfach abgestimmten Zauberstabbewegungen dazu, sich zu entfalten und stramm genug zu ziehen, um die Kraft des Windes in einer Meile umkreis einzufangen und durch die Masten auf das Schiff zu übertragen. Es ruckelte einen Moment, dann glitt es aus der versteckten Bucht hervor, nahm kurs auf den Golf von Mexiko und beschleunigte. In nicht einmal einer halben Stunde erreiche es den offenen Atlantik und setzte auch den Rest der Segel, um mit der ihm möglichen Höchstgeschwindigkeit nach England zurückzukehren.
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Die Tage bis zum 20. Mai waren erfüllt von weiteren Übergriffen angeblicher Reunionisten auf die offiziellen oder inoffiziellen Hauptgebäude regionaler Patrioten, meistens Zaubererbruderschaften, die sich dafür einsetzten, die seit Ladonnas Entmachtung geltende Einzelstaatenregelung beizubehalten. Hinzu kamen noch die Fälle von bis dahin unbeachteter Hexen, die nicht dem allgemeinen Aufruf gefolgt waren, in Viento del Sol Zuflucht zu suchen. Von einem zum anderen Tag verschwanden welche von ihnen aus ihren Häusern oder auf dem Weg zu ihren Arbeitsstätten und blieben verschwunden. Offenbar ließ sich jene Gruppierung, die meinte, verdächtige Hexen jagen zu müssen, durch keine Drohung und keinen Aufruf zur Besonnenheit davon abbringen, ihre selbstgewählte Aufgabe zu erfüllen. Spekulationen über diese Vorfälle reichten von Femetaten dunkler Schwesternschaften, Vergeltungsaktionen gegen ehemalige Rosenschwestern, Fangkommandos von Vita Magica, die neue Zuchthexen für ihre wahnwitzige Fortpflanzungsaktionen haben wollten bishin zu einer heimlichen Absprache der Regionaladministratoren, verdächtige Hexen auszusortieren, um entweder den eigenen Staat frei von neuen Unterwanderungen zu halten oder im Auftrag des neuen magischen Kongresses jede feindliche Aktion dunkler Hexenorden im Keim zu ersticken.
Beteuerungen, dass weder das Reunionskomitee des neuen Kongresses noch die Einzelstaatsadministrationen für die verschwundenen Hexen verantwortlich waren wurden meistens überhört. Auch meldeten sich Administratoren wie der texanische Administrator Joel Rockwell damit zu Wort, dass sie davon ausgingen, dass da jemand eine Liste unliebsamer Hexen abarbeitete und er diese Liste all zu gerne haben würde, um diesen Leuten in Texas die Arbeit abzunehmen. Doch auf diese schon sehr provokative Meldung erfolgte nur ein frecher Kommentar des Morgenmoderators Roderic Krueger von VDSR 1923.
„Yihaaaa! Die Jungs aus Texas rascheln mit ihren Besen und wedeln mit ihren Zauberstäben. Sie rufen: „Alle bösen Hexen raus aus Texas oder lasst euch einbuddeln!“ Johjojo, Jungs, da kriegen die richtig bösen Hexen richtig Angst. Aber womöglich fühlen die sich dadurch erst recht angeregt, kernige, richtig männliche Zauberer aus dem freien, harten Süden kennenzulernen. Wenn’s Vita-Magica-Anhängerinnen sind suchen die ja nach Ladonnas letztem Vorhang nach neuen reinrassigen Zuchtbullen für die nächste Generation von Superduperzauberern und hyperfruchtbaren Hexen, um das, was die den Wildwuchs der nichtmagischen Menschheit nennen, durch genug Nachzuchten ausgleichen zu können, ohne alle Nichtmagier auszurotten. Also liebe texanischen Draufgänger, haltet euch bereit für VMs nächste Bullenschau!“
Auf mehr oder weniger kurzen Wegen gelangte dieser höchst abfällige Kommentar zu den Brüdern freier texanischer Zauberer um Tucker Greengrass. Diese trafen sich am Abend nach dem Rundfunkauftritt Roderic Kruegers, um zu beraten, ob sie den „kalifornischen Frechling“ oder den „Wüstenwurm vom weichen Westen“ zur Rechenschaft ziehen sollten.
Tucker Greengrass, der nach der Sache mit seinem Vetter sechsten Grades etwas leiser auftreten musste als vorher, kam nicht umhin, sich erst alle Unmutsbekundungen seiner Mitstreiter anhören zu müssen, die auch Vorschläge beinhalteten, den Frechling selbst in einen Zuchtbullen zu verwandeln und ihn einem nichtmagischen Viehbaron anzubieten. Dann sagte Greengrass ruhig: „Leute, macht den Kerln icht größer als der sich selbst aufbläst. Der hat keinen Dunst davon, wie wir außerhalb der eigenen unsichtbaren Käseglocke über VDS, ach über ganz Kalifornien leben. Der hat keine Ahnung davon, was es heißt, sich mit Hitze, Dürre, den Erdölsuchern der Nomajs und den immer dreister werdenden Rothäuten auseinanderzusetzen, die meinen, im neuen MAKUSA wieder mehr Mitspracherecht zu kriegen. Der ist in seinem ganzen Leben nur einmal richtig vor die Tür gekommen, nämlich als er in Thorntails war, wo er im Haus Redhawk gewohnt hat. Das sagt doch schon, in welche Ecke der gehört. Abgesehen davon kommt keiner von uns in seine Nähe, weil die diesen alten Indianerzauber über ihr Dorf ausgebreitet haben, dass kein Feind zu denen reinkommt. Wer dem Jüngelchen was anntun will gilt demnach als Feind und wird abgewiesen. Wer hat Zeit, andauernd mit demselben Kopf gegen dieselbe harte Wand zu rennen? Ich nicht, und ihr auch nicht. Also lassen wir diesem kalifornischen Jüngelchen seinen kindischen Spaß und sehen lieber zu, dass der nicht noch dadurch recht kriegt, dass echt wer von Vita Magica nach neuem Zuchtmaterial sucht. Ich möchte euch gerne darauf hinweisen, dass unser Kontakt zu den Heilern jede Weitergabe der Schutzformeln gegen deren Scharfmachergas verweigert. Falls die von VM also finden, wir strammen Texasburschen sollten mal mit Hexen aus Montana oder gar New York zwischen den Laken tanzen könnten die uns echt locker mit ihrem Liebestollheitsnebel kriegen. Es brächte also nichts, Roddy Krueger einen Denkzettel zu verpassen. Also hebt die Gläser und schluckt jeden Ärger über ihn runter und pinnkelt ihn in den Sand der texanischen Wüste!“
„Ja, der kann doch nicht dauernd in diesem durchmischten Dorf hocken, wo selbst reinrassige Nichtmagier wohnen dürfen, Tuck. Wenn der da rauskommt könnte der doch ganz zufällig in die Flugbahn eines zu übenden Zauberfluches reingeraten“, meinte Mitch Taller, der sich gerade am meisten aufgeregt hatte.
„Junge, begreif es. Der muss da nicht raus. VM und die von denen gespielte Marionette Buggles haben denen beigebracht, ohne Hilfe von außen zu überleben. Die brauchen nicht mehr nach draußen zu gehen. Die haben genug nette Nachbarn, um sich nicht einsam zu fühlen, genug Bespaßungsmöglichkeiten, wenn man mal von den Spielern der Viento del Sol Dauerflaute absieht. Die können sich jederzeit genug zu essen machen und haben genug magische Verbindungen zu allen wichtigen Stätten, auch zu uns im guten alten Texas. Die müssen nicht aus ihrem Dorf raus, und wir können nicht zu denen rein, wenn wir da wen vermöbeln wollen. So, genug Zeit damit vertan. Was haben wir echt wichtiges zu besprechen?“
Tucker Greengrass hoffte, mit seiner Ansage und die Herabwürdigung von Roddy Krueger die erhitzten Gemüter herunterzukühlen. Doch es gelang ihm nicht so recht. Seine Mitbrüder schimpften weiter über die Art, wie die auch ihrer Meinung nach unbedachte Aussage von Administrator Rockwell. Denn natürlich mussten sich feindliche Orden erst recht berufen fühlen, ihn fertigzumachen. Greengrass wagte es deshalb auch nicht, die neuen Erkenntnisse des ersten Bewahrers weiterzugeben. Denn der hatte über seine vielen Kontakte herausgefunden, dass die verschwundenen Hexen auf das Konto einer eigenmächtigen Truppe gingen, die von Atalanta Bullhorn geführt und aufgehetzt wurde und riet dazu, dieser Auseinandersetzung möglichst fernzubleiben und sich nur auf die Störungen der Reunion zu besinnen.
Erst als sich endlich alle aufgeheizten Gemüter beruhigt hatten konnten sie über die weitere Einflussnahme auf die Administration reden. „Wir müssen uns darauf einrichten, entweder unseren geliebten Heimatstaat sicher und unangreifbar eigenständig weiterzuführen oder uns bei einer doch noch erfolgenden Wiederkehr der Zentralisten aus dem Nordosten selbstbewusst und stark zu präsentieren, am besten dadurch, dass wir mindestens zehn Kandidaten aus unseren Reihen in diesen neuen Kongress hineinbekommen, die dann unsere Anlaufstelle und Mittelsleute sind. Dafür ist es verdammt wichtig, dass wir uns nicht mit den Sicherheitstruppen in anderen Staaten bekriegen, solange die uns nicht offen angreifen. Ihr habt dazu Vorschläge eingereicht. Die besprechen wir jetzt“, bestimmte Tucker Greengrass.
Als sie alle vorbereiteten Vorschläge durchgesprochen, abgeändert oder als gemeinsamen Handlungsablauf beschlossen hatten rückte Tucker Greengrass endlich mit dem heraus, was der erste Bewahrer ihm und den anderen Bruderschaftsführern offenbart hatte. Als er das mit Atalanta Bullhorn erwähnt hatte grinsten seine Mitstreiter erst. Dann verzogen sie ihre Gesichter. „Ui, will sagen, die entscheidet, wer ihrer Meinung nach eine böse Hexe oder eine brave Hexe ist und lässt die dann hoppnehmen?“ fragte Taller. Greengrass bejahte das. „Öhm, und dieser Rundfunkschwätzer Krueger weiß das noch nicht?“ hakte ein anderer Mitbruder nach. „Wenn er das wüsste hätte er nicht diesen Unsinn abgelassen“, entgegnete Greengrass. „Hmm, sollten wir dem das dann nicht zuspielen, damit er sich mit der Bullhorn verkracht. Die kam doch damals nach VDS rein“, meinte Taller.
„Mmhmm damals“, erwiderte Greengrass. „Falls die dort nach ihrer Meinung bösen Hexen sucht könnte sie aber genauso abgewiesen werden wie wir, wenn wir diesem Radiobengel eins über den Schädel geben wollen.“
„Ja, aber wenn die jetzt ihre eigene Einteilung macht, wer ihrer Meinung nach gut, gefährdet oder gefährlich ist könnten die auch unsere Frauen und Töchter drankriegen, ohne dass uns Rockwells Leute helfen. Oder hängt der etwa mit drin?“
„Das könnten wir nachprüfen. Aber unser großer Gönner bittet uns, erst einmal die Finger von Bullhorns Hexenjagdverein zu lassen, solange der nicht in unserem Revier wildert. Also sollten wir Rockwell nicht weitermelden, was wir wissen. Der würde nämlich fragen, woher wir das so genau wissen. Noch sind nicht alle von uns angezielten Posten sicher. Am Ende erklärt dieser auf die eigene Macht beharrende Hampelmann noch, dass wir Feinde sind und lässt welche von uns festnehmen. Nein, wenn der bisher keinen Dunst von Bullhorns Feldzug hat soll er das von wem anderen erfahren, vielleicht von der selbst, wenn sie doch mal wen braucht, der ihrem Trupp Rückendeckung gibt.“
„Also gilt weiterhin die Devise Lautlos und unauffällig?“ wollte Taller wissen. „Bisher haben wir damit mehr Erfolg gehabt als mit lautstarken Forderungen. Ihr habt’s doch mitbekommen, was den Gesinnungsbrüdern in Chicago passiert ist“, sagte Greengrass. Dabei unterschlug er jedoch, dass die Aktion in Chicago vom ersten Bewahrer angezettelt worden war, um die Reunionisten in Verruf zu bringen. Alles mussten seine leicht erregbaren Mitstreiter auch nicht wissen. Es reichte ja schon, dass sie allesamt in einen Totschlagsfall verstrickt waren, für den die obersten Brüder locker zwanzig Jahre Doomcastle abbekommen konnten.
„Und was ist mit den großen zehn. Die haben wir doch mit dem Brief kräftig in die Nase gekniffen. Läuft das jetzt, dass wir deren ganzen Leichen im Keller ausgraben und öffentlich aushängen?“ fragte Taller. Greengrass bejahte es. „Wenn die bis zum ersten Juni nicht von der Reunion abrücken und der die finanziellen Hilfen entziehen kriegen die ihren ganzen im Keller gehorteten Dreck um die Ohren geblasen, dass es nur so staubt. Es sind nur noch zehn Tage bis dahin. Also, bis dahin schön ruhighalten, Chicos!“ wies Greengrass seine Mitstreiter an.
„Ist nicht so einfach, wenn um einen herum so viel los ist“, grummelte Hank Greyrock. Greengrass nickte ihm beipflichtend zu. Dann konnte er die Versammlung beenden.
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sie nannten sie die steinerne Halle der Erinnerungen. Denn hier gesprochene und vollzogene Handlungen flossen dank eines uralten zaubers ihrer Völker in die großen Granitblöcke ein, die unter dem Boden in einer magisch wirksamen Anordnung ruhten. Hierher kamen nur jene, die etwas für die Geschichte und die Zukunft ihrer Völker wichtiges zu erledigen hatten.
Heute, am Tag, den die Menschen als 24. Mai des Jahres 2007 bezeichneten, öffnete sich das große, halbrunde Felsentor zur Halle der steinernen Erinnerungen, die unter dem nördlichsten Berg des festen Landes lag und als einer von drei heiligen Plätzen galt, an denen jede Fehde ruhen und jeder Streit zwischen Königen schlafen musste. Die aus vielen Hundert Jahre möglichem Schlaf erweckten Wächter der Halle waren durch die Worte aus vier Königsmündern aufgeweckt worden und führten drei mal drei rechtmäßige Könige in die Halle, ohne ein hörbares Wort zu sprechen. Die Wächter waren sechs, die zur gleichen Zeit im selben Mutterschoße herangewachsen und im Verlauf von drei mal drei Stunden geboren worden waren. Sie hatten nach ihrer Mannesschmiede die Künste des lautlosen Sprechens im Geiste gelernt und wegen ihrer besonderen Abstammung so vervollkommnet, dass sie keine hörbaren Worte mehr sprechen mussten. Daher waren sie vom Rat der Könige vor eintausendundachtzig Sonnenkreisen zu den neuen Wächtern der steinernen Erinnerungen bestimmt und mit den Zaubern der Überdauerung belegt worden.
Malin VII., der diesen Rat der neun Könige beantragt hatte, kannte die Halle nur aus Erzählungen seines Großvaters. Weder sein Vater noch er waren jemals hier gewesen. Von den acht anderen Königen, die dem Aufruf aus Neugier oder Unwillen gefolgt waren, kannte nur der alte Ontwarin IX. aus den Nordlanden diese Höhle aus eigener Erfahrung.
Die sechs Wächter entzündeten die feuerlosen Lichter, die aus der Hitze tief im Schoße der allgebärenden Mutter ihre Kraft schöpften und so hell erstrahlten wie fünf Sonnen. In der Mitte der Halle stand ein kreisrunder Tisch, der aus einem einzigen Granitblock gemeißelt und geschliffen worden war auf einem einzigen, fest mit dem Boden verbundenen Bein. Um den Tisch standen neun beinhohe Stühle aus Dauereisen, denen weder Rost noch Gewalt etwas anhaben konnten. Einer der Wächter stellte sich vor die drei Dreierreihen der hereingeführten Könige und deutete von je einem der Herrscher auf einen der Stühle. Es gab keine feste Sitzordnung. Die Wächter bestimmten durch Zufallsauswahl, wer neben wem zu sitzen kam. Da es ein runder Tisch war galten alle hier versammelten gleichrangig.
Malin VII. wurde durch die Wahl des Platzanweisers zwischen den Frankenkönig Roudorin Bierfeuer und den Italiener Huorchino Feuerklinge gesetzt. So würde er Roudorin auch etwas zuflüstern können, falls er dies für geboten hielt. Jeder der Könige trug einen kreisrunden Granitstein mit eingravierten Runen bei sich, der das hier gesagte aufnehmen und für die Aufzeichnung in der Heimat bewahren konnte. Dafür mussten die Steine jedoch mit den Zauberrunen nach oben weisend auf den Tisch gelegt werden, der in gewisser Weise die Mutter der Gedächtnissteine war. Die Nachfahren Durins und der anderen legendären Zwergenkrieger aus den alten Geschichten wussten, dass die großen Leute mit den Zauberstäben die Erdmagie soweit erforscht hatten, dass sie mit ihren Mitteln ebenfalls Gedächtnissammelsteine herstellen konnten, allerdings nicht als massive Körper, sondern als hohle Gefäße, in die die aus ihren Köpfen entnommenen Erinnerungen eingebettet und festgehalten wurden, um sie jederzeit nachzubetrachten. Die von den Zwergen und leider auch von den Kobolden benutzten Gedächtnissteine konnten nicht nur freiwillig gespendete Erinnerungen aufnehmen, sondern sogen die Bilder und Geräusche, Gerüche und Bewegungen um sie herum ablaufender Ereignisse in sich auf und gaben sie frei, wenn ein rechtmäßiger König die überlieferten Worte der Preisgabe sprach und dabei seine Hand auf den Stein drückte, um ihm einen winzigen Teil der eigenen Lebenskraft darzubringen. Malin spielte für einen Moment mit dem Gedanken, sich die Zeit Durins anzeigen zu lassen. Doch zunächst musste er sein Anliegen und seine Bitte vorbringen und darauf hoffen, dass die acht anderen ihm beipflichteten.
Ein anderer der sechs lautlosen Wächter hob die rechte Hand mit einem flachen runden Stein, bewegte ihn zweimal in genauer Sonnenlaufrichtung im Kreis über dem runden Tisch und hieb ihn dann dreimal auf die unbedeckte Granitplatte. Die im Tisch eingearbeiteten Zwergenrunen erstrahlten hellrot. Nach zehn schweigend ausgeführten Atemzügen erloschen die Runen des Tisches wieder. Dafür erbebte dieser für drei weitere Atemzüge. Der Wächter mit dem Klopfstein trat mit dem stein zurück und entfernte sich mit seinen fünf Brüdern so leise, dass selbst die hochempfindlichen Ohren der Zwerge nur ein kaum hörbares Schaben vernahmen. Dann schloss sich die Tür hinter den sechs Brüdern. Eine aus mit Gold überzogene Bronze gegossene Klangschale gab einen vernehmlichen, mittelhohen Ton von sich, der fünf gleichmäßige Atemzüge lang im runden Raum widerhallte, bis er als in den Eingeweiden nachzitternder tiefer Ton verebbte. Der Rat der neun Könige war versammelt, und die Beratung eröffnet.
„Ich, König Malin, siebter meines Namens Eisenknoter, durch Durins Segen und die Kraft drei gewonnener Kämpfe König unter den deutschen Bergen, begrüße euch, meine Brüder und Könige eurer Völker. Ich bedanke mich, dass ihr meinem Aufruf zu diesem Rate gefolgt seid. Denn es ist mir ein Anliegen, unsere Rangstellung, unseren Wert und unser aller Zukunft in dieser von der Allgebärerin geformten und genährten Welt zu behaupten. Die Zauberstabträger mussten sich einer auch für uns gefährlichen Widersacherin erwehren. Gleichzeitig gerieten wir alle durch den Zorn der Allgebärenden an den Rand der Vernichtung. Die missratenen Kinder der Allgebärerin suchten Streit mit den Zauberstabträgern und uns. Daher besteht die große Gefahr, dass erst mein Volk und dann eure Völker in einem Vernichtungskrieg ausgelöscht werden und wir Durins Ungnade erfahren, weil wir sein Erbe verwirkten und niemand mehr da sein mag, unsere leeren Hüllen dem reinigenden Feuer zu übergeben, um unsere Seelen in Durins Reich zu entsenden. So werde ich nun berichten, warum ich mein Volk vorbereite, wider die Kobolde und deren Abhängige, die großen Leute mit den Zauberkraftausrichterstäben, zu Felde zu ziehen und warum es mir wichtig ist, euch dabei an meiner Seite zu haben.“ Dies sagte Malin gemäß der Tradition, dass wer den Rat einberief die ersten hörbaren Worte der Versammlung aussprach. Die anderen hörten ihm erst nur zu. Er berichtete nun, warum er glaubte, dass die Zauberstabträger den „Zorn der Allgebärenden“ heraufbeschworen hatten und dass die Kobolde, die zunächst ähnlich darunter zu leiden hatten, mehr Ansprüche auf Goldwertbestimmung erhoben, obwohl die wussten, dass die wahren Erdkinder, also die Schwarzalben, auch Dverga genannt, die einzig rechtmäßigen Hüter der edlen Metalle im aus dem Schoß der allgebärenden Mutter waren. Wenn es schon nicht möglich war, die Urheber des Aufruhrs aus Erdmagie zu bestrafen, weil die fernab in Mitternachtsrichtung auf einer großen Insel in einem viel zu großen Meer saßen sollte es laut Malin gelten, dass die Kinder aus Durins Geschlecht und dem Schoße der Allgebärerin die ihnen zustehende Herrschaft über Gold, Silber und Kupfer zurückbekamen, auch gegen den Willen der gierigen Langfinger und Spitzohren, die von der kleinen Insel Britannien auf das Mutterland der Schwarzalben eingesickert waren. „Mit friedlicher Unterhandlung war es nie möglich, diese Spitzohren zur Abtretung unzustehender Rechte zu bewegen. Wenn wir nicht bald unmissverständlich klarstellen, dass wir und nur wir diese Rechte besitzen dürfen, so bleiben uns nur der Krieg oder die Unterwerfung unter die Befehlsgewalt jener missratenen Erdkinder. Dies, meine Brüder aus anderen Landen, kann und darf nicht unser Wille sein. Doch weiß ich, dass mein Volk alleine keinen harten Feldzug führen kann. Doch wenn mein Volk unter der Gier und Herrschaft der mit den missratenen Erdkindern verbündeten Zauberstabträger niederbricht wie eine Steinsäule unter dem Gewicht einer zusammenstürzenden Höhlendecke, so wird es nur das erste aller neun Völker sein, die diesen Weg der Ungnade gehen müssen“, beendete Malin seine Rede und sah vor allem seinen Sitznachbarn Roudorin Bierfeuer an, der bis dahin ganz ruhig zugehört hatte. „So bitte ich euch nach alter Ordnung und steinernem Recht, dass jeder von euch seine Meinung zu diesen meinen Aussagen und Bitten kundtut, bis die Reihe wieder an mir istt.“
Wie es erwähnte steinernen Regeln geboten begann der gemäß Sonnenlaufrichtung nächste Tischnachbar Malins, Huorchino Feuerklinge zu sprechen. Da jedem hier unbefristete Redezeit gestattet war durfte sonst niemand was sagen, bis Huorchino ausdrücklich das Wort an dem neben ihm sitzenden übergab.
Huorchino schilderte nun seine Erlebnisse mit dem italienischen Zaubereiminister und auch den Bericht über Ladonnas Beschwörung des nimmersatten Erbfeindes aller Erdenkinder. Er erwähnte auch, dass seine Kundschafter kein Zeichen für eine Täuschung entdeckt hatten. Daher sei er froh, dass Ladonna entmachtet werden konnte, räumte aber ein, dass er unbehagt war, weil er nicht wusste, von wem und was der oder diejenige dafür einfordern mochte. Für Malin VII., der wusste, wie Ladonna die Beschwörung des großen grauen Eisentrolls aufgeführt hatte galt wie für alle das Sprechverbot, bis er von seinem Tischnachbarn Roudorin Bierfeuer das Wort erhielt. Jetzt merkte er, wie ausgeliefert er hier war. Er hatte die Versammlung einberufen, musste sich aber an die seit über zweitausend Jahren geltenden Regeln halten um als zu achtender König anerkannt zu bleiben.
Huorchino gab nach mehr als zehn Minuten das Wort weiter an den König der eisigen Insel mit brodelnden Feuerbergen. Dieser ging erst auf Malins Rede ein und erwähnte auch, dass er auf seiner Insel das alleinnige Goldverwahrungsrecht hatte und Gringotts, die Truppe der Goldeinsammler der Kobolde, bei ihm anklopfen musste, wenn sie Gold für geschäftliche Abläufe brauchten. Die auf seiner Insel wohnenden Hexen und Zauberer hatten ihr eigenes Gold bei seinen Goldhütern eingelagert und gaben jede Mitternachtssonne ein Zehntel davon an die königliche Schatzkammer ab, die dafür nicht unter der Erde selbst zu erwerbende Güter einkaufte. Da es südlich der Eisgrenze keine Mitternachtssonne gab, so der König der Insel aus Eis und Feuer, müsste Malin eine andere Regel treffen, beispielsweise den längsten Tag des Sonnenkreises oder eben die längste Nacht des Sonnenkreises, die in der überlieferten Zeitrechnung der Zwergenvölker den Beginn eines neuen Sonnenkreises bezeichnete. Er lehnte jedoch einen Kriegszug gegen die Kobolde ab. „Weil die sich zu lange bei euch die Zauberstabträger gewogen gemacht haben werden sie diese gegen euch ins Feld werfen, bis die euch alle mit ihren schnellen Schädigungszaubern erledigt haben. Unsere von Durin gewährte Körperkraft und Gewandtheit nützt nur dort, wo keine Wand aus Feuer lodert oder wo genug freier Raum zum springen und ausweichen besteht. Auch werden sie deinem Volk kein Staubkorn Gold überlassen, wenn du ihre Kinder und Kindeskinder tötest. Im Gegenteil werden sie die Tore zu deinem Reich dauerhaft verschließen, wie es Huorchino bereits erwähnt hat. Ob Ladonna ihr Wissen um den nimmersatten Sohn der Allgebärenden weitervererbt hat wissen wir auch nicht. Sie könnte dir und deinen Kundschaftern auch eine sehr große, wirksame Täuschung bereitet haben, Bruder Huorchino. Ich weiß jedoch, dass die Zauberstabträger nicht nur die Kräfte unser aller Mutter rufen können, sondern eben auch die von Feuer, Wasser, Luft und Leben. Sie können die Kräfte aus der Sonne selbst rufen, die wir nur mittelbar zur Verfügung haben. Auch besteht die Gefahr, dass beide Seiten im Krieg dermaßen entvölkert werden, dass die Erlangung des Goldhüterechtes keinenWert mehr bedeutet. Denn wo niemand mehr ist, der Gold benötigt oder niemand mehr ist, der es hervorholen und weitergeben kann, da verliert das Gold selbst allen Wert. Ja, und wie erwähnt würden sich die Spitzohren hinter den Heeren der Zauberstabträger verbergen und möglichst wenig eigenes Blut für den Kampf opfern. Sie wären in jedem Falle die Sieger dieses Krieges, Bruder Malin.“
Als der Nachbar des Königs der Feuerinsel sprach ahnte Malin bereits, dass sein Aufruf zum gemeinsamen Feldzug nicht die nötige Mehrheit von fünf zu vier oder mehr Stimmen bringen mochte. Denn der König des kleinenVolkes im Bergland, das von den großen Leuten Riesengebirge genannt wurde und dem früher nachgesagt wurde, einem zaubermächtigen Berggeist gedient zu haben oder diesem immer noch zu dienen erwähnte auch, dass es zwischen ihm und der kleinen Gruppe festländischer Kobolde ein Abkommen gab, dass sie sich die Goldhütung teilten und die aus Britannien stammenden Kobolde nach einem blutigen Kampf unter den Bergen vor zweihundert Jahren bis auf wenige ausgerottet worden waren. Das sei der Sommer der roten Flut gewesen, als die Quellen der Elbe sich vom Blut der erschlagenen Spitzohren rot färbten und die Zauberstabträger allen Leuten, die das mitbekamen die Erinnerungen an dieses Ereignis nehmen mussten und dafür eine Menge Gold zur Entschädigung eingefordert hatten. Daher sei es für das Volk unter dem böhmischen Gebirge überaus wichtig, den einträglichen Frieden nicht zu gefährden.
So ging es weiter. Auch der aus dem westlichen Nordland angereiste König erwähnte, dass er fast unter dem Zorn der Erdmagie gestorben sei wie Malins Vater. Aber da er sowieso ein Abkommen mit den Zauberstabträgern hatte, solange deren Gold zu hüten, solange er mit ihnen keinen Krieg führte, würde er nicht auf dieses Geschäft verzichten. Er prahlte sogar damit, dass die kleine Außenstelle von Gringotts in der norwegischen Hauptstadt Betriebserlaubnisgebühren an die Zwerge abzuführen hatte, weil der König unter den Bergen Norwegens eine Waffe besaß, die Eisenweiserichtung zu verwirren und damit die Sinne der Kobolde zu überladen, wie es die Zauberstabträger mittlerweile auch herausgefunden hatten.
So ging es weiter und weiter, bis Ruodorin Bierfeuer sprechen durfte. Malin hatte nicht erwartet, dass ausgerechnet jener für einen Krieg mit den Kobolden eintreten würde, und er wurde nicht enttäuscht. Roudorin wagte es aber auch, Malin für machtbesessen und geltungssüchtig zu erklären und ihm zu unterstellen, die Sicherheit und Gesundheit seines eigenen Volkes aufs Spiel zu setzen, nur um als Eroberer des mittelländischen Goldverwahrungsrechtes in die Geschichte aller Zwergenvölker einzugehen. Er erwähnte dann noch, dass durch seine Umsicht und sein Verhandlungsgeschick ein tragfähiger Frieden mit der von einem Weib geführten Verwaltung der Zauberstabträger errungen wurde und die Spitzohren in seinem Land den Zauberstabträgern zu danken hatten, dass sie nicht vertrieben und gedemütigt wurden. „Bruder Malin, besinne dich bitte darauf, dass du nicht für einen einzigen Augenblick lebst, sondern für ein langes, gedeihliches Leben aller deiner Untertanen einstehen musst. Was außer dem Leben deines Vaters, der dir den eisernen Herrscherstuhl überlassen hat, verlorst du denn. Ach ja, du hast mehrere Tiefenboote zum Stören der Spitzohren ausgesandt. Diese Boote wurden dir von den Spitzohren genommen. Doch ist es nicht so, dass diese sich nur gewehrt haben, weil auch sie ihr eigenes Leben und ihr Auskommen bewahren wollen?
Ich bin Durin dankbar, so an diesem Tisch gesetzt worden zu sein, dass ich als letzter dieser ersten Runde sprechen durfte. So bin ich Durin auch dankbar, dass Einsicht und Verantwortungsgefühl nicht nur bei mir, sondern auch bei sieben von euch vorhanden sind. Wir haben nichts von einem gewaltsamen Kampf um ein Recht, dass wir jahrhundertelang nicht in Frage stellten oder einforderten und damit mehr als gut zu leben vermochten. Dein Volk nagt nicht an feuchten Wänden, um seinen Hunger zu stillen, Bruder malin. Es handelt mit den Zauberstabträgern und wird von diesen als Nachbar geachtet, nicht nur geduldet. Du spielst mit dieser Achtung und dem Schutz deines Volkes vor Vernichtung. Der achtenswerte König unter den Bergen des italischen Reiches beschrieb es, wie nahe sein Volk an der dauerhaften Einkerkerung, der völligen Abschiebung oder gar der von Ladonnas Unterworfenen vollführten Auslöschung entlanggewandelt war. Die Zauberstabträger sind es auch, die die Spitzohren davon abhalten, euch aus euren Bergen zu vertreiben. Nach deinen Unternehmungen mit den Tiefenbooten hätten sie ihrem Recht nach allen Grund dazu gehabt. Verhandle um mehr Unterstützung und biete deinerseits mehr an, wovon du weißt, dass es willkommen und erwünscht ist! So wird dein Volk Frieden und Wohlstand behalten, und du kannst als besonnener König herrschen und gewiss sein, dass keiner dich vernichten will, wenn danach die Vernichtung deines Volkes erfolgen würde. Schwör dem Vergeltungswillen ab, Bruder Malin! Der Krieg würde dein Volk ausrotten, und niemand wäre da, dich nach den Sitten unserer Rasse zu bestatten. Denn uns ließen sie gar nicht erst in das Land hinein, in dem du bisher noch sicher und friedlich leben kannst. Ach ja, du erwähntest, dass die Bewohner jener großen Insel unter dem mitternächtlichen Rand der Welt und ein großes Meer entfernt den Zorn der Allgebärerin ausgelöst haben? Dies ist so nicht ganz richtig. Sie haben ihr Land nur gegen die Wut der allgebärenden Mutter geschützt, die dann, als sie aufflammte, von dieser Wehr abprallte und in wilden Wogen den Leib der Allgebärerin durcheilte. Es war also kein gezielter Angriff auf unsere Völker, sondern eine Verkettung für uns unangenehmer Ereignisse. Somit gibt es auch niemanden, der Schuld am Tod deines Vaters trägt außer Durins Wille, ihn zu sich zu rufen. Willst du es wagen, Durins Willen abzulehnen, der dich auf den eisernen Stuhl der Herrscher unter deinen Bergen geführt hat? Wie undankbar willst du dich deinem Vater, deinem Volk und unserem Urvater Durin erweisen? Verzichte also um deiner Würde, der geschuldeten Dankbarkeit und der friedlichen Daseinsberechtigung deines Volkes wegen auf den bewaffneten Kampf und schließe dich uns an, die Frieden mit den Zauberstabträgern halten und ihren Völkern dafür gute Geschäfte erschlossen!“
Malin kochte innerlich. Derartig wie ein bartloser Knabe gemaßregelt und zurechtgewiesen zu werden hatte er von einem Bruderkönig nicht erwartet. Dieser Bierbrauerssohn hätte doch einfach nur sagen sollen: „Führ deinen Krieg ohne mich und sieh zu, wo du bleibst!“ Aber nein, der musste ihn als vom Ehrgeiz und Vergeltungswunsch getriebenen Knaben darstellen. Ja, und die anderen pflichteten Roudorin durch Bejahungsgesten auch noch bei. Ja, und die Steine der Erinnerung hatten das gesprochene gerade in sich aufgenommen. Wer immer ihm folgte mochte irgendwann beschließen, sich das hier alles anzuhören. Doch würde es nach ihm noch jemanden geben? Jetzt wo er wusste, dass er die anderen acht wohl kaum für sich gewinnen konnte, weil die alle schon zu sehr in ihrem Wohlstand eingebacken waren, um noch für etwas zu kämpfen war er der einzige, der noch das Feuer der Tat in sich fühlte. Doch dieser Bierbrauerssohn hatte zum nimmersatten Sohn der Allgebärerin recht. Wenn er alleine gegen die Zauberstabträger kämpfte würde sein Volk untergehen und er entweder mit ihm sterben oder als in Durins ungnade lebender König ohne Land darben, vielleicht dazu gezwungen, in einem anderen Reich die nidrigsten Arbeiten zu verrichten, um dort leben zu dürfen, sowie es die Gesetze verlangten. Dann durchflutete ihn ein verwegener Gedanke: Ja, er hatte ja schon daran gedacht. Warum eigentlich nicht. Diese im Speck ihres mit Gold und Frieden erkauften Wohlstandes eingebackenen Maden waren doch keinen Kampf mehr gewohnt. Er konnte sich hier und jetzt hinstellen und Roudorin wegen seiner herabwürdigenden Rede zum Kampf der Könige herausfordern. Damit würde er diesen Bierbrauerssohn entscheidend treffen. Denn Malin besaß die Waffen aus seinen eigenen Prüfungskämpfen. Damit konnte er Roudorin Bierfeuer bezwingen und sein Volk übernehmen. Doch was dann? Dann musste er, weil sich die anderen zurecht bedroht fühlten, gegen jeden der anderen Könige kämpfen. Der Lohn wäre die Alleinherrschaft über alle neun Völker, die freie Wahl seines Thronhauses und die Übernahme aller Ehefrauen der Besiegten. Doch er wusste aus der Geschichte, dass es bisher keinen König gab, der alle Königreiche gewonnen hatte. Der norwegische König Aldurin III. Eisenstiefel hatte es vor tausend Sonnen geschafft, die Nachbarn in Schweden und Dänemark zu bezwingen und hatte zwanzig Sonnenkreise lang regiert. Doch dann hatte ihn ein schwedischer Zwerg herausgefordert und ihn besiegt. Damit war die Dreiheit der Nordlandreiche wieder zerbrochen, weil es aus jedem Land einen Nachfolger gab, der die Königswürde unverzüglich erobern wollte. War er sich sicher, jeden hier sitzenden König besiegen zu können? Sicher, sie hatten klargestellt, dass sie keinen Kampf wollten. Doch hieß das, dass sie nicht kämpfen konnten, wenn sie mussten? Dann fiel ihm noch etwas ein: Die französischen Zauberstabträger würden ihn niemals als König der bei ihnen lebenden Zwerge anerkennen, weil sie von diesem von einer Tochter der mächtigen Sängerin gesegnetem Weib beherrscht wurden. Zudem konnte der französische Hüter der Ereignisse und Gebräuche festlegen, dass sich der Sieger des Kampfes nur dann auf den französischen Herrscherstuhl setzen durfte, wenn er gelobte, mindestens ein halbes Jahr dort zu wohnen. In der Zeit konnten ihn dann auch die anderen Könige herausfordern, weil für die die Zwölf-Jahres-Regel nicht galt. Was blieb ihm also, um ohne weiteren Schimpf und noch größerer Schande aus dieser Lage herauszukommen?
„Ich danke Durin für seinen Rat, euch zu diesem Rat einzuberufen“, sagte Malin nach zehn weiteren Atemzügen völliger Stille. „Denn so weiß ich nun, dass mich der Hauch des Nimmersatten berührt hat, der aus unstillbarem Hunger auf unser aller Fleisch und Blut darauf lauert, dass möglichst viel Blut in den Schoß unser aller Mutter sickert, an dem er sich satttrinken will. Ja, er gebot sicher auch den Spitzohren, mich zum Hass und zur Wut zu verleiten, weil er auch deren Fleisch verzehren will. So habet Dank, ihr, meine weisenund erfahrenen Brüder, dass ihr mir davon abrietet, dem Ruf des Kampfes zu folgen, ohne in der Bedrängnis des unmittelbaren Angriffes auf mein Volk zu stehen. Ich bin noch nicht lange König in meinem Reich. Daher kannte und konnte ich nicht, was ihr bereits erlernt und vollbracht habt. Habet Dank für die Gnade eurer Weisheit, die ihr mir zuteilwerden ließet. So hoffe ich auch darauf, dass ihr mir einen Rat geben könnt, wie ich, ohne mein Volk in Unterwürfigkeit zu treiben, mit den Spitzohren verfahren kann, wenn es nicht der blutige Kampf sein soll. Wer möchte mir etwas raten, immer unter der Voraussetzung, dass mein Volk sich dadurch nicht herabgewürdigt fühlen wird?“ sprach Malin VII. und musste sich sehr anstrengen, die eigene Abscheu vor seinen Worten zu verbergen. Er wusste, er musste Zeit erkaufen. Noch war er nicht mächtig genug, um gegen die Spitzohren alleine anzutreten. Die anderen Könige zu bezwingen mochte zwar gelingen, würde aber gleichzeitig Zeit kosten, die die Feinde außerhalb von Durins Völkern nutzen würden. Zeit war, was er brauchte und etwas, womit er alles zu seinen Gunsten wenden konnte. Falls dann nötig konnte er immer noch den Kampf der Könige wählen und diesen Dickwanst Roudorin Bierfeuer da neben sich niederwerfen und dessen Volk und seine Frauen zu übernehmen.
Wie er es mit seinen scheinbar einlenkenden und Einsicht heuchelnden Worten herausgefordert hatte bat nun jeder der Anwesenden ihn, seinen Rat anzuhören. Er nahm alles so geduldig wie er konnte in sich auf, so wie sein mitgeführter Erinnerungsstein und alle Steine der Erinnerungen hier in der Höhle. Als keiner mehr was raten wollte sagte er: „So danke ich noch einmal dem großen Urvater Durin, dass wir uns hier treffen durften, dass ich euch und eure Weisheit kennenlernen durfte und dass mir erspart bleibt, einen aussichtslosen Kampf ohne Rückendeckung und ohne Aussicht auf Erfolg und Ehre zu führen. So bitte ich nun um die beschließende Bitte an Durin, uns einen sicheren Weg nach Hause und eine sichere Hand für unsere nächsten Zeiten zu gewähren!“
sie sprachen die Anrufung an den Urvater Durin, der aus dem jungfräulichen Schoß der Allgebärerin entstiegen war und dann, als die Allgebärerin die grünen Kinder aus sich geboren hatte, weitere Nachkommen mit ihr zeugte, die alle sein Erbe waren. Allerdings waren da auch einige Missgeburten bei, die zu großen ja übergroßen Wesen wurden und auch jene, die wegen einer ungünstigen Lage zum Himmel mehr Gier und Verschlagenheit, Ungehorsam und Heimtücke ererbt hatten. Sie dankten Durin für diesen Rat und dass er sie alle in seiner unendlichen Weisheit zusammengeführt hatte. Dann baten sie ihn um seinen Segen für den sicheren Rückweg und um seine Gunst bei ihren kommenden Amtsgeschäften. Als diese verpflichtende Anrufung des Urvaters aller Erdkinder beendet war erhoben sich alle neun Könige von ihren Plätzen. Malin und Huorchino klopften mit ihren Erinnerungssteinen auf den Tisch, damit dieser verzeichnete, dass die Versammlung beendet war. Ein Beben durchlief Tisch und Boden. Dann tat sich die Tür auf. Zwei der lautlosen Wächter traten ein und winkten den neun Königen ihnen zu folgen. Als sie alle hinausgetreten waren huschte ein dritter der sechs Brüder herein und löschte alle Lampen. Dann verschwand er so lautlos wie ein Schatten aus dem Versammlungssaal. Leise schabend und rumpelnd glitt das steinerne Tor wieder zu und verriegelte sich. Damit galt nun auch, dass ein voller Sonnenkreis vollendet sein musste, bis ein neuer Rat der Könige in dieser Halle stattfinden durfte.
„Er hat gemerkt, dass er keinen Rückhalt bekommt und meint, mit genug Zeitund Ränke die anderen soweit zu schwächen, dass er ihre Macht brechen und sich dann einverleiben kann“, hörten fünf der Brüder den einen, der die Könige zum Ausgang aus der Halle der steinernen Erinnerungen führte. Ein weiterer schickte zurück: „Es ist nicht die Stimme seines eigenen Herzens, die ihn dazu treibt, mehr sein zu wollen als ihm gewährt wurde. Jene, die ihn im Auftrag unser aller Mutter in sich ausreifte und auf unsere Welt hinauspresste hält ihn sich immer noch gefügig. Er folgt nur ihrem Rat, bei einer nicht erreichbaren Mehrheit lieber auf Zeit zu hoffen statt sich alleine in den Kampf zu stürzen.“
„Ja, aber er dachte auch an den Kampf der Könige“, schickte ein dritter der Wächter für alle seine Brüder vernehmbar zurück. „Das ist richtig. Doch widert es ihn an, in einem Land zu herrschen, dessen machtvolle Bewohner von einer Frau geführt werden und er sie nicht mal eben töten darf, ohne sich den Zorn der anderen Machtvollen einzuhandeln.“
„Auch dies hast du richtig erfasst, Bruder Mittagslicht“, bestätigte der erste Wächter mit lautloser, aber für alle fünf anderen verständlicher Geistesstimme.
„Was denkt ihr anderen? Wird er die Geduld aufbringen, seinen Weg der Eroberung fortzusetzen, wenn er ihm günstig erscheint, oder wird er so wie die anderen darauf eingehen, lieber satt, reich und glücklich zu leben, als sich mit viel Blut und Tränen einen Platz in der Geschichte zu erstreiten?“ fragte der vierte der Sechslinge, der wegen seines Geburtszeitpunktes Sonnenuntergang hieß. Sein Bruder Morgensonne, der älteste von ihnen und am besten in der Kunst des Hörens fremder Gedanken bewandert erwiderte: „Er hängt immer noch an einer unsichtbaren Nabelschnur seiner Gebärerin und weiß dies auch. Sie wird entscheiden, wohin er sich von ihr treiben lassen wird. Doch hoffen wir, dass die von ihr gefühlten Schmerzen seiner Geburt sie dazu bringen, ihn nicht auf dem Blutstein falschen Ruhmes zu opfern.“
„Sie ist der Sucht nach Macht erlegen und führt ihn wie einen Hammer oder eine Nähnadel, wie sie es gerade für richtig hält, Bruder Morgensonne“, erwiderte Bruder Mittagslicht von allen vernehmbar. Dann übermittelte Bruder Abendlicht, der jüngste: „Brüder, lasst uns hoffen, dass wir einst wieder aufwachen können, wenn es noch genug von Durins Erben auf unser erhabenen Mutter duldsamem Leibe gibt. Doch ich fühle bereits die ersten Wogen des bewahrenden Schlafes. Lasst unns in die Kammern des tiefen Schlafes zurückkehren und wie uns aufgetragen wurde ruhen, bis wieder ein König aus Durins Völkern an unsere Tür klopft.“
„Ja, kleiner Bruder Abendlicht. Gehen wir wieder schlafen“, schickte Bruder Morgensonne an ihn und die anderen vier zurück.
Lautlos wie bisher eilten die sechs Wächter der steinernen Höhle der Erinnerungen in die große, nur von ihren Händen und den vereinbarten, im Chor gedachten Gedanken zu öffnenden Kammer mit den sechs steinernen Liegen. Kaum dass jeder auf der ihm zugeteilten Liege ausgestreckt lag erstarrten alle sechs wie versteinert. So konnten sie wieder Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ausharren, ohne Hunger, ohne Durst, ohne Langeweile.
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„Drei Tage von nun an“, grummelte der erste Bewahrer und deutete auf einen aus sich heraus leuchtenden Wandkalender, der für jeden Monat ein anderes Wahrzeichen der USA zeigte. In drei Tagen war der erste Juni. Dann würden seine heimlichen Helfer an alle amerikanischen Zeitungen und Rundfunkstationen mehrere Pergamentrollen verteilen, auf welchen die von den ach so großen zehn des Westens verheimlichten Aktionen und Vereinbarungen aufgeführt waren. Seine Mitstreiter in Nevada, Texas, Georgia und Maryland würden bestätigen, dass die Quellen zuverlässig recherchiert waren und im Bedarfsfall auch Zeugen benennen, die zu den einzelnen aufgelisteten Gesetzesverstößen aussagen würden.
Auch gingen die Stör- und Verwirrungsaktionen weiter. Zwar galt Chicago für den Zauberer, der sich selbst wie eine Spinne im Netz fühlte als verloren. Doch er musste zugeben, dass Rushfords Aktion lange nachwirkte. Nicht nur in Illinois begehrten nun die Befürworter regionaler Eigenständigkeit gegen die angebliche Niederschlagung durch die Reunionisten auf, sondern vor allem in den Süd- und Mittelweststaaten, die sich schon darauf eingerichtet hatten, ihre kleinen, überschaubaren Staaten alleine weiterzuführen und nicht mehr von Vorgaben von der Ostküste abhängig zu sein. Auch wenn der erste Bewahrer einen Bürgerkrieg der Zauberergemeinden als schlimmste Auswirkung ansah, waren er und seine Mitstreiter entschlossen, lieber zu kämpfen als sich noch einmal von einer Zentraladministration bevormunden zu lassen. Der erste Bewahrer dachte aber auch daran, was geschah, wenn der neue MAKUSA verhindert wurde und sich die regionale Eigenständigkeit dauerhaft durchsetzte. Irgendwann würden die einzelnen Administrationen anfangen, mit Argwohn, Missgunst oder offener Feindschaft auf ihre Nachbarn oder weiter entfernt liegende, wesentlich besser gestellte Staaten blicken. Dann galt es, einen neuen, wesentlich heftigeren Krieg zwischen einzelnen Staaten oder Zweckbündnissen zu verhüten. Für diesen Fall hatte der erste Bewahrer jedoch schon Pläne ausgearbeitet, von denen seine als heimliches Zweckbündnis zusammengeschlossenen Mitstreiter erst einmal nichts erfahren durften, um keine sich selbst erfüllende Prophezeiung auszusprechen.
„Was macht unsere Hexenjägerin Nummer eins, Ross?“ fragte der erste Bewahrer einen gemalten Boten in Gestalt eines Mannes in jägergrüner Aufmachung mit Federhut auf dunkelbraunem Flügelpferd.
„Oh, Atalantas wackere Hexenjägerinnen haben sich erst angestrengt, zwanzig Hexen pro Tag heimzusuchen. Doch weil sich das rumgesprochen hat wurden die meistens von Sicherheitstruppen erwartet. Diese angebliche Sonne der Reinheit ist schon wieder am untergehen, weil die in New York zwei von Atalantas Inobbskuratoren gekrallt und in Sicherheitsverwahrung genommen haben. Könnnte sein, dass Atalanta Bullhorn bald einen Gegenbesuch bekommt. Könnte aber auch sein, dass die einzelnen Administratoren abwarten, was der neue MAKUSA beschließt“, sagte Ross mit schadenfrohem Grinsen.
„Ja, und sie sollte hoffen, dass keine der von ihr gejagten Schwesternschaften Spioninnen in den Administrationen hat, die ihre Leute einkassiert haben. Dann wäre der MAKUSA das aller kleinste Problem“, sagte der erste Bewahrer mit verächtlicher Stimme. Doch innerlich bangte er darum, dass solche Spioninnen auch herausbekommen mochten, dass er die Regionalpatrioten aufgehetzt hatte, die Staaten ins Chaos zu stürzen, um sie als Einzelstaaten weiterbestehen zu lassen. Ja, und mit dem von seinen Vettern Mac und Jack ausgeführten Überfall auf Steedfords Reisekutsche hatte er sich selbst für die dunklen Hexenorden zum Feind gemacht. Er erinnerte sich noch gut daran, was ihm seine Nichte erzählt hatte: „Für uns Schwestern ist jede andere Hexe eine Schwester, auch wenn sie noch nicht weiß, dass sie bald eine von uns ist oder sich entschieden dagegen auflehnt.“ Also würden heimliche Schwesternschaften wie jene, in die seine Nichte eingeschleust worden war kein Pardon kennen, wenn jemand das Leben von Hexen gefährdete, auch und vor allem um als Mann die Welt beherrschen zu wollen. Doch er wollte nicht die Welt beherrschen. Die vereinigten Staaten sollten ihm genügen.
„Bleib weiter über dein Gegenstück im reaktivierten IOB auf dem Laufenden, was Bullhorns neue Jagdtruppe vorhat! Ich will nicht, dass die auf einmal vor unseren eigenen Türen steht“, sagte der erste Bewahrer zu Ross, der eher zufällig als gezielt in grüner Jägerkleidung abgebildet war. „Ich habe meinen Gegenstücken schon klargemacht, dass ich sofort Bescheid kriege, wenn die irgendwas anstellen“, bekräftigte der Bote in Grün. Der erste Bewahrer nickte.
Randolph, ein Reiter auf einem braun-beige geschekctem Flügelpferd, eilte in sein Bild und rief: „Alarm, Boss! Centreturs Handlanger haben unsere Quelle in Baton Rouge aufgedeckt und einkassiert. Der könnte reden.“
„Was für ein Volltroll!!“ schimpfte der erste Bewahrer. „Ich habe dem klar und deutlich erklärt, dass er nach der Aktion mit den beschafften Dokumenten keine weiteren Aktionen mehr durchführen soll. Hat der sich bei sowas erwischen lassen, Randolph?“
„Unbekannt. Mein Gegenstück bei ihm hat nur noch den vereinbarten Notruf erhalten. Dann kam nur noch durch, dass wohl ein Sicherheitsbeauftragter der Motiones Mansionum unseren Kundschafter zum Verhör abgeführt hat.“
„Dann bleibt nur zu hoffen, dass die Administration von Louisiana das nicht hinnimmt, wenn ein wichtiger Zauberer verschwindet, ohne sich abzumelden“, schnaubte der erste Bewahrer. Zumindest ging er davon aus, dass der Kundschafter nichts von der heimlichen Vereinigung Einzelstaatenbefürworter war. Der kannte wenn es hochkam nur den texanischen Kontaktmann und den Namen Tucker Greengrass.
„Remo, losreiten und Tuck Greengrass warnen, dass sein Nachrichtenbeschaffer aufgeflogen ist!“ wandte sich der erste Bewahrer an einen gemalten Boten in hellblauer Kleidung mit sonnengelbem, breitkrempigen Hut auf dem Kopf, der wie eine Kreuzung aus Stetson und mexikanischem Sombrero aussah.“
„Geht klar, Boss. Bin auf dem Weg!“ rief Remo, der wie ein typischer, braungebrannter Texascowboy aussah und trieb seinen sandbraunen Flügelhengst mit einem lauten „Yiiiiiihaaaa!!“ zum fast senkrechten Abflug. In nur einer halben Sekunde war der Bote aus dem Bild verschwunden. „Okay, an alle hier gerade wartenden Boten, an die Beobachter in den Familienunternehmen des Zehnerclubs weitergeben, sich im Fall einer drohenden Gefangennahme mit Portschlüssel absetzen, nicht disapparieren und nicht versuchen, sich den Weg freizufluchen! Wer eingesackt wird gilt als tot und von unserer Seite her nicht bekannt.““
„Verstanden, Boss!“ riefen alle gerade im Nachrichtenraum anwesenden gemalten Boten. Dann ritten sie los, den Auftrag auszuführen.
„Das hätte nicht passieren dürfen“, grummelte der erste Bewahrer, als keiner seiner Boten mehr in Hörweite war. „In drei Tagen soll die Aktion „Leichenschau“ starten. Da brauchen wir die Zuträger zu den Zeitungen und Rundfunkleuten.“
Er dachte auch daran, dass nicht nur die zehn Familien seine heimlichen Helfer jagten und all zu gerne aushorchen wollten, sondern auch Atalantas Truppe und die von dieser gejagten Schwesternschaften wissen wollten, wer er war und was er alles wusste und vorhatte. Sollte er sich in seinem mit allen Finessen magischer Vorkehrungen gesicherten Raum zurückziehen? Doch nein, dann würde er ja alle seine potentiellen Widersacher mit der Nase darauf stoßen, dass er der gesuchte Unruhestifter war. außerdem lag es nicht in seiner Natur, sich zu ducken und über Wochen zu verstecken. Womöglich musste er gegen jene Feinde kämpfen, die ihn aufzufinden schafften.
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Die Kesselgasse von Deltaville hieß so, weil hier alle zwölf Thaumaturgen des Ortes ihre Werkstätten errichtet hatten und immer wieder an Braukesseln, Zauberwerkzeugen oder anderen nützhlichen Gegenständen hämmerten, schliffen, feilten oder nähten. Dementsprechend klangen Schmiedehämmer auf Ambossen, das Schaben von Sägen oder ein Zischen wie von ungleichmäßig abbrennenden Flammen oder aus Überdruckventilen entweichender Dampf. Links und rechts der staubigen Fahrstraße verliefen hölzerne Bürgersteige, die wegen der hier erhöhten Feuergefahr mit unentflammbaren Eisenblechen beschlagen waren.
Die Turmuhr des 300 Meter entfernten Gemeindehauses begann soeben die Mittagsstunde einzuläuten. Nach dem zweiten Glockenschlag krachte es wie aus vier Pistolen abgefeuerte Schüsse. Vier Männer in ziegelroten Umhängen apparierten mitten auf der Fahrstraße, die eher Zierrat als wirklich für Fuhrwerke angelegt war. Einer von ihnen trug einen schwarzen Zaubererhut, auf dessen Vorderseite ein kreisrundes Wappen prangte, das einen über fünf goldenen Eiern hockenden blauen Drachen zeigte, der fünf gelbrote Flammenzungen aus dem halboffenen Maul entfahren ließ. Die drei anderen trugen keine Kopfbedeckungen. Der mit dem Hut hielt eine anderthalb Arme lange Fahnenstange mit einer weißen Flagge daran in der linken Hand. Seine drei Begleiter hielten nur halbe Armeslängen lange Fahnenstangen mit entsprechend kleineren weißen Fahnen daran.
Der fünfte und sechste Glockenschlag übertönten das Hämmern und Zischen aus der Kesselgasse. Da krachte es erneut, und vier weitere Zauberer erschienen aus dem Nichts heraus. Sie trugen himmelblaue Umhänge. Einer von ihnen trug einen himmelblauen Stetsonhut, auf den vorne ein rundes Zeichen aufgestickt war, ein fuchsrotes Pferd, dass eine blaue sechsfach gewellte Linie übersprang. Die drei anderen Zauberer trugen nur blaue Stetsons statt der sonst üblichen Spitzhüte.
Als der zwölfte Schlag der Turmuhr verhallt war begrüßte der Wappenträger in Blau jenen in Rot mit einem Schwenken der weißen Fahne. „Eines muss man Ihnen lassen. Sie sind pünktlich“, sagte der augenfällige Anführer der zweiten Gruppe zu dem der ersten. „Uns, beziehungsweise unserer Familie liegt sehr viel daran, die neuerliche Unstimmigkeit für beide Seiten schnellstmöglich und zur beiderseitigen Zustimmung auszuräumen. Es darf nicht sein, dass andere von unserem Zwist profitieren mögen und damit uns beide schwächen“, sagte der Führer der zuerst eingetroffenen Gruppe, Sebastian Duchamp, studierter Rechtsanwalt der Familie Duchamp zum Anführer der zweiten Gruppe, Rore Steedford, Verhandlungsbevollmächtigter der Firma Fliegender Fuchs und blutsverwandter Hausanwalt der Familie Steedford.
„Wo befindet sich der von Ihnen vorgeschlagene Treffpunkt?“ wollte Sebastian Duchamp wissen. Steedford deutete mit dem Zauberstab hinter seine Leute und bis zu einer Abzweigung und nach links. „Die Schankgasse liegt da. Der Saloon Delta vier ist wie der Name sagt das vierte Haus rechts nach der Abzweigung. Bitte mir zu folgen!“ sagte Rore und trieb seine Leute an, seine Flanken zu sichern.
Die Schankgasse hatte ihren Namen von den zwei Saloons und drei Gasthäusern, fünf Bratwurstbuden und einem Steakhaus.
Als sie durch die Schwingtür eines Saloons eintraten drang ihnen wohltönende Pianomusik entgegen. Sebastian Duchamp sah und hörte, dass hier ein veritabler Konzertflügel zum Einsatz kam. Das Instrument glänzte mattschwarz, und der daran konzertierende Musiker trug einen lindgrünen Frack über einem blütenweißen Hemd mit Stehkragen. Sebastian staunte, dass hier, in einer wie im 19. Jahrhundert eingefrorenen Ansiedlung, erlesene Klaviermusik von Ludwig van Beethoven zum besten gegeben wurde. Doch viel wichtiger war, dass der Saloonwirt, der mit einer weiß-blauen Schürze bekleidet hinter der massiven Theke stand und auf die Bestellungen der hier gerade weilenden zehn Gäste, vier Herrenund sechs Damen wartete, gleich beim Eintreten auf Rore und dann auf eine Tür hinter der Theke deutete. „Guten Tag, Mr. Steedford. Ich habe das Hinterzimmer freigehalten. Wenn Sie bis um sechs mit allem durch sind kommen Sie nicht mit Alwins Pokerclub ins Gehege.“
„Danke, Woody“, sagte Rore Steedford und winkte seine sieben Begleiter, ihm ins Hinterzimmer zu folgen.
Das Zimmer sah aus wie ein Konferenzraum mit getäfelten Wänden, einem runden grünen Tisch und bis zu zehn Stühlen. Als die Tür probehalber zugezogen wurde war von draußen kein Laut mehr zu hören.
„Möchten Sie Ihr übliches Getränk, Mr. Steedford?“ fragte der Schankwirt, der die acht in das Hinterzimmer geleitet hatte. „Erst einmal Kürbissaft. Vielleicht später, wenn es was zu feiern geben sollte“, sagte Rore Steedford. Seine Begleiter schlossen sich dem Wunsch an. Sebastian Duchamp studierte die an der Wand hängende Getränkekarte und las, dass heute Deutschlandtag war. Also bestellte er für sich eine Maß helles Bier. Seine Begleiter orderten Traubensaft. „Wenn Sie was essen möchten, wir haben heute Schnitzeltag, also Schnitzel in allen Soßen- und Würzarten mit oder ohne Bratkartoffeln und gemischten Salat, undLeny hat ihre unvergleichlichen Butterbretseln gebacken.“
„Im Moment wollen wir erst mal unsere Besprechung halten“, lehnte Steedford für alle ab. „Wenn Sie unsere Getränke gebracht haben fragen Sie alle dreißig Minuten nach, falls Sie nicht zu viel zu tun haben, Woody.“
„Wie Sie wünschen, Mr. Steedford. Gutes Gelingen!“ erwiderte Woody und verließ das Hinterzimmer.
„Wir warten besser, bis er die Getränke gebracht hat, bevor es losgeht“, legte Steedford fest. Sebastian Duchamp sah seine Leute an und bedeutete ihnen, sich weiterhin stillzuverhalten. Sie waren im Grunde auch nur Schutztruppe und Gesprächszeugen ohne eigenes Stimmrecht.
Die Getränke waren nach nur einer halben Minute da. Dann schloss Woody die Tür wieder von außen.
„Zunächst einmal übermittelt mein Vorgesetzter und Großvater in Personalunion sein Bedauern, dass Ihrem Familienmmitglied Duncan Steedford dieses Ungemach widerfuhr. Dann möchte ich beweisen, dass unsere Familie nichts mit diesem unrühmlichen Zwischenfall zu tun hat und dass wir uns auch weiterhin an den Beschluss des Zwölferrates vom ersten Juli 1960 halten werden, der jede tätlichkeit gegen Personal und Eigentum der Firma Fliegender Fuchs untersagt“, begann Sebastian Duchamp. Rore Steedford hörte ihm zu und nahm die von Duchamp gemachten Aussagen mit einer Pokermiene zur Kenntnis, als könne ihn nichts und niemand aus der Ruhe bringen. Nach fünf Minuten hatte Sebastian alle Unterlagen zum Taatzeitpunkt und aller ihren Aufenthaltsort freigebenden Familienmitglieder dargelegt und noch einmal versichert, dass die Familie Duchamp es nicht nötig habe, irgendwelche maskierten Handlanger vorzuschicken, wenn es um direkte Zusammentreffen mit den Steedfords ginge. Rore meinte dazu: „Das ist uns eigentlich bekannt. Ihr Großonkel Louis hat den letzten eindeutig Ihrer Familie anzulastenden Überfall ja mit seinen drei tunichtguten Söhnen ausgeführt und ja gewagt, uns ein Ultimatum zu stellen, entweder unsere Unternehmungen einzustellen oder Wegezoll zu bezahlen, wenn wir über Duchamp-Gebiet hinwegflögen“, sagte Rore Steedford.
„Ja, und unsere Familien wären deshalb fast bis zur Bedeutungslosigkeit dezimiert worden“, ergänzte Rore Steedford. Dann legte Sebastian Duchamp noch etwas vor, was er bis hierhin aufgespart hatte, um es als wichtigsten Punkt zu präsentieren.
„Der Regionaladministration von Baton Rouge gelang vor wenigen Tagen ein unerwarteter Zugriff. Ein gewisser Jonathan Fitzworth, zuständig für den Handelsstützpunkt Louisiana, wurde dabei ertappt, wie er an eine unbekannte Empfangsstelle eine Nachricht über geplante Störungen der Regionaladministration weitergeben wollte. Er hatte wohl geplant, uns von der goldenen Triangel die Schuld daran zuzuschieben, also dass wir die Rekonstitution des MAKUSA ablehnenund mit allen Mitteln, auch gewaltsamen, verhindern wollen. Es gelang zwar, den Zauberer selbst in Gewahrsam zu nehmen. Doch auf welche Weise er mit wem in Verbindung stand und welche Pläne er noch geschmiedet hat oder für wen anderes verwirklichen soll konnte nicht ermittelt werden, weil Fitzworth bei seiner Festnahme offenbar ein Auslösewort für eine breitangelegte Vernichtung verräterischer Unterlagen und Nachrichtenmittel ausgelöst hat. Offiziell wird Fitzworth von der Regionaladministration in Gewahrsam gehalten und verhört. Doch bei den bisher fünf Befragungen hat er beteuert, in ganz eigener Person zu handeln und, nun kommt es, seiner Familie die neue Vormachtstellung in Louisiana zu verschaffen und die drei Familien, die bisher in Louisiana bedeutsam sind, in Verruf oder gar Verdacht krimineller Machenschaften zu stürzen, um ihre Bedeutung auszulöschen, wenn nicht sogar alle Familienmitglieder zu lebenslänglicher Haft oder gar dem Tod verurteilen zu lassen. Allerdings glaubt unser Gewährsmann in Baton Rouge das nicht. Legilimentische Verhöre erbrachten, dass er offenbar mehrere Geheimnisse in sich aufgenommen hat, die auch mit Wahrheitstränken nicht hervorgeholt werden können.“
„Was genau wurde vernichtet?“ wollte Steedford wissen, der zunächst keinen Kommentar abgeben wollte, ob er das erzählte glaubte oder nicht. „Die gesamte Wohnungseinrichtung von Jonathan Fitzworth. Offenbar hat er gespeicherte Spreng- und Brandzauber angebracht, um sie im Falle seiner Entlarvung freizusetzen, bevor jemand erfährt, ob er für noch wen gearbeitet hat oder nicht. Deshalb kann nicht gesagt werden, ob er mit sprachfähigen Motiven von Zauberergemälden, Fernkopierzaubern oder Schallverpflanzungsgerätschaften gearbeitet hat.“
„So, und weiß Ihre Familie, ob die Regionaladministration Baton Rouge über jenes meistens sehr nützliche Rückblickartefakt verfügt, um die Ereignisse der letzten 48 Stunden nachzubetrachten, sofern dort kein dauerhafter Unortbarkeitszauber wirkte?“ wollte Rore Steedford wissen.
„Meine Familie selbst erfuhr davon nichts, da die für derlei zuständigen Beamten nicht mit uns in Verbindung stehen. Aber unser Confrère Centretour konnte über seinen Schwiegerenkel erfahren, dass das Haus wahrhaftig durch Anbringung von acht Unortbarkeissteinen für Fernbeobachtung, Standortbestimmung, Fernbelauschung und Personensuche abgeschirmt war. Allerdings zerstörten sich die Steine, als die Sicherheitstruppe von Regionaladministrator Daniel Bellebouche sie aufspürte. Wieder einmal hat sich die von Florymont Dusoleil als für Strafverfolgungszwecke so praktisch angepriesene Rückschaubrille als unbrauchbar erwiesen“, knurrte Sebastian Duchamp. Dabei wussten hier alle, dass die Duchamps selbst Unortbarkeitszauber über ihrer Wohnstatt und ihren Kontoren im Bayoo errichtet hatten. Rore überging daher diese gespielte Entrüstung mit dem Satz: „Was dafür spricht, dass dieser Fitzworth, wenn er denn wirklich so heißt, ein professioneller Spion und Erfüllungsgehilfe von wem ist. Aber wie wollen wir herausfinden, für wen?“
„Monsieur Centretour erlaubte meinem Herrn Großvater, mir zu gestatten, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass diese Frage Gegenstand weiterer Verhöre und Nachforschungen ist. Allerdings besteht die Gefahr, dass Fitzworths Tätigkeiten sich nicht nur auf das Gebiet von Louisiana beschränken, sondern andere Staaten mit einbeziehen und die gegenwärtige Regelung keine staatenübergreifenden Sicherheitsnachforschungen erlauben. Hierzu muss erst wieder das föderierte Büro für magische Strafverfolgung und Gesetzesdurchsetzung wiedereröffnet werden und die US-weite Eingreiftruppe der Inobskuratoren mit den Rechten für alle fünfzig Bundesstaaten ausgestattet werden, also frühestens ab dem ersten Monat nach erfolgreicher Konstitution des MAKUSAs, was nach bisheriger Planung der 15. September oder eben der Tag danach sein wird.“
„Und dieser Fitzworth hütet mehrere Geheimnisse?“ fragte Rore Steedford. Sebastian Duchamp bejahte das. „Der Regioadmin hat verboten, ihn noch intensiver zu verhören, da er von Fällen gehört hat, wo die ertappten Spione bei stärkerer oder gar sie zur Preisgabe zwingender Befragung starben“, daher bleibt im Moment nur, ihn in Tiefschlaf zu beherbergen, bis die erwähnten föderalen Gesetzesdurchsetzungsbehörden ihre Arbeit aufgenommen haben werden.“
„Besteht die Möglichkeit, dass Ihre oder unsere Familie sich dieses Gefangenen bemächtigen können?“ fragte Rore Steedford ganz ruhig. Er wusste noch nicht, ob die Duchamps hier ein Bauernopfer vollzogen hatten oder überhaupt eine falsche Fährte auslegten. Es wunderte ihn nicht, als Sebastian Duchamp antwortete: „Da zu befürchten steht, dass nicht nur wir an den geheimen Kenntnissen dieses Spiones interessiert sind wurde er an einen mit Fidelius-Zauber geschützten Standort verbracht und dort in Tiefschlaf versenkt.“ Fast hätte Rore „Wer hätte das gedacht?“ geantwortet. Doch er hielt seine Linie durch, keine gefühlsmäßigen Regungen zu zeigen, wenn er in offiziellen Verhandlungen steckte.
Es ging dann noch um mögliche geschäftliche Beziehungen, die den Frieden zwischen den zwei im Streit liegenden dauerhaft sichern konnten. Duchamp und Lachaise hatten hierzu mehrere Vorschläge gemacht, unter anderem den, dass die Relaisstationen für die geflügelten Pferde kleine Flohnetzanschlüsse zur Weiterleitung von Posteulen erhalten mochten, um ihr Geschäft mit individueller Nachrichtenübermittlung über die ganzen USA hinweg auszubauen. Außerdem bot Lachaise den Duchamps an, bezauberte Holzteile für die fliegenden Reisekutschen zu liefern, um diese leichter und witterungsbeständiger zu machen. Das Geschäft sollte dann über die Duchamps abgewickelt werden und diese somit an den Umsätzen beteiligt werden, was, so die zwei Unterhändler, einen weiteren Anreiz für ein friedliches und prosperierendes Miteinander bieten mochte. Die Zuhörenden machten erstaunte Gesichter oder wiegten ihre Köpfe. Doch sie gaben keinen Ton von sich. Womöglich dachten viele von denen, warum das alles jetzt erst auf den Tisch gebracht wurde, wo die Fehde zwischen den Steedfords und Duchamps schon seit der Zeit bestand, als die Duchamps sich das Flohpulveroligopol der USA gesichert hatten und jede weitere Konkurrenz bekämpfen wollten. Offenbar hatte da jemand den Duchamps gehörig ins Gewissen geredet, dachte Steedford. Da er Abschlussbevollmächtigter seiner Familie war erörterte er mit Sebastian Duchamp die Einzelheiten und befragte hierzu zwei seiner Begleiter, die sich mit der Organisation der Relaisstationen auskannten, ob die ausschließlich für Posteulen bis zur Größe eines Uhus ausgelegten Kamine zeitnah eingebaut und ans Flohnetzwerk angeschlossen werden konnten, wenn die allgemeine Flohregulierungsbehörde und eine Behörde für magischen Personen- und Warentransport reinstitutionalisiert sein würden. Da Steedford nicht gleich herausrücken durfte, wo genau die Relaisstationen lagen schlug er zunächst vor, die in Louisiana und Mississippi angelegte Station mit Probekaminen zu bestücken, um die Transportlogistik, den Personalaufwand und die Einbauzeit zu ermitteln und davon ausgehend zu errechnen, wie viel Aufwand und Zeit benötigt werden würde, sämtliche Relaisstationen für die Briefzustellung per Flohpulver von privater Adresse a an Empfängeradresse B oder Z zu ermöglichen. Steedford ging darauf ein, einen Vertrag zu verfertigen, um die Probeinstallationen zu errichten und auf ihre Effektivität zu prüfen. Denn bisher konnten die berittenen Brief- und Paketkuriere innerhalb eines Tages an die fünfzig Zustellungen von der Ost- bis zur Westküste, von Alaska bis Texas gewährleisten. Einzig Hawaii, der letzte und am weitesten entfernte Bundesstaat, war nicht mit den geflügelten Pferden zu erreichen. Hier musste dann jenes Interkontinentalexpressflohpulver verwendet werden. Dies versprach eine Ausdehnung der höchst individuellen Zustellungsangebote von „Fliegender Fuchs“.
„Man verzeiehe meinen Einwurf“, sagte einer aus Duchamps Begleittrupp. „Aber die Eulenzüchter werden das nicht sonderlich witzig finden. Die Greendales haben auch große Eulenfarmen und Eulentrainingshöfe.“
„Einwand gestattet und zur Kenntnis genommen“, sagte Sebastian Duchamp und wandte sich wieder an Steedford. „Nun, wir beide wissen, dass die Eulenpostzustellung über ein so großes Land wie die USA eine Sache mehrerer Tage bis Wochen ist. Ohne unseren berittenen Zustelldienst oder … na ja, … Ihr Engagement für den Ausbau und die Beschleunigung des Flohnetzwerkes müssten Absender und Empfänger einer behördlichen Nachricht bis zu einem Monat warten, bis eine Antwort auf ein Schreiben zurückkehrt. Die Eulenzüchter haben sich deshalb halten können, weil sie dem zugestimmt haben, dass die von ihnen gezüchteten Vögel auch für Reisen durch das Flohnetz geschult werden, übrigens nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa, Indien, den europäisch geprägten Staaten Afrikas und Australien und Neuseeland. Aber wo Sie die Greendales erwähnen, Mr. Eugène Duchamp, so sind diese doch über die Southerlands und McDuffys bereits in die Flohpulverversendungen ihrer Eulen oberhalb der Mason-Dixon-Linie einbezogen und verdienen je Transport eine bis vier Bronzemünzen je nach Entfernung und Dringlichkeitsstufe mit. Insofern wäre es wohl möglich, mit einem rechtskundigen Unterhändler von besagten Familien zu sprechen, ob dieses Abkommen auch südlich der Linie getroffen werden könnte, zumal die Southerlands doch auch in Louisiana, Florida und Kalifornien Angehörige wohnen haben.“
„Da ich nur für meine Familie sprechen kann vermag ich diese Frage nicht für unsere beiden Seiten befriedigend zu beantworten und erbitte diesbezüglich eine Bedenkzeit, um meinen Großvater und Firmeneigner über diesen Vorschlag und dessen Umsetzbarkeit zu unterrichten, auf dass dieser mit den erwähnten Familien in direkte Verhandlungen eintreten oder mich mit der Durchführung der entsprechenden Gespräche beauftragen kann“, erwiderte Sebastian Duchamp. „Vielleicht ergibt es sich dann, dass auch wir beide wieder zusammentreffen, um an diesen Verhandlungen teilzunehmen.“
„Dem sehe ich mit großer Zuversicht entgegen“, erwiderte Rore Steedford. Dann sagte er noch: „Da wir beide nur deshalb unsere Jobs haben, weil es Ihrer und meiner Familie nicht nur um materiellen Wohlstand sondern auch Ehre und Anerkennung geht möchte ich hierfür zu bedenken geben, dass die betreffenden Familien um mehr Einfluss in unseren Hoheitsgebieten bitten oder diesen einfordern mögen, wenn wir diesen Eulenversanddienst für die Südstaaten einrichten möchten. Dennoch bleibe ich bei meiner Zuversicht, dass auch die Familienehre und der Einflussbereich Ihrer und meiner Familie durch ein solches Abkommen gestärkt werden können. Ich merke an und bitte dies nur als Gedanken ohne direkte Auswirkungen zu notieren, dass wir vor der offiziellen Rekonstitution des MAKUSAs eine solche Übereinkunft treffen und damit eine vom Kongress nicht mehr umzustoßende Vereinbarung durchsetzen könnten. Dies dürfte sowohl Ihrer Familie als auch der meinen sehr wichtig sein, vor allem, wo sich durch die Übergriffe an der regionalen Einzelzuständigkeit festhaltenden erwiesen hat, wie viel Überzeugungsarbeit wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern gegenüber leisten müssen, um nach der Wiederherstellung der föderalen Zaubereiverwaltung friedliche Zeiten erwarten zu dürfen.“
„Dieser Einschätzung schließe ich mich vorbehaltlos an und stimme Ihnen auch zu, dass eine von allen beteiligten Seiten gewünschte und getragene Übereinkunft vor der Rekonstitution feste Tatsachen schafft, die unser weiteres Auskommen sichern und unsere wichtige Arbeit zum Wohl aller nordamerikanischen Hexen und Zauberer fördert und wertschätzt“, sagte Duchamp. „Daher werde ich alle nicht heute von Ihnen und mir abschließend festlegbaren Einzelheiten dieses Gespräches meinem Familienoberhaupt vorlegen und bin zuversichtlich, dass Sie dies auch mit Ihrem tun werden, Mr. Steedford.“
„Diese Zuversicht ist vollkommen berechtigt“, erwiderte Rore Steedford darauf.
So kam am Ende des Verhandlungstages, der als Friedensunterhandlung begann und als geschäftliche Verhandlung endete eine Übereinkunft zustande, kleine Kamine mit Flohnetzanbindung einzurichten, eben zunächst in den südöstlichen Bundesstaaten.
Da die weißen Fahnen nicht mehr benötigt wurden rollten die Teilnehmer der Unterhandlung sie zusammen. Anschließend verzehrten sie ein dreigängiges Mittagessen mit deutschen Spezialitäten und begossen die erzielten Teilerfolge mit Sekt. Anschließend verließen die acht Unterhändler den Saloon Delta 4 in Deltaville mit der erhebenden Erkenntnis, dass in diesem Gasthaus einmal mehr geschichtsträchtiges beschlossen wurde. Allerdings wusste Rore Steedford auch, dass eine Übereinkunft nur so gut war wie jene, die sich an sie gebunden fühlten. Ja, es galt noch genug Überzeugungsarbeit zu leisten. Vor allem nun, wo noch drei weitere aus dem Club der großen zehn mit ins gemeinsame Boot geholt werden mussten.
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In der Sicherheitsbehörde der magischen Regionaladministration New York betrat am Abend des 29. Mai Roman Vucovic, ein Zauberer mit serbischen Wurzeln, einen tief unter den U-Bahnschächten der nichtmagischen Welt verlaufenden Trakt, in dem vor allem beindicke Türen aus unzerbrechlichem Eisen das Bild beherrschten. Hier unten wurden alle die aufbewahrt, die sich massiv gegen geltende Gesetze vergangen hatten. Vucovic dachte daran, dass nur drei Häuserblocks weiter das alte und neue MAKUSA-Gebäude stand, dessen für die Nomajs unzugänglichen Gänge und Räume gerade auf ihre Verwendbarkeit geprüft und in den Nachtstunden repariert und mit neuen Erkenntnissen magischen Hausbaus ausgestattet wurden. Bis zum 15. August wollten sie damit fertig sein. Dann würden auch die Inhaftierungsräume für zeitweilige Gefangene wieder in Betrieb genommen. Bis dahin mussten Vucovic und seine Mitarbeiter herausfinden, wo der Sitz der Hexenjägergruppe war. Falls es New York war konnten sie diese auf gnadenlose Jagden ausgerichtete Organisation im Alleingang ausheben und hoffentlich alle verschwundenen Hexen befreien. Deshalb war es für den Geheimhaltungszauberspezialisten so wichtig, die magischen Schutzvorkehrungen von zwei Gefangenen zu ergründen und herauszufinden, ob sie aufzuheben waren, ohne die Gefangenen zu töten und schlimmstenfalls noch alle in ihrer Nähe weilenden mit ins Verderben zu reißen.
Hinter der Tür mit der Nummer 223 war eine in magischen Tiefschlaf versenkte Hexe eingeschlossen, die als Inobsskuratorin Dora Murray im Rang eines Lieutenants gearbeitet hatte, bis das Zaubereiministerium aufgelöst worden war. Vucovic wusste auch, dass sie zu jenen gehört hatte, die damals auf der Seite von Atalanta Bullhorn gegen Buggles‘ Ministerium aufbegehrt hatten. Mit Schaudern dachte er daran, wie er selbst damals das Dokument hatte unterschreiben müssen, mit ddem er sich zum bedingungslosen Gehorsam dem Zaubereiminister gegenüber verpflichtet hatte. Später hatte ihn dann noch der Feuerrosenzauber erwischt, weil dieses Hybridweib aus Italien beschlossen hatte, dass Leute wie er für ihre Greifkommandos arbeiten sollten. Beides hatte er nur Dank einer aufwändigen psychomorphologischen Therapie überwunden. Dabei hatte er erfahren, dass es wohl noch hunderte wie ihn gab, die mit den Auswirkungen der unfreiwillig begangenen Taten zu ringen hatten. War Dora Murray eine von ihnen?
Vucovic zog das auf seine rechte Hand abgestimmte Schlüsselbund hervor und suchte den Clavunicus-Schlüssel mit der Nummer 223 heraus. Viermal musste er den Schlüssel drehen, bevor die Tür aufging. „Ihr bleibt draußen und sichert, dass niemand mich stört oder die Gefangene nicht doch noch entwischt!“ befahl Vucovic zwei ihm unterstellten Sicherheitszauberern. Dann betrat er die drei mal drei mal zwei Meter messende Zelle ohne Fenster. Auf der gepolsterten Pritsche lag die im Zaubertiefschlaf gefangene Inobskuratorin. Sie trug nur eine für Frauen geschneiderte grau-blaue Gefangenentracht. Alle persönlichen Besitztümer, vor allem ihren Zauberstab, hatten sie ihr abgenommen. Nur Vucovic und zwei andere ranghohe Sicherheitsbeamte kannten das zu flüsternde Passwort, um den todesnahen Tiefschlaf zu beenden.
Vucovic schloss die Tür von innen ab und steckte das nur von ihm benutzbare Schlüsselbund in seine Tasche zurück. Damit flammte die Leuchtkristallsphäre in der fensterlosen Zelle auf. Nun konnte er die wie tot daliegende Gefangene genau ansehen. Doch um sie zu verhören und vor allem zu erkunden, welche Geheimhaltungszauber ihr Wissen verbargen musste er sie aufwecken. Er beugte sich über sie und flüsterte: „Blau geht die Sonne auf!“
Ein leichtes Zittern durchlief den Körper der reglosen Hexe. Dann bewegten sich erst ihre Augen. Ihr Atem wurde deutlich sichtbar und beschleunigte innerhalb von drei Zügen auf 20 Züge die Minute. Die Gefangene erbebte noch einmal, bevor sie ihre Arme und Beine bewegte, streckte, anzog und wieder ausstreckte. Dann öffnete sie ihre Augen und blickte direkt in das über ihr hängende Zauberlicht. Sie blinzelte dagegen an. Vor der Pritsche flimmerte die Luft. Das war der Wall des Rückhaltes, eine besondere Vorkehrung, die bei Einzelverhören von potentiell hochgefährlichen Gefangenen einzuhalten war. Dora Murray streckte ihren Körper und schnellte unvermittelt in aufrechte Sitzhaltung. Sie stieß beide Hände vor. Es machte Pong, als ihre Hände gegen die leicht flimmernde Barriere prallten und zurückgestoßen wurden. „Ah, so vorsorglich wart ihr also“, sagte die Gefangene. Der Schutzwall zwischen ihr und Vucovic ließ ihre Worte mit einem leicht metallisch verzerrten Nachhall passieren. Das war, um mögliche Zauberworte gegen den Verhörenden abzuschwächen.
„Lieutenant Murray, mein Name ist Roman Vucovic und ich wwurde im Namen des New Yorker Regionaladministrators für magische Angelegenheiten beauftragt, Sie zu Ihrer Person und ihrer Betätigung im Fall Susan Woodworth zu vernehmen.“
„Meinen Namen und meinen Rang kennen Sie, Mr. Vucovic. Mehr erhalten Sie nicht von mir“, erwiderte die Gefangene. Vucovic nickte. Mit einer derartigen Antwort hatte er gerechnet. Er wusste auch, dass die Inobskuratoren durch ein druidisches Ritual gegen die meisten Beeinflussungszauber geschützt waren. Nur der von drei Mann zugleich gewirkte Schlaf der Todesnähe war bei ihr und ihrem Kollegen Marty Simmons durchgekommen.
„Mit dieser Aussage und der bisherigen Kooperationsverweigerung gestehen Sie, dass Sie zum einen darüber in Kenntnis sind, an ungesetzlichen Handlungen beteiligt gewesen zu sein, von solchen Kenntnis zu haben und zudem alle offiziellen Stellen der magischen Verwaltung als Feinde anzusehen. Treffen diese Vermutungen zu?“ fragte Vucovic. „Mein Name ist Dora Murray, Lieutenant der Behörde für magische Fahndung und Ergreifung gefährlicher Hexen und Zauberer“, erwiderte Murray. Ihr pechschwarzer Schopf wippte, als sie mit ihrer rechten Hand dagegenstieß.
„Sie werden zur Zeit als nicht dort im Dienst geführt. Also stimmen Ihr Rang und Ihre Dienstzugehörigkeit nicht mehr, Ms. Murray. Daher entfällt auch der Schutz Ihrer Person vor magieadministrativen Verfolgungsmaßnahmen. Wollen Sie nicht doch aussagen, für wen Sie und Ihr Mitstreiter Marty Simmons versucht haben, Ms. Susan Woodworth zu entführen?“
„Mein Name ist Dora Murray, Lieutenant der Behörde zur magischen Fahndung und ergreifung gefährlicher Hexen und Zauberer“, wiederholte Dora, wobei sie ihren Dienstrang diesmal besonders betonte. Vucovic setzte sich auf den Stuhl vor der Pritsche. Das konnte noch sehr lange dauern. Er zielte mit seinem Zauberstab auf die Gefangene, die ihn herausfordernd anblickte. „Wie Sie wissen werden wir von den Inobskuratoren mit besonderen Schutzzaubern versehen, um jeden unfreiwilligen Verrat zu verhindern“, sagte sie, als sie die Gesten sah, die Vucovic ausführte. „Wie erwähnt, Ms. Murray, Sie sind derzeitig nicht in den Listen Diensttuender Inobskuratoren geführt. Daher gelten die für die offiziellen Fahndungs- und Ergreifungstruppen bekannten Vorkehrungen nicht mehr oder können nicht mehr in der höchstwirksamen Form ausgeführt werden. Wollen Sie nicht doch lieber mit mir kooperieren? Es erspart Ihnen sicher eine Menge Schmerz und entlastet zudem Ihr Gewissen, falls Sie gegen Ihren Willen zur Mitgliedschaft und gemeinsamen Unternehmungen in einer gesetzeswidrigen Vereinigung getrieben wurden“, sagte Vucovic.
„Mein Name ist Dora Murray, ich bin Lieutenant der Behörde für magische Fahndung und Ergreifung gefährlicher Hexen und Zauberer“, wiederholte die Gefangene ihre Standardaussage. Vucovic hatte bereits erfasst, dass sie nicht nur dem Divitiae-Mentis-Zauber, sondern offenbar auch einem Fidelius-Zauber unterzogen worden war. In dem Moment, wo er versuchte, das Gedächtnis der Gefangenen auf die Stellen abzusuchen, die nich einsehbar waren geschah es.
Mit einem wilden Brutzeln, gefolgt von einem scharfen Knall mit metallisch nachhallendem Zischlaut löste sich die flimmernde Barriere zwischen ihm und ihr in einem silbernen Lichtblitz auf. Noch ehe Vucovic das Ausmaß dieses Vorgangs erfasste schnellte die rechte Handkante der Gefangenen vor und traf ihn wuchtig an der linken Schläfe. Er meinte noch eine Galaxie voller Supernovae zu sehen, bevor er in eine tiefschwarze Unendlichkeit hineinstürzte. Er bekam nicht mehr mit, wie er vom Stuhl sackte und liegenblieb. Er bekam auch nicht mit, wie die Gefangene sich zu ihm hinunterbeugte und den aus seiner Hand gefallenen Zauberstab aufhob. Ebenso bekam er nicht mit, wie sie auf ihre nackten Füße kam und zur Tür eilte wo sie viermal mit der Zauberstabspitze gegen das verstärkte Metall klopfte. Die Tür brummte laut wie ein Hornissenschwarm in einem Zinnkessel. Sie nahm den Stab wieder herunter und trat von der Tür zurück. Viermal klickte das Türschloss. Dann tat sich die Tür auf.
Einer der draußen wachenden Mitarbeiter Vucovics trat ein und sah die Gefangene erfreut und erleichtert an. „wir wussten nicht, ob das geht, Dora. Aber schnell, umziehen!“
„Habt ihr mit, was der Fall „Sektkorken“ vorsieht!“ fragte sie den Zauberer leise. Sie lauschte. Doch es klang kein Alarm. Der Zauberer nickte und trat ein. Er schloss die Tür von innen, verschloss sie jedoch nicht. Dann griff er an seinen Dienstumhang und streichelte eine bestimmte Stelle. Darauf beulte sich der Umhang aus, als wüchse in ihm etwas heran. Dann klappte die gestreichelte Stelle auf und gebar eine verkorkte Phiole mit einer schlammartigen Flüssigkeit. Dora Murray nickte. Mit ihrem offensichtlichen Helfer bei den Wachen wuchtete sie den Betäubten ohne Zauberkraft auf das bett, auf dem sie bis vor wenigen Sekunden noch gelegen hatte. Mit einem entschlossenen Ruck riss sie ihm ein dickes Büschel Haare vom Kopf. In der Zeit holte ihr heimlicher Helfer aus der geheimen Umhangtasche noch zwei kleine Gefäße, nicht größer als Eierbecher. Dora nickte erneut und rupfte sich mehrere ihrer eigenen langen Haare aus. Dann sah sie zu, wie ihr Helfer die schlammartige Mixtur aus der Phiole in einen der Becher goss und warf Vucovics ausgerissene Haare hinein. Die Mixtur schlug zu einer dunkelgrünen, völlig klaren Flüssigkeit um. Sie nahm den so aufbereiteten Trank entgegen und schluckte ihn mit antrainierter Todesverachtung in einem Schluck hinunter. Dann gab sie dem Helfer ihre ausgerupften Haare. Der füllte gerade den zweiten Becher mit der ursprünglich schlammartigen Mixtur. Während bei Dora die ersten Auswirkungen des eingenommenen Gebräus einsetzten schlug die mit ihrem vorher ausgerupftem Haarbüschel angesetzte Mixtur zu einer Flüssigkeit um, die ein Unbeteiligter glatt als frischgepressten Orangensaft ansehen mochte. Während sich Dora Murray unter unheimlich anmutenden Auflösungs- und Neuformungswallungen veränderte kniete sich ihr Helfer zu Vucovic hinunter und zog seinen schlaffen Unterkiefer nach unten. Behutsam goss er ihm die aus Doras Haaren erzeugte Mixtur in den Mund und sorgte auch dafür, dass sie ihm in die Speiseröhre rann.
Dora stöhnte unter den körperlichen Auswirkungen. Ihre Stimme wurde dabei immer Tiefer. Ihr Körper wurde immer männlicher. Ihre langen schwarzen Haare färbten sich eine Spur brauner und schrumpften flirrend auf Hinterkopflänge zusammen. Mit einer letzten wilden Wallung vollendete sich die Umformung. Dora sah nun aus wie Roman Vucovic, nur dass sie noch die für Frauen geschneiderte Inhaftierungskleidung trug. Vucovic durchlief indes trotz Bewusstlosigkeit die umgekehrte Verwandlung. Sein Körper wurde immer fraulicher. Seine dunkelbraunen Haare wurden tiefschwarz und wuchsen bis auf Schulterhöhe. Dann lag das genaue Ebenbild der Gefangenen in einem für ihre Körperformen viel zu unpraktischen himmelblauen Umhang da.
Dora nahm den Vucovic abgenommenen Zauberstab und vollführte damit zwei Zauber. Einmal wechselte sie aus der Sträflingskleidung in Vucovics Kleidung über. Dann zauberte sie dem nun wie sie aussehenden Sicherheitszauberer die abgelegte Sträflingskleidung an den Leib. Dann sah sie ihren heimlichen Helfer wieder an. „Kein Alarmzauber! Hat der da dir wen beigeordnet?“ fragte sie mit Vucovics Stimme.
„Ja, Jeff. Aber den konnte ich mit einem Bewegungsbann und einem direkt an die Schläfe gehaltenen Zauberstab entsprechend einstimmen, dass der denkt, alles sei in Ordnung. Der Alarm für zur Fluchthilfe geeignete Zauber wird noch drei Minuten halten, Lieutenant Murray.“
„Gut, das muss reichen, um den Kollegen Simmons zu befreien. Ist noch eine Dosis in der Phiole?“
„Nur für eine Standardwirkungsdauer“, erwiderte der heimliche Helfer. „Hast du eine Haarprobe deines Kollegens?“ Er nickte und deutete auf einen kleinen Beutel, den er in einer Seitentasche seines Umhanges verwahrt hatte.
Es erwies sich, dass Dora Vucovics Schlüsselbund nicht anheben konnte, was hieß, dass nicht nur die Körperbeschaffenheit oder das darin fließende Blut wichtig war, sondern wohl auch die orginale Lebenskraftaura des Abgestimmten. Doch das machte nichts. Sie sprach mit ihrem Helfer den Peritanasius-Zauber auf Vucovic, der ihn in einen todesnahen Tiefschlaf versenkte. Als Passwort wählten sie den Satz „Grüner Schnee fällt aus roten Wolken.“ So wurde Vucovic zu Dora Murray. Da der Tiefschlaf alle Körperfunktionen fast bis auf null verlangsamte würde der in ihm wirkende Vielsaft-Trank erst einhundert Stunden später aufhören. Die Rückverwandlung mochte dann mit einer grottesken, grausam anmutenden Langsamkeit voranschreiten, falls sie überhaupt einsetzte. Denn der Schlaf der Todesnähe verzögerte jeden Stoffwechselvorgang.
Ohne Behelligt zu werden verließen sie die Gefängniszelle mit dem Schlüssel ihres Kollegens und begaben sich zur Nachbarzelle. Dort schloss ihr Kollege auf und verriet ihr das Aufhebungspasswort für Simmons Tiefschlaf: „Rosaroter Mond bescheint silbernes Gras.“
Nachdem Simmons aus dem Tiefschlaf erwachte baute sich auch vor ihm erst jene Rückhaltebarriere auf. Diese fiel jedoch nach dem dreimal innerhalb einer Minute genannten Wort „Lieutenant“ in einem silbernen Blitz auseinander. Danach konnte auch Simmons mit Hilfe einer Dosis Vielsaft-Trank seine Gestalt und Stimme wechseln. Dafür übernahm dann Doras Helfer dessen Rolle. Sie versicherte ihm, dass sie ihm bei dem Zaubertiefschlaf dasselbe Passwort geben würde wie dem gerade befreiten Mitgefangenen. Doch als er verwandelt und umgekleidet auf der Gefängnispritsche lag wisperte sie bei der Bezauberung ein ganz anderes Auslösewort: „Das Netz der schwarzen Spinne!“ Der bisherige Helfer vermochte nicht mehr, sich dagegen zu wehren und fiel in den todesnahen Tiefschlaf. Vielleicht hatte er noch daran gedacht, dass er von seiner heimlichen Mitstreiterin hereingelegt worden war. Das stimmte ja im Wortsinn sogar. Doch nun würde auch er die Rolle eines tiefschlafenden Gefangenen spielen, der von den anderen nicht mehr aufgeweckt werden konnte, bis sie und Simmons die betreffenden Aufweckpasswörter bekanntgeben würden.
Da der auf dem Flur wartende Kollege noch glaubte, es mit Vucovic und seinem Kollegen Sanders zu tun zu haben geleitete er die beiden Verwandelten zurück aus dem Zellentrakt. Kaum waren sie durch die Tür erlosch die 3-Minuten-Unterdrückung der Überwachungszauber. Da sie nichts fanden, was sie melden mussten blieben sie weiterhin stumm.
Innerhalb der verbleibenden Stunde behaupteten Murray und Simmons, dass die Gefangene offenbar eine weitere Schutzbezauberung erhalten hatte, die im Falle eines magischen Tiefschlafes eine weitere Schlafbezauberung mit Passwort auslöste, die nur aufheben konnte, wer das zweite Passwort kannte. Somit sei es unmöglich, sie zu verhören. Das diktierte Dora Murray dann noch einer Flotte-Schreibe-Feder.
Kurz vor dem Ende der Wirkungsdauer schafften es die beiden befreiten Gefangenen, den Sicherheitsbereich vollständig zu verlassen und unterhalb des U-Bahnhofs am Woolworth-Gebäudes zu disapparieren. Kaum waren sie an einem vorher abgesprochenen, ortungssicheren Standort angekommen, überkam Dora Murray die Rückverwandlung. Sie keuchte danach und dachte, ob sie jemals wieder einen Geschlechtertausch durchführen würde. Doch dann siegte ihre eingepflanzte Disziplin über ihr Unwohlsein. Sie mentiloquierte die erfolgreiche Flucht aus New York und dass Susan Woodworth unter dem besonderen Schutz der Regionaladministration stand. Danach erhielt sie von ihrer ebenfalls im Projekt Sol Puritatis beschäftigten Cousine die Anweisung, sich für neue Aktionen bereitzuhalten. Simmons indes sollte bereits in den folgenden Stunden an einer Unternehmung teilnehmen, die Aussicht bot, eine echte Angehörige der schwarzen Spinne dingfest zu machen.
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Anthelia hatte die Unterbringungsmöglichkeiten von Tyches Refugium bis zur Belastungsgrenze ausgenutzt. Viele der bei ihr untergeschlüpften Schwestern lagen im Zaubertiefschlaf in vierstöckigen Betten übereinander und würden nur erwachen, wenn Anthelia das Aufweckpasswort ausrief. Ihr war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Ebenso wollte sie auch sicherstellen, dass ihre Mitschwestern nach der Rückkehr nicht gerade wegen ihres Verschwindens festgenommen werden konnten. Daher hatte sie einige besondere Vorkehrungen getroffen. Unter diesen, so hatte sie den noch wachen Mitschwestern versichert, würde der Verdacht der Mitgliedschaft in einer dunklen Vereinigung entkräftet.
„“Höchste Schwester, verdammt, sie kommen! Zehn Besen geortet und Gaswarnzauber schlägt an. Was soll ich machen?“ Hörte sie eine aufgeregte weibliche Gedankenstimme. „Versuch den Fluchtportschlüssel, Schwester Portia. Falls es nicht klappt bedenke die blauen Sterne über der grauen Stepe!“
„Höchste Schwester, der Portschlüssel löst nicht aus. Verflixt vier … Anthelia lauschte dem dumpfen Nachhall der letzten Gedankenbotschaft nach und murmelte eine nur den alten Erdvertrauten bekannte Zauberformel. Wenn die, mit der sie gerade noch mentiloquiert hatte den Auslösesatz gedacht hatte war sie nun optimal eingestimmt. Sie konnte nur hoffen, dass ihre neue große Gegnerin sie gleich zu sich hinbefördern ließ.
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„Blaue Sterne über grauer Steppe!“ dachte jene, die hoffte, noch rechtzeitig wegzukommen. Doch ihr Portschlüssel hatte nicht ausgelöst, als sie Avada“ gerufen hatte. Deshalb dachte sie nun, wo gleich fvier Mann mit heftigen Aufhebungszaubern gegen die ihr Haus umgebenden Schutzzauber niederbrachen an die blauen Sterne, die über grauer Steppe strahlten. Sie fühlte dabei, wie ihr Körper vom Unterleib her erbebte und heißkalte Schauer durch alle ihre Nervenstränge jagten. Sie dachte diese Formel, von der ihre höchste Schwester gesagt hatte, dass ihr damit niemand körperlich und geistig etwas antun konnte. Dreimal musste sie sie denken, um sicherzusein, hatte die höchste Schwester gesagt.
Als der letzte Schutzbann um ihr Haus in silbernen Lichtentladungen zusammenbrach und die zehn Angreifer mit aufgesetzten Kopfblasenzaubern in ihr Haus stürmten lag sie auf dem Boden und tat so, als wenn sie dem Betäubungsgas zum Opfer gefallen wäre. Sie hörte, dass von den zehn Angreifern vier Hexen waren und schwor sich, dass dieser Verrat an der Hexenheit geahndet würde, wenn sie schaffte, was die höchste Schwester ihr gesagt hatte. Dann fühlte sie, wie sie auf etwas nachgiebiges Gebettet wurde. „Wohin genau?“ fragte einer der Angreifer. „HQ PSP. PSP-Alpha und die Lieutenants Peppermill, Westerley und Mullett wollen sie persönlich verhören, wenn sicher ist, dass sie keine Verratsunterdrückungszauber an sich hat“, hörte sie. Also sollte es in das Hauptquartier dieser Feinde gehen. Wenn die höchste Schwester ihr das richtig erzählt hatte konnte sie dann, wenn sie in größter Not war, die volle Macht des ihr mitgegebenen Zaubers ausnutzen.
Doch zunächst wurde sie mit einem Appariersprung an einen anderen Ort geschafft und dort zwischen mehreren Flugbesen eingehängt. Sie fühlte, wie sie irgendwo hingeflogen und dann wieder von mehreren per Transportzauber durch hallende Gänge befördert wurde. „Erst hier hinein und Zauberschlaf der Stufe eins wirken. Die drei Beigeordneten sind noch nicht vollzählig anwesend“, sagte eine Frauenstimme. Das war sie, das war Atalanta Bullhorn!
„Moment mal, habt ihr die da eigentlich vorher durchsucht. Sergeant Gragson und Fleetwood?“
„Die Schutzzauber waren mit Meldezaubern gekoppelt, die Alarm an die Regionaladministration gaben, PSP-Alpha. Wir mussten die Verdächtige fortschaffen, bevor die offiziellen Sicherheitsleute eintrafen“, sagte eine der Hexen. „Gut, dann durchsucht ihr die hier jetzt innerhalb des Schutzkreises gegen Elementarflüche. Haltet dabei die Kopfblasen in Kraft. Meldet bedenkliche Funde oder auch, wenn ihr nichts gefunden habt. Dann Zauberschlaf Stufe eins, bis meine Beisitzenden vollzählig eintreffen!“ befahl Bullhorn, die sich hier wohl als PSP-Alpha bezeichnen ließ.
„Wann kann mit deren Erscheinen gerechnet werden. Ich meine, wielang soll der Zauberschlaf wirken?“ wollte Fleetwood wissen. „Dies steht Ihnen nicht zu wissen zu, Sergeant Fleetwood. Aber terminieren Sie den Aufwachzeitpunkt auf morgen früh neun Uhr!“ befahl PSP-Alpha.
Die Gefangene versuchte derweil zu mentiloquieren. Doch ein ihr um das linke Handgelenk gelegtes Armband verhinderte das. Also spielte sie weiter die Betäubte und ging davon aus, dass der Schlafzauber sie nicht betreffen konnte.
Zunächst wurde sie in einen dem Klang nach kleinen Raum geschafft und auf einem mit Leinentüchern gedeckten Tisch abgelegt. Dann zog ihr jemand mit dem Nudatus-Zauber alle Kleidung vom Körper. Das nächste, was sie fühlte war, wie jemand sich an ihr zu schaffen machte und dann in ihren Unterleib hineintastete, um dann den kleinen, kugelrunden Gegenstand zu ergreifen, den die höchste Schwester auf den Körper der Gefangenen abgestimmt und zu ihrem umfangreichen Schutzzauber gemacht hatte. Sie fühlte mit Schrecken, wie die in ihren Schoß gedrungenen Finger zupackten und den für sie so wichtigen Gegenstand freizogen. „Rrg! Gut dass ich Drachenhauthandschuhe anhabe“, grummelte eine wohl durch den Kopfblasenzauber gedämpfte Stimme. „Ja, Mädel, das ist die Gabe der Hexen, Dinge zu verbergen, die nicht gleich jeder finden soll“, belehrte sie eine zweite gedämpfte Stimme. „Was hat man ihr untergeschoben? Ah, einen Blutrubin in Kugelform mit magischen Linien. Offenbar sollte der ihr helfen, gegen unsere Zauber zu bestehen und / oder den Standort verrarten. Pech nur, dass unser Fidelius-Zauber das unmöglich macht, Mädels.“
„Damit steht fest, dass sie doch eine von denen ist“, erwiderte die zweite Stimme. „Das sollen die großen vier herausfinden. Wir müssen das hier sichern und von ihr fortschaffen, bevor es merkt, dass es nicht mehr in ihr steckt.“
„Offenbar können die auch nicht mentiloquieren“, dachte die Gefangene verdrossen. Dann fühlte sie, wie ihr immer mehr Kraft entwich. Offenbar setzte ihr das Herausziehen des Kugelrubins zu. Das waren die letzten Gedanken, die die Gefangene empfand, bevor sie doch noch besinnungslos wurde.
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„Verdächtiges Objekt in fluchsicherer Silberschatulle und Ferrifortissimus-Koffer mit Vakuumierfunktion gesichert, PSP-Alpha“, meldete Sergeantin Fleetwood ihrer obersten Vorgesetzten. Zauberschlaf Stufe eins wie befohleln appliziert!“ fügte die andere Mitstreiterin des Projektes Sol Puritatis noch hinzu.
„Wir müssen drachenzahnscharf aufpassen, dass wir keinen Verratsunterdrückungszauber auslösen, wenn wir sie wecken. Solange sie besinnungslos ist ruhen diese sicher. Der geborgene Fund könnte ähnlich wie bei dieser verrottenden Furie Ladonna ein Träger elementarer Flüche sein, daher musste er in Silber und Dauereisen unter völligem Luftentzug verwahrt werden.“
„Werden die drei anderen bis morgen früh um neun zur Verfügung stehen?“ fragte Fleetwood erneut. „Ja, hoffe ich“, erwiderte PSP-Alpha.
Als die zwei Sergeantinnen den Befehlsraum verlassen hatten dachte Atalanta Bullhorn daran, dass sie demnächst noch drei nicht nach VDS entkommene Hexen finden musste, von denen sie sicher waren, dass sie Kontakte zum innersten Kreis der schweigsamen Schwestern hatte. Bei einer, von der sie sicher war, dass sie dazugehörte, konnte sie jedoch nicht so handeln wie sie wollte. Denn es würde einen gehörigen Aufschrei und einen unbändigen Sturm der Entrüstung gegen ihr Projekt geben, wenn sie Eileithyia Greensporn persönlich zum Verhör holte. Das konnte und würde sie erst tun, wenn sie den MAKUSA davon überzeugt haben würde, dass ihr Projekt die Sicherheit und den Frieden in den USA garantieren konnte. Dann konnte sie mit einer Generalfollmacht rechnen, um wirklich jede verdächtige Hexe zu verhören.
Atalanta Bullhorn blickte auf ihre silberne Armbanduhr. Ihr Vertrauensheiler hatte ihr geraten, jeden Tag acht Stunden zu schlafen und alle zwei Tage Träumguttee zu trinken, um nicht zu abhängig davon zu werden, aber auch nicht jeden Tag denselben Albtraum durchleiden zu müssen, den, dass sie in einem Rosenbeet stand und eine für sie überlebensgroß geratene Frau über ihr hockte und ihr das aus ihrem Unterleib tropfende Blut über Stengel und Wurzelwerk rinnen ließ, um sie weiterhin an sich zu binden. Sie war von diesem Weib erniedrigt und zu tiefst unterdrückt worden, hatte alles verraten, was sie von ihr hatte wissen wollen. Eigentlich, so dachte die einstige Hoffnungsträgerin der freien Zaubererwelt Nordamerikas, konnte sie diese barbarische Methode auch verwenden, um durch Geheimhaltungszauber geschützte Hexen zu verhören. Doch wenn das unschuldige Hexen waren und sie diese nicht mit ausreichenden Gedächtniszaubern belegen konnte mochte das herauskommen. Für viele galt sie sowieso schon als schwer geistesgestört, traumatisiert. Greensporn hatte im Rundfunk gefordert, dass sie sich zu einer tiefergehenden Untersuchung und möglicherweise fälligen Behandlung in die HPK begeben sollte. Doch das konnte dieser mutmaßlichen Verschwörerin gegen die freie Zaubererwelt so gefallen. Denn im Krankenhaus konnten sie ihr alles mögliche einflößen und ins Gehirn pflanzen. Nein, sie war nicht gestört und auch nicht krank. Sie war nur wütend, und sie wollte nur die vollständige Beseitigung dunkler Hexenorden. Mit Portia Weaver, einer bis dahin wie die Made im Speck schmarotzenden Ministeriumsbeamten, mochte sie endlich eine haben, die ihr den Weg zur höchsten Spinnenschwester zeigen würde. Allein schon dass Weaver einen sicherlich bezauberten Rubinglobulus in ihrem Unterleib getragen hatte bewies, dass jemand ihre Hand über sie hielt. Doch das würde nicht lange dauern, dachte Atalanta Bullhorn.
Kurz bevor sie ihre heutige Dosis Träumguttee trank ereilte sie noch eine unangenehme Nachricht: Mitstreiterin Verena Peppermill war beim Versuch, eine weitere Verdächtige festzunehmen, in einen konservierten Drachenfeuerzauber hineingeraten, gegen den auch ihre feuerfeste Kleidung nichts geholfen hatte. Nicht nur, dass sie schwer verletzt worden war, sondern auch dass sie nun im Hochsicherheitstrakt der Honestus-Powell-Klinik lag und sie dort nicht wie in New York und Baton Rouge ihre Helfershelfer hatte gaben ihr schwer zu denken. Sicher, Verena Peppermill konnte nichts verraten, weil die meisten Kenntnisse über das Projekt durch Divitiae-Mentis-Zauber versiegelt waren und die Lage des Hauptquartiers sowieso Fidelius-geschützt war. Doch Verena war die bisher eine von nur fünf Hexen, die den Mentipressionszauber in solcher Vollendung erlernt hatten, dass damit alle Gedächtniszauber und Geheimhaltungszauber durchbrochen werden konnten, wenn sie mit mindestens drei der anderen zusammenarbeitete. Da Mullett zudem noch in Honululu weilte, wo sie eine weitere Verdächtige überprüfte, musste Atlanta eine Stellvertreterin Verenas zurückrufen. Diese befand sich gerade auf Rekrutierungseinsatz in Cloudy Canyon und konnte erst am zwanzigsten Juni zurückkehren, um keinen Verdacht zu erregen.
Atalanta Bullhorn beschloss, die Gefangene Portia Weaver deshalb in einen noch tieferen Zauberschlaf zu versenken, um sie bis dahin zu sichern. Sie begab sich in die mit einem mehrfachen Schutzbann gegen Elementarflüche gesicherten Verwahrraum für hochgefährliche Gefangene und weckte die Gefangene mit dem Auslösepasswort aus dem Zauberschlaf der Stufe eins auf. Noch bevor diese gewahrte, wo sie war und dass sie gefangen war belegte Atalanta Bullhorn sie mit dem Perithanasius-Zauber der sie solange todesnah schlafen ließ, bis sie sie wieder aufweckte.
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Anthelia saß in einem bequemen Sessel in einem der zu Dauerschlafsälen umgebauten Räume und beobachtete ein bestimmtes Vierstockbett. Sie sah ein kurzes Zucken einer der schlafenden und wisperte ein Zauberwort aus Altaxarroi. Sie meinte, in einen rot-grünen Nebel einzutauchen und hörte ferne Stimmen, die wie ein Chor aus allen Zeiten durcheinandersangen. Dann lichtete sich der Nebel wieder. „Hmm, so also nicht. Aber sie haben ihr den Siegelstein weggenommen. Jage mich, bis ich dich kriege, Schwester Atalanta!“ knurrte Anthelia/Naaneavargia. Sie hatte gehofft, einen Ausblick und eine Standortbestimmung zu erhalten. Doch der Standort war mehrfach abgesichert. Aber auch damit hatte sie gerechnet. Sie prüfte noch etwas nach und erkannte, dass das Ziel ihres Zaubers wohl in einen todesnahen Tiefschlaf versenkt worden war. Das hieß, dass ihre gegenwärtige Widersacherin sie erst viele Tage später wieder aufwecken wollte. Na ja, sie würde es früh genug erfahren und dann bereitstehen, um es mit ihr auszufechten. Außerdem hatte die schwarze Spinne noch weitere Fäden ausgeworfen, die darauf warteten, erschüttert zu werden und je danach, wie schlau die Beute war diese festzukleben oder zumindest zu verraten, wo genau sie das Netz berührt hatte.
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„Schon was von den Reitern der goldenen Windrose gehört?“ fragte Gaston Lachaise seine beiden Mitbrüder Jean Duchamp und Roger Centretour, als er sie am 30. Mai zu einer spontanen Triangelsitzung in sein Haus im Weißrosenweg 24 in New Orleans eingeladen hatte.
„Ich habe mal eine Legende von vier Reitern der Apokalypse gehört, Hunger, Krieg, Pest und Tod“, erwiderte Centretour verstimmt. „Aber was sollen die damit zu tun haben, dass wir ab morgen mit möglichen Anklagen zu rechnen haben?“ fragte er noch.
„Ja, an diese vier Unheilsreiter hat der Künstler oder die Künstlergruppe wohl auch gedacht, als sie daran gingen, ein aus 144 Bildern bestehendes Werk zu schaffen, das zwölf Reiter auf geflügelten Pferden darstellt, von denen es je elf Kopien geben soll. Die Sammlung wurde vor 150 Jahren von einer uns nicht ganz unbekannten Familie in Auftrag gegeben und innerhalb von einem halben Jahr vollendet.“
„Willst du uns alten Jungs in einen Herzinfarkt hineintreiben, Gaston Lachaise?!“ knurrte Roger Centretour. „Da besteht bei dir im Moment wohl keine Gefahr“, meinte Gaston Lachaise und genoss es, seinen beiden Triangelbrüdern lange Nasen zu machen. Duchamp verwies darauf, dass er am 2. Juni zur vorletzten Sitzung der großen zehn vor der Präsidentenwahl geladen hatte und bereits einen Schwarm von Anwälten in Bereitschaft versetzt hatte, wenn die in diesem Drohbrief angekündigten Enthüllungen stattfinden sollten. Da waren sie sich ja auch mit den anderen sieben einig, die mittlerweile auch erfahren hatten, was über sie an nicht ganz so ehrenwerten Dingen bekannt sein sollte.
„Damit ihr nicht vor Neugier platzt und ich mir von Irma was wegen der Sauerei anhören muss“, setzte Gaston Lachaise an und machte eine weitere Kunstpause, bis seine beiden Zuhörer es aufgaben, den Atem anzuhalten und keuchend Luft holten. „Also, die zwölf Reiter der goldenen Windrose sind eine Kunstsammlung, die dazu dient, eine in zwölf Richtungen eingeteilte Windrose einschließlich aller vier Haupthimmelsrichtungen zu schaffen, die wie beim Zifferblatt einer Uhr auf den genauen 90-Grad-Stellungen liegen. Ziel dieser Bildersammlung war ein präflohnetz-Massenfernverständigungsverfahren, bei dem die zwölf Ausgangsbilder im Stammhaus des Auftraggebers verbleiben sollten und die einhundertzweiunddreißig Kopien auf die Privathäuser und Arbeitsstätten der Mitglieder verteilt werden sollten. Ihr wisst noch, wer die Familie Durecore war?“
„Damian Durecore hat eines der Häuser von Thorntails gegründet und stand wie die Greendales und McDuffys nur auf reinblütig magische Schüler mit britischen Wurzeln“, knurrte Duchamp. „Paul wäre fast da gelandet. Aber weil er ja französische Wurzeln hat wurde es dann doch Bluespring.“
„Damian Durecore, der Massenvater, der fast an den Rekord vom alten Agrippinus Southerland herangekommen wäre?“ kicherte Centretour jungenhaft. „Oui, Monsieur. Zehn Kinder hat er hinbekommen, gezeugt mit vier Hexen. Tja, dann hat es ihm in einem Duell den dazu nötigen Familienschmuck weggerissen. Keine schöne Sache für einen reinblütigen Patriarchen. Jedenfalls wollte der damals haben, dass seine Kinder und deren Kinder über eine todsichere und über die ganze Welt reichende Verbindung mit ihm in Verbindung blieben. Da hat er wohl von den vier apokalyptischen Reitern ausgehend diese Bildersammlung in Auftrag gegeben. Da er nur zehn Kinder hatte, wie wir ja alle mal gelernt haben vier Söhne und sechs Töchter, hat er nach Übergabe der gesamten Galerie noch zwei seiner damaligen Nachläufer mitbedacht, Bruce Blackthorn und Wayne Weatherhouse. Die bekamen je die elf Kopien jenes Bildes, über das sie mit Damian Durecore in Verbindung bleiben solten, um sie an ihre Nachkommen weiterzugeben. Damit kein Außenstehender was davon mitbekam bekamen die gemalten Reiter zwei Tarneigenschaften. Sie konnten entweder unsichtbar werden, allerdings nur wenn der Mond schien, oder sich in einen zum gerade besuchten Bild passenden Gegenstand verwandeln, also auch einen Felsen oder Baum. Das waren die perfekten Spionagebilder, Garçons. Jetzt haben wir alle gelernt, dass Damian Durecore, nachdem er ja von einem bösen Zeitgenossen seiner Zeugungsfähigkeit beraubt wurde und er wohl keine Lust hatte, sich deshalb noch einmal in Wiege und Windeln zurückfluchen zu lassen, im Jahre 1920 starb. Seine vier Söhne versuchten damals in der Welt mit anderen Reinblutfetischisten zusammenzugehen. Zwei gerieten an Grindelwald und wurden von dem verheizt. Zwei wurden Opfer ihres Berufes. Deren Kinder, alles Töchter, heirateten und löschten damit den Namen Durecore vollständig aus. Ja, und mit dem Ende der Linie Durecore verlor sich auch die Spur der zwölf mal zwölf Reiter der goldenen Windrose. Nur die Durecore-Nachkommen und die von Weatherhous und Blackthorn wussten, dass sie Bilder hatten. Aber wo die zwölf Originalbilder hingen kam nicht mehr heraus, weil Damian die Kenntnis um sein Haus mit ins Grab genommen hat, heißt es. Doch irgendwer hat das doch rausbekommen, wo die zwölf Originalbilder sind und konnte damit auf die zwölf mal elf Kopien zugreifen. Zumindest lässt es sich nur so erklären, dass sieben Reiter auf unterschiedlich gefärbten Pferden in Zaubererbildern auftauchten, die über die gesamten USA verteilt hängen und die alle bei wichtigen Leuten gelandet sind, unter anderem – Tusch Herr Kappellmeister! – im Kontor von Motiones Mansionum und Duchamps Flohpulvermühle bei Houma, Louisiana. Ich gratuliere.“
„Woher hast du das und wieso soll das stimmen?“ knurrte Roger Centretour verständlicherweise verärgert. Gaston Lachaise sah ihn sehr entschlossen an und nannte drei Namen, bei denen sich die beiden anderen altehrwürdigen Zauberer an ihre mehr oder weniger behaarten Köpfe griffen. „Ja, und wie bei Ratten gilt, dass wo eine zu sehn ist sicher noch weitere in der Nähe sind. Also wenn sieben dieser Bilder aufgetaucht sind, dann sicher auch noch andere, und vor allem hängen die Stammausgaben von denen noch in Durecores alter Residenz herum, die trotz Bemühungen des alten MAKUSAs keiner gefunden hat, wohl wegen Fidelius und Blutsiegel und was noch alles für Abweisungs- und Verbergezauber. Aber es könnte sein, dass einer, ja, ein-er, den Zugang zu jener Residenz gefunden hat, in dessen Adern Durecores inzüchtiges Blut fließt und der deshalb auch die zwölf Originale befehligen kann, für ihn weiterzuspionieren und zu infiltrieren und zu vermitteln, an wen und was immer. Da sitzt einer, von dem wir nicht wissen wie er heißt und wo er genau haust in einem Zimmer und hat zwölf Bilderrahmen an der Wand, in denen ab und an ein berittener Bote auftaucht und ihm Meldung macht oder von ihm mit neuen Aufträgen losgeschickt wird. Das ist doch mal ein Spinnennetz. Dagegen kam Artur Conan Doyles Professor Moriarty nicht an.“
„Hmm, ja die Nachkommen von Durecore, die wissen das doch noch, dass sie Nachkommen sind, oder?“ fragte Roger Centretour. „Tja, nur dass die sich nach der Affäre Grindelwald und dem Versuch der Shadelakes aus Australien, hier in den Staaten ein zweites dunkles Imperium aufzubauen schön im Hintergrund hielten. Kann auch sein, dass die ihre Bilder verkauft oder vernichtet haben, damit sie nicht von dem, der die zwölf Stammbilder findet ausspioniert werden. Aber es sind genug übriggeblieben, um dem, der uns da in den Kessel pinkeln will den Eindruck zu vermitteln, mächtig und allwissend zu sein. Ach ja, ich habe die hier im Haus hängenden und zu anderen Gemälden offenen Bilder natürlich sofort überprüft, ob hier nicht auch der ein oder andere Windrosenreiter herumspukt. Mit dem Reinitimaginus-Zauber kann man ja jedes Zaubererbild in seinen Ursprungszustand zurückversetzen, wie ihr sicher auch schon mal ausprobiert habt“, genoss Lachaise seine Wissensüberlegenheit den anderen gegenüber.
„Und dieser Erbe Durecores, wo und wer immer das ist, benutzt diese Bilder nun, um uns ganz richtig gesagt in den Kessel reinzupinkeln? Dann müssten wir doch nur rausfinden, wer solche Kopien hat und den oder die dann höflich bitten, alles für sich zu behalten, was er oder sie von denen erfahren hat. Ist ja ganz einfach bei nur 132 Bildern, die über das ganze Land verteilt sind“, ergoss Jean Duchamp einen ganzen Eimer Ironie über Gaston Lachaise. „Also was die angeht, die unsere geheimen Unternehmungen und extralegalen errungenschaften angeht in die Presse oder gleich an die Sicherheitsleute verteilen können braucht ihr nur diese Liste hier zu lesen und zu prüfen, was die da draufstehen haben wollen, um den Mund zu halten. Ja, ich weiß, Gold wiegt schwer, aber immer noch leichter als vergossenes Blut. Ich habe die, die in meiner Reichweite sind bereits angetextet und Sie gefragt, was sie haben wollen. Nicht jeder wollte Gold. Es gibt auch welche, die wollen aussichtsreiche Jobs oder Häuser in der Sonne oder Pflanzensetzlinge für ihren privaten Kräutergarten, an die sie nicht so einfach dran können. Also, da geht eine ganze Menge.“
„Ja, und wenn da einer bei ist, der meine Urenkeltochter, die gerade mal aus den Windeln raus ist, heiraten will, um sich in meine Familie reinzuwanzen?“ fragte Duchamp. Darauf meinte Centretour: „Solltest du dir die Frage stellen, ob die Familie es in zwanzig Jahren noch wert ist, dass sich da jemand reinwanzen will, wenn du im Gefängnis sitzt oder selbst ohne alles was du vorher erreicht und gelernt hast zu wissen neu aufwachsen musst, Jean“, meinte Roger Centretour. „Drachendreck!!“ spie Jean Duchamp aus. „Am Ende haben wir noch einen ganzen Schwarm Zecken an den Beinen, die wir ein Leben lang nicht mehr loskriegen“, schnaubte er noch. „Aber ihr habt zum feuerroten Donnervogel und seinen Großeltern recht, dass das, was dieser Unbekannte uns da geschrieben hat ziemlich übel aufstößt, wenn es an die falschen Leute gelangt. Wo ist die Liste?“ fragte duchamp am Rande der Resignation. Gaston Lachaise übergab ihm eine dicke Pergamentrolle. „Das sind nur die, von denen meine eigenen Bilderagenten in Louisiana wind bekommen haben. Die rot abgehakten habe ich schon angeschrieben und bei denen, die grün angehakt sind habe ich bereits eine zumindest für’s erste positive Rückmeldung bekommen. Alle anderen überlasse ich euch.“
„Nett, dass wir das einen Tag vor Toresschluss erfahren“, brummte Roger Centretour. „Früher konnte ich das nicht rumgehen lassen. Denn denk mal, wir hätten das vor zwei Wochen schon gewusst und dagegengehalten. Das hätte den Besitzer der zwölf Stammbilder vorgewarnt und ihn dazu gebracht, seine Strategie zu wechseln. Wir lassen seine Dreckschleuderkampagne an einer goldenen Wand verpuffen, bevor sie uns schadet. Wenn er danach was neues ausprobieren will wissen wir da schon, wie er das weitergeben will. Die Suche nach den Bildern läuft, Garçons.“ Seine Triangel-Mitbrüder überlegten und nickten dann.
„Ach ja, das hat den alten Otto Hammersmith gefreut. Die zwölf Stammbilder und somit wohl alle ihre Kopien tragen Vornamen, die mit einem R beginnen: Randolph, Ray, Remo, Ross, Raúl, Rupert, Ronald, Ryan, aber auch Rachel, Ronda und Rosalinde“, grinste Gaston Lachaise.
„Stimmt, der alte Otto sehnt sich ja danach, dass sein Enkelsohn Quinn bald eine findet, die ihm einen Urenkel mit einem R-Namen ausbrütet. Falls Quinn überhaupt weiß, wozu das Schöpferpaar die Mädchen gemacht hat“, scherzte Roger Centretour. „Juckt mich nicht, solange der alte Otto Hammersmith nicht meint, Pauls Tochter Celeste mit seinem bastelfreudigen Enkel verkuppeln zu wollen. Dann gibt das Ärger, Mr. Hammersmith“, sagte Duchamp.
„Da landet der eher bei einer der fünfzig registrierten ledigen Southerland-Mädchen“, meinte Centretour. Gaston Lachaise verzog verächtlich das Gesicht. Dass die zwei dermaßen ansprangen wie gelangweilte Klatschweiber war doch peinlich. Aber natürlich sagte der denen das nicht in die Gesichter. Das waren ja immerhin seine Mitbrüder im Verbund der goldenen Triangel.
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„Wie, was?!! Wieso lese ich in den Zeitungen nur was von Unruhen in St. Louis und Oclahoma City?“ fragte der erste Bewahrer, als alle seine Boten am Morgen des zweiten Juni zum Raport in ihren Stammgemälden erschienen waren. Jeder und jede der insgesamt zwölf hatte kurz berichtet, was an den wichtigsten Gegenstellen los war.
„Öhm, wenn der Hüter meines Gegenstückes in Houma, Louisiana die Unterlagen nicht an den Kristallherold weitergegeben hat sicher nur, weil ihm das zu heiß ist“, sagte der berittene Bote für die Region südöstliche Bundesstaaten. Dem schlossen sich auch alle die an, die über die unrühmlichen Heimlichkeiten der neun anderen großen Familien weiterverbreiten sollten. Dann meinte Raúl Amarillo, der Gegenstücke im Süden und in Mexiko besaß: „Plata o Plomo, Compadres. Hat der Compadre Ryan nicht angedeutet, dass jemand sein Gegenstück in Philly erkannt hat. Und warum habe ich vor zwei Tagen die letzte Meldung meines kalifornischen Gegenstückes erfahren?“ sprach der auf goldenem Pferd hockende gelbgewandete Reiter.
„Bitte was heißt das, Silber oder Blei? Erkläre das gütigst, Gelbhut!“ knurrte der erste Bewahrer. „Eine Einflussnahmemöglichkeit von weitverzweigten und mächtigen Verbrecherbanden, Jefe. Entweder du nimmst ihr Geld an und lässt denen durchgehen, was sie machen oder die schießen dir Bleikugeln in den Leib und töten dich damit. Blei oder Silber, Silber ist das Geld, Blei die tödlichen Geschosse.“
„Nomaj-Unrat auch noch“, knurrte der erste Bewahrer. Dann erkannte er, was Raúl Amarillo mit diesem Gleichnis aussagen wollte. Jemand hatte die, die unrühmliche Unterlagen erhalten hatten und verbreiten sollten zwei Alternativen zur Veröffentlichung angeboten, von denen sie eine annehmen mussten. Da fragte der Bewahrer seine berittenen Boten: „Kann es sein, dass ihr euch stümperhaft verhalten habt, als ihr meine Botschaften und meine Angebote überbracht habt? Ich habe diesen Leuten selbst eine Menge Oro statt Plata angeboten, um sich ein schönes Leben zu machen. Außerdem haben viele von denen ein starkes Interesse daran, die Reunion zu verhindern und den neuen MAKUSA im Keim zu ersticken. Warum sollten die dann auf andere Angebote dieser arroganten Möchtegernkönige eingehen?“
„Weil es eben Könige sind, Meister“, erwiderte Rachel Red, eine von vier Amazonen unter den berittenen Boten und grinste verwegen aus ihrem Bild heraus. Ihr feuerrotes Haar wehte dabei und streichelte die Kruppe ihrer fuchsroten Stute. Als der erste Bewahrer sie sehr warnend anblickte fügte sie uneingeschüchtert hinzu: „Sie können denen, von denen sie mitbekommen, dass die was über sie haben alle Meere und Berge auf dem Mond versprechen oder denen Türen zu Räumen aufmachen, in die sonst keiner reinkommt. Wer immer denen das zugespielt hat, wie die Nachrichten verteilt wurden hat genau die richtigen Saiten angezupft, um die großen zehn vor dem Skandal zu schützen.“
„So, dann findet mir raus, ob das so ist und was diese zehn Goldsäcke, Blutschänder und Indianerfreunde angestellt haben, um die von euch recherchierten Mitteilungen unter den Teppich zurückzukehren und festzutreten. Los! Andale!“
Nur zwei Sekunden später waren die zwölf Bilderrahmen leer. Der erste Bewahrer war mit sich und seiner Enttäuschung allein. Wie konnte es sein, dass diese überheblichen alten Säcke noch rechtzeitig herausgefunden hatten, wer die verräterischen Dokumente erhalten hatte und worauf diese schwächlichen Leute erpicht waren? Er selbst hatte es ja damit versucht, denen aussichtsreiche Berufe und Zugang zu geheimen Bibliotheken zu offerieren. Auch hatte er bei einer Familie, die zu gerne ein eigenes großes Haus haben wollte, einen Grundstückkauf eingefädelt und überdies eine Menge Gold aus dem Goldvorrat dreier Generationen angeboten. Doch dabei hatte er denen verschweigen müssen, dass er erst dann an dieses Gold herankommen konnte, wenn er den Hut mit den vier Mondphasen gefunden hatte, das neben den Bildern und ihren Gegenstücken wichtigste Erbe dessen, dessen Blut in seinen Adern floss, aber dessen Nachnamen er nicht bekommen hatte. Immerhin hatte er das blutrote Notizbuch gefunden, dass ihn durch eine herausschnellende Nadel und eine Blutprobe als seinen rechtmäßigen Besitzer anerkannt und ihm die wichtigsten Geheimnisse und das Versteck der vier Schlüssel von Durecore Valley verraten hatte. Irgendwo in jenem großen Haus, in dem er seit seinem vorgetäuschten Tod vor dreißig Jahren wohnte, musste der Hut mit den vier Mondphasen versteckt sein. Nur wer ihn aufsetzte und ein männlicher Träger von Durecores Blut war, konnte erfahren, wo sich der Hort der Durecores befand, an den auch nur männliche Erben der Blutlinie herankamen. All das ging dem ersten Bewahrer durch den Kopf, während er darauf wartete, warum sein Plan, die großen zehn des Westens in ein Netz aus Skandalen zu verstricken, nicht gelungen war.
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„Sie muss eine von denen sein, sonst hätte der Drachenfeuerstoß sie nicht so übel zugerichtet“, meinte Heiler Archibald Flagstone, als er zusammen mit seinem Stationschef Raul Hedgeroot die in einer gläsernen Wanne mit einer rosafarbenen Flüssigkeit liegende Patientin sah, die trotz der schweren Brandwunden im Gesicht und an den Händen als Verena Peppermill identifiziert werden konnte. Sie sollte noch vier Tage in Diptam und einer besonderen Essenz aus Drachenblut und Seesternextrakt im Heilschlaf bleiben, nur durch ein Beatmungsrohr mit der Außenwelt verbunden.
„Die Besitzerin dieser Feuerfalle darf sich übermorgen vor Gericht verantworten, wie sie auf die Idee kam, diesen Zauber gegen Menschen einzusetzen und warum Peppermill der Meinung gewesen sein kann, sie aufzusuchen“, sagte Hedgeroot.
„Heimzusuchen wäre wohl treffender, Großheiler Hedgeroot“, erwiderte Flagstone darauf. „Nicht spitzfindig werden, junger Kollege Flagstone“, maßregelte der Stationsheiler seinen Assistenten. „Aber in einem Punkt haben Sie leider recht: Wenn die Patientin Peppermill zu jenen gehört, die Jagd auf alleinstehende Hexen machen steht zu befürchten, dass sie da auch schon andere, nicht so wehrhafte Hexen entführt hat. Ja, und wer immer noch darin verwickelt ist hat ein vitales Interesse daran, sie hier davon abzuhalten, auszusagen. Darum müssen wir mehr als eine Knieselmutter auf ihre Jungen aufpassen, dass sie hier auch wirklich wieder fähig wird, auszusagen. Und noch was, Kollege Flagstone, in jener Verschwörergruppe dürften auch ein oder zwei unserer Berufskolleginnen oder -kollegen drin sein. Die könnten den Auftrag erhalten sie hier entweder zu entführen oder dauerhaft von jeder Aussage abzuhalten, allein schon durch einen Gedächtniszauber. Daher müssen wir die Schutzzauber verstärken und vor allem die Lebenserhaltungsmaßnahmen gegen mutwillige Störungen und Kontaminationen sichern. Der Klinikchef persönlich hat den Auftrag erteilt, die Patientin Peppermill wie einen jungen Drachen zu betrachten, wertvoll, gefährlich, aber auch gefährdet. Vergegenwärtigen Sie sich das immer wieder“, gab Hedgeroot seinem jungen Mitarbeiter noch mit. Dieser nickte. Dann verließen beide das Behandlungszimmer.
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„Und, wer hat ausgepackt, von wem er oder sie das alles hatte?“ fragte Myles McDuffy in die Runde der anderen neun Familienpatriarchen, als sie sich am Nachmittag des zweiten Juni im großen Panoramasaal des achteckigen blauen Hauses von Jean Duchamp trafen.
„Das mit den geflügelten Pferden war der entscheidende Hinweis, Gentlemen“, sagte Anaximander Greendale. „Ja, und ich muss dem geschätzten Monsieur Lachaise rechtgeben, dass es nichts gebracht hätte, das vorher schon auszunutzen. Aber jetzt wissen wir wenigstens, wo mindestens sieben dieser geflügelten Reiter hängen und haben es sicher, dasss wir die Bilder bald aufkaufen können. Ich habe meine Galeristen drauf angesetzt, nach weiteren Ablegern dieser Windrosensammlung zu suchen und die Bilder falls möglich aufzukaufen.“
„Das wird dem, der die zwölf Stammbilder hat nicht verborgen bleiben“, gemahnte Chester Gladfield aus New Hamshire die neun anderen. Darauf sagte Otto Hammersmith: „Oh, das soll dem auch nicht verborgen bleiben. Myles, es ist ausgemacht, dass ich dir für jedes Windrosenreiterbild, dass deine Leute finden einhundert Dragnots rüberreiche.“
„Zweihundert, nachdem ich gehört habe, dass dein Enkelsohn damit irgendeinen Hokuspokus verzapfen will, um deren Ursprung zu finden. ich bin durchaus bereit, den Erfolg mit dem LI zu teilen. Aber als geborener Künstler tut es mir in der Seele weh, mir vorzustellen, wie aufwendig und lange gemalte Bilder einer ganz bestimmten seltenen Kollektion womöglich beschädigt oder zerstört werden sollen, um mehr über den großen Unbekannten zu erfahren.“
„Das LI geht bei hundert Dragnots pro Bild mit, Myles. Mehr wollen die nicht rausrücken, und ich selbst habe auch nicht unendlich viel Gold in den Verliesen, zumal das im Moment sehr heikel ist, wo ich keine bundesweiten Überweisungen tätigen kann und das Gold selbst aus dem Verlies herausholen muss. Also, wenn dir genauso was dran liegt, diesen Mistkerl zu finden, der uns allen in die Kessel reinrotzt sollte es mit hundert Goldstücken pro Bild genug sein.“
„Oh, deine Ohren sind wohl nicht mehr so gut, Otto Hammersmith. Ich habe nicht gesagt, dass mir das zu wenig ist, sondern, dass es mir in der Seele weh tut, mir vorzustellen, dass magische Kunstwerke gezielt manipuliert bis desintegriert werden sollen.“
„Ja, und davon hat keiner hier was gesagt, auch ich nicht“, erwiderte Otto Hammersmith verärgert. „Oder habe ich behauptet, dass Quinn jedes Bild in ein Säurebad, einen kochenden Kessel oder ein offenes Feuer wirft, um seinen Ursprung zu ermitteln? Nein, habe ich nicht. Abgesehen davon dass Alva und ich jedem unserer Kinder Respekt vor Kunstwerken beigebracht haben, sofern es keine ausdrücklich schwarzmagischen Machwerke sind.“
„Ach, sind die von Durecore in Auftrag gegebenen Bilder also keine Überwachungs- und Manipulationsobjekte?“ kiebitzte Anaximander Greendale. „Diese Bilder sind wie Messer, gemacht um Brot zu zerteilen oder Kehlen aufzuschlitzen“, philosophierte Priapus Southerland. „Ihr anderen verwendet doch genauso die Mehrlinge von magischen Gemälden, um Botschaften weiterzugeben oder zu bekommen. Das allein ist also keine böswillige Verwendung.“
„Ich erkenne, dass das höhere Ziel, uns diese gefräßige Raupe aus unserem Garten zu schaffen das wert sein muss, das eine oder andere Bild dafür zu opfern. Doch ich bitte darum, dass die Suche nach dem Ursprung nicht auf verschwenderische Zerstörung, sondern sorgfältige, feinfühlige Untersuchungen begründet wird“, beharrte Myles McDuffy auf seinen bisherigen Einwand. Alle hier gestanden ihm das zu. Dann sprachen sie darüber, was jeder von ihnen den Besitzern brisanter Informationen hatte zahlen oder ermöglichen müssen. Zumindest war keiner der Angeschriebenen so dreist gewesen, in den erlauchten Kreis der jeweiligen Familie aufgenommen zu werden. Mit Macht war es eine Sache. Viele wollten sie. Doch die meisten fürchteten auch, von ihr verdorben zu werden. Nur diejenigen, die damit keine Probleme hatten konnten nicht aufhören, nach immer mehr Macht zu streben und dabei irgendwann den Punkt zu überschreiten, wo ein Menschenleben kein unersetzliches Gut mehr war. Wie weit war der von ihnen als unbekannter Widersacher eingestufte Fremde schon? Mit den Reitern der goldenen Windrose stand ihm ein sehr weitläufiges Informationsnetz zur Verfügung. Da war die Versuchung groß, mehr haben zu wollen als einem bereitwillig angeboten wurde. Auch sie, die großen zehn Patriarchen der USA, kannten diese Versuchung. Die erst vor kurzem beigelegte Fehde zwischen den Steedfords und Duchamps bewies, wie leicht es war, ein bestehendes Gefüge zu stören und wie wichtig es war, sich auszusprechen.
Nach zwei Stunden begossen die zehn Familienoberhäupter diesen zwar kostspieligen aber die eigene Existenz sichernden Erfolg. Sie wussten, dass es noch nicht ausgestanden war. Doch sie waren zuversichtlich, dass ihnen nun keiner mehr in die Quere kam. Das nächste und entscheidende Treffen der zehn Familienoberhäupter sollte dann auf Greendale Cottage stattfinden, um die Auszählung der Wählerstimmen zu verfolgen und entweder den ersten afrikanischstämmigen Präsidenten der US-amerikanischen Zaubererwelt zu begrüßen oder dem alten Greendale zu seinem großartigen Streich zu gratulieren, seine Enkeltochter Godiva als erste Präsidentin des neuen MAKUSA zu beglückwünschen. Doch bis dahin konnte noch einiges passieren, was das alles umstieß. Auch das wussten die großen zehn aus bitterer Erfahrung. Doch aufgeben oder gar zurückzucken kam für keinen von ihnen in Frage.
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Im Hauptquartier des Projektes „Sol Puritatis“ standen zwei sehr betrübt dreinschauende Heilmagier vor ihrer obersten Anführerin, die hier nur als Major Bullhorn oder PSP-Alpha angesprochen werden wollte.
„Das HPK ist eine Festung geworden, PSP-Alpha. Nur die dort stationierten Kolleginnen und Kollegen dürfen sich länger als eine Viertelstunde am selben Ort aufhalten. Besucher müssen Plaketten tragen, die Alarm geben, wenn sie im falschen Patientenzimmer auftauchen, und die Mitstreiterin NO vier liegt im Hochsicherheitstrakt gleich neben der Station für gemeingefährliche Geisteskranke und wird von mehreren Schutzzaubern, Meldevorrichtungen und sogar Fangzaubern gesichert. Für jeden dieser Zauber braucht das für sie zuständige Personal je eine Freigabeplakette oder muss über das Heilerarmband abgestimmt sein. Ja, und sie befindet sich in einem körperspeicherbezauberten Heiltank, der wiederum an ein körperberührungen und Bewegungszauberabweisende Verbindungen gesichertes Beatmungs- und Ernährungssystem angeschlossen ist. Ein Kollege in der Notaufnahme hat das als diamantenen Uterus bezeichnet, weil da nichts von außen an die Mitstreiterin Peppermill herankommt.“
„Haben eure noch in den zivilen Residenzen und Stationen tätigen Zunftkollegen mitbekommen, dass ihr euch erkundigt habt?“ wollte PSP-Alpha wissen. die beiden Heilmagier wiegten die Köpfe. „Unsere Tarnungen haben zumindest die meisten Meldezauber abgehalten. Aber unsere Umfragen könnten an einer Stelle zusammengetragen und folgerichtig interpretiert werden“, sagte der unter seinem Inobskuratorenrang Lieutenant Mellow gerufene Heiler.
„Sie möchten mir und damit dem Projekt mitteilen, dass selbst Sie nicht an die Kollegin Peppermill herankommen, um sie zu uns zurückzubringen, richtig?“ wollte PSP-Alpha wissen. Mellow und sein Zunft- und Projektkollege Riverbottom nickten. „HPK-Direktor Silverspoon erhielt die Order von gleich drei Regioadmins, die Patientin bis zur Herstellung der Vernehmungsfähigkeit so abgeschirmt wie möglich zu verwahren. Abgesehen davon besteht seitens der Zunft der Verdacht, dass mindestens zwei Heiler mit den unangemeldet verschwundenen Hexen zu tun haben. Noch wissen die nicht, dass wir dazugehören. Aber wenn wir uns zu sehr in die Behandlung von Verena Peppermill einmischen könnten sie das erfahren. Dies widerspräche dem Codex des Projektes: Dienen ohne aufzufallen.“
„Wollen Sie mir allen Ernstes unseren Codex vorbeten, Lieutenant Riverbottom?“ schnaubte Atalanta Bullhorn sehr gefährlich. „Dann sollten Sie auch zitieren, dass wer zur Gefahr für die Geheimhaltung wird gefunden und in Verwahrung genommen oder bei massiver Gegenwehr final kampfunfähig gemacht werden soll. Lieutenant Peppermill birgt in ihrem Gedächtnis alle relevanten Einzelheiten über unser Projekt. Solange es nicht von den Mitgliedern des Ausschusses zur geheimen Durchführung gefährlicher Aufträge zertifiziert wurde gelten wir als illegale Gruppierung mit illegalen Zielen und Methoden. Zwar wurden wir alle durch die Divitiae-Mentis-Bezauberung zu sicheren Geheimnisträgern und unser Hauptquartier wurde durch Fidelius-Zauber unauffindbar. Doch die Mitgliederzahl und die bisherigen Unternehmungen könnten bei intensiven Verhören ermittelt werden. Allein schon, dass sie eine in Gewahrsam nehmen konnten, die unmittelbar mit den Bereinigungsmaßnahmen der letzten Monate befasst ist ist ein Rückschlag für das Projekt. Denn wir müssen davon ausgehen, dass unsere Feinde ihre Spione in allen relevanten Behörden und Institutionen haben. Also finden Sie heraus, wie dieser angeblich diamantene Uterus zur Austreibung der in ihm geborgenen Frucht angeregt werden kann, und zwar bis zum zehnten Juni. Weil sonst müssen wir davon ausgehen, dass wir bis auf weiteres keine Feldeinsätze mehr durchführen können und uns für unbestimmte Zeit in unseren Quartieren verstecken müssen, bis eine ganze Prärie Gras über unsere Unternehmungen gewachsen ist. Genau das hilft unseren Feindinnenund Feinden, sich zu verstärken. Außerdem dürfte dann auch die Zulassung unseres Projektes unmöglich werden. Dafür haben wir uns nicht aufgerafft, diese dunklen Schwesternschaften zu jagen. Wir sind die, die vollstrecken, nicht die Jagdbeute und auch keine sich vor Gewitter zusammendrängende Schafe“, bekräftigte PSP-Alpha. „Also, weiter daran arbeiten, Lieutenant Peppermill aus dem Gewahrsam der Honestus-Powell-Klinik herauszuholen!“ wiederholte sie den bereits erteilten Befehl an die beiden Heiler.
Als Mellow und Riverbottom den Befehlsraum verlassen hatten musste sich die Leiterin des heimlichen Projektes Sol Puritatis erst einmal beruhigen. Sie fühlte, wie ihr die Zeit davonlief. Die Erfolge blieben aus, und jetzt wurden erste Mitglieder des Projektes ergriffen und so verwahrt, dass sie nicht mal eben unauffällig befreit werden konnten. Wenn das so weiterging drohte die Sonne der Reinheit bald zu versinken. Diese Vorstellung ließ Atalanta Bullhorn überlegen, ob sie nicht doch in eine Sackgasse gesteuert war, an deren Ende keine massive Wand, sondern ein unendlich tiefer Abgrund wartete. Nein! Sie wollte und sie würde die in den Staaten untergetauchten Rosenschwestern, jene der schwarzen Spinne und bei der Gelegenheit die in ihren wohligen Tarnexistenzen verborgenen schweigsamen Schwestern aufspüren und all die aus der Welt schaffen, die ihr und anderen gefährlich wurden. Was sie brauchte war ein greifbarer Erfolg, von dem aus sie weitere Erfolge erzielen konnte. Sie würde die gefangene Hexe Portia Weaver verhören und erfahren, ob sie für die schwarze Spinne arbeitete. Sie wusste auch, wie sie den Verratsunterdrückungszauber aufheben konnte. Wenn sie die Spinnenschwestern ausheben konnte hatte sie die Legitimation, die sie sich wünschte. Sie wusste jedoch, dass die Zeit gegen sie lief. Die Tage bis zur Präsidentenwahl waren ihre persönlichen Schicksalstage.
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Quinn Hammersmith war in die obere Werkstatt umgezogen, die näher am Licht der Gestirne lag. Er ging davon aus, dass die Zauber, die er ausführen musste, Verbindungen mit Erde und freiem Himmel oder den magischen Urkräften bekommen mussten.
Quinns nicht minder in Thaumaturgie und Alchemie ausgebildete Assistenten trugen große, eisenbeschlagene und mit Bannzaubern berunte Kisten in die Halle unter einer unzerbrechlichen, hauchdünnen Glasglocke. Das Licht der Sonne über dem Sumpfland von Louisiana flutete den Raum so hell, dass jeder hier geworfene Schatten scharf abgegrenzt erschien.
Die fünf Assistenten des Ausrüstungswartes des Laveau-Institutes setzten die Kisten ab und stellten sich so auf, dass Quinn sie mit einer Handbewegung oder einem halblauten Befehl zur Stelle rufen konnte. Er zog sich die silbern beschichteten dicken Schutzhandschuhe gegen Flüche und Giftstoffe über, die bis zu seinen Ellenbogen hinaufreichten. Dann öffnete er die erste Kiste. Darin lagen drei mal drei Fuß messende Bilder in unauffälligen dunkelbraunen Rahmen. Sie waren durch silberne Folien voneinander getrennt. Quinn nahm das erste Bild heraus und hängte es an ein genau nach Osten ausgerichtetes Gestell. Das Motiv, ein Reiter in jägergrüner Kluft auf einem dunkelbraunen geflügelten Pferd, löste sich aus der Erstarrung des Transportes und blickte sich suchend um. „Congelato Imaginem!“ zischte Quinn, als der grüngewandete Reiter seinem Ross die gestiefelten Fersen in die Flanken rammte. Das davon aufgeschreckte Reittier spreizte die Flügel und sprang. Doch mitten im Flug, mit der Nase fast schon an der linken oberen Ecke des quadratischen Bildes, erstarrte es mit dem nach hinten gebeugten Reitersmann, der im Augenblick der Erstarrung dreinschaute, als sei direkt vor ihm ein Blitz eingeschlagen.
Quinn nahm nun das ebensogroße, quadratische Bild eines Reiters in gelber Kleidung auf einem goldfarbenen geflügelten Pferd wie die auf Normalpferdegröße heruntergezüchtete Version eines Abraxanerpferdes und hängte es auf. Noch bevor der in Gelb gewandete mit dem für mexikanische Folklore typischen Hut auf dem Kopf mit seinem Pferd den wortwörtlichen Absprung machen konnte fror Quin auch ihn und sein Reittier im Sprung ein.
So fuhr er fort, bis er sieben Bilder mit unterschiedlichen Reitern auf unterschiedlich gefärbten Pferden am Gestell aufgehängt hatte. Dann untersuchte er die Bilder mit Prüfzaubern und Enthüllungsgeräten. Als er mit einem Vergrößerungsglas die Rahmenecken absuchte stellte er fest, dass in den Rahmen verkleinerte Windrosen gerade mal doppelt so groß wie Stecknadelköpfe eingearbeitet waren. Quinn nickte anerkennend, weil der Tischler, der die Rahmen angefertigt hatte, so präzise Markierungen in die Verkleinerung eingearbeitet hatte. Quinn kannte und benutzte seit zwanzig Jahren Manipulationsadapter, mit denen er Handgriffe und Handwerksarbeiten auf einem Hundertstel seiner Handgröße ausführen konnte. Offenbar war es dem Tischler der Bilderrahmen damals auch schon bekannt gewesen, wie solche Verkleinerungen in Holz, Stein und Metall eingearbeitet werden konnten. Jedenfalls konnte er an den hervorgehobenen weil tiefer eingeschnitzten Markierungen auf den Windrosen sehen, für welche von zwölf Richtungen das Bild bestimmt war. Quinn hatte bereits davon gehört, dass diese Kollektion aus insgesamt 144 Bildern bestehen sollte, von denen 132 die Kopien von zwölf Stammbildern sein sollten. So hatte der Auftraggeber festlegen können, in welche Richtung die von ihm weitergegebenen Kopien zu reichen waren und dass er so mit 132 Verbindungsstellen Kontakt bekommen konnte. Für die Zeit, wo das Flohpulver nur auf kurze Reichweiten wirkte war das schon praktisch. Denn kopierte Bilderwesen konnten damals schon bei frei sichtbarer Vorderseite zwischen ihren Gegenstücken pendeln, egal wo auf der Welt sie waren, sofern auch diese frei sichtbar aushingen.
Durch die Markierungen konnte Quinn die Bilder nun gemäß der ihnen eingeprägten Himmelsrichtung aushängen, so dass diese am Ende in einem noch nicht ganz geschlossenen Kreis aus sieben Bildern an kleinen Gestellen hingen.
jemand läutete die Türglocke der Werkstatt. Quinn sicherte, dass die Bilder nicht wieder ein Eigenleben entwickelten und öffnete. „Hier, zumindest sind das wohl noch die fehlenden fünf, darunter zwei dralle Amazonen“, keuchte ein Kollege aus den unteren Etagen. „Ach ja, dein Herr Großvater schnaubt, dass ihn der alte McDuffy doch 250 Dragnots für jedes davon aus dem Umhang gezogen hat, soll ich dir ausrichten. Er schickt dir die Rechnung für die Zahlmeisterei.“
„Oha, dann darf ich das mit Gillian oder Donovan ausfechten, ob das LI die volle Summe berappt oder ich meinem Granddad klarmachen muss, dass alles über hundert von unserer Familie zu zahlen ist“, stöhnte Quinn. „Aber ihr seid sicher, dass das die fehlenden Fünf der Zwölferserie sind, Mortimer?“ „Ich will nicht sagen todsicher, aber laut Bildbeschreibungsnotizen hatten wir die noch nicht.“
„Gut, die habt ihr wie anempfohlen mit mondruhe bezauberten Silberfolien abgeteilt?“ fragte Quinn. „Aber sicher doch. Wenn du sowas empfiehlst tut jeder gut daran, sich buchstabengetreu dran zu halten“, sagte der Überbringer der fünf fehlenden Bilder. Quinn grinste überlegen und bedankte sich. Sein Kollege hielt ihm die rechte Hand mit nach oben gekehrter Handfläche hin. „jetzt mach aber, dass du rauskommst, Mortimer! Trinkgeld, im Laveau-Institut. Seit wann gelten denn solche Sitten?“
„Mann! Die Kiste ließ sich nicht lokomotieren, und die wiegt vierzig Pfund, wenn du die mit bloßen Armen bewegen musst, ey!“
„Die da wog fünfzig, ey!“ erwiderte Quinn und ging in Hockstellung, um die angebrachte Kiste aus den Beinen heraus hochzustemmen. Sein Kollege guckte ihn verdutzt an, als er die Kiste beinahe locker zu der bereits leergeräumten Kiste hinübertrug und mit einer fast schon lässigen Kniebeuge abstellte. „Alles ’ne Frage der körpereigenen Bewegungsfähigkeit“, sagte Quinn. Sein Kollege brummte unartikuliert und verließ den Werkstattraum.
Quinn nahm die fünf fehlenden Bilder aus der Kiste. Darunter waren auch drei weitere Reiterinnen, eine auf fuchsrotem Pferd mit einer gerade mal die Brüste bedeckenden roten Ledermontur und feuerrotem Haar, eine in schwarzer Lederrüstung mit silbern glänzenden Brustschalen und schwarzem Haupthaar auf einer schlanken Rappstute und eine Reiterin in einem rosaroten Kleid, dass irgendwo zwischen Balettkleid und Cocktailkleid wirkte und einen kleinen rosaroten Spitzhut auf den blonden Locken trug. Sie ritt auf einer blütenweißen Schimmelstute mit goldenem Zaumzeug.
„Hui, sehen die schön aus“, sagte Quinns Assistent Mycroft. Dessen Kollegin Fanny grummelte nur, dass es typisch Mann war, die Amazonen mit überbordender Oberweite darzustellen. „Stimmt, weil die beide Brüste haben, statt nur einer wie es den altgriechischen Amazonen doch unterstellt wurde“, sagte Quinns dritter Assistent Serge.
„Wenn es die echt gegeben hat haben die sich garantiert nicht verstümmelt. Abgesehen davon sollte das ja angeblich beim Bogenschießen besser hinhauen. Aber glaubt es mir, anatomisch unversehrte Frauenzimmer können genausogut Bogenschießen wie Mannsbilder. Apropos Mannsbilder, den Herren auf dem kastanienbraunen Ross hängt ihr bitte an dem auf dem weißen Streitross und der Dame auf der trächtig gemalten schwarz-weißen Scheckenstute hin! Danke!“
Als nun alle zwölf Bilder mit bis auf weiteres zur Untätigkeit eingefrorenen Motiven in die vorbestimmten Richtungen aushingen begann Quinn mit Untersuchungszaubern. Ihm war bewusst, dass er vielleicht dem einen oder anderen Bild Schaden zufügen musste. Doch er wollte und würde herausfinden, wo deren wichtigsten Gegenstücke waren. Doch die Zauber, die er verwendete reichten nicht aus. So weckte er ein Bild nach dem anderen, nachdem er den Rahmen mit einem zeitweiligen Einschließungszauber belegt hatte, damit das davon umschlossene Motiv nicht entkommen konnte. Er fragte nach den Namen der Boten. Doch diese lachten ihn nur aus. „Nur wer unser wahrer Herr und Meister ist oder jenem durch Blute und Worte in Treu und Ehre verbunden wart ist erlaubet, unsere Namen kennen und uns damit als seine Boten zu hüten“, tönte der Reiter in blau-goldener Gewandung auf einem blütenweißen, besonders kräftigen Pferd.
„So, wer ist denn euer Herr und Meister?“ versuchte es Quinn zunächst mit einer platten Frage. Manchmal reichte sowas echt aus. Doch bei den Reitern auf den Bildern gelang das nicht. Dann erkannten die Reiter, was passiert war. „Man hat uns wie nideres Vieh auf dem Markte dem meistbietenden verkauft“, beschwerte sich der blau-gold gewandete. Die Amazone auf rotem Pferd und mit feuerrotem Schopf tönte: „Das Männer so gierig sind ist ja bekannt, aber dass meine Hüterin so goldsüchtig war widert mich an. Eh, du, Fremder, bist du überhaupt reinen Blutes, dass du es wagen darfst, überhaupt mit uns zu reden?“ fragte die Rothaarige.
„Aber sowas von“, sagte Quinn. „Aber mein Blut tut jetzt nichs zur Sache. Ich will wissen …“ Unvermittelt zerflossen die gemalten Reiter und ihre Pferde zu farbigen Wirbeln wie die berühmte Verwandlungsgroßmeisterin Maya Unittamo, wenn sie sich ohne Zauberstabnutzung in etwas anderes verwandelte. Am Ende standen auf den Bildern Bäume oder gab es nur Gras, Kornähren, Felsbrocken oder wohl eine weitere Fahnenstange mit bunter Flagge zu sehen. „Hui!“ stieß Mycroft aus. „Wer die gemalt hat hat’s voll draufff“, sagte er. „Für zweihundertfünfzig Goldstücke pro Bild wollen wir ja auch was geboten kriegen“, trieb Quinn den Kommentar weiter. Dann grinste er. Wie viel wussten diese wandlungsfähigen Bilder von Zaubersprüchen und -flüchen?
„Alle Riegel zu und volle Abschirmung Stufe drei: Codewort Sarkophag des Osiris!“ rief Quinn. Schlagartig verriegelten sich die zwei Zugangstüren. Die Kuppel dunkelte so stark ab, dass das Sonnenlicht gerade so hell wie der Vollmond hereinfiel. Dann spannte sich mit leisem Summen eine silber-blaue Lichtglocke über den Kollegen und schirmte sie gegen die Wände und die Kuppel ab. „So, Jungs und Mädels. Trick Q-009“, sagte Quinn und dirigierte seine Kollegen aus dem Kreis mit den zwölf Bildern. Dann vollführte er zunächst den Reinitimaginus-Zauber an jedem der zwölf Bilder. Wilde Lichtwirbel erschienen innerhalb der Rahmen. Als diese in sich zusammenfielen waren die ursprünglichen Motive wieder da, Pferde, Reiter und Reiterinnen. Die Pferde scheuten und stiegen, warfen ihre Reiter beinahe ab. Doch diese waren mit Bauchgurten an den Sätteln festgeschnallt und konnten sich mit ihren Reitstiefeln fest in die Steigbügel stemmen. Als Quinn auch das zwölfte Bild in seinen Ursprungszustand zurückversetzt hatte griff er an seinen Arbeitsumhangund streichelte eine Stelle zwischen Brust- und Bauchraum. Dabei dachte er an etwas bestimmtes. Sein Umhang vibrierte. Dann beulte sich die gestreichelte Stelle aus und wurde zu einer offenen Tasche. Aus dieser zog er eine kreisrunde Metallscheibe hervor. Diese trug auf der einen Seite ein genaues Abbild des Ausrüstungsexperten und auf der anderen durch genau angeordnete Edelsteine gekennzeichnete Spiralarme.
„Öhm, äh?! Seit wann haben Sie denn sowas, Boss?“ fragte Jenny, seine jüngste Thaumaturgieassistentin. „Seitdem ich gehört habe, dass man mit sowas die Welt retten kann und darin weit herumkommt, ohne gesehen zu werden“, sagte Quinn. „Ach, wegen Jane Porter“, meinte Jenny. „Yep!“ sagte Quinn. Dann drückte er die mit seinem Abbild verzierte Seite der Metallscheibe an das Bild mit dem Cowboy, der gerade versuchte, seinen entflogenen Hut mit einem Lasso wieder einzufangen, sofern das unter ihm bockende und Loopings schlagende Pferd das überhaupt zuließ. Als er sah, wie das Pferd des auf dem Rappen reitenden Cowboys knappan der oberen rechten Ecke des Bildes anstieß zischte er: „Per Intraculum transcedo!“
Aus einem im Zentrum der berunten und mit Edelsteinen verzierten Seite glomm ein Lichtpunkt, der sich zu einer die Farben wechselnden Spirale auswuchs. Diese Lichtspirale umschlang Quinn und löste ihn scheinbar in reines Licht auf. Dann zog sie sich in das Bild zurück. Im selben Moment erschien die Gestalt des genialen Thaumaturgen, als habe jemand ihn nachträglich in dieses Bild hineingemalt. Ehe der auf seinem Flügelpferd ein wildes Rodeo reitende Cowboy und sein scheues Tier begriffen, was da gerade bei ihnen passierte hatte der nun wie gemalt aussehende Quinn erst den Reiter und dann das Pferd mit einem Schockzauber belegt. Das Pferd sackte von oben durch und landete auf einem silbernen Lichtkissen, dass Quinn unter ihm beschworen hatte. Dann hob der in das Bild gestiegene Zauberer den entfallenen Hut auf und setzte ihn dem betäubten Cowboy auf den Schopf. Danach machte er noch was. Er zielte vom Cowboy auf das Pferd und rief wie aus einem Schalltrichter klingend „Intercorpores permuto!“ Nun lösten sich Pferd und Reiter für einige Sekunden auf und entstanden dann wieder, nur dass das Pferd über dem Reiter stand. Quinn führte noch einen verzögerten Aufweckzauber aus und hielt dann den mit ihm mitgekommenen Metalldiskus so weit er konnte nach vorne. Er rief die Rückkehrformel aus und wurde von einer neuen Lichtspirale aus dem Bild heraus in die Wirklichkeit zurückgebracht.
So das ganze noch elfmal, dann kann ich das Intrakulum wieder zum nachladen auslegen“, wisperte Quinn, während die immer noch mit ihren Pferden ringenden Reiter in den anderen Bildern wütend riefen und die Reiterinnen schrille Befehle keiften. So bekamen sie nicht mit, wie Quinn in ein Bild nach dem anderen hinüberwechselte und die drei Zauber machte, erst Betäubung, dann den Körpertauschzauber und dann die verzögerte Erweckung. Tatsächlich zeigte sich nach dem sechsten Wechsel in kurzer Folge, dass das Intrakulum müder und müder wurde. Die in ihm gespeicherte Magie wirkte sich langsamer und langsamer aus. Doch am Ende hatte es Quinn noch geschafft, alle anderen Bilder in seinem Sinne umzugestalten. Als er nach einer unheimlich anmutenden Reise von dreißig Sekunden aus einer tiefrot flackernden Spirale heraustrat und erst mal prüfte, ob auch wirklich alle Körperteile mitgekommen waren, meinte er: „Damit ist die Theorie von Luitpold Kantenhobel und Georges Montargent bestätigt, dass ein Intrakulum maximal zwölf Durchgänge in einer Stunde ermöglicht. Okay, Mädchen und Jungen, die Schau beginnt!“
Als die scheinbar nur in ihren Plätzen veränderten Körper der Pferde und Reiter in den Bildern aufwachten waren sie verständlicherweise verwirrt. Als dann die einstigen Reiter auf allen Vieren liefenund die Pferde versuchten, auf den Hinterbeinen stehen zu bleiben und wütend oder verängstigt schnaubten und wieherten grinste nicht nur Quinn Hammersmith. „Ihr merkt gerade, dass euere letzte Verwandlung von mir aufgehoben wurde und ihr zur Strafe für euren Ungehorsam jetzt solange die Körper getauscht habt, bis ihr entweder damit zu leben gelernt habt, dass Pferde Menschen und Menschen Pferde sind, oder bis ihr mir eure wahren Namen und wie euer Herr und Meister heißt verratet. Ich habe Zeit, und ihr habt genug Gras.“
„Oh, mit diesem Tuch am Leibe sehe ich ja ganz unschön aus“, sagte der Herold im blau-goldenen Gewand mit einer leicht wiehernden Stimme.
„Hola, El Caballo es muý fuerte y rapido!“ wieherte das goldene Pferd, das einen in gelber Mexikanertracht gewandeten Reiter trug. „Ich bleibe vielleicht.“ „Bueno dann ich auf dir sitze und reite muý rapidamente.“
„Aber dann können wir nicht mehr dienen, weil unsere Gegenstücke uns nicht zu sich lassen können oder wir sie nicht zu uns. Schweinekerl! Mach das wieder rückgängig!“ schimpfte einer der in seinem Reittier wiederverkörperten Cowboys. „Es ist ein Grausen, es misslingt, die eigene Gestalt zu wandeln“, wieherte das blütenweiße Streitross des blau-goldenen Heroldes, während die Fuchsstute der feuerschopfigen Amazone schnaubte: „Dieser üble Schlag war feige und verrucht wie eines Schurken würdig.“ Die Reiterin mit den roten Haaren sagte mit leichtem Wiehern: „Ja, und dieser Körper ist nicht stark und schnell genug. Und fliegen kann ich damit auch nicht. Außerdem will ich keine toten Tiere aufessen.“
„Mach das wieder rückgängig, Schurke! Sonst wird unser Herr und Meister dich strafen“, drohte ein kastanienbrauner Hengst, dessen Reiter versuchte, mit den Armen zu flattern und enttäuscht dreinschaute.
„Wenn er das erfährt. Sorum könnt ihr gerne bleiben“, meinte Quinn. „Stimmt, die Prinzessin im rosaroten Tutu sieht jetzt noch hilfsbedürftiger aus als vorher. „Neh, falsche Farbe. Brauch ich nicht und will wieder fliegen und springen“, schimpfte die rosarot gekleidete Reiterin.
„So wie ihr seid kommt ihr nicht mehr zu eurem Meister. Und das tollste ist, dem fehlt ihr jetzt. Der bekommt gar nicht mit, was mit euch los ist und kriegt auch keine Nachrichten mehr von denen, an die er euch weitergegeben hat“, malte Quinn aus, was diesen zwölf Gespannen aus Pferd und Reitern nun alles nicht mehr möglich war. „Na ja, soll für heute reichen. Ihr könnt ja mal eine Nacht drüber schlafen“, sagte Quinn. Er wandte sich an seine Assistenten. „Gleich ist Mittagspause, lassen wir die störrischen Gäule und ihre Reiter doch einfach genießen, was sie gerade können.“
„Ich bin kein Gaul“, brüllte ein Cowboy, der auf einem Rapphengst geritten war. „Nimm den Gaul sofort zurück und beim Gott Israels und seinen Heerscharen wird dich die ewige Verdammnis verschlingen.“
„Kommt, Leute, wir gehen, nur die Fernbeobachtungszauber beibehalten“, sagte er. Dann ließ er die silberne Glocke erlöschen und die Glaskuppel wieder durchsichtig werden. Als sie durch die Tür gingen wieherten und brüllten die körpervertauschten durcheinander. Doch Quinn zog seine Assistenten durch die Tür und schloss diese.
„Glaubst du, die ziehen das durch, nichts zu verraten?“ fragte Mycroft seinen Vorgesetzten auf dem Weg zum Speiseraum. „Die werden damit hadern, dass sie ihren Auftrag nicht mehr erfüllen können. Außerdem werden alle vierundzwanzig ihre alten Körper wiederhaben wollen und vor allem, dass sie nur damit wieder zu unauffälligen Hintergrunderscheinungen werden können. Ja, und sie können so nicht zu ihren Gegenstücken, weil die Körpervertauschung ja auch eine Identitätsvertauschung ist“, wisperte Quinn. „Ich werde denen noch zusetzen, dass ich auch die anderen Bilder kriege und das sooft mache, bis mir eines von denen verrät, wer der Meister ist und das noch vor dem Ablauf der vierundzwanzig Stunden.“
„Das ist wirklich gemein. Bei echten Leuten wäre das voll die Folter“, sagte Jenny. „Ja, und deshalb müssen wir das auch nur Davidson und der guten Sheena aufs Brot schmieren, wie wir die zwölf Windrosenreiter beharkt haben“, zischte Quinn, als sie kurz vor der letzten Abbiegung waren. Jenny deutete auf eine Wand. Darin sahen sie alle das Gesicht von Marie Laveau. Die als nackte Geisterfrau vortbestehende Voodoo-Königin sah ihre lebendigen Mitstreiter an und lächelte verwegen. Dann verschwand ihr Gesicht wieder in der Wand.
Nach dem Mittagessen erstattete Quinn Direktor Davidson und dessen Stellvertreterin Sheena O’Hoolihan einen ersten Bericht und erwähnte dabei auch, dass er womöglich so schneller auf den wahren Meister der goldenen Windrose kommen mochte. „Dass Sie unorthodoxe Methoden haben ist hinlänglich bekannt“, sagte Davidson. „Aber versteigen Sie sich gütigst nicht in einen Sadismus im Umgang mit denkfähigen Wesen. Das mit gemalten Wesen kann ich gerade noch tolerieren. Aber verfallen Sie keinem Allmachtswahn, Mr. Hammersmith.“
„Direktor Davidson, dieser Meister der zwölf Stammbilder hetzt die Bruderschaften der Regionalisten und die Reunionisten gegeneinander auf. Wenn es uns auf meine Unorthodoxe Art gelingt, Menschenleben zu retten, so hoffe ich, dass dieser gemeine Trick von mir nicht dauernd wiederholt werden muss“, erwiderte Quinn Hammersmith.
Am nächsten Morgen suchten er und seine Leute die Kammer mit den zwölf Bildern wieder auf. Die Körpervertauschten scharrten mit den Hufen oder kauerten auf dem Boden herum und blickten trübsinnig von den Bildern herab. Dann sagte das weiße Pferd des Heroldes: „Wir gelangten zu einer schmerzvollen aber notwendigen Entscheidung. Unser Dasein heißt dienen. Dieses Dasein dient keinem, nicht einmal unseren Rössern, die ihre Gabe durch die Lüfte zu fliegen schmerzlich vermissen. Wir werden dir künden, wer wir sind und wem unsere erhabenen Urformen dienen. Aber dann musst du uns auch geloben, die widerwärtige Wandlung von uns allen zu nehmen, auf dass wir unserem zugewiesenen daseinszwecke dienen dürfen.“
Quinn erfuhr nun die Namen der Reiterinnen und Reiter und die ihrer Pferde, die alle was mit ihren Farben zu tun hatten und dass sie eben in den ihnen zugewisenen Himmelsrichtungen ihre Gegenstücke hatten. Jenny Archstone, die jüngste Assistentin des genialen Thaumaturgen, grinste ihren Vorgesetzten an. Der verhörte noch die Verwandelten, seit wann sie wieder ihren Dienst ausführten und wo sie und ihre Gegenstücke all die Jahre gewesen waren. Dabei erfuhr er, dass die 144 Bilder solange in einer unauffälligen Form verblieben waren, bis der wahre Erbe der Urformen diese selbst wiedererweckt und zu ihren Gegenstücken entsandt und mit den wahren Namen von Ross und Reiter aus der langen Tatenlosigkeit erweckt hatte. Der Meister hieß heute Marcus Lowgrass, war aber als Hasdrubal Highgate auf die Welt gekommen. Dieser Name war Quinn und den anderen bekannt. Die Highgates gehörten vor siebzig Jahren noch zum Gefolge Grindelwalds. Offenbar war der letzte Durecore-Sprössling der Sohn von Mathilda Highgate und dem ehemaligen MAKUSA-Mitglied Hamilcar Highgate. Das er der wahre Erbe Durecores war hatte der wohl durch etwas erkannt, was die zwölf Bilder nicht wussten. Sie erfuhren eben nur, dass ihre Urformen wieder aufgewacht waren und ihre Gegenstücke aufgeweckt hatten. Das ging eben nur, wenn der wahre Erbe mit Blut, seinem wahren Namenund den Worten der Berechtigungen die urformen in Besitz nahm, so wie es ihre Schöpfer damals im Auftrag von Damian Durecore eingewirkt hatten.
Als Quinn innerhalb von einer Stunde alles erfahren hatte, was er wissen wollte sagte er: „So habt ihr euch die Belohnung verdient. Da ihr solange in der anderen Gestalt verweilt habt müsst ihr noch ein paar Stunden aushalten. Dann werdet ihr, weil ihr meine Bedingungen erfüllt habt, wieder zurückverwandelt. Dann dürft ihr weiterdienen, wie es eure Schöpfer euch mitgaben.“ Die Verwandelten dankten durch aufstampfen mit Füßen oder Hufen und erleichtertem Wiehern und Nicken. Danach überließ Quinn die zwölf Bilder erst einmal sich selbst.
„Wenn die wieder in ihrer richtigen Gestalt sind packen wir die Bilder wieder in Mondruhe-Silberfolien ein und stecken sie in unser Hochsicherheitslager. Higgate alias Lowgrass wird sowieso schon argwöhnen, dass jemand eine ganze Serie seiner Windrosenreiterei hat aber nicht wer und nicht wo. Jetzt wo wir die Bilder haben und die Verbindungen zu den Gegenstücken kennen finden wir den und seinen Schlupfwinkel, bevor der noch einen Bürgerkrieg vom Zaun bricht.“
„Du bist dir sicher, dass dieser Lowgrass alias Highgate dahintersteckt, dass die Bruderschaften der unabhängigen Staaten so aufsässig sind?“ fragte Mycroft seinen Vorgesetzten. Er bejahte es. „Mit diesen Bildern hat jemand eine supergute Verständigungs- und Meldestruktur zur Verfügung. Diese konzertierten Aufstände in allen Staaten fingen fast zeitgleich an, kurz nachdem klar wurde, dass die großen zehn, zu denen meine Familie auch gehört, sich für den neuen MAKUSA entschieden haben. Womöglich wollte Hasdrubal Highgate, der mit seiner Familie vor dreißig Jahren auf nimmer Wiedersehen verschwand, einen Bürgerkrieg auslösen, um dann als Retter der nordamerikanischen Zaubererwelt aufzutreten. Bei dem hätten wir uns noch warm anziehen können, wenn Lachaise nicht auf die Bilder der goldenen Windrose gekommen wäre und die McDuffys mit ihren Beziehungen zu den Zaubermalern und -kunsthandwerkern nicht rausgefunden hätten, wer diese Bilder hat.“
„gut, dann können wir ja jetzt zum Direktor und den Abschlussbericht vorlegen“, meinte Jenny Archstone. Da fragte Quinn, warum sie vorhin, als die verwandelten Bild-Ichs ihre Namen bekannt gegeben hatten so hatte grinsen müssen. „Alles R-Namen“, sagte sie nur. Das reichte Quinn, um selbst zu grinsen. „Ja, acht richtig rockende R-Namen“, meinte Quinn. „Ja, und da ich die ja alle mit Beschreibungen ihrer sichtbaren Erscheinungsformen notiert habe kann ich mir die aufheben, wenn ich irgendwann doch mal eine Hexe finde, mit der ich dieses Eins-und-eins-gibt-drei-Spiel veranstalten kann und dabei ein kleiner Junge ans Licht kommt.“
„Die wird sich sicher freuen“, meinte Jenny Archstone. Quinn zog es vor, ihr kokettes Grinsen zu übersehen. Er wusste, dass nicht wenige Hexen aus dem LI darauf spekulierten, den kleinen R. Hammersmith zur Welt bringen zu dürfen. Aber nachdem Jeff Bristol mit Justine Brightgate zusammengefunden hatte und Davidson jede weitere „Fraternisierung“ zwischen eingeschriebenen Mitarbeitern „seines Institutes“ untersagt hatte war für Quinn klar, dass er seinen Großvater und seinen Vater noch länger vertrösten musste, was einen neuen Hammersmith anging. Abgesehen davon hatten seine Geschwister bereits Kinder bekommen. Die Blutlinie würde also nicht per se aussterben. Zumindest war sich Quinn sicher, dass er bis auf weiteres nur mit seinem aufregenden und abgedrehten Beruf verheiratet bleiben würde und eher kuriose wie haarsträubende Gegenstände in die Welt setzte als ein kleines, plärriges Bündel Menschenfleisch. Aber wussten Kolleginnen wie Jenny Archstone und Lisa Hilltop das auch?
Quinn erstattete erst Davidson einen vollständigen Bericht. Dann verbrachte er die wieder in ihre ausgangsformen zurückverwandelten Bilder in das Lager für unberechenbare und / oder brandgefährliche Aservate. Er ging davon aus, dass das Kapitel „Der letzte Durecore“ schon in den nächsten Tagen abgeschlossen sein würde.
Wie er es seinem Großvater Otto versprochen hatte suchte er diesen in der Villa Athena bei Philadelphia auf und erzählte ihm, was er herausbekommen hatte. „Du darfst den alten McDuffy grüßen und ihm mitteilen, dass ich keines der ihm abgekauften Bilder kaputtgemacht habe. Allerdings werden die auf Beschluss der Direktion bis auf weiteres im LI unter Verschluss bleiben. Immerhin haben wir ja eine Menge Gold dafür rausrücken müssen.“
„McDuffy hätte dir die Bilder auch so überlassen. Aber der wollte sicherstellen, dass du dir damit nicht den Hintern abputzt oder die Bilder durch einen Fleischwolf drehst. Deshalb bestand er darauf, Gold dafür zu bekommen, zumal wir alle ja denen, die sie vorher besessen hatten, gewisse Gegenleistungen entbieten mussten. Ach ja, Timothy Lakeshore hat noch zwei unverheiratete Töchter, beide Bluesprings-Schülerinnen von Thorntails und nach seiner Behauptung sehr versierte Organisationstalente in Haushalt und Garten. Ich meine, das dich das vielleicht interessieren könnte.“
„Lakeshore, Andromeda und Alkmene Lakeshore? ja, von denen habe ich schon gehört. Die eine arbeitet im Zauberpflanzengarten von VDS und die andere kam wohl bei Pineblossom & Partner als Fernreiseagentin unter, weil sie zehn Sprachen spricht, darunter Meerisch und Klingonisch, wenngleich außer mir und wohl ein paar wenigen keiner weiß, wer die Klingonen sind und dass wir noch keinen Weg kennen, zu denen hinzureisen.“
„Die Sprache diser auf alte Wikingermentalität basierenden, ruppigen, kriegerischen Außerirdischen aus der Zukunftssaga um diese Sternenschiffe, die oben einen Teller und hinten zwei Metallzigarren als Antrieb haben. Ich bin nicht von hinterm Mond, Sohn meines Erstgeborenen“, antwortete Otto Hammersmith. „Und ja, die betreffende Dame, Andromeda Lakeshore, hat diese fiktive Sprache erlernt, weil ihre Cousine eine halbblüterin ist, die wiederum mit einem Nomajgeborenen verheiratet ist, der wiederum ein Verehrer dieser Form von Phantasiegeschichten ist.“
„Direktor Davidson bittet durch mich euch anderen darum, erst dann was wegen Marcus Lowgrass alias Hasdrubal Highgate zu unternehmen, wenn wir raushaben, wo der ist und ob es vielleicht möglich ist, ihn mit einigen seiner Mitverschwörer zusammen auszuheben. Den jetzt zu suchen dürfte ihn dazu treiben, entweder im tiefsten Loch zu verschwinden, das er kennt oder mit aller Gewalt um sich zu schlagen und zu beißen. Das mit den Bildern ist schon sehr riskant, aber durchaus nötig. Den jetzt öffentlich zur Fahndung auszuschreiben wäre ein Fehler, sagt mein Boss.“
„So, und was sagst du, mein Enkelsohn, dem ich eine Menge Ausbildung ermöglicht habe, dass er bis heute nicht verhungern muss?“ fragte Otto Hammersmith. „Dein Enkelsohn sagt, dass wir uns keinen blutigen Zaubererweltkrieg leisten müssen, nachdem wir immer noch nicht wissen, was genau Ladonna Montefiori aus der Welt geschubst hat. Von sowas würden nur VM, die Werwölfe, die Vampirgötzinnenanbeter und andere wie der letzte Durecore-Abkömmling profitieren. Das sagt dein Enkelsohn und erlaubt es dir, das so an die anderen neun aus eurem elitären Club weiterzugeben.“
„Pöpp-pöpp-pöpp! Das ist auch dein elitärer Club, Jungchen. Eines Tages wirst du mit deinem gutgenährten Hintern auf diesem Stuhl sitzen und mit den neun Patriarchen, die es dann gibt, die Geschicke unseres Landes verwalten. Aber bis dahin bleibt dir noch Zeit, jedenfalls für deine Begriffe.“
„Solange mir die Zeit nicht knapp wird, Granpa“, begehrte Quinn auf. „Immerhin habe ich einen der heißesten Jobs auf diesem Planeten.“
„Beschreie es nicht! Wehe du verschwindest aus der Welt wie Ladonna, ohne mir oder deinem Daddy den kleinen R. vorgestellt zu haben werde ich einen Antrag auf Rückholung aus dem Jenseits bei der Geisterbehörde einreichen und dir nach guter alter Erdentradition den Geisterhintern versohlen.“
„Oh, da wirst du mir wohl auf halbem Weg entgegenkommen müssen, weil Jenseitsrückholanträge an die zweihundert Jahre Bearbeitungszeit in der Geisterbehörde und der Familienstandsbehörde benötigen. Dir und Gran Alva noch einen schönen Abend, Grandpa“, versetzte Quinn frech wie ein Schuljunge und disapparierte. Denn als Blutsverwandter besaß er die Freigabe dafür.
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Es war in der Nacht zum 6. Juni, die Nacht der letzten Gelegenheit, wie sie behauptet hatte. Heute sollten sie den Auftrag erfüllen, der ihre eigene Zukunft und auch die Zukunft des gesamten Projektes entscheiden sollte.
Zwei Zauberer in der Kleidung der berufsmäßigen Heiler näherten sich behutsam dem Personaleingang drei des Honestus-Powell-Krankenhauses. Dieser war hinter der Illusion einer roten Backsteinwand verborgen. Da es gerade elf Uhr nachts war und in diesem Teil des Landes keine elektrische oder sonstige Lichtquelle leuchtete wirkten die beiden wie schwarze Schatten. Ihre Füße steckten in Schuhen mit Lautloslaufsohlen. So waren sie genauso geräuschlos wie schatten. „Dir ist klar, dass wir gerade die Spülung ziehen, mit der wir unsere Approbation in den Abfluss runterspülen“, hörte der eine die Gedankenstimme des anderen. Er schickte zurück: „Guten Morgen, Louis, das haben wir schon gemacht, als wir uns auf Bullhorns Mission eingelassen und uns für ihr Projekt verdingt haben.“
„Und ich sagte dir, dass wir unsere Kollegen informieren sollten und zusehen, diesen Bluteid wieder loszuwerden. Oder wolltest du mithelfen, unschuldige Hexen umzubringen?“ Fragte der Begleiter des offenbar entschlosseneren.
„Louis, wir haben keine umgebracht“, versetzte der erste in Gedanken. Wieso musste sein Ausbildungskamerad, Mitstreiter und ja das nächste zu einem Freund was ging, jetzt wieder sein Gewissen entdecken? Wie wollten sie denn da die Missionsziele erfüllen, die Mitstreiterin Peppermill aus der Sicherheitsverwahrung holen, alle sie betreffenden Dokumente sichern oder vernichten und, falls sie das Pech hatte, ihnen über den Weg zu laufen, Eileithyia Greensporn in Gewahrsam zu nehmen? Das mit Eileithyia hatte er seinem Begleiter und Mitverschwörer bisher nicht verraten, eben weil der in letzter Zeit immer zimperlicher wurde, was die auszuführenden Aufträge anging. Das lag sicher am Fall Greywater. Doch er hing da mit drin und musste wie er, Eusebius Riverbottom, mit aller Entschiedenheit weitermachen, die das ganz geheime Projekt „Sol Puritatis“ verlangte.“Wenn wir durch diese Tür gehen, in diesen Identitäten, und wir schaffen das, Verena Peppermill da wieder rauszuholen, können uns die Zunftkollegen zur Fahndung ausschreiben“, unkte Louis Mellow wieder einmal. Langsam ging das Eusebius Riverbottom auf die Nerven.
„Was meinst du, warum wir Wills und Remos Haare requiriert haben und deren Kleidung. Bis die aus dem Tiefschlaf aufwachen haben wir Verena aus dem diamantenen Uterus herausgeholt und sicher in das HQ zurückgebracht. Also schlag dein Gewissen k. O. und fessel es an einen Stuhl weit genug weg von deinen innereren Ohren!“ gedankenknurrte Eusebius Riverbottom. Dann deutete er auf die verschlossene Tür, die auch als „Abschiedsdurchreiche bezeichnet wurde, weil auch Bestatter hier hindurchgehen konnten, um die trotz magischer Errungenschaften immer mal wieder anfallenden Toten diskret und schnell aus dem HPK abzuholen. Allerdings mochten die oberen des Krankenhauses die Bezeichnung „Abschiedsdurchreiche“ nicht hören und verpassten dafür glatt hundert Disziplinarpunkte. wer in einem Monat mehr als hundert anhäufte bekam einen Monat lang kein Gehalt ausbezahlt.
Eusebius Riverbottom, der gerade in der Gestalt seines Kollegen Will Hillcrest unterwegs war, legte die linke Hand mit allen fünf abgespreizten Fingern auf Augenhöhe an eine scheinbar massive Backsteinmauer. Mit der rechten führte er den Zauberstab zu einer bestimmten Stelle und klopfte viermal dagegen. Für drei Sekunden tat sich leise schabend ein anderthalb Meter hoher Durchgang auf. Eusebius Riverbottom durchschritt ihn. Der Durchgang verschloss sich wieder. Nur drei Sekunden später tippte ihm sein Kollege auf die Schulter. Er war auch durch.
Die Heilertaschen und die Zutrittsplaketten für das HPK ließen sie ungehindert in das innere des Krankenhausgebäudes eindringen. Sie wussten nur, dass ihr Zutritt von Registrierzaubern vermerkt worden war. Aber sie hatten sich für diesen dreisten Coup genau die richtigen Körper ausgesucht. Denn Hillcrest und Hazelwood besaßen nach den Abteilungsleiterinnen und -leitern die zweithöchste Zugangsberechtigung innerhalb des Krankenhauses. Sicher mochte jemand irgendwann ablesen, dass die zwei durch den heimlichen Personaleingang eingedrungen waren und dort wohl auch wieder hinausgehen würden. Aber dann würden sie eben nach Hillcrest und Hazelwood suchen.
Durch die beleuchteten Gänge eilten die zwei Eindringlinge zum Treppenhaus. Sie wollten um diese Zeit keinen der Aufzüge benutzen, weil das mit Sicherheit die Hausüberwachung aufgeschreckt hätte. Außerdem konnten sie nur mit einer besonderen Zutrittsgenehmigung in die Hochsicherheitsstation, die schon fast einem Gefängnistrakt gleichkam. Nicht selten wurden hier Patienten verwahrt, die in nicht all zu ferner Zeit nach Doomcastle verlegt wurden. Würden sie da eines Tages auch landen?
„Okay, wir müssen beide zugleich den mentalen Schlüssel nutzen. Du nimmst den grünen und ich den roten, während wir den Zauberstab an die betreffenden Felder halten. Und defäkier nicht in deine unterhose, weil uns eine magische Stimme nach der Begründung für den Zutritt fragt. Wir sind im Auftrag der Zunftleitung hier, um die Versorgung der Patienten zu dokumentieren. Die gute Thyia Greensporn wird das erst mitbekommen, wenn wir wieder hier raus sind, sofern sie nicht das Pech hat, uns über den Weg zu laufen, solange wir die Fremdzauberüberwachung pausieren.“
„Du weißt, dass im Hochsicherheitsbereich kein melo mehr geht?“ fragte Mellow alias Remo Hazelwood. „Ja, deshalb war das bis draußen die letzte Mitteilung“, schickte sein Mitverschwörer zurück.
Sie gelangten zum Treppenhaus und stiegen die fünf Absätze bis zu einer mit einer Vielzahl von glimmenden Zauberzeichen verzierten Metalltür hinunter. Das war schon fast wie in Gringotts, dachte Eusebius Riverbottom. Dann standen sie nur noch einen halben Meter davon entfernt. Unvermittelt überstrichen ihn und nach Louis Aufkeuchen auch diesen unsichtbare Hände. Dann leuchteten vier der Zeichen rot auf und vier davon grün. Eusebius Riverbottom alias Will Hillcrest berührte den rot leuchtenden Kreis mit dem Zauberstab und legte seine linke Hand auf die Zeichen daneben. Dabei dachte er an einen feuerroten Sandstrand, auf dem sieben Pinguine in roten Fräcken herumwatschelten. Louis steckte die Spitze seines Zauberstabes in den grünen Kreis und platzierte seine linke hand auf die drei Zeichen daneben. Dabei dachte der hoffentlich an einen grünen Elefanten auf einer kniehohen Wiese. Die Tür begann zu erbeben. Dann rasselten mehrere innere Verriegelungen. Wieder überstrichen unsichtbare Hände die beiden Zutrittsersuchenden. Dann klappte die Tür lautlos auf. Sie überquerten die Türschwelle und fühlten dabei, wie etwas durch ihre Körper hindurchglitt und unter ihren Schädeldecken merklich nachbebte. Das war ein Ehrlichkeitsprüfzauber. Doch der konnte wegen des allen Inobskuratoren zugedachten Geistesschutzrituals druidischer Herkunft nichts ausrichten. Eusebius Riverbottom fühlte, wie seine entliehene Heilerplakette pulsierte. Dann war es vorbei. „Zugang für Heiler Riverbottom und Heiler Hazelwood für eine Stunde gewährt. Bitte registrieren Sie im Melderaum Grund und Dauer Ihres Besuches, bevor Sie weitergeleitet werden“, drang eine leise Stimme direkt in beide Ohren von Eusebius Riverbottom und Louis Mellow.
Das gehörte noch zur üblichen Prozedur. Die Zutrittsberechtigten wurden nicht im Treppenhaus abgefertigt, sondern hinter der Sicherheitstür, um den ungestörten Betrieb der Heilstätte aufrechtzuhalten.
Gleich hinter der Tür klappte eine weitere Tür auf, die in einen zylindrischen Raum führte. Hier konnte ein Kollege sitzen, der die Meldung entgegennahm. Doch während der Nachtstunden war es üblich, dass die Begründung und die geschätzte Einsatzdauer einer Mitschreibevorrichtung diktiert wurde. Die Zettel wurden dann am nächsten Morgen von dem armen Kollegen gesichtet und abgeheftet, der laut Schichtplan die Registratur verwalten durfte. Also bestand die reelle Chance, dass vor acht Uhr morgens keiner mitbekam, dass sie überhaupt hier waren.
Im Melderaum standen mehrere Stühle. Eusebius und Louis setzten sich darauf. „Registrierung erfasst HZBV Hillcrest, William und HZBV Hazelwood, Remo. Bitte sprechen Sie Begründung für Ihren Einsatz und geschätzte Einsatzdauer in HSS in den Schallsammeltrichter und erwarten Sie Bestätigung und Weiterleitung!“
„Heiler zur besonderen Verwendung Hillcrest benötigt Hochsicherheitsaufzeichnungen über kurative Fortschritte bei Patientin Peppermill, Verena und Patient Ruebenfeld, Jonas zur heilerrechtlichen Dokumentation für Treffen des Heilerkonventes von Nordamerika am 20. Juni 2007. Hierzu ist Sichtung der Unterlagen wie Sichtung der betreffenden Patienten unter zeitweiliger Aussetzung der Bewegungs- und Fremdzauberüberwachung erforderlich. Berechtigungscode Custos aureus maximus drei eins acht. Geschätzte Einsatzdauer eine Stunde“, diktierte Eusebius Riverbottom mit Will Hillcrests Stimme. Mellow schloss sich dem an und bekundete, dass er der heilerrechtlich vorgeschriebene Begleitzeuge und Dokumentenfachkundige war und bestätigte die von seinem Kollegen vermerkte Einsatzdauer. Anschließend nannte er noch den Zusatzcode „Custos argenteus Minor neun vier neun.“
Stille lag über dem von einer kleinen Kristallsphäre erhellten Melderaum. Seb Riverbottom blickte auf die von Will Hillcrest „geliehene“ Armbanduhr und las ab, dass die magische Stimme nach genau dreißig Sekunden zu hören war. „Anliegen wurde vermerkt, für berechtigt befunden und bewilligt. Bitte begeben Sie sich zur Sichtung der Patientin Peppermill in den Raum für gründliche Körperreinigung und Fremdzauberprüfung am Ende des ersten Querganges links. Nach Abschluss der Reinigung und Prüfung wird Ihnen beiden der Zutritt zum Patientenzimmer unter Einhaltung der verordneten Sicherheitsmaßnahmen gewährt, aber mit für Einsatzdauer gewährten Pausierung der Fremdzauberüberwachung. Bitte beachten Sie, dass in diesem Bereich des HPK weder das apparieren noch Mentiloquismus möglich sind und das Mitführen von Fernbeobachtungs- und Schallverpflanzungsgegenständen untersagt sind! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!“
Die Tür ging wieder auf. Beide Verwandelten gingen hinaus. Louis hatte außerhalb der Klinik gefragt ob die Benutzung von Vielsaft-Trank immer noch nicht nachgewiesen werden könne. Eusebius Riverbottom hatte bestätigt, dass sofern keiner so dumm war, eine Probe davon am Körper zu tragen, die Benutzung des Trankes nicht durch die Zauber festgestellt werden konnte. Dass sie logen wurde von den Inobskuratorenzaubern überlagert.
Sie betraten einen kleinen Vorraum. Hier sollten sie ihre Kleidung und mitgeführten Gegenstände in die dafür vorgehaltenen Reinigungsfächer legen und dann zur Körperreinigung und Fremdzauberüberprüfung in den Dekontaminationsraum eintreten. Da ihre Körper dank dreifacher VST-Dosis noch an die zwei Stunden stabil blieben bestand keine Gefahr, dass sie beim Reinigen oder Fremdzaubercheck aufflogen.
Der Dekontaminationsraum war ein aufrechtstehender Metalltank, nahtlos verschließbar. Die beiden hatten das in der Ausbildung zweimal durchlaufen, um zu wissen, wie es ging. Dennoch empfanden sie es als unheimlich, wie sich unter ihren Füßen und über ihren Köpfen winzige Löcher öffneten und erst feiner Dampf und dann körperwarme, nadelfeine aber weich dosierte Wasserstrahlen über ihre Körper liefen. Gleichzeitig atmeten sie die Dämpfe des Keimbanntrankes ein, der ihre Atemwege und Münder von schädlichen Erregern freimachte. Daher dachten sie sich nichts dabei, dass es in ihren Mündern kribbelte. Sie fühlten auch den Zahnputzzauber, der jeden bakteriellen Belag von ihren Zähnen tilgte. So würden sie gleich so sauber wie selten aus dieser Prozedur herauskommen. Das über sie strömende Wasser verschwand in den winzigen Löchern am Boden. Irgendwie war Eusebius Riverbottom leicht schwummerig, und er glaubte, das über ihn und Louis fließende Wasser würde kochen, so nebelig war es. Doch er fühlte kein Verbrühen. Das Wasser mit den darin gelösten Keimbannessenzen blieb angenehm körperwarm. Eusebius Riverbottom fühlte, wie seine Lungen stärker Luft einsogen. Den Effekt kannte er noch nicht. Doch so schnell dieser auftrat so unvermittelt klang er auch wieder ab. Auch der Sprühnebel der Wasserstrahlen verflog.
Die Reinigungsberieselung hörte auf. Was noch an Wasser zu Boden tropfte verschwand leise gluckernd in den Löchern im Boden. Warmer Wind blies den beiden um die Leiber und trocknete sie ab. Dann verschlossen sich die Abflusslöcher. Sie standen wieder in einem scheinbar nahtlos verschlossenen Metalltank.
„Bekleidung und mitgeführte Gegenstände wurden mit Keimfreipulver vollständig trocken dekontaminiert. Bitte empfangen Sie ihre persönlichen Kleidungs- und Gebrauchsstücke im sterielen Vorbereitungsraum!“ meldete sich eine metallisch klingende Stimme. Nun ging in der der Eingangsstelle gegenüberliegenden Wand eine Tür auf, die vorher nicht zu sehen war. Eusebius und Louis in ihren gekaperten Körperformen verließen den Reinigungsraum. Da es keinen Alarm gegeben hatte war kein für die Heiler nachvollziehbarer schädlicher Fremdzauber erfasst worden.
Die beiden unter falscher Identität eingedrungenen PSP-Agenten bekleideten sich wieder und steckten die ebenfalls ihren schlafenden Kollegen abgenommenen Zauberstäbe wieder ein. „Hinweis, für die Dauer einer vollen Stunde werden nun alle Fremdzauberwarnmelder unterbrochen. Sollten Sie in eine Notlage geraten rufen sie das wort „Spielabbruch!“ sagte die bisher hörbare Zauberstimme. Dann rasselte es in der Tür. Sie ging auf und gab den Weg in den begehrten Hochsicherheitstrakt frei.
Da sie sich nicht verraten durften mussten sie nun so tun, als seien sie die beiden registrierten Heiler. Selbst wenn die Fremdzaubermeldung unterbrochen war konnte es doch sein, dass irgendwo hier unten noch wer Dienst tat.
Sie eilten auf ihren Lautloslaufsohlen durch rötlich ausgeleuchtete Gänge vorbei an eisernen Türen mit rot leuchtenden Hinweisschildern, wer dahinter in Gewahrsam lag. Im Moment waren nur drei der zwanzig Hochsicherheitszimmer belegt. Zwei davon mussten sie dem Einsatzprofil nach besuchen, um ihre wahre Mission zu verschleiern. Da sie Verena Peppermill in verkleinerter Form aus dem Krankenhaus hinausschmuggeln wollten mussten sie erst zum erwähnten Patienten Jonas Ruebenfeld hin, der wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an einem der Aufstände gegen die Reunionisten mit fünf verschiedenen Flüchen zugleich belegt worden war.
Sie betraten nach Berechtigung durch Handabdruck und Plakette das Patientenzimmer und blickten auf das Möbelstück, das eine Heilbadewanne oder ein Bett sein konnte. Im Moment war es eine Heilbadewanne. Was darin lag hatte mit einem Menschen nur noch die Körpergröße gemeinsam. Es sah eher aus wie ein von rosarotem Schleim überzogener Tausendfüßler mit einem übergroßen, Birnenförmigen Kopf, der pulsierte wie das Herz eines Riesens. Von dem Kopf strudelten feine, rostrote Tentakel durch die halbdurchsichtige, rosarote Flüssigkeit. „Oha, multiple Verunstaltungsflüche und offenbar mindestens ein Verstärker zur Verschlimmerung der aufgeprägten Schadwirkung“, sagte Louis Mellow. „Die Heillösung soll wohl die schädliche Magie auswaschen, bis sie so schwach ist, dass sie mit herkömmlichen Flucherkennungs- und -aufhebungszaubern behoben werden können.“
„Wer kann denn heute noch den Caput-Medusulae-Zauber?“ fragte Eusebius seinen Begleiter, der im Angesicht des stark verunstalteten Patienten merkwürdigerweise seine innere Ruhe und Entschlossenheit wiedergefunden hatte.
„Wissen wir, ob nicht ein indigener Fluch dieselbe Wirkung hat?“ fragte Mellow. „Dieser Multipedes-Zauber könnte auch ein schwarzmagischer Zauber eines menschenunfreundlichen Medizinmannes sein.“
„Deshalb wohl noch die Resorbtionslösung gegen alle Formen dunkler Körperbeeinflussungszauber“, stellte eusebius Riverbottom alias Will Hillcrest fest.
Sie schrieben sich beide auf, was sie an dem Patienten Ruebenfeld sahen und vermuteten und erwähnten, dass sie nach der direkten Ansicht die bisherigen Aufzeichnungen prüfen und kopieren würden.
Nach zehn Minuten verließen sie das Hochsicherheitszimmer des Patienten Ruebenfeld und steuerten das dritte belegte zimmer an. Auf dem roten Türschild stand:
MS. Verena Peppermill
frühere Inobskuratorin im Range eines Lieutenants
mutmaßliche Mitverschwörerin der extralegalen Gruppierung „Sol Puritatis“
Verwahrung bis Ansprechbarkeit und Vernehmungsfähigkeit auf Anordnung von HPK-Direktor Ambrosius Silverspoon und Regionaladministrator Jerimy Carfax!
Zutritt nur für HPK-residente Heiler der Sicherheitsfreigabestufe III und höher!!!
Eusebius Riverbottom alias Will Hillcrest fühlte sein eigenes Herz schlagen. Jetzt galt es. er musste den in seiner geheimen Umhangtasche enthaltenen Transportbehälter hervorholen und die Patientin erst einschrumpfen und mit Conservacorpus-Bezauberung belegen, um sie dort hineinzubettenund unaufspürbar für Lebewesenerkenner hinausschmuggeln zu können. Soviel zum diamantenen Uterus, wie Mellow diese Sicherheitsverwahrung genannt hatte, dachte Eusebius Riverbottom. Dann dachte er an den zweiten Transportbehälter, den er ohne Wissen seines Fachkollegens und Mitverschwörers eingesteckt hatte. Wie konnte er es anstellen, dass auch dieser benutzt werden konnte? Sollte er sie hierherrufen? Doch war die überhaupt hier im HPK? Am Ende konnten sie gerade mal die für ihn und Louis Mellow ausgegebenen Missionsziele erreichen.
Eusebius Riverbottom schloss die Tür von innen, damit sie ungestört blieben. Von innen brauchten sie nur beide freien Handflächen gegen den Türrahmen zu drücken, um wieder hinauszugelangen.
Um zu übertönen, was er tat sprach er mit dem angeblichen Kollegen Hazelwood über die Lebenszeichenüberwachungsergebnisse und die Qualität der besonderen Diptam-Mischung, in der die unbekleidete Patientin lag. Die Feuerschäden waren bereits zu einem überwiegenden Teil verheilt. Wenn sie noch drei Tage hier blieb würde sie eine narbenlos verheilte Haut besitzen. Eusebius Riverbottom öffnete den durchsichtigen Heiltank, um die über den ganzen Körper mit Heillösung bedeckte Patientin direkt zu betrachten. Hierfür musste er jedoch drei sogenannte Mentalschlüssel benutzen, gezielte Verbildlichungen im eigenen Geist, die an bestimmten Stellen die Berechtigung nachwiesen, den Tank zu öffnen. Kein Meldezauber schlug an. Dann dampfte ihm die rosarote Heillösung entgegen. Er nahm einen Geruch von gesunder Haut und Kräuteressenzen wahr. Konnte sein, das er wegen der ätherischen Dämpfe demnächst Probleme beim Rasieren hatte, weil die Barthaare fester verwurzelt waren und stärker wucherten. Aber das würde er auch überstehen. Er zog aus der mitgenommenen Heilertasche eine kleine Probenphiole mit einer Pipette in steriler Verpackung. Mit der Pipette entnahm er zehnmal hintereinander eine Probe der Heillösung und füllte diese in die Phiole. Dann verkorkte und versiegelte er diese und steckte sie wieder fort. „Die Mischung wird später gesondert analysiert und unabhängig von den behandelnden Kollegen überprüft“, sagte er und holte dabei schon den kleinen, zylindrischen Transportbehälter hervor. Auch bei den Inobskuratoren hatte sich herumgesprochen, was der Ex-Hailer und mit lebenden Wesen herumexperimentierende russische Magier Igor Bokanowski mit den von seinen künstlichen Dienern eingefangenen Zaubereiministern angestellt hatte. So konntgen sie Verena Peppermill übernehmen. Doch zunächst musste er sie einschrumpfen, ohne die Luftzufuhr zu unterbrechen. Also zog er noch eine scheinbar hauchdünne Folie hervor, legte sie zwischen die Beine der Patientin und zog die Hand aus dem Heilbad zurück. Die Folie wurde zu einer veritablen Luftmatratze und hob sich mit der Patientin aus dem Heilbad. Dabei schwappte etwas von der gesondert abgestimmten Lösung über den Rand des Heiltanks auf den Boden und zerstob dort zu rosaroten Dunstwolken. „Centinimus!“ dachte Riverbottom und ließ den Zauberstab von Kopf bis Füßen über die rosarot glitzernde Patientin schwingen. Da der Stab nur über die zu sichernde Kollegin strich wirkte die damit aufgerufene Magie auch nur auf diese. Sie schrumpfte innerhalb einer Sekunde auf anderthalb Zentimeter Länge zusammen. Um sie nicht am Luftmangel sterben zu lassen belegte er sie augenblicklich mit dem Conservacorpus-Zauber. Dieser ließ sie quasi versteinern und machte sie unempfindlich gegen die allermeisten Formen von Gewalt.
„Seb-bb, Will!!“ rief Louis, der an der Tür wachte, wie sie es abgesprochen hatten. Da ging die Tür auch schon auff. Eine kleine Hexe mit silbernen Haaren und goldener Brille und ein älterer Zauberer standen davor. Riverbottom kannte beide, Eileithyia Greensporn und HPK-Direktor Ambrosius Silverspoon. „Was tun sie hier, die Herren Kollegen? Das ist keinem Erlaubt!“ sagte Silverspoon.
„Plan Nachtmütze!“ rief Eusebius Riverbottom Louis zu. Dieser hielt seinen Zauberstab in der Hand und zielte. Bevor die beiden unverhofft dazugekommenen Großheiler ihre eigenen Zauberstäbe abwehrbereit hatten trafen sie bereits die roten Schockzauber. Dann lauschten die zwei Identitätsdiebe, ob nicht doch ein Alarm losging oder alle Türen zuschlugen. Doch die Tür zum Patientenzimmer blieb offen, und es klang weder ein Alarm noch hektisches Rufen in der Ferne.
„Planänderung, Zielperson P-004 sicherstellen und abtransportieren“, sagte Riverbottom und zielte auf die betäubte Großheilerin Greensporn. Er ließ auch sie einschrumpfen und kristallisierte ihren Körper. Dann hob er sie mit spitzen Fingern auf und steckte sie in den bereitgehaltenen, innen ausgepolsterten Transportzylinder und schraubte diesen fest zu. „Hey, Seb-bb, William Hillcrest, was soll das?“ fragte Louis Mellow alias Remo Hazelwood.
„Was ich gesagt habe, Kollege Hazelwood. Zielperson P-004 wurde sichergestellt. So, und jetzt noch die Patientin Peppermill“, sagte er und holte einen zweiten kleinen Transportzylinder hervor. In diesen bettete er die bereits geschrumpfte und conservacorporisierte Verena Peppermill. „Zeit bis Wiedereinsetzen Fremdzauberüberwachung?“ fragte er seinen Kollegen. Dieser sah auf seine Uhr und sagte: „Noch fünfunddreißig Minuten. Aber wenn die zwei vermisst werden.“
„Wieso sollen sie das?“ fragte Riverbottom kaltblütig und wirkte auf den ungeschrumpft gelassenen Silverspoon einen Gedächtniszauber, dass dieser alleine nach der Patientin hatte sehen wollen, weil Eileithyia Greensporn wegen eines Rufes nach Geburtshilfe in Kentucky zu tun hatte. Dabei stellte er sich die für Silverspoon zu erinnernden Informationen und Worte so klar vor, dass er meinte, er erlebe das gerade selbst. Danach gaukelte er ihm noch vor, dass die Patientin Peppermill sich in der Heillösung aufgelöst hatte, offenbar weil jemand falsche Ingredentien mit Wirkungsverkehrung eingefüllt hatte. Anschließend wirkte er einen mit Verzögerungszauber verbundenen Aufweckzauber. Ambrosius Silverspoon sollte erst in fünf Minuten wieder aufwachen und sich an das erinnern, was Eusebius ihm gerade ins Gehirn eingepflanzt hatte. „Gut, ich bin jetzt fertig. Wir können zu den Dokumenten“, sagte Riverbottom weiterhin so abgebrüht wie ein vielfacher Auftragsmörder, der nur einen weiteren Job erledigen musste, weil er dafür Gold bekam.
Die beiden, die gerade das Vertrauen, die Sicherheit und die Rechtschaffenheit des Honestus-Powell-Krankenhauses in den Staub getreten hatten schlossen Silverspoon im Patientenzimmer ein und beeilten sich, in den Dokumentenraum zu kommen. Hier schafften es die beiden innerhalb von nur zwei Minuten, alle Akten über Peppermill und Ruebenfeld zu finden und nach Aufhebung des Unversehrbarkeitszaubers in leerer Luft verschwinden zu lassen.
„Zeit noch?“ fragte Riverbottom.“ „Noch Neunzehn Minuten“, sagte Mellow. „Dann sind wir super in der Zeit“, meinte Riverbottom.
Mit den eingeschrumpften und für Lebewesenaufspürzaubern unentdeckbaren Gefangenen eilten die beiden durch zwei Türen, zwischen denen sie von Keimfreinebel besprüht wurden. Dann passierten sie den Melderaum, wo sie sich eigentlich nach ihrer Mission abzumelden hatten. Doch das ließen sie aus. Sie erreichten die kleine Personaltür und verließen das HPK.
Kaum draußen rannten sie auf ihren Lautloslaufsohlen an die hundert Meter weit. Erst dort konnten sie mühelos disapparieren. Gemäß der Projektregeln mussten sie an drei Orten innerhalb von einer Minute apparieren, bevor sie unmittelbar vor die Tür von HQ PSP apparieren durften.
Die zwei ersten Sprünge gelangen problemlos. Doch als Riverbottom den dritten Sprung ausführte landete er in einem dunkelgrau wabernden Nebel ohne Begrenzung. Er fühlte auch keinen Boden unter den Füßen. Er meinte, zu schweben, Teil eines viele Meilen weit ausgedehnten Nebelmeeres, ja eines Wolkenozeans zu sein. Er sah sich um. Doch er konnte gerade mal so weit sehen, wie seine Arme reichten. „Remo, ich meine Louis!“ rief er. Er wunderte sich, dass seine Stimme so von dunklen Untertönen durchsetzt verwaschen klang. Dann hörte er ein auf- und abschwingendes Echo. Es war, als kehren seine eigenen Rufe rückwärts zu ihm zurück. Das war nie im Leben normal. Er war in einer Falle gelandet. Er versuchte sofort, zu disapparieren. Das gelang ihm auch. Er landete am letzten klar angesteuerten Ort. Hatte er also Glück gehabt? Doch wo war Louis Mellow. War der etwa noch in jenem grauen, unendlichen, schwerelos machenden Nebel? Wieso war er überhaupt in dieser Falle gelandet. Er war doch zutrittsberechtigt für das HQ PSP. Außerdem wusste er, dass Unbefugte den Ort gar nicht erreichten, weil der ja unter dem Fidelius-Zauber lag. Irgendwas stimmte da hinten und vorne nicht.
„Louis, wo bist du?“ versuchte er seinen Kollegen anzumentiloquieren. „Ich bin im Hauptquartier PSP“, empfing er die merkwürdig dreifach hallende Stimme seines Kollegens. „Das Hauptquartier. Wo ist das?“gedankenfragte er. „Das weißt du doch, wir sind doch eingeweiht worden“, erhielt er zur Antwort. Merkwürdig! Da kam ihm die Idee: „Ja, sind wir. Deshalb verrate mir die genaue Lage, damit ich sicher bin, dass es weiterhin das Hauptquartier ist.“
„“Da wo es ist, und wo unsere Auftraggeberin schon auf dich wartet. Sie will die beiden gesicherten Hexen verhören-hören-ören-ren!“ dröhnte Mellows Gedankenstimme in seinem Geist. „Jemand überlagert uns. Melde Fall Nebelmond“, gedankenrief Riverbottom. „Erbitte Unterstützung bei Zwischenhalt M null null drei null zwo!“ Er widerholte den Notfall und seinen Standort gemäß des vorher festgelegten Missionsplans.
Nur vier Sekunden später tauchten vier Kollegen des Projektes „Sol Puritatis“ auf. Doch sie wurden alle in eine silbergraue Aura eingehüllt, die nur schwer erkennbar machte, wer es war. Erst als er gezielt an die Namen dachte konnte er sie klar erkennen, darunter auch die oberste Leiterin, PSP-Alpha, Major Atalanta Bullhorn.
„Sie haben die Mission nicht vollständig ausgeführt. Was hat Sie aufgehalten? Ich sehe hier keine Anzeichen für Notrufberechtigung Nebelmond“, schnarrte sie. Er erwähnte, was ihm beim letzten Sprung widerfahren war.
„Kann es sein, dass jemand Ihnen einen Spürzauber angehängt hat, Lieutenant Riverbottom?“ fragte Bullhorn. Der Gefragte stritt dies zunächst ab, erinnerte sich aber daran, dass er ja Eileithyia Greensporn sichergestellt hatte. „Verstehe, könnte ein eingewirkter Stanndortverratszauber sein, der sie nicht zum Ziel gelassen hat. Der wirkt auch auf mit Conservacorpus bezauberte Individuen. Könnte auch auf die Kollegin Peppermill aufgeprägt worden sein. „Gut, dann eben ins Ausweichquartier Maryland“, befahl Bullhorn und disapparierte mit ihren Begleitern.
Als habe er in dem Moment, wo sie selbst verschwand die magische Reise eingeleitet fand er sich fast ohne Übergang in einer Höhle wieder, die er als Ausweichquartier Maryland erkannte. Hier galt kein Fidelius-Zauber, weil die Geheimniswahrerin bereits den Standort und die Funktion des Hauptquartieres damit gesichert hatte.
„Übergeben Sie mir die beiden gesicherten Personen, damit wir prüfen können, ob diese mit einem solchen Aufspürzauber belegt sind!“ befahl PSP-Alpha. Riverbottom kam der Aufforderung unverzüglich nach.
„Begleiten Sie mich und erleben Sie mit, woran es lag!“ befahl die Oberste des Projektes „Sol Puritatis“. Riverbottom folgte ihr und den drei anderen herbeigerufenen Kollegen, die er klar identifiziert hatte.
Sie betraten eine mit golden schimmerndem Metall ausgekleidete Kammer. Das war ein Kraftkerker. Der konnte je nach Einstimmung alle Zauberkräfte aussperren oder einschließen, dass von außen nichts davon bemerkt werden konnte. Demzufolge konnten auch keine Fernüberwachungszauber wirken.
Atalanta Bullhorn legte die zwei Zylinder auf einen steinernen Tisch, in dessen Oberfläche magische Zeichen eingeritzt waren. Die Zylinder regten sich nicht und leuchteten auch nicht auf. „Mag der Grad der Einschrumpfung sein“, vermutete die Leiterin des Projektes. So holte sie mit einer Pincette behutsam die beiden eingeschrumpften und mit Conservacorpus bezauberten Hexen hervor. Die, die sie wegen der mitkonservierten Kleidung und der winzigen Brillengläser als Eileithyia Greensporn identifizieren konnte legte sie erst einmal zur Seite. Die zweite legte sie so ab, dass Eusebius Riverbottom sie bequem mit seinem Zauberstab überstreichen konnte. „Soweit ich weiß kann ein mit dem Conservacorpus-Zauber belegtes Individuum nicht fremdverwandelt werden, also auch nicht eingeschrumpft oder vergrößert werden. Bitte heben Sie den Conservacorpus-Zauber auf und entschrumpfen Sie die Kollegin Peppermill!“ befahl Atalanta Bullhorn. Riverbottom kam dieser Aufforderung unverzüglich nach.
Als Verena Peppermill, die immer noch von einer dünnen Schicht Heillösung eingehüllt war aufwachte und sah, wer bei ihr war röchelte sie erst. Dann sagte sie: „Verdammter Drachenfeuerstoß. Dachte, es äschert mich ein. Aber so richtig doll fühle ich mich noch nicht.“
„Das bekommen wir hin, wenn die Kollegen Riverbottom und Mellow Sie wieder in einen Heiltank legen und die Verwundungen restlos abheilen lassen. Wir mussten erst klären, ob ihnen während der Zeit keiner einen Fernortungszauber auferlegt hat, Lieutenant Peppermill“, sagte Atalanta Bullhorn in einem von ihr bisher gar nicht gewohnten, sehr mitfühlenden Tonfall. Dann führte sie ihren Zauberstab über die zurückgeholte Kollegin und murmelte dabei Aufspürzauber. Doch damit schuf sie nur einmal eine hellblaue Aura, die für vier Atemzüge Peppermills Körper umfloss und dann wie von einem Schwamm darin eingesaugt wurde. „Negativ auf alle mir bekannten Fernaufspürzauber“, knurrte PSP-Alpha. Dann befahl sie Riverbottom, die Kollegin per Trage in den hier befindlichen Heilungstrakt zu verlegen und dort die Heillösung neu anzusetzen, um die unterbrochene Therapie zu vollenden.
„Und was ist mit Eileithyia Greensporn, also P-004?“ fragte er.
„Falls Ihre Loyalität ihr gegenüber immer noch höher sein sollte als dem von mir begründeten Projekt sollten Sie besser nicht im selben Raum sein, wenn ich sie zusammen mit den drei verbliebenen Mentipressorinnen verhöre“, sagte Bullhorn.
„Ich bin nicht Louis Mellow. Ich habe meinen Eid auf das Projekt und Sie als meine Kommandantin geleistet, Major Bullhorn“, sagte Riverbotton mit dem Brustton der Überzeugung. „Das freut mich zu hören. Dann kehren Sie nach der Fortsetzung der Heilbehandlung an Kollegin Peppermill wieder hierher zurück!“ wies sie ihren Mitstreiter an.
Riverbottom brauchte eine halbe Stunde, um die Kollegin Peppermill in ein neues Heilbad zu betten. Dort sollte sie die drei angesetzten Tage zubringen. Dann kehrte er in den magisch abgeschirmten Raum zurück. „Der VST hält noch vor?“ fragte Bullhorn. „Ja, noch knapp eine Stunde“, erwiderte Riverbottom. Dann fragte er, ob der Kollege Mellow ebenfalls zugegensein würde. „Nein, dem habe ich bereits den Befehl erteilt, sich nur noch im Heilungstrakt von HQ PSP aufzuhalten, da ich den sehr starken Verdacht habe, dass er der Heilerhierarchie immer noch unterworfen ist. Mir geht es jetzt auch erst einmal nur darum zu prüfen, ob Greensporn einen Fernaufspürzauber aufgeprägt bekommen hat. Dann soll sie bis zur weiteren Vernehmung in HQ PSP im neuen Conservacorpus-Zustand verwahrt werden, unerreichbar für Blutruf- und Mentiloquismuszauber.“ „Verstanden“, bestätigte Riverbottom. Da nur Heiler den Körperschutzzauber erlernten musste er sie dann wohl gleich wieder damit belegen, wenn sicher war, dass sie keinen Fernüberwachungszauber am oder im Körper hatte.
Wie zuvor bei Peppermill hob er erst den Körperbewahrungszauber auf und entschrumpfte dann die Gefangene. Als diese erwachte und ihn sah sagte sie: „Also arbeiten Sie für eine feindliche Macht, Mr. Hillcrest. Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet.“ Sie sagte es nicht im vorwurfsvollen sondern eher bemitleidenden Ton, wie eine Großmutter, die traurig ist, wenn sie hört, dass ihr Enkelkind schlimme Sachen angestellt hat. In der Sicherheit, dass er ja noch die Identität von Will Hillcrest besaß sagte er mit dessen Stimme: „Es gibt Ziele, die fordern mehr Entschlossenheit und mehr Einsatz. Was ist das Heil eines einzelnen Menschen, wenn es gilt, die ganze Welt von einer gefährlichen Krankheit zu heilen?“
„Kommen Sie mir jetzt nicht philosophisch, Mister. Diese Frau da hat Sie beschwatzt, mit ihr auf einen Kreuzzug gegen dunkle Hexen zu gehen. Dabei ist sie es, die krank ist, nicht die ganze Welt.“
„Ich bin nicht krank, Sie heuchlerische alte Sabberhexe“, stieß Atalanta Bullhorn aus. „Außerdem werden wir herausfinden, wer die wahre Feindin der Menschheit ist, ich oder jene, der Sie dienen.“
„Ich diene der magischen Heilkunst. Wem soll ich sonst dienen?“ fragte die Gefangene nun sehr ungehalten. „Das wissen bisher nur Sie. Aber bald werden wir das auch wissen. Dann werden wir diesen Sumpf endlich austrocknen, aus dem immer wieder faule Triebe in die Welt wuchern“, erwiderte Atalanta Bullhorn überlegen. „Versuchen Sie nicht von dem Tisch aufzuspringen. Er ist dafür gemacht, feindliche Wesen festzuhalten“, sagte sie noch. Doch da löste sich Eileithyia Greensporn von der leicht vibrierenden Tischplatte und kam für ihr stolzes Alter unglaublich schnell auf die Füße. „Wo immer wir sind, ich werde Sie in heilmagische Zwangsverwahrung nehmen“, knurrte die altehrwürdige Heilhexe und hielt unvermittelt ihren Zauberstab in der Hand. Sie zielte auf Atalanta Bullhorn. Diese riss ihren Zauberstab hochund rief die zwei am meisten verbotenen Worte der europäischgeprägten Zaubererwelt: „Avada Kedavra!“
Im selben Moment prallte ein blauweißer Kugelblitz von einem Schild ab, den die Projektleiterin um sich geschaffen hatte. Ihr grellgrüner Todesfluch sirrte unaufhaltsam auf Eileithyia Greensporn zu und traf sie genau zwischen den Augen. Für einen Sekundenbruchteil erstrahlte sie ganz im grünen Licht. Dann kippte sie ohne jede Körperspannung nach hinten über und stürzte auf den Tisch zurück.
„Major Bullhorn. Sie haben sie getötet“, sprach Riverbottom was aus, das nicht offensichtlicher sein konnte. „Sie wollte mich fangen und einsperren, mir meinen Geist durchquirlenund in ihrem Sinne umformen. Außerdem konnte die dem Hosticaptus-Zauber entrinnen. Dann hatte die sicher auch einen Zauber, um aufgespürt zu werden.“
„Womöglich hatten Sie recht, dass Eileithyia Greensporn eine Feindin ist. Aber jetzt erfahren wir nicht mehr, mit wem oder für wen sie gearbeitet hat“, sagte Riverbottom mit hörbarem Bedauern. Doch es war nicht das tiefste Bedauern, weil er hatte ansehen müssen, wie seine langjährige Zunftmeisterin getötet worden war, ja dass überhaupt ein Mensch in seiner Gegenwart einfach so totgeflucht wurde, sondern eben nur, dass dadurch eine sehr große Chance vertan worden war, mehr über die Feindinnen des Projektes, ja der ganzen Menschheit zu erfahren. Jedenfalls hatte er jetzt kein schlechtes Gewissen wegen Eileithyia Greensporn. Wusste er denn schon, was diese in all den über hundertfünfzig Jahren ihres Lebens so bewirkt und angestiftet hatte? Er wusste nur eins, man würde sie suchen. Tja, aber dann würden sie Hillcrest und Hazelwood die Schuld geben, die noch im Ausweichlager Arizona im Tiefschlaf lagen.
„Dann konnte ich ihretwegen nicht ins HQ PSP zurückkehren“, sagte Riverbottom. „Nein, womöglich nicht“, sagte Atalanta Bullhorn. Jetzt müsste es vom Foyer dieses Quartieres aus gehen. Aber erst beraten wir, ob und wo Eileithyia Greensporn wieder aufgefunden werden soll“, sagte Atalanta Bullhorn mit derselben Kaltblütigkeit, mit der Riverbottom seine ehemalige Zunftsprecherin gefangengenommen hatte.
Sie berieten eine ganze Stunde. Es galt, die Leiche der ehemaligen Großheilerin, Zunftsprecherin Nordamerikas und ungekrönte Königin der magischen Hebammen so auszulegen, dass es wie ein Fememord einer dunklen Schwesternschaft aussehen sollte, beispielsweise der noch im Land untergetauchten Rosenschwestern oder den Orden der Spinne. Doch dazu galt es, noch mehr über jene obskuren Sororitäten zu erfahren. also sollte Eileithyias Leiche zunächst in einem überdauerungsfähigen Zustand aufbewahrt werden.
Als das alles geplant und beschlossen war erhielt er für die verbleibenden Minuten seiner vorgetäuschten Identität den Auftrag, einen Brief an die Heilerzunft zu schreiben, dass er, Will Hillcrest, seinen Abschied genommen habe und sich nun der Jagd nach gemeingefährlichen Menschen widme. Wenn dieser Brief mit den Verfasserprüfzaubern untersucht wurde mochte herauskommen, dass es wirklich Hillcrest gewesen warr. Wie gut, dass Riverbottom dessen Handschrift so gut nachahmen konnte.
Knapp vor Ende der Wirkungsdauer des von ihm getrunkenen Trankes übergab er den fertigen Brief an einen Feldeinsatzkollegen, der ihn zur Hauptstelle der Heilerzunft schicken sollte. Greensporns Stellvertreterin würde ihn dort entgegennehmen. Wenn sie dann noch anfingen, nach Eileithyia Greensporn zu suchen würde die Heilerzunft zu einem Ameisenhaufen, in dem jemand böswillig mit einem Ast herumstocherte. Mit dieser schon zur Schadenfreude reizenden Erkenntniss überstand Riverbottom die Rückverwandlung in sein eigenes Ich.
„Gut, erst suchen Sie die beiden schlafenden Kollegen auf und sichern, dass sie auch weiterhin nicht gefunden werden. Dann kommen Sie nach HQ PSP, wo ich die Leiter der Regionalgruppen hinzitieren werde!“ befahl PSP-Alpha.
Riverbottom aparierte in zwei Etappen in das Auseichlager von Arizona, 100 Kilometer südsüdwestlich von Tuxon und 200 Meter unter der Erde. Dort suchte er eine vorbereitete Kammer auf und besah die beiden dort abgelegten nackten Kollegen Hillcrest und Hazelwood. „Am besten wecken wir euch gar nicht mehr auf, so heftig wie sie demnächst nach euch suchen“, grinste er verächtlich, als er die Vorlage seiner bis vorhin benutzten Identität ansah.
„Ist alles in Ordnung?“ hörte er seine oberste Anführerin mentiloquieren. Er bejahte es. „Dann kommen Sie endlich ins HQ und holen Sie ihr Identifikationsmedaillon wieder ab, Lieutenant Riverbottom!“
Er verließ zunächst die Kammer mit den zwei schlafenden Heilern. Dann begab er sich in das Foyer. Nur von hier aus konnten die zutrittsberechtigten disapparieren. Doch als er sich wünschte, an den Standort des Hauptquartieres zu gelangen konnte er sich nicht erinnern, wo genau das war. Vorhin ging das doch noch. Aber da hatte er sich einfach nur die Umgebung des Zielortes vorgestellt. Also versuchte er es so und stellte sich den Zielort vor. Dann disapparierte er. Doch wie vorhin landete er mitten in einem grauen, bodenlosen und unendlich weit reichenden Nebelfeld. Er fühlte nicht einmal einen freien Fall. Er gedankenrief nach Atalanta Bullhorn und hörte seine Stimme wieder rückwärts zu sich hinfliegen. Er disapparierte, um in seinem eigenen Haus zu landen. Eigentlich musste er wissen, wie weit das von HQ PSP entfernt war. Doch er wusste es nicht mehr. Er gedankenrief nach PSP-Alpha und Louis Mellow. Doch er hörte keinen Nachhall in seinem Kopf. Also erreichte er niemanden. Dann kam ihm ein sehr schrecklicher Verdacht: Er konnte das Ziel nicht mehr anspringen, weil dies ein freiwilliger Verrat an Unbekannt wäre. Doch genau das konnte nur der Geheimniswahrer. Er war es nicht. Hatte er im HPK etwas in sich aufgenommen, was ihn fernaufspürbar machte? Ja, hatte er! Er hatte den Keimbanntrank eingeatmet. Wenn den wer mit einem alchemistisch bindbaren Zauber versetzt hatte … Er war ein Riesentroll. Deshalb konnte er nicht an das primäre Ziel. Aber dann konnte Mellow das doch auch nicht. Denn er hatte doch auch den Keimbanndunst eingeatmet. Warum hatte der das nicht gemeldet? Aber Bullhorn hatte doch gesagt, er sei bei ihr gewesen und habe Bericht erstattet. Hatten sie beide ihn angelogen? Dann fiel ihm noch was ein, was nur er getan hatte. Er hatte in die Heillösung für Verena Peppermill hineingegriffen, zwar mit behandschuhter Hand, aber immerhin. Dabei musste er sich was eingefangen haben, dass auf ihn wirkte, weil er den Tank geöffnet hatte. Ja, er hatte den Rand des Tankes mit der linken Hand berührt, als er mit der Pipette Proben gezogen hatte. Ja, die Proben. Er hatte eine Probe gezogen. Diese durchtriebene Bande von ehemaligen Kollegen hatte die Lösung mit einem solchen Zauber versetzt. Wieso war er nicht darauf gekommen. Aber er hatte die Lösung doch ins Labor gebracht, um Verena Peppermill weiterbehandeln zu können. Danach hatte er sie nicht mehr bei sich gehabt. Also musste es eine bestimmte Berührung gewesen sein, die ihn trotz Handschuhen … seine wahre Lebensaura. Die nährte sich aus seinem Geist und seinen Lebensfunktionen und war so einmalig wie ein Fingerabdruck. Aber das hieß, dass die vielleicht erfuhren, dass nicht Hillcrest den Tank geöffnet hatte. Jedenfalls wies ihn das Hauptquartier ab, weil er kontaminiert war. Doch er hatte die anderen Standorte verraten. Er hatte die Ausweichlager verraten, ja auch seine Kollegen und vor allem PSP-Alpha. Er war ein unfreiwilliger Verräter!
Als er diese Erkenntnis empfand hörte er einen hungrigen Wolf heulen. Dann sah er ihn, einen in grünem Feuer lodernden, drei Meter großen Wolf mit gelbrot lodernden Augen, den Feuerwolf der Dacota, eines der gnadenlosesten Totemtiere, dazu da, Verrat zu verhindern oder zu bestrafen und deshalb in seinem Kopf verankert, falls er in Gefangenschaft geriet wie Verena Peppermill. Der Feuerwolf rannte auf ihn zu. Er wusste, er konnte ihm nicht entgehen, weil der doch eigentlich in ihm drinsteckte. Doch er sah ihn wie eine reale Bestie auf ihn zustürzen, nicht nur in seinem Kopf vor seinem geistigen Auge. Warum geschah das? Ja, und er müsste doch langsam die in ihm steigende Hitze fühlen, dass der Feuerwolf seine Lebensessenz verschlingen wollte. Gleich musste er von innen her glühen und …
„Waahuuiiiiiiiiwwii-hiiauuiiiii!“ Die brennende Vergeltungsbestie sprang mit weit aufgesperrtem Rachen auf ihn zu. Da traf sie ein silberner Blitz am Rücken. Das kampflustige Heulen ging in ein schmerzhaftes Winseln über. Mit einem lauten Knall zersprang der Feuerwolf in Millionen silberner Funken. Dann folgte Finsternis. Riverbottom hörte und sah nichts mehr. Er dachte, dass er taub und blind geworden sei. Dann verlor er sein Bewusstsein.
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Jedem Mitglied des Projektes war ein kreisrundes Kennzeichen an einer mehrere Meter breiten und hohen Wand zugeteilt. Als Atalanta Bullhorn das für den seit Stunden vermissten Riverbottom aufglühen sah und den rot lodernden Kopf eines Wolfes sah wusste sie, dass er kurz davor gestanden hatte, das Projekt und damit sie zu verraten und deshalb den allerletzten Ausweg hatte nehmen müssen, den alle außer sie in ihre Körper und Seelen eingepflanzt bekommen hatten. Doch warum der Feuerwolf für eine Viertelsekunde mondlichtsilbern und nur leuchtend und nicht brennend aussah verstand sie nicht. Sie ging aber davon aus, dass Riverbottom genauso verstorben war. Weil er sein Medaillon nicht getragen hatte bekam sie keine betreffende Todesbotschaft. Sie ließ nach Mellow rufen. Doch der war nicht zu erreichen. Also hatten sie beide eingefangen und gedacht, sie verhören zu können. Sicher waren sie nun gewarnt. Doch eigentlich konnte der Feuerwolf nur dann erwachen und sein Werk tun, wenn sein Träger fest davon ausging, Verrat begangen zu haben. Doch die Schutzbezauberung der Inobskuratoren vereitelten unfreiwilligen Verrat. Eigentlich! Ihr fiel mit heftigem Schmerz ein, wie all zu leicht das druidische Geistesschutzritual umgangen, ja völlig unwirksam gemacht werden konnte. Sie war das all zu beste Beispiel dafür, wie jemand, der oder die das wusste an das geschützte Wissen herankommen konnte. Die einzige Frage war, ob die achso menschenfreundlichen Heilerinnen und Heiler derartig skrupellos sein mochten, diesen Weg zu finden und zu nutzen. Fakt war, dass einer ihrer Kollegen verstorben war, der einzige Heiler, der sich nicht von immer wiederkehrenden Gewissensbissen treiben ließ.
„Ruhe in Friedenund dank deinem Einsatz, wenn wir den Endsieg über die dunklen Schwestern errungen haben werden, Kamerad Eusebius“, sprach Atalanta Bullhorn in der Halle der registrierten Mitstreiter.
„So ging es offenbar nicht“, erkannte sie und dachte , dass auch Verena Peppermill diesen letzten Verratsunterdrückungszauber in sich trug. Würde sie also auch diese wackere Mitstreiterin verlieren?
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Als Riverbottom mit bohrenden Kopfschmerzen erwachte fand er sich in einem Bett. Das Bett stand in einem Einzelzimmer, das sehr verdächtig nach HPK aussah. Die Tür verriet ihm, dass er in einem Hochsicherheitszimmer untergebracht war. Wieso lebte er noch und wie war er überhaupt hierhergekommen?
Wie es bei den Hospitalheilern Brauch war verrieten die benutzten Bettdecken, wenn der oder die unter ihnen liegende erwacht war. So wunderte er sich nicht, als nur eine Minute später die Tür mit mehrfachem Rasseln aufging und drei Personen eintraten, Will Hillcrest, Ambrosius Silverspoon … und Eileithyia Greensporn!! Mit vor entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte er die kleinere, silberhaarige Heilhexe an. Diese bedachte ihn mit einem sehr vorwurfsvollen Blick. „Mr. Eusebius Riverbottom, willkommen zurück unter den Lebenden. Wir fürchteten, dass unsere Schutzmaßnahme gegen den Feuerwolf zu spät greifen würde. Ob Sie darüber froh sein können wage ich zu bezweifeln. Denn Sie werden bis zur Konstitution des MAKUSA-Tribunals für Schwerverbrechen gegen die magische Ordnung und Menschheit hier in unserem Gewahrsam verbleiben“, sagte Silverspoon. „Ach ja, als wir wussten, wer Sie wirklich sind haben wir unverzüglich Ausschlussparagraph fünf zur Anwwendung gebracht, die frist- und Anhörungslose Desapprobation mit anschließender Klage auf zwanzig erreichte Jahresgehälter wegen mutwilliger und verbrecherischer Gefährdung in heilmagischer Verwahrung befindlicher Menschen, versuchte Beschuldigung eines Zunftkollegens und gröbste Missachtung aller zehn Hauptregeln der magischen Heilzunft. Großheilerin Greensporn wird Ihre Vermögensverhältnisse erfragen und die von Ihnen zu erstattende Summe einfordern.“
„Tja, dafür, dass Sie mich im Traum haben umbringen lassen, nachdem Sie mich im Auftrag einer sehr, sehr kranken Hexe gefangengenommenund ihr ausgeliefert haben. Ich bin sehr schwer enttäuscht von Ihnen, Eusebius. Ja, und der Kollege Hillcrest, dessen Körper und Stimme Sie dreist gestohlen und für Ihre Zwecke benutzt haben wird wohl ebenfalls Anklage gegen Sie erheben und Schadensersatz fordern, zumal er wohl bis auf weiteres im verborgenen bleiben muss, um keinem Racheakt Ihrer kranken Auftraggeberin zum Opfer zu fallen.“
„Zehn bis zum großen Knall erreichte Jahresgehälter, ehemaliges Kollegenschweinchen“, sagte Hillcrest mit völlig verständlicher Wut.
„Traum? Ich habe geträumt? Das war nicht möglich“, knurrte Riverbottom und versuchte, die Decke von sich zu strampeln. Doch die zog sich blitzartig fest um seinen Körper zusammen und presste seine Arme und Beine zusammen. „Ey!“ stieß er aus. Dann erkannte er, dass dies nun wirklich völlig sinnlos war. Er wollte wissen, woher die wussten, dass er geträumt hatte, dass Greensporn von PSP-Alpha umgebracht wurde, nachdem er sie dieser zugeführt hatte.
„Nun, auch wenn Machiavelli wohl eher in dem von Ihnen erwählten Club die erste Geige spielt als bei uns mussten wir, Also der Kollege Silverspoon und ich, zwischen Abwarten und einen Menschen an den Tod verlieren oder eine sonst so sichere innere Barriere einzureißen und dabei für zwanzig Herzschläge gegen das Unversehrtheitsgebot verstoßen.“
„Wobei die gute Eileithyia diesen Paragraphen wie ein Gummiband gebogen hat, weil Sie da ja nachweißlich in einer fremden Körperform steckten, also Sie nicht aus ihrer natürlichen in eine unfreiwillige Verwandlung hineingezwungen wurden. Da habe ich diesen italienischen Kriegsprediger Machiavelli wirklich schon kichern hören. Aber immerhin hat in diesem Fall der Zweck das Mittel der zeitweiligen Verwandlung in ein nicht von Blut durchströmtes Objekt geheiligt, um das druidische Geistesschutzritual zum Erlöschen zu bringen. Ab da konnten wir Sie mit dem Semisomniumzauber durch die Szenen lenken, die uns Antworten auf bestehende Fragen geben sollten, vor allem die nach Ihrer Loyalität und Ihrem Gewissen.“
„Sie konnten mich nicht verwandeln. Das hätte ich doch gemerkt“, knurrte Riverbotom. „Nicht, wo sie noch besinnungslos waren, wie auch der Exkollege Mellow, der einige Zimmer weiter fort liegt, wie Sie unter Mentiloquismusabschottung. Als sie beide in den Raum der Reinigung gingen haben wir einen geruchlosen Betäubungsnebel eingesprüht, nachdem wir wussten, dass Sie keinen Hammersmith’schen Gasvorgreifer am Körper trugen. Ab da gehörten Sie uns“, sagte Silverspoon verächtlich. Dann sah er Greensporn an und dann wieder Riverbottom. „Ach ja, und dass Sie unter Vielsaft-Trank-Bezauberung standen bekamen wir durch eine Haarprobe heraus. Bekanntlich kann das Haar eines gerade VST-belangten Menschen nicht für einen neuen VST benutzt werden. So einfach ist es, was Sie als ehemaliger Heiler sicher noch wissen dürften.““
„Ach ja, und wer kam auf die tolle Eingebung, dass eine vorübergehende Verwandlung das Geistessiegel der Druiden bricht?“ wollte Riverbottom wissen. „Erstens ich und zweitens weil – Ironie der Zusammenhänge – Ihre Auftraggeberin da selbst diesem Ritual unterworfen war und dennoch all ihr Wissen an Ladonna Montefiori verriet. Seitdem wissen wir Heiler, wie es zu brechen ist, wenngleich es eben normalerweise nicht gestattet ist, einen Menschen gegen seinen Willen in ein nichtmenschliches Wesen oder Ding zu verwandeln“, sagte Eileithyia Greensporn mit unübersehbarer Genugtuung. Ab da hatte Riverbottom nur noch eine Frage: „Wie haben Sie denn den großen bösen Wolf in meinem Kopf totgeschossen, dass der nicht mein Hirn frisst?“
„Mit dem ebenso aus indigener Quelle stammenden Gnadenruf des großen Geistes, ein in ein Amulett einwirkbarer Zauber, der gegen im Geiste wirksame Flüche ankämpft, vor allem gegen auf Einzelpersonen oder bestimmte Personengruppen abzielende Situationsflüche. Als wir merkten, dass sie an den Punkt gelangten, wo Sie sich als Verräter sahen haben wir ihnen ein solches Schutzamulett auf den Kopf gelegt, gerade noch rechtzeitig, um Sie nicht in die ewigen Jagdgründe eingehen zu sehen“, sagte die Heilerin. „Eusebius, ich habe deiner Mutter auf die Welt geholfen. Als du von ihr geboren wurdest war ich bei einer anderen Gebärenden. Aber ich war froh, dass du unseren Weg gewählt hast und bin jetzt wie zu erwarten ist sehr, sehr enttäuscht, dass dir dieser großartige Weg nicht mehr ausreicht“, sagte sie, wobei sie ihn mit eben jenem unerbittlichen Tadel ansah, den eine gestandene Großmutter ihrem missratenen Enkel entgegenbringt, von dem sie weiß, dass er seine Verfehlung nicht mehr beheben kann. Dann sagte sie hochoffiziell: „Sie werden wie Ihr Gesinnungsbruder Mellow und Ihrer beider Gesinnungsschwester Peppermill im Hochsicherheitstrakt verbleiben, allerdings besser abgesichert als Ms. Peppermill bisher. Falls Sie noch einen Wert in Ihrem weiteren Leben sehen möchten, bedenken Sie bitte wie Ihr ehemaliger Mitstreiter, gegen dieses verwerfliche Projekt Sol Puritatis auszusagen. Womöglich retten Sie damit einer Menge unschuldiger Menschen das Leben. Wie erwähnt, bedenken Sie das in der Ruhe, die Sie zunächst haben werden. Erholen Sie sich bis dahin von Ihren Kopfschmerzen!“
„Ja, und hoffen Sie, dass nicht Sie eines Tages vor einem Gericht stehen, weil Sie die Welt verraten haben, Madam Greensporn!“ gab Riverbottom ihr noch mit, als sie mit Direktor Silverspoon und dem kopierten Heiler Hillcrest das Zimmer verließ. Riverbottom hörte viele Riegel einrasten und fühlte, wie in den Wänden und dem Boden um ihn herum weitere Kräfte erwachten, die sicherstellten, dass ihn hier niemand erreichte. Dann merkte er, wie er wieder Müde wurde. Verdammt, die hatten ihm schon wieder einen geruchlosen Betäubungsdunst ins Zimmer geblasen. Mit diesen verärgerten Gedanken schlief er wieder ein.
Als Silverspoon und Greensporn in Silversppoons Büro saßen sagte er zu ihr: „Wir müssen diese wahnhafte Frau zur Fahndung ausschreiben, Eileithyia. Die hat Greywater auf dem Gewissen und wird nun, wenn sie erfährt, dass der Befreiungsversuch für Verena Peppermill misslang noch irrsinniger ihre Ziele verfolgen.“
„Ja, und sich und alle, die sie zu ergreifen trachten umbringen, wenn sie denkt, keinen Ausweg mehr zu haben. Deshalb darf sie nicht von diesen Haudraufs von den Sicherheitsbehörden und schon gar nicht von ihren ehemaligen Kameraden der Inobskuratorentruppe gesucht werden. Dass sie Beziehungen zu hohen Kreisen hat sollten wir gerade jetzt begriffen haben, wo sie uns die beiden Exkollegen ins Haus geschickt hat und wohl auch die Befreiungsaktion in New York zu verantworten hat.“
„Aber du stimmst mir zu, dass wir sie in Gewahrsam nehmen müssen?“ fragte Silverspoon die Kollegin. „Unumstößlich ja, Ambrosius. Vielleicht lässt sie sich doch helfen, wenn sie erkennt, dass ihr ganzes Streben eine einzige, auf einen Abgrund zuführende Sackgasse ist. Das war mal unser aller Hoffnungsträgerin, Ambrosius. Ja, und ich höre noch den ersten Schrei, den ihr Vater ausgestoßen hat, als er nach zwei vollen Tagen endlich auf der Welt war.“
„Kinderpflückerin“, frotzelte Silverspoon die Kollegin. „Ja, ist so, Ambrosius. Aber besser Kinder zu pflücken und zu sehen, dass sie unsere Welt in Schwung halten als damit zu leben, wie eine schwer traumatisierte Frau von der ehrbarsten Hexe Amerikas zur schlimmen Massenmörderin wurde.“
„Thyia, das wissen wir noch nicht. Erst einmal steht nicht fest, dass sie echt alle verschwundenen Hexen einkassiert hat. Da werden wohl auch viele von sich aus untergetaucht sein. Zweitens kann sie die, die sie eingefangen hat genauso in Conservacorpus-Bezauberung aufbewahren wie uns das Riverbottom in unserem gelenkten Halbtraum vorgestellt hat. Daher ist es ja so wichtig, dass sie uns erzählt, wo ihr Fidelius-bezaubertes Hauptquartier liegt“, argumentierte Silverspoon. „Da gebe ich dir auch recht, Ambrosius“, sagte Eileithyia. Dann hob sie ihren rechten Arm, an dem das für jede Heilerin und jeden Heiler abgestimmte Rufarmband befestigt war. „Ah, Mrs. Kleinman, ihr dritter Sohn möchte wohl doch noch auf die Welt.“
„Viel Glück, Thyia“, wünschte ihr Ambrosius Silverspoon. Hoffentlich war der nun ankommende kleine Zauberer umsichtiger als der Exkollege Riverbottom. Mellow, den sie auch durch einen Traum mit zu beantwortenden Standort- und Gesinnungsfragen getrieben hatten würde wohl als Kronzeuge auftreten, wenn es zu einer Gerichtsverhandlung gegen die PSP-Leute ging. Der hatte wenigstens nicht geträumt, dass er tatenlos und auch beipflichtend zusah, wie Eileithyia oder er umgebracht worden waren. Dennoch musste er sich nach einer noch zu verhängenden Strafe einen anderen Beruf suchen, so die unerbittlichen Regeln der magischen Heilkunst.
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„Erster Bewahrer, haben Sie keine Angst, dass die verschwundenen Bilder plaudern könnten?“ fragte Tucker Greengrass den ersten Bewahrer, als sie sich am 8. Juni bei ihm trafen, um das große Aufbäumen zu planen. Es zeichnete sich ab, dass Rollin Firepan wohl chancenlos sein würde. Seine Forderungen nach Entschädigungen missfielen nicht nur den Weißen, sondern verängstigten auch die Zauberer aus indigenen Völkern oder die magisch begabten Nachfahren einstiger Sklaven. Denn wer was forderte machte sich feinde. Am Ende würden die Weißen die farbigen Mitbürger für vergeltungssüchtige Leute halten. Das schreckte sicher viele ab. Doch der MAKUSA sollte wiederauferstehen. Im einstigen Sitz in New York wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Vor allem nachdem das Ministeriumsgebäude in Washington damals von einer verheerenden Explosion zerstört worden war und das kleine Schloss in Good Times Valley auch explodiert war freuten sich viele, dass es die alten, vor den Nichtmagiern verborgengebliebenen Räumlichkeiten noch gab. Doch einem Gutteil der Bevölkerung stieß die Vorstellung sauer auf, sich von einem fernen Kongress in die eigenen Angelegenheiten dreinreden zu lassen. Aus diesen Unwilligen und Widersetzlichen bezogen die Freiheitsbruderschaften und Regionalpatrioten ihre Mitglieder, die auch zu Terrorakten gegen die Reunionisten bereit waren. Doch die Regionaladministratoren hatten bisher jeden Aufstand beendet. Dabei waren hunderte von Hexen und Zauberern vorübergehend in Gewahrsam genommen worden, bis ein neuer Zwölferrat urteilen konnte, was mit ihnen zu geschehen hatte.
„Wir müssen uns zur vollen Stärke erheben, streiken, wo wir in den Fabriken, Werkstätten oder Institutionen sind, kämpfen, wo wir eine Chance haben, gegen die Handlanger dieses neuen zentralistischen Konstruktes kämpfen können und unser Nein in die freie Welt hinausrufen, dass wir es endlich begriffen haben, dass das Gebilde namens USA zu groß war, um dauerhaft friedlich und einträglich bestehen zu können und dasss nur in der Vielzahl kleiner, beweglicher Befehlsstände die große Sicherheit für alle unsere Mitbürger liegt, nicht erneut von einer außenstehenden Macht alle zusammen unterworfen und versklavt zu werden. Auch müssen wir uns bewähren im Kampf um den Fortbestand unserer Menschheit gegen den Wahnsinn der elektrischen Magieersatzmaschinen, den Irrsinn seelenloser Apparate, die Wissen und Gedanken in sich aufsaugen und die menschlichen Gefühle verdorren lassen und gegen den Unrat aus magielos und ohne Zugtiere betriebener Fahrzeuge. Überhaupt ,dass die Nomajs es wagen, in Maschinen, die wie stählerne Riesenvögel aussehen laut wie zwanzig Donnervögel über unseren Köpfen herumzufliegen, das muss aufhören. Ja, und diese ständige Anpassung an deren immer hektischerer und verschwenderischerer Lebensweise muss aufhören. Unsere Kinder, reinblütige Zauberer und Hexen, müssen ohne sich für ihre Natur schämen zu müssen zur Schule gehen dürfen und jene, die aus einem Jahrtausendzufall heraus nach außen wirksame Zauberkräfte erhalten haben müssen von ihren ignoranten, magieunfähigen Eltern getrennt und im Umgang mit diesen Kräftenund für den Stolz, dazugehören zu dürfen, erzogen werden.
Brüder, wir sind das letzte Bollwerk gegen die Rückkehr zu zentralistischer Bevormundung und Anbiederung an eine durch Magieunfähigkeit in den Wahnsinn geratene Gesellschaft. Jeder Staat ist einzig, ein Juwel im Mosaik unserer langjährigen Lebensweise. Wir sind zusammen das ganz große, ein Chor aus vielen Stimmen, die keinen weit ab sitzenden Dirigenten nötig haben um das Lid der Freiheit zu singen. Singen wir das Lied der Freiheit! Erheben wir uns, um unsere Freiheit zu verteidigen, gegen die Bevormundung, gegen die Willkür von wenigen überreichen Familien!“ So sprach und forderte der erste Bewahrer, der von den hier anwesenden nur als erster Bewahrer angesprochen wurde. Die, die ihn mit Namen kannten hielten ihn für Marcus Lowgrass.
Seine aufpeitschenden Worte wiederholend erkannte er, wie leicht es ihm doch fiel, die alle hier auf seine Linie einzuschwören. Diese Kindsköpfe und Trolgehirne würden mit lautem Hurra in ihren Tod gehen, ja sogar andere Leben opfern, um ihren Traum von der Eigenständigkeit zu verwirklichen. Er würde sie den MAKUSA unmöglich machen lassen, dessen Befürworter über den Haufen fluchen lassen. Dann würde er sie in ihren kleinen Einzelstaatsgefügen ein Jahr oder zwei brüten lassen, um dann über sein Netzwerk aus Bildern Unstimmigkeiten zu verbreiten, auf die dann die einzelnen Patriotengruppen mit Misstrauen auf ihre Nachbarn blickten und dann aus einer Angst, dass Zögern den Tod bedeutet, gegen diese Nachbarn losschlagen würden. Dann erst würde er sich als Vermittler und schließlich als Oberhaupt der gesamten Bewegung präsentieren und diesen Kindsköpfen seine Richtung vorgeben, in die sie alle mitmarschieren oder für immer außen vor bleiben sollten.
„Unser Projekt Leichenschau ist daran gescheitert, dass die dekadenten Greise vom Club der großen zehn ihre Goldreserven geplündert haben und alle gegen sie abzielenden Berichte aus den Zeitungen herausgekauft haben. Doch gegen den Willen der freien Völker können auch deren überbordende Goldmengen nichts ausrichten. Unser Wille wird gewinnen. Wir werden gewinnen!!“ rief er. Damit schuf er die Parole, mit der er alle hinter sich brachte, heute die unzufriedenen, um ihre Einzelstaatlichen Fründe bangenden, und übermorgen all die, die sich nach einer starken Führung sehnten, die ihnen aus dem Chaos heraushelfen sollte. Marcus Lowgrass, alias Hasdrubal Highgate, würde der wahre Präsident sein, umgeben von ihm treu ergebenen Zauberern. Die Hexen sollten wieder dahin zurückkehren, wohin die Natur sie ursprünglich gestellt hatte, an die Wiegen der Kinder, in die Heilstätten, um zu pflegen und in die Häuser der herrschenden Zauberer, um diesen den Rücken vor belanglosen Dingen wie Haushaltsführung und Kinderbetreuung vom Hals zu halten.
„Wir werden gewinnen! Wir werden gewinnen!“ riefen die Führer der verschiedenen Freiheitsbruderschaften nun im Chor. Das ließ der erste Bewahrer einige Minuten lang geschehen. Dann gebot er Ruhe und fragte, wer wo was unternehmen konnte, um das nötige Chaos vor der Wahl zu entfesseln, ja die Wahl selbst zur Unmöglichkeit zu machen. Hierfür schloss er alle Türen und Fenster. Auch ließ er keine Zaubererbilder in seinem Versammlungsraum hängen, damit nicht doch jemand was mitbekam.
Der Raum mit den zwölf Bildern war gerade leer. Die berittenen Boten lagen neben ihren Pferden im Gras. Da huschten Schatten in die Rahmen und verschmolzen mit Rossen und Reitern. Sogleich erwachten alle acht Männer und vier Frauen. Ihre Reittiere wieherten aufgeregt. „Woher wissen die das? Die können unmöglich alle unsere Namen kennen. Wieso können die das?“ flogen bange Fragen und Unmutsbekundungen von Bild zu Bild. Dann fiel es Ryan, dem blau-goldenen Herold ein. Eines seiner Gegenstücke war doch von einem auf den anderen Tag verschwunden und unerreichbar geworden. Das gleiche hatten auch die anderen mitbekommen. In der Kette aus elf Vervielfältigungen fehlte ein Glied. Sie hatten es ihm erzählt, ihrem Erwecker und durch Blutgabe erwiesenen Meister. Doch der hatte das auf die verfehlte Aktion „Leichenschau“ zurückgeführt, dass diejenigen, die eigentlich eine Welle von Skandalen lostreten wollten, ihre Verbindungen zu ihm verhüllt hatten, damit er nicht mehr mitbekam, dass sie sich mit den großen zehn des Westens geeinigt hatten. Doch niemals würden diese Leute die Namen ihrer berittenen Boten preisgeben. Die Boten selbst waren durch ihre Bande an die Urformen gehalten, nur denen ihre Namen mitzuteilen, die ihnen der Meister als berechtigte Menschen bezeichnet hatte und sich ansonsten in unauffällige Bildbestandteile zu verwandeln. Doch irgendwer hatte es geschafft, eine Verbindung zu allen zwölf Bildern herzustellen. Jemand wusste, wem die Bilderwesen dienten. Der jemand suchte. Sie konnten ihren Herren und Meister nicht warnen, weil sie eben nicht im selben Raum waren wie er und alle, die er auf seine Seite gezogen hatte.
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„Klangkerker natürlich“, meinte Brenda Brightgate, die es sich nicht nehmen lassen wollte, bei der Aushebung eines ganz gefährlichen Widersachers dabei zu sein, zumal dieser Jemand in Virginia wohnte und somit vielleicht irgendwann Zugriff auf das dortige CIA-Hauptquartier erlangen mochte.
Sie standen vor einer Baumgruppe. Doch das war nur eine Illusion. Die ohne den Zauber unterbrechen zu müssen hindurchdringenden Enthüllungsbrillen zeigten ein altes Landhaus im Stil der alten Südstaaten. Wer genug Phantasie hatte konnte sich in den kleineren Gebäuden daneben ein Heer von Sklaven denken, die der im Haupthaus wohnenden weißen Familie auf Gedeih und Verderb zu dienen hatten. Doch hier wohnte kein Sklavenhalter, sondern Marcus Lowgrass.
Zwei wege hatten das Kommando aus zwanzig LI-Mitarbeitern und dreißig Sicherheitstruppen aus Virginia, Georgia und Louisiana hier zusammengebracht. Der erste Weg war die Rückverfolgung der gemalten Boten aus dem Bilderzyklus von der goldenen Windrose. Es hatte gedauert, weil sie nicht zu auffällig vorgehen durften. Doch am Ende hatten sie aus den Bewegungen der Bild-Ichs durch die einzelnen Besitzerfamilien dieses Haus ermittelt.
Der zweite Weg, der hier an diesem Haus endete, war eine von Martha Merryweather durchgeführte Computerauswertung. Sie hatte sämtliche Bewegungen der Widerstandsgruppen, die mal als Milizen und mal als partisanenartige Terrorkommandos auftraten ein Muster ermittelt, das gemäß der Informationen über die zwölf mal zwölf Bilder der goldenen Windrose einen gemeinsamen Ausgangspunkt ergaben, und der lag hier in den Wäldern von Virginia. Weil Martha keine Kampfhexe war, obgleich sie in Duellzaubern ausgebildet worden war, blieb sie in Viento del Sol, auch um vor den weiterhin jagenden Hexenjägern sicher zu sein. Auch Quinn Hammersmith, der diesen Schlupfwinkel ermittelt hatte, war in seinem geliebten Laboratorium im Sumpfland von Bayoo geblieben. Dafür hatte seine Abteilung die Kollegin Jenny Archstone mitgeschickt, die über alle Ermittlungsergebnisse orientiert war. Auch befand sich Winston Goldfield als residenter Heiler der Zauberersiedlung Little Green Rocks in der Gruppe. Denn aus einem nicht der Presse mitgeteilten Grund trauten sie keinem Heiler der Inobskuratoren.
Maddy, ist das Haus gegen mentale Ausstrahlung abgeschirmt“, fragte Sheena O’Hoolihan die kleine, untersetzte Madlyn Fairpoint. Maddy konnte aus 400 Metern Gefühle lebender Wesen wahrnehmen und bei Blickkontakt ohne den Legilimentikzauber und einen Zauberstab worthafte Gedanken und damit verknüpfte Bilder erfassen.
„Das Haus hat nur diese Illusionsglocke, die es wie einen Teil des Waldes aussehen lässt. Ich bekomme aus der Richtung ansteigende Angriffslust und Triumphgefühle mit, als wenn da gerade eine große Schlacht geschlagen oder vorgeplant wird.“
„Wie gesagt, Klangkerker. Geräusche sind keine zu kriegen“, sagte Jenny Archstone, die ein Gestell mit silbernen spitzen Ohren auf dem Kopf trug, tragbare Wolfsohren, die ihr Gehör auf dieselbe Stufe hoben wie das von Linda Latierre Knowles. Sie nahm diese Vorrichtung wieder ab, um nicht beim kleinsten Grasrascheln zusammenzuschrecken.
„Ihr seid euch sicher, dass da drinnen alle Anführer der sogenannten freien Bruderschaften hocken?“ fragte Walter Stonecutter, der Leiter der Sicherheitsüberwachung des virginianischen Regionaladministrators. „Dazu müssten wir die alle kennen“, erwiderte Jenny Archstone ein wenig frech. Doch Stonecutter nahm diese aufmüpfige Aussage als leider all zu wahre Begebenheit hin. Da meinte Brenda Brightgate:
„Laut dem texanischen Regionaladministrator Rockwell muss einer von denen da drinnen ein gewisser Tucker Greengrass sein, einer der sich schon sehr weit über das vordere Besenende gelehnt hat was die Selbstbestimmung von Texas betrifft.“
„Oh, Bren, das ist aber nett, dass du mir den Namen jetzt erst verrätst. Ich hätte den sonst wohl schon vor fünf Minuten finden können“, sagte Maddy schnippisch. Dann blickte sie auf das Haus und lauschte. „ja, ist da. Der ruft gerade sowas wie „Wir gewinnen!“ oder „Wir werden gewinnen!“ Stimmt, das ist es. Denn jetzt brüllen sie’s wohl alle so einstimmig, dass ich das wie eine besonders weit hallende Fanfare hören kann.“
„Ihre Fähigkeit ist mir unheimlich, und dabei hantiere ich mit Zauberstab und Flugbesen“, grummelte Walter Stonecutter. „Ich bin ja auch eine Mutantin, eine Laune der magischen Weltordnung. Sowas wie mich gibt es nur zwanzigmal auf der Welt, wobei die Hexe, die den Spinnenorden führen soll wohl auch eine sein soll, also einundzwanzig. Aber wenn Sie ein Antimeloarmband oder -stirnband tragen oder gut okklumentieren können können Sie wen wie mich aus ihren Gedanken und Gefühlen aussperren. Außerdem habe ich einen Eid geleistet, meine besondere Gabe nur dazu einzusetzen, Gefahren von der magischenWelt abzuwehren und nicht meine Mitmenschen zu überwachen oder deren Gedanken auszunutzen um mich zu bereichern. Den Eid haben übrigens achtzehn der zwanzig anderen Mentalauditoren und Naturlegilimentoren geschworen, um nicht ständig verdächtigt zu werden, irgendwas anzustellen.“
„Ja, und diese anderen sind alles Hexen“, wusste Jenny Archstone noch zu ergänzen. Dann deutete sie wieder auf das getarnte Herrenhaus. „Okay, haben wir die Freigabe, dieses Anwesen zu betreten und uns gewaltsam Zutritt zu verschaffen?“ fragte O’Hoolihan den Sicherheitsbeauftragten aus Virginia. „Wenn da wirklich der Anstifter der ganzen Unruhen drin ist holen wir den und seine Mitstreiter da raus. Freigabe erteilt! Auf gehtt’s!“ stieß er leise aus.“
„Heilerinnen und Beobachtungsfachleute bitte weiter hinten bleiben. Kampffachleute und deren Flankenleute nach vorne!“ kommandierte Sheena O’Hoolihan und drängte Maddy Fairpoint nach hinten, um mit Jenny Archstone und Brenda Brightgate an die vorderste Front zu eilen. Dann kam es zum Kontakt mit den Abwehrzaubern um das Herrenhaus.
Es war wie eine Glocke aus weißblauen Flammen, die urplötzlich von getarnten Haus auf alle zusprang. Doch die LI-Mitarbeiter waren mit sowas vertraut. Sie trugen mit mehrfachen Zauberschilden gespickte Kleidung. Krachend und prasselnd zerstoben die Flammen an den silbern aufflackernden Schildzaubern. Auch die Sicherheitsabteilung aus Virginia und Louisiana überstand den ersten Ansturm, weil sie in weiser Voraussicht große Schildzauber errichtet hatten. Erst war geplant, einen Arrestdom zu errichten. Doch sie wussten, dass es Zauber gab, um sowas zu vereiteln und denen, die davon eingeschlossen werden sollten genug Zeit zur Flucht gaben.
Weitere Abwehrzauber, darunter scheinbar aus dem Boden gewachsene Monsterameisen, Risenspinnen und dreibeinige Raubpflanzen mit weit ausschwingenden Stachelwedeln stellten sich den Eindringlingen in den Weg. Einige davon waren tödlich real, andere nur erschreckende Illusionen, dazu gedacht, die Angreifer zu verwirren. Mehrere der Einsatzgruppe wurden verletzt und mussten vorsorglich in magische Stasis versetzt werden, falls sie sich Vergiftungen eingehandelt hatten. Doch am Ende schafften es zwanzig der dreißig, bis an das Haus heranzukommen und alle Illusionen, Barrieren und aus Versteinerungen erweckten Monster niederzuringen. Anstatt sich an den verriegelten Türen und Fenstern abzumühen schossen sich mehrere mit dem Confringozauber einen eigenen Eingang durch die Wände. Wie richtig diese Taktik war erwies sich, als einer der Sicherheitszauberer doch eine der Türen aufsprengen wollte und von einem blauen Feuerstrahl aus der Tür heraus getroffen wurde. Ihm konnte niemand mehr helfen. Damit hatte die Schlacht um den Frieden der Staaten, wie es später die Geschichtsschreiber nannten, ein erstes Todesopfer gefunden.
„Leute, wir müssen auch Aufzeichnungen bergen. Wenn ihr alles kaputtflucht … Uuaauhaa!“ stieß Stonecutter aus, bevor er im Hausflur beinahe von einer veritablen eisernen Jungfrau mit langen Armen gepackt und zur tödlichen Zweisamkeit mit ihr gezwungen worden wäre. Doch Jenny belegte die animierte Foltervorrichtung mit einem Inanimatus-Zauber. Dann fanden sie die Tür zum Besprechungsraum. Gerade plärrten mehrere Alarmzauber los, als Maddy „Sie kommen raus!“ rief.
Die Türen flogen auf wie von einem Risen aufgestoßen. Bunt blitzende Zauberflüche aller Kategorien fauchten, zischten, schwirrten und sirrten durch die Türen hervor. Ein grüner Todesblitz verfehlte Jenny Archstone um einen halben Meter und krachte in die hinter ihr liegende Wand. Der Putz platzte ab, und in der getroffenen Wand klaffte ein qualmender, an den Rändern verkohlter Spalt. „Okay, sie wollen’s so!“ rief o’Hoolihan und schickte eine violette Feuerwalze auf die Reise, die mit Getöse durch die ihnen entgegenschlagenden Zauber rollte und jeden davon mit scharfem Knall oder metallischem Piff zerstob. Die Flammenwalze von Laore, ein mächtiger, großflächiger Fluchzerstreuungszauber, war auch gegen das Trommelfeuer aus zwanzig Zauberstäben gut. „Last sie nicht hinten raus!“ rief Maddy Brenda zu. Diese begriff, teilte mit einer schnellen Abzählbewegung vier Begleiter ein und sprengte sich einen Weg durch die Seitenwand. Dann trafen sie auf die zur zweiten Tür hinausstürmenden Widerstandskämpfer. Vier Todesflüche schossen auf die Angreifer zu. Nur Maddys rascher Zug an Sheenas Umhang brachte sie noch rechtzeitig aus der Bahn eines tödlichen Fluches. Dieser schlug wie eine Granate in die Decke ein. Flammen zuckten aus den aufplatzenden Balken hervorund fanden sehr dankbar im frei wirbelnden Holzstaub neue Nahrung. Dann hatte Brenda ihrerseits die violette Flammenwalze aus Laore beschworen und damit gerade auf sie einschwänkende Zauberer niedergeworfen. Jetzt sahen sie, dass die zu Flüchen aufgeladenen Zauberstäbe zerplatzten, wenn die violette Feuerwalze sie berührte. Nur die Stäbe, die gerade nicht zum Schadenszauber ausgerichtet wurden blieben heil. Maddy, die sich weisungsgemäß weiter hinten hielt, löschte den Brand mit einem armdicken Eiswasserstrahl.
Von zwei seiten wurden die aufgestöberten Unruhestifter unter Betäubungszauber genommen. Mondlichthämmer, Schocker, Bewegungsbannzauber und Fesselzauber fanden ihre Ziele und brachen den Widerstand der Regionalisten. Maddy zischte Jenny zu, dass der Anführer der sogenannten Bewahrer sich noch im Saal versteckte. Da sie ihn nicht sahen schickten sie einen Discovobscurus-Zauber los, der unsichtbare Wesen sichtbar machte. Doch der fand nichts. Da kam Brenda auf die Idee, dass sich der Anführer in ein kleines Tier verwandelt oder selbstgeschrumpft hatte. Sie wirkte den Reverso-Mutaatus-Zauber. Laut aufschreiend und auf die Feindin zielend blähte sich ein knapp zwei Meter großer, untersetzter Mann mit grauen Haaren vor ihr auf. Seine blauen Augen funkelten hasserfüllt. Er zielte auf die LI-Hexe und zischte: „Euch herrschsüchtigen Frauenzimmern wird meine Welt nie gehören. Avada …“ Da hatte Maddy ihm schon mit einem ungesagten Entwaffnungszauber den schon sehr alt aussehenden Zauberstab aus der Hand geprellt. Der Zauberstab des grauhaarigen Mannes flog durch den Saal und landete fanggerecht in den Händen von Sheena O’Hoolihan. „Ui, das war ein Millionenwurf, Ms. Fairpoint.“
„Fairpoint? Die Mutantenbrut!!“ brüllte der entwaffnete Zauberer und flimmerte, wohl weil er sich auch ohne Zauberstab verwandeln wollte. Doch diesmal erwischte ihn Brenda mit einem vorbereiteten Verwandlungshemmer aus Quinns wahnwitziger Werkstatt. Der Hauptfeind erbebte, sprühte bunte Funken und kippte dann mit einem lauten Röcheln um. „Ui, das hat ihn offenbar überlastet. Fesselnund den Heilern übergeben“, sagte O’Hoolihan, die einfach so das Kommando übernommen hatte, weil Stonecutter sich gerade mit zwei braungebrannten Männern duellierte, von denen einer die Kleidung eines Ranchbesitzers trug. Offenbar hatte er den obligatorischen Cowboyhut draußen an einen der Haken gehängt. Jedenfalls war der Kerl für sein Alter sehr flink mit dem Zauberstab. Jenny wollte schon eingreifen. Doch da warfen sich ihr noch drei Männer in den Weg, von denen sie einen wiedererkannte, Frank Doby aus Baton Rouge. „War klar, dass ihr drachenmistigen Laveau-Anbeterinnen uns in den Kessel kacken wollt. Aber dass ihr uns so schnell gefunden habt“, knurrte er. „Mr Frank Doby, Sie sind festgenommen wegen Anstiftung und Ausführung magischer Überfälle mit mehrfachem Personenschaden“, rief Jenny. „Vernasch dich der große pelzige Seelentroll!“ knurrte Doby und wollte wohl den tödlichen Fluch wirken, da traf ihn ein Querschläger von Stonecutters Gegner. Unvermittelt blähte sich sein Körper auf, wurde ballonförmig. Seine Beine und Arme verschwanden in der immer weiter aufquellenden Masse. Dann verschwand auch sein Kopf. „Greengrass, du Riesentroll!“ kam es mit blubbernden Lauten unterlegt aus Dobys kugelrund aufgequollenem Körper. „Drachenmist!“ schimpfte der Cowboy. Doch da hatte ihn Stonecutter endlich mit einer Kombination aus Schock- und Erstarrungszauber überwältigt.
„Rrrgs, den kannte ich noch nicht“, meinte Maddy, als sie den zu zwei Metern größe aufgeblähten Doby sah. „Sollte wohl ein Ballonbauchzauber werden und wurde zu einem Amoebomorphus-Zauber“, bemerkte Sheena. Da sah sie, wie Dobys Körper sich in der Mitte einschnürte und mit lautem Ratschen in zwei kleinere Kugeln auseinanderriss. Die Kugeln liefen auf schnellen Scheinfüßen auf dem Boden herum und suchten offenbar nach Nahrung. „Oha, den kriegen wir so nicht mehr zurück wie er war. Dieser Texaner muss seinen ganzen Hass in diesen Zauber reingelegt haben, dass der so heftig durchschlug“, meinte Brenda, als sie sah, wie die zwei Tochterzellen des amöboiden Frank Doby herumsuchten, ob sie was in sich einverleiben und verdauen konnten. Dabei erwischten sie einen zerschlagenen Stuhl. Dieser verschwand mit ekelerregendem Schmatzen in einer der beiden Rieseneinzellerkugeln.
Mit Erstarrungszaubern wurde diese ungewollte Horrorschau vorerst beendet. Ob sie den Originalzauberer Doby wiederherstellen konnten sollten die Heiler klären.
Sie hatten endlich alle Widerständler niedergekämpft. Der Anführer lag draußen im Flur und wartete auf seinen Abtransport. Doch zuerst wurden die beiden Riesenamöben, die vorher ein einziger Zauberer gewesen waren, in zusetzliche Stasiszauber eingebacken und abtransportiert. Sheena wollte gerade darauf hinweisen, dass sie den mutmaßlichen Anstifter nicht hier herumliegen lassen sollten, als aus dem Nichts heraus ein pechschwarzer spitzer Zaubererhut in der Luft erschien und innerhalb einer Sekunde auf mehr als zwei Meter Höhe und anderthalb Meter Breite anwuchs. Sie konnten erkennen, dass an seinem Rand vier silbern leuchtende Monddarstellungen in allen Phasen leuchteten. Der offenbar sehr mächtige Zauberhut senkte sich auf den bewusstlosen Marcus Lowgrass alias Hasdrubal Highgate herab und wollte ihn offenbar in sich aufnehmen. Da sprang Sheena O’hoolihan mit einem länglichen, weißgelben Etwas, dass wie ein an den Rändern wellenartig eingedellter Zahn aussah vor und rammte diesen in den Hut, der mit silbernen Strahlen versuchte, den bewusstlosen Zauberer aufzuheben. Der weißgelbe Gegenstand schnitt durch den filzartigen Stoff. Es entstand ein langer, und sich immer weiter verbreiternder senkrechter Riss. Die vier Mondsymbole erloschen in einem silbernen Funkenschauer. Dann ertönte aus dem nun taumelnden Hut ein langgezogener, sehr qualvoller Aufschrei. Aus der Hutspitze schossen weitere Silberfunken hervor. Dann schrumpfte die magische Kopfbedeckung auf die Größe eines gewöhnlichen Zaubererhutes zusammen und fiel schlaff und von einem unansehnlichen Riss durchzogen zu boden. Die aus ihm entfleuchten Funken formten für drei Sekunden die Gestalt eines älteren Mannes mit einem kecken Schnurrbart und einem welligen Backenbart. Die Erscheinung sah Sheena anklagend an. Dann zersprühte sie in mehr als hundert Einzelstücke und verging dann restlos. „Durecores Seelenfragment!“ stöhnte Sheena. „Ich hab’s doch gewusst, dass dieser Hut eine verwünschte Seele hatte.“
„Der wollte Lowgrass verschlingen“, sagte Jenny. „Ja, weil er als Erbe Durecores versagt hat“, erwiderte Sheena O’Hoolihan. Dann las sie den Gegenstand auf, der der mit dunkler Magie erfüllten Kopfbedeckung den Garaus gemacht hatte. Jenny erkannte nun, was es war, ein einzelner, durch einen lederumwickelten Griff sicher handhabbarer Basiliskenzahn.
„Das komt nicht ins Protokoll, dass der von mir ist“, zischte Sheena ihren Mitarbeiterinnen zu. „Der hing hier an der Wand. Nach dem ganzen Kuriositätenkabinett hier durchaus glaubhaft.“
„Vielleicht hatt Lowgrass ihn auch besessen, um sich gegen Durecores beseelten Hut zu wehren“, ergänzte Maddy die Legende um den Basiliskendolch.
Die selbsternannten Bewahrer wurden nun, sofern noch bewegungsfähig, abgeführt und sofern Fälle für das HPK von herbeigerufenen Heilern abgeholt. Die Laveau-Mitarbeiter fanden den kreisrunden Raum, in dem die zwölf Urformen der Windrosenreiterei hingen. Die Bilder waren erstarrt wie nichtmagische Gemälde. Ihnen fehltte die Nähe des vom Blut des wahren Erben durchströmten Besitzers. „Quinn meint, wenn wir die Urformen unversehrt sicherstellen möchte er die gerne haben, um ihre magischen Eigenschaften zu ergründen und um herauszufinden, wer noch Kopien davon hat“, sagte Jenny Archstone. „Gut, sicherstellen und ausstrahlungssicher verpacken!“ sagte Sheena O’Hoolihan.
Nach zwei Stunden hatten die Einsatztruppler aus verschiedenen Sicherheitsbüros und dem Laveau-Institut alle Räume, auch zehn Geheimräume entdeckt und durchsucht. Dabei war eine umfangreiche Bibliothek, sowie eine Ansammlung stark dunkle Magie ausstrahlender Gebrauchsgegenstände sichergestellt worden. Die offenkundig verfluchten Gegenstände wurden unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen eingepackt und dem Laveau-Institut überordnet, weil es in Virginia keinen gab, der oder die solche Gegenstände haben wollte. Dann wurde das Haus von außen mit mehreren Siegeln unbetretbar gemacht. Was mit Marcus Lowgrass alias Hasdrubal Highgate, dem letzten männlichen Blutsverwandten der Durecore-Linie, geschehen würde sollten die Richter entscheiden, wenn der neue MAKUSA sich konstituiert hatte. Ein gefährlicher Brandherd der magischen Welt der USA war ausgelöscht worden. Doch es gab noch zwei, die das Land beeinträchtigen konnten, eine auf Kampf eingestimmte höchste Spinnenschwester und eine auf einen schnellen Erfolg ausgehende Atalanta Bullhorn.
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Aurore war stolz, als sie am ende ihres ersten Schuljahres ihr Zeugnis bekam. Sie hatte ausschließlich gute Benotungen erhalten. Es war nur erwähnt worden, dass ihre Lehrer sie immer wieder bremsen mussten, nicht schon so früh so viel auf einmal zu können. Weil Aurore so gut in die Schule hineingefunden hatte freute es auch ihre Schulpatin Claudine. Denn sie bekam es auch in ihrem Zeugnis vermerkt, dass sie ihre freiwillig angetretene Zusatzarbeit als Patin für eine Erstklässlerin so gut hinbekommen hatte, dass die Lehrerschaft ihr durchaus zutraute, auch einmal Saalsprecherin in Beauxbatons zu werden wie ihre große Schwester Babette.
Bei Millie konnten Hera, Béatrice und Julius nun erkennen, dass sie zwei Mädchen im Bauch hatte. So untersuchte Hera auch Béatrice mit dem Einblickspiegel. Doch das von ihr heimlich ausgetragene Kind wandte seinen Beobachtern die Kehrseite zu. Erst als Julius seine Schwiegertante und von Millie genehmigte Geliebte an der Hüfte kitzelte und sie zusammenschrak drehte sich das kleine Wesen um, dass sie und er auf die Reise ins Leben geschickt hatten. Es rammte sein linkes Füßchen mit Wucht in die Bauchdecke seiner geduldig und heimlich erwartenden Mutter. „Ei, das saß!“ knurrte Béatrice und zwickte Julius in die Nase. Hera, die vor ihrer Kollegin kniete meinte dann: „Ja, jetzt ist es auch hier amtlich. Die Kleine hat beim Tritt beide Beine soweit gespreizt, dass ich ihre Vulva deutlich erkannt habe. Kein zweifel, Kollegin Latierre, Sie erwarten zwischen dem vierten und achtzehnten November diesen Jahres eine kleine Tochter. Ich hoffe, Sie empfinden diesen Umstand nicht als Enttäuschung“, sprach die hauptamtlich residente Hebamme von Millemerveilles und benutzte den neben Béatrice sitzenden Julius, um sich aus der knienden Haltung auf die Füße zu stemmen.
„Nein, ich empfinde diese Bestätigung nicht als Enttäuschung, Kollegin Matine, zumal ich nun den für viele Hexenmütter so spannenden Vergleich anstellen kann, ob sich eine Tochter besser oder schwerer austragen lässt. Nach dem Tritt eben bin ich versucht, es als schwerer anzusehen. Aber Félix hat mir in den letzten vier Monaten seiner Reise auf die Welt auch schon heftige Tritte und Boxhiebe versetzt. Tja, Julius, dann wird es eben Chloris Agrippine sein, die sich mit Millies und deinen neuen Zwillingen Hestia Hippolyte und Hidalga Hera unser aller Aufmerksamkeit teilen darf“, verkündete Béatrice. Bis zur offiziellen Bestätigung, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen trug hatte sie um die Namen ein Geheimnis gemacht. Während Millie und Julius bereits nach Aurores Geburtstag beschlossen hatten, dass die zwei neuen einen Vornamen mit im Französischen Stummen H am Anfang kriegen sollten, bei dem auch der Name von Millies Mutter mitverwendet werden konnte, wollte Béatrice den möglichen Mädchennamen selbst vergeben und nur bei einem Jungennamen anfragen, ob Julius einen nahm, den er nicht für einen der mit Millie zu bekommenden Söhne ausgewählt hatte. Jetzt wurde es also eine Chloris Agrippine. Julius fragte, an welche Agrippine sie dachte, da er bisher nur Agrippine Fourmier, die Fachlehrerin für magische Tierwesen in Beauxbatons, kennengelernt hatte. „Agrippine Claudette Bonfils, meine Ausbilderin in geburtshilflichen Angelegenheiten an der Heilerschule der Delourdesklinik, Julius“, offenbarte Béatrice. „Ja, und Chloris war die Stammmutter der Latierres, wie du ja genau weißt. Kam bisher nur alle vier Generationen einmal vor. Selbst Maman, die ja genug eigene Töchter bekommen hat, traute sich nicht, diesen erhabenen Namen zu vergeben. Sie hat einmal im Scherz gesagt, dass sie sich eine Enkeltochter mit diesem Namen vorstellen könnte und hat mich dabei so verschwörerisch angesehen. Dann soll das eben so sein.“
„Chloris war doch die Frühlingsgöttin der Griechen, richtig?“ fragte Julius. „Neben Demeter, die ich auch im Sinn hatte. Aber ich will nicht, dass meine erste Tochter mit einer drallen Milchkuh verwechselt wird“, sagte Béatrice. Hera nickte. „Ein Scherzbold, der Abraxanerpferde züchtet, hat eine Stute Hera genannt. Da war ich gerade zwölf Jahre alt. Als sie dann das erste mal tragend wurde haben sie mich alle angeguckt und gemeint, wann ich so einen tollen Hengst finden würde. Gut, die Namensvergabe tritt ja erst nach Vollendung der Geburten in Kraft. Ihr drei wisst zumindest jetzt, dass euer Hexenhaushalt im November um drei Hexen reicher wird“, sagte Hera. „Ich sehe euch drei dann bei der nächsten Gymnastikstunde wieder.“ Mit diesen Worten verließ die hauptamtliche Hebammenhexe von Millemerveilles das Apfelhaus der Latierres durch die Tür. Außerhalb davon schwang sie sich auf ihren Ganymed 8 und flog im Hui davon.
„Ist schon ein seltsames Gefühl, zu wissen, auf wen man sich vorbereiten soll, es aber eben noch mehrere Monate dauert“, meinte Julius zu seinen beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen. „Frag mich mal, wie sich das anfühlt, jetzt schon daran zu denken, was dieses quirlige Wesen da in meinem Unterleib in zwölf, zwanzig oder dreißig Jahren so erreichen mag“, sagte Béatrice. „Dabei mussten wir alle lernen, dass soweit vorherzuplanen keinen Sinn macht. Erst einmal müssen die drei kleinen Hexen sicher zur Welt kommen. Dann müssen sie mindestens hundertmal in Windeln reinmachen und uns beiden genug vom überschüssigen Speck aus den Brüsten heraussaugen, um selbst groß und drall zu werden. Dann kommt erst die Grundschule und dann Beauxbatons. Dann erst können und werden die sich entscheiden, was sie machen. Zumindest hoffen wir alle, dass sie auch so alt werden können“, seufzte Béatrice und bekam kleine Tränen in die Augen. Millie und Julius traten zu ihr hin und umarmten sie. Da beruhigte sie sich wieder. „Ach ja, das ist auch ein lästiger Effekt, wenn eine Mutter weiß, auf wen sie genau wartet, die Angst, dass doch was passiert, was alles umwirft“, sinnierte Béatrice. Dann lächelte sie. „Aber wir haben es bisher gut hinbekommen. Dann wird das hoffentlich auch bis zu Rories erstem Kind so weitergehen. Dem wollten Millie und Julius nicht widersprechen.“
Am Abend rief Brittany über die Armbandverbindung durch und erwähnte, dass sie in Virginia eine Anti-MAKUSA-Truppe ausgehoben hatten, das LI und diverse Sicherheitstruppen der Umgebung. Der Anführer war ein lange Zeit im Verborgenen lebender Reinblütigkeitstraditionalist namens Marcus Lograss. Doch Brittany erwähnte auch, wie er früher geheißen hatte. „Der Erbe von Durecore“, meinte Julius dazu und erinnerte sich an die ihm erzählten Sachen aus dem Jahr mit der Kammer des Schreckens. „Der hatte aber keinen Basilisken im Haus versteckt, oder?“ fragte er.
„Also laut Lino keinen Basilisken, aber eine Galerie aus zwölf Bildern mit Reitern auf geflügelten Pferden und einen menschenfressenden Spitzhut.“
„Ein … Hut?!“ fragte Julius, der da natürlich auch an einen ganz bestimmten Hut dachte. „Gut, das ist sozusagen außerhalb des zu schreibenden oder fällt in die Zeile „Sammelte schwarzmagische Gegenstände verschiedener Art““, sagte Brittany. „Jedenfalls schwärmen viele Sicherheitsleute aus, die die sogenannten Bewahrer der Freiheit nun einsammeln. Wollte ich euch nur erzählen, damit ihr wisst, dass es bei uns nicht langweilig wird“, sagte Brittany.
Millie erwähnte nun, dass sie wirklich zwei neue Prinzessinnen in ihrer kleinen Kemenate beherbergte und dass diese zwischen dem 4. und 18. November auf die Welt krabbeln mochten. „Och joh, zwei Wochen vor Gran Vanessas Geburtstag. „Hmm, keine Halloweenschwestern?“
„Bei Zwwillingen ist das immer die Frage, ob die berechneten Geburtstermine sicher sind oder eben nur eine ungefähre Einschätzung, damit die Verwandten mit den Babysachen nicht erst einen Monat nach der Geburt anrücken und die Kleinen bis dahin nackig rumliegen müssen.“ Brittany musste darüber lachen. „Ich habe schon Babyzeug bekommen, als ich angekündigt habe, dass ich Linus heirate. Ja, und wie lange das dann dauerte, bis der dafür bestimmte Inhalt da war wisst ihr ja alle. Aber ich wünsche euch jetzt eine gute Nacht.“ Die wünschten die drei Apfelhaus-Eltern ihrer angeheirateten Cousine / Nichte auch.
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Dass eine Truppe Sicherheitsleute das Ausweichquartier in Arizona gestürmt hatten und die beiden Heiler Hillcrest und Hazelwood gefunden hatten war mit keinem Wort berichtet worden. Dafür hielten sich die Medien seit nun schon zwei Wochen an diesem Terrorverein, der sich „Bewahrer der Freiheit“ nannte und angeblich von einem Nachfahren Durecores angeführt worden war. Weitere Bruderschaften waren ausgehoben worden, viele der nicht ganz so überzeugten, nur wegen ihrer strengen Anverwandten dort hineingeratenen wollten als Kronzeugen auftreten und wurden deshalb an hochgesicherten Orten versteckt. Dass unter den erwischten Anti-MAKUSA-Aktivisten auch der alte Tucker Greengrass war wunderte Atalanta Bullhorn nicht. Der hatte sie damals, als sie sich um Buggles‘ Nachfolge beworben hatte, so schräg angesehen, als dürfe eine Hexe außerhalb des eigenen Hauses nicht einmal husten, ohne ihren Vater oder Ehemann zu fragen. Ja, mit denen hätte sie dann wohl nach den schwarzen Schwestern zu tun bekommen, erkannte Atalanta Bullhorn. allerdings kam sie selbst gerade nicht aus ihrem geheimen Hauptquartier los. Denn von denen, die in Arizona festgenommen worden waren, wollten wohl welche selbst als Kronzeugen gegen das Projekt „Sol Puritatis“ auftreten. So hatte sie die Parole ausgegeben, nicht mehr ohne einen wirklich erfolgversprechenden Grund auszurücken. Vor allem dass diese ewig gutherzige und besserwisserische Kinderpflückerin Eileithyia Greensporn sie in aller Öffentlichkeit für schwer geisteskrank erklärte und ihr bei jeder sich bitenden Gelegenheit, ob in Kruegers morgentlichem Redeflussprogramm oder in einer sich seriös gebenden Meinungsfragesendung anbot, sich in eine psychomorphologische Heiltherapie zu begeben widerte sie an. Sie dachte nämlich, dass auch Eileithyia Greensporn zu einer der verfemten Schwesternschaften gehören mochte. Ja, und ihr war natürlich bewusst, dass diese davon ausging, auf Atalantas schwarzer Liste zu stehen. Dabei war das eine rote Liste, die sie führte.
Da sie nicht mehr damit rechnen konnte, Verena Peppermill zurückzubekommen und zudem nur noch einen loyalen Heiler in ihren Reihen hatte, der in das HPK hineinkommen mochte, schwor sie ihre drei anderen Mitstreiterinnen darauf ein, Portia Weaver zu verhören. Natürlich mussten sie sicherstellen, dass sie nicht explodierte und sie im Schmelzfeuer mit sich ins Vergessen riss oder einen eigenen Feuerwolf in den Tiefen ihres Unterbewusstseins wohnen hatte, der sie am Verrat hinderte. Ebenso musste sie davon ausgehen, dass das Hauptquartier der Spinnenschwestern ebenso ein Fidelius-Ort war wie HQ PSP. Also konnte sie nur nach Verbindungen zu dieser Schwesternschaft fragen, nach Leuten, die nicht ganz so geheim waren und nach Möglichkeiten, die höchste der dunklen Schwestern zu kontaktieren oder ihr bis dahin treue Schwestern abspenstig zu machen. Sie musste dieses Spinnenvieh haben und vernichten. Danach sollten es die Rosenschwestern sein und dann erst die Schweigsamen. Ob ihre neue und leider gerade unangreifbare Widersacherin Eileithyia Greensporn zu der einen oder anderen Bande gehörte würde sich dann herausstellen. Auch war ihr klar, dass PSP nach diesen Aktionen erledigt war. Sie würde sich dann ein fernes Land aussuchen, in dem sie unerkannt weiterleben würde, nicht als Inobskuratorin. Das war ja dann doch ein sehr undankbarer Job.
„Das Verhör der Gefangenen Weaver beginnt am Morgen des 24. Juni“, gab sie an ihre noch treuen Mitstreiter bekannt, die sich mit ihr im Hauptquartier der Sonne der Reinheit eingeigelt hatten.
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Rollin Firepan gehörte nicht zu denen, die aufgaben, nur weil einer laut „Buh“ rief oder rüde Gesten gegen ihn machte. Doch er merkte schon, dass seine ganze Kandidatur, sein ganzer Einsatz für die vernachlässigten Mitbürger anderer Hautfarben keine Mehrheit finden würde. Dennoch wollte und musste er die Kandidatur bis zum Ende durchhalten, um sich beim Rasieren noch im Spiegel ansehen zu können.
Am 20 Juni luden alle Sender des magischen Rundfunks zu einer ersten und einzigen Aussprache der beiden Kandidaten. Firepan hatte beschlossen, Godiva Cartridge auf ihre befremdliche Rolle bei Dime und Buggles anzusprechen und warum sie glaubte, mit ihrer Vergangenheit den Menschen hier eine bessere Zukunft anzubieten als er selbst.
Es war fast so eine große Schau wie die Präsidentschaftsduelle im Fernsehen der Nomajs, eben nur im Radio und in Anwesenheit von Zeitungsfotografen. Rollin Firepan, 1,80 M groß, von ebenholzschwarzer Hautfarbe, betrat in einem schlichten blauen Leinenumhang ohne Verzierungen die runde Bühne, die auf dem Marktplatz von Viento del Sol aufgebaut worden war. Warum sie sich hier trafen begründeten die Kandidaten damit, dass hier der Feindesabwehrzauber wirkte und somit jede und jeder hier auftretende beweise, kein Menschenfeind zu sein. Außerdem spekulierten beide auf die Stimmen der vielen Zauberer und Hexen in Kalifornien, wie auch von denen aus Neuengland.
Frank Sunnydale von Radio HCPC 2623 und Klio Sweetwater von VDSR 1923 wollten die Befragung durchführen, wobei Frank mal den Kandidaten und mal die Kandidatin fragen würde. Die Fragen bezogen sich auf vier Bereiche: öffentliche Sicherheit innen und außen, Handelsbeziehungen in den Staaten und zwischen den Staaten und dem Rest der Zaubererwelt, Die Gewichtung der Bevölkerungsgruppen und zum schluss die Rechtsprechung.
Gilbert Latierre saß neben seiner Frau Linda, die bereits ihre besondren Ohren auf die Mitarbeiter der beiden Kandidaten ausgerichtet hatte, um die Atmosphäre zu prüfen.
Als Godiva Cartridge in einem schicken roséfarbenen Kleid auf die Bühne kletterte klatschten ihre Anhänger Beifall. „Ah, der Familienboss der Greendales ist auch da, genau wie der von den Southerlands, also deiner“, wisperte Linda ihrem Mann zu und deutete auf die Menschenmenge. Er holte einzelne Leute mit dem Vergrößerungsobjektiv heran und fand tatsächlich Priapus Southerland einträchtig neben den Eheleuten Greendale sitzen. „Ei, und die Patty McDuffy ist auch da. Sie hat einen Anstecker „Hexenkraft wird siegen“, sagte Gilbert, der das was Linda mit den Ohren machte gerade mit der Kamera hinbekam. Dann lauschten alle, als die beiden Dorfräte Hammersmith die Kandidaten persönlich begrüßten und zu den wartenden Reportern sprachen. Dann wurde natürlich die Dame zuerst begrüßt. Sie erhielt bereits tosenden Beifall aller nur als Publikum anwesenden Hexen und Zauberer aus den USA. Dann wurde Rollin Firepan begrüßt. Trommeln und Jubelgesänge begrüßten den ersten Vertreter der afroamerikanischen Zauberergemeinschaft. „Super, voll das Klischee“, meinte Gilbert dazu. „Immerhin können die Jungen und Mädchen Musik machen“, sagte Linda.
Die beiden Radioreporter bauten sich so auf, dass ihre Fragen von allen ausgefahrenen Schallsammeltrichtern eingefangen wurden. Ihre Worte wurden über drei Meter große Rundfunkabspielgeräte verstärkt.
Die Fragen gingen erst um die persönlichen Einschätzungen der Unruhen der letzten Wochen und ob sie den Start des neuen MAKUSA erleichtern oder erschweren würden. Außerdem ging es um die vor wenigen Tagen in allen Medien diskutierte Aktion in Lowgrass‘ Haus in Virginia und was seitdem bekannt geworden war. Firepan beteuerte, dass er verstehe, dass viele in kleineren Staaten lebenden Mitbürger Angst hatten, von den Interessen der größeren Staaten mit besserer Anbindung an die Reisewege der Zaubererwelt „niedergebügelt zu werden“ und deshalb lieber ihre Eigenständigkeit behalten wollten. Natürlich sah er die Unruhen im Süden eher als Versuch, die achso guten alten Zeiten für die rein weiße Bevölkerung zurückzuholen und es genau deshalb wichtig sei, die Vergangenheit nicht nur in Erinnerung zu halten, sondern sie zu verarbeiten.
Dazu befragt, wie sie, die eine Zeit lang wegen der Besorgnis um ihren zwangsweise wiederverjüngten Ehemann als straffällig galt über die Unruhen und die Ziele der verschiedenen Gruppierungen dachte sagte Godiva Cartridge: „Nun, wo es sich erwiesen hat, dass unser Land zum Tummelplatz für Unterdrücker und Massenmörder wurde konnte das, was ich tun musste, um den Menschen, der nun unter dem Namen Chrysander Cartridge aufwächst vor Elementen zweifelhafter Gesinnung zu schützen, nicht mehr für so schwerwiegend befunden werden. Erst als ich dies wusste konnte ich mich dazu entschließen, diesem Land etwas von dem zurückzugeben, was es mir in all den Jahren vor Dime und Buggles gegeben hat. Was die Unruhen und deren Anstifter angeht stimme ich meinem Opponenten zu, dass hier alte Kleinstaatereien heraufbeschworen werden sollen, die bei den nichtmagischen Menschen hoch im Kurs stehen, aber laut meiner Geschichtskenntnisse in der magischen Gemeinschaft nie wirklich ausschlaggebend waren. Daher frage ich Sie alle, warum ausgerechnet jetzt, wo Zusammenhalt und gemeinsames Streben wichtiger als zuvor sind, unbedingt innere Grenzen gezogen werden sollen. Wir mussten doch lernen, wie angreifbar die sind, die die Macht um der Macht willen anstrebten. Die Gruppierung, die sich „Bewahrer der Freiheit“ nannte – ja, sie dürfte mittlerweile größtenteils aufgelöst sein – wollte ein Reich kleiner Könige ohne Königinnen errichten, im Namen einer Zaubererehre, die mit der wirklichen Welt nichts mehr zu tun hat. Aber genau auch deshalb ist es wichtig, als Präsidentin für alle Mitbürger dazusein, nicht nur für die Hexen, die Zauberer, die Reinblüter oder die Vielblüter, nicht für die Schwarzen und nicht für die Weißen alleine. Der neue MAKUSA soll wie der alte einen bedeutsamen Querschnitt durch alle Gesellschaftsgruppen repräsentieren und in Gleichberechtigung jedes seiner Mitglieder handeln. Darum empfinde ich es als sehr wichtig, mich um das Amt der Präsidentin zu bewerben. Ob es mir verliehen wird sollen dann Sie alle hier und dort an den Radioempfängern oder die Leserinnen und Leser der hier vertretenen Presse entscheiden.“
Auf die Fragen, was wegen der verschwundenen Hexen zu tun war und wielange die zusätzliche Beherbergung in VDS noch andauern sollte sagte Firepan, dass er als erste Amtshandlung ein Gesetz erlassen würde, dass den Einsatz von Zauberflüchen nur noch den Sicherheitsbehörden erlaube. Darauf lachten viele. Denn wer wollte das kontrollieren. Godiva Cartridge beantwortete die Frage so, dass nun, wo sehr sicher sei, wer dahinterstecke die heilmagische Betreuung von Inhabern von Risikoberufen und hohen Ämtern nach hochbelastenden bis verletzenden Erfahrungen verpflichtend eingeführt werden sollte. Sie sei auch bereits mit Heilerzunftsprecherin Grrensporn zusammengetroffen, um die Umsetzbarkeit einer solchen Richtlinie mit dem vorhandenen Heilerpersonal zu erörtern oder der Heilerzunft öffentliche Mittel zu geben, um vertrauenswürdige Heilerinnen und Heiler auszubilden. Von einem Duellverbot wie ihr Opponent Firepan halte sie nichts, da jeder freie Zauberer und jede freie Hexe die erlernten Fähigkeiten zur Selbstverteidigung nutzen dürfe, um Leib, Leben und Ehre jederzeit und vor allem an den vom Staat geschützten Wohnort zu wahren.
Daraus entspann sich eine gefühlsbetonte Debatte zwischen den beiden um das Präsidentenamt ringenden, wer wie sicherstellen wolle, dass Unruhen wie die der letzten Monate oder außerstaatliche Gewalthandlungen wie die der dunklen Hexenorden um Ladonna oder dem Spinnenorden unterbunden werden könnten. Zur Person Atalanta Bullhorn hatten beide die Meinung, dass bisher kein Beweis erbracht sei, dass diese für die nicht freiwillig verschwundenen Hexen verantwortlich sei und dass sie sicher sehr gut damit reise, wenn sie sich einer gerichtlichen Befragung stelle, inwieweit sie von diesen Vorfällen was mitbekommen habe. Allerdings verwahrten sich beide dagegen, das Projekt „Sol Puritatis“ für rechtskräftig zu erklären und ihm auch keine rechtliche Rangstellung in der Sicherheitsverwaltung zuzubilligen. Firepan scherzte, dass dann ja gleich alle magischenVerbrecherorganisationen die Sicherheit der Mitbürger aushandeln könnten und es dann weder Inobskuratoren noch Rechtspfleger geben müsse. Allerdings sollten dann die Menschen nicht klagen, wenn „diese Gangsterbanden“ ihnen hohe Tribute abpressten, damit niemand behelligt würde. Er stehe jedenfalls nicht für diese Art von Sicherheitsverwaltung. Dasselbe bekräftigte auch Godiva Cartridge. Darauf rief einer aus dem Publikum: „Wenn die Zicke gärtnert. Gesetze sind für alle einzuhalten!“
„Ich glaube, da waren wir vorher schon mal“, sagte Godiva und erntete ein belustigtes Lachenund Beifall. „Der Umstand dass ich jetzt hier stehe zeigt doch, dass ich keine Menschenfeindin bin und dass ich auch keinem was getan habe, was mich für die hier lebenden Menschen zur Bedrohung macht. Da dies auch für den Gegenkandidaten Firepan gilt sollten wir uns auf die beziehen, die wesentlich mehr auf dem Kerbholz haben, dass sie hier an diesem Ort im Boden versinken müssen vor schwerer Schuld. Also wie geht es weiter?“
Es ging nun um Firepans große Ankündigungen, den nichtweißen Hexen und Zauberern Entschädigungen für die unter der Rassentrennung der letzten Jahrhunderte erlittenen Nachteile und Schäden zu gewähren. Immerhin, so Firepan, hätten viele Familien nur weil sie schwarz seien, keine Chance gehabt, in die Nähe des Clubs der zehn aufzusteigen. Darauf rief Priapus Southerland aus dem Publikum: „Neh, wir haben ja auch keine afrikanischstämmigen Hexen und Zauberer in unsere Familien reingelassen.“ Greendale fühlte sich deshalb berufen, einzuwenden, dass die afrikanischstämmigen und indigenen Hexen und Zauberer Amerikas doch gar nichts zu klagen hätten, da sie immer schon besser gestellt waren als die Nomajs. Ein anderer aus dem Publikum rief: „Wenn’s euch bei uns nicht mehr gefällt geht doch wieder nach Afrika, falls ihr wisst, wo genau ihr da herkommt.“ Nicht wenige lachten, aber eine überwältigende Mehrheit schwieg beschämt über diese höchst provokante Zwischenbemerkung. Firepan grinste jedoch mit strahlend weißen Zähnen und erwiderte in das beschämte Schweigen hinein: „Die Afrikaner haben schon angeklopt und gefragt, was wir von denen denn an wirtschaftlichen Erzeugnissen haben möchten. Aber wer wie ich und sicher auch Sie, werter Gentleman hier in den USA geboren wurde hat hier seine Heimat.“ Dafür bekam er Applaus. Godiva nutzte diese Aussage und bekräftigte, dass nicht die Hautfarbe zähle, sondern die Einsatzbereitschaft und der Wille, mit jedem an den wichtigen Dingen arbeiten zu wollen. „Und das Geschlecht!“ rief Patty McDuffy. „Unabhängig vom Aussehen und der körperlichen Beschaffenheit“, sagte Godiva.
Im Verlauf der Befragung durch die Reporter und durch die Antworten auf Zwischenrufe kam heraus, dass Firepan eigentlich wusste, dass er mit seiner Wahlkampfstrategie keine Chance mehr hatte. Doch er ließ immer wieder durchblicken, dass er für alle die stand, die sich bisher nicht getraut hatten, die Vergangenheit nicht nur in rosaroten und goldenen Farben zu malen, sondern auch die dunklen Stellen zu beleuchten. Er brachte das Beispiel eines Baumes, an dessen Jahresringen abzulesen sei, welche guten und welche schlechten Jahre er erlebt habe. Darauf wandte einer der Zuhörer ein, dass man das dem Baum aber erst ansehe, wenn er bereits gefällt sei. Viele lachten über diesen berechtigten Einwand. Godiva hielt sich bei dieser Aussage zurück.
Ihr großer Auftritt kam noch, als es darum ging, die finanzielle Lage der USA zu verbessern und dass sie die Zusage aller großen Familien habe, dass es keine feindselige, sondern nur noch anstachelnde Konkurenz geben solle und dass dazu auch die Angehörigen anderer ethnischer Gruppen gehören würden.
Am Ende stand fest, dass Godiva wohl den Segen aller zehn großen Familien hatte, während Rollin Firepan nur als Protestkandidat einer in der Zaubererwelt kleinen und anders als bei den Nichtmagiern größtenteils sorgenfrei lebensfähigen Gesellschaftsgruppe war. Sunnydale brachte es auf den Punkt, ohne Firepan selbst vorzeitig zum Verlierer zu erklären: „Es wird am ende die glückliche Mehrheit bestimmen, wer ihr Glück fördert oder wer es gefährdet.“
Nach der öffentlichen Aussprache gab es noch angemeldete Interviews. Wer gerade keinen der beiden Kandidaten vor Kamera, Feder oder Schallsammeltrichter hatte fragte das Publikum. Linda konnte mit Adelaide Greendale sprechen, der Großmutter der Kandidatin und, wie sie wusste, eine Zustandsschwester von ihr. Denn sie hatte seit einem schweren Unfall im Dienste des damals noch jungen Zaubereiministeriums zwei biomaturgische Kunstaugen erhalten, die per Vertrag des Ministeriums jedes fünfte Jahr durch ein paar weiterentwickelte Prothesen ersetzt wurden. Doch darüber sprachen die beiden nicht, sondern darüber, wie die Generationen in den Staaten zusammenarbeiten konnten und wie das durch Buggles und Vita Magica entfachte Misstrauen zwischen über Generationen hier lebenden und Einwanderern ausgeräumt werden konnte. Denn beide Kandidaten hatten beteuert, dass jeder willkommen sei, der oder die fleißig und einsatzbereit sei, das Land zusammenzuhaltenund noch größer zu machen als es eh schon war. „Na ja, größer machen durch mehr Waffen und Militärbasen wie es die Nichtmagier für sinnvoll halten wollen wir das nicht, aber so, dass jeder und jede hier lebende stolz, froh aber auch beruhigt ist, hier leben und arbeiten zu können. Das habe ich meinen Kindern so beigebracht und die ihren Kindern, von denen eines vorhin den ersten großen Auftritt hatte, dem sicher noch viele Dutzend grandiose Auftritte folgen werden.“ Das notierte Linda Latierre Knowles wortwörtlich.
Ihr Mann sprach mit Priapus Southerland über die Aussage, dass in seine Familie jeder hineinheiraten dürfe, ob es sowas wie eine Platzbuchung geben würde. Doch Priapus lachte und sagte, dass er sich da auf die über Jahrhunderte gewachsenen und geübten Instinkte seiner Blutsverwandten verlassen könne, wer mit ihnen weitere Generationen auf den Weg bringe, sowie er das ja auch geschafft habe und wie die französische und spanische Stammfamilie das ja auch bisher gut hinbekomme.
So reihten sich Interviews an Interviews, bis die hier versammelten Medienmitarbeitenden genug für einen vollen Tag Reportage im Radio und eine über zehn Tagesausgaben reichende Artikelserie für die Zeitungen zusammenhatten. Alle waren sich einig, dass Firepan Mut habe und dass dieser Mut sicher Beachtung finde, aber die wirkliche Gewinnerin Godiva Cartridge sei, die ganz offen mit der als Verfehlung bezeichneten Einbehaltung von Chrysander Cartridge umging, um die zu erwartenden Angriffe aus dieser Richtung abzuwettern wie einen wütenden Sturm und dann mit vollen Segeln ins Sonnenlicht hinauszufahren.
Auch weit von Viento del Sol entfernt machte sich jemand Gedanken um die Zukunft. „Wenn das leidige Thema Bullhorn begraben sein wird werde ich diese von einer großen Sippschaft auf den Schild gehobene Hexe fragen, wie sie es mit der Schwesterlichkeit hält und wie wichtig ihr der Frieden im Land wirklich ist.“ Anthelia/Naaneavargia hatte durchaus nicht vergessen, dass sie mit Milton Cartridge einen passablen Burgfrieden hinbekommen hatte und dass dieser maßgeblich auf Godivas Einfluss zurückging. Sie hatte auch eine ungefähre Ahnung, wie stark dieser Einfluss auf Milton Cartridge war und dass der sich auf den nun Chrysander Cartridge heißenden Ziehsohn sogar noch verstärkt haben mochte. Wussten dass Godivas Blutsverwandte auch? Zumindest Sie hielt es jedoch für unklug, Godiva darauf anzusprechen und sie sich damit gleich wieder zur Feindin zu machen. Voldemort, Vengor, Ladonna und gerade Atalanta reichten ihr schon aus, um sich nicht zu langweilen.
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Die Verdächtige saß im Mittelpunkt eines Halbkreises aus vier anderen Hexen. Sie wurde gerade gefragt, ob sie wirklich Portia Weaver sei, für das Zaubereiministerium und dessen Rechtsnachfolge zu arbeiten und ob jemals jemand von fragwürdigen Schwesternschaften an sie herangetreten war. Weil sie sich dabei wohl in die Enge gedrängt fühlte bohrten die Fragenden weiter und wollten wissen, ob sie mit dem Spinnenorden oder Ladonnas Feuerrosenorden zu tun bekommen habe. Dabei fühlte die Hexe auf dem Büßerstuhl auch, dass sie von mehreren zugleich legilimentiert wurde. Sie pochte auf ihre Rechte, nur in Anwesenheit eines Verteidigers und ordentlicher Richter befragt zu werden. Doch die vier Hexen auf den hochlehnigen Stühlen, allen voran Atalanta Bullhorn, ließen das nicht gelten. Sie nutzten es aus, dass Portia bereits für tot und begraben erklärt worden war und sie daher sogar Schutz erhalten konnte, wenn sie vollumfänglich auspackte, wer mit ihr in Kontakt getreten sei und ob sie bereits Mitglied einer entsprechenden Vereinigung geworden sei. Sie spürte, wie der Stuhl, auf dem sie festgebunden war, regelrecht erbebte. Dann verwischte die Wahrnehmung, weil immer mehr aus ihrem Gedächtnis gezerrte Bilder und Worte ihr Bewusstsein überfluteten.
Als Atalanta Bullhorn, die gezielt nach Geheimverstecken suchte eine von flirrenden Blitzen umtoste Erscheinung fand, die sie für eine Divitiae-Mentis-Versiegelung hielt, stieß sie mit ganzer Kraft voran. Dabei sprangen heftige Geistesentladungen von Portia auf sie über. Sie meinte, von sie anfliegenden Häusern und Bäumen niedergeworfen zu werden. Dann sah sie, wen sie zu sehen gehofft hatte, die Hexe mit der blassgoldenen Haut und den blaugrünen Augen, von denen die Zeugen der Vernichtung Gordon Stillwells berichtet hatten. Ja, Portia diente der schwarzen Spinne. Doch natürlich war deren Hauptquartier ein Geheimnis. Doch diese Biester hatten ein geheimes Lager, wo sie Trankzutaten und verfluchte Gegenstände aufbewahrten, in den San-Gabriel-Bergen bei Los Angeles. Dieses Lager wollte sie ausheben. Sie brauchte nur noch die ganz genauen Standortdaten. Als sie diese mit Urgewalt aus Portias Hirn hervorpressen wollte entlud sich etwas, das die PSP-Mitglieder eigentlich unterdrückt hatten, ein Verratsunterdrückungszauber. Doch es war kein nach außen drängender Zauber, sondern eine regelrechte Implosion. Portia fiel körperlich und Geistig in sich zusammen. Ihr Körper zersprühte dabei zu feinem Staub und wasserdampf. Die Wucht des plötzlich wegbrechenden Widerstandes ließ die vier Mentipressorinnen mit ihren Gedankenfühlern aufeinanderprallen und sich gegenseitig durchdringen. Die dabei freiwerdende Überlastung machte alle vier ohnmächtig.
Als sie zwei Stunden später wieder zu sich kamen wusste Atalanta, wo genau das geheime Waffen- und Ausrüstungslager der Spinnenschwestern war und wer dort Wache hielt, eine der Verdächtigen, die sie eigentlich längst hätte befragen wollen.
„Sie wurde von einem Verratsunterdrückungszauber der Erde getötet. Wir haben sie auf nach außen drängende Feuerzauber und den Feuerwolf oder ähnliche geistige Verratsvereitelungen untersucht. Offenbar war dieser Rubinklumpen, den ihre Meisterin ihr in den Unterleib gestopft hat sowas wie ein Widerstandskraftverstärker. Doch jetzt wissen wir, wo eines der größten Lager dieser Sabberhexen zu finden ist. Wir müssen dahin, um es auszuheben. Vielleicht erwischen wir dabei auch jene, die uns allen so elendlange auf der Nase herumgetanzt ist. Auf zu Taten! Sol puritatis!“
Hundert ihr verbliebene Getreue, darunter der letzte Feldeinsatzheiler, brachen noch am selben Nachmittag auf, um der Spinnenschwesternschaft die erste größere Niederlage zu bereiten.
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In einem der Vierstockbetten zuckte und wand sich eine schlafende Hexe. Dann schnellte sie mit dem Kopf gegen den Lattenrost des Bettes über ihr. Das und die Bewegungen an sich lösten einen stillen Alarm aus.
„Fidelius kann doch nicht alles verbergen“, grummelte die Herrin von Tyches Refugium. Dann untersuchte sie jene, die auf einen fernen Aufruhr reagiert hatte wie ein Erdbebenmessgerät. Außer einer leichten Platzwunde, die mit einem schnellen Zauberstabwink narbenlos verheilte und mit rosarotem Schaum von allem bereits ausgetretenem Blut gesäubert wurde hatte die im Bett liegende Hexe keinen Schaden davongetragen. Als Anthelia sie aufweckte berichtete sie von einem Albtraum, wo sie an unterschiedlichsten Orten war und immer wieder nach dem Haus der Spinne oder ihren Verbündeten gefragt worden war. Sie erwähnte, dass sie ein Plateau in den San-Gabriel-Bergen gesehen habe, unter dem zahlreiche Flaschen und Fässer mit Trankzutaten oder fertigen Tränken zu finden waren und wo Schwester Naomi das Archiv leitete. „Ich wusste nichts von dem Lager“, sagte die wieder aufgeweckte Hexe. „Hast du das in meinem Bewusstsein versteckt, höchste Schwester?“
„Nicht in deinem, Schwester Portia. Aber in dem deines Ebenbildes, dass ich von dir erschaffen und mit einem Wissensträger am Ursprung jeden Lebens ausgestattet habe, so dass sie alles von mir für wichtig gehaltene wusste und zugleich in ihrem Geist verbarg, solange sie den Wissensträger in sich trug. Tja, den haben ihr diese übereifrigen, fanatischen Unschwestern weggenommen, wohl weil sie dachten, es sei eine Vernichtungsvorrichtung wie bei Ladonna Montefiori. Aber jetzt gilt es, die Entscheidung zu finden, die diese Kanallie so dringend sucht.“
„Dann willst du mit ihr kämpfen?“ wollte Portia Weaver wissen.
„Ich wollte das nicht. Sie will mit mir kämpfen, weil sie mich für das Heilmittel hält, ihre schwere Seelenwunde zu kurieren, die ihr Ladonna zugefügt hat. Gut, sie soll ihr Heil kriegen, aber nach meinem Rezept“, bekräftigte die höchste Spinnenschwester.
Sie weckte mehrere Dutzend ihrer hier untergebrachten Schwestern auf und wies sie an, sich in voller Verhüllung zu jener Stelle zu begeben, wo bald wohl eine große Streitmacht der PSP-Anhänger auftauchen musste. Die Gelegenheit, diese zu entmachten durften sie sich nicht entgehen lassen. „Nur jene töten, die ausschließlich mit dem Todesfluch angreifen!“ befahl sie ihren aufgeweckten Schwestern. Dann rückten sie aus, alle in weißen Kapuzenumhängen. Nur die Anführerin trug ihr scharlachrotes Kostüm. Portia sollte mit den weniger kampferfahrenen Schwestern weiter in Tyches Refugium verbleiben.
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Die hundert Mitstreiter flogen in Zehnergruppen aus verschiedenen Richtungen auf die San-Gabriel-Berge zu. Die Sonne stand bereits tief im Westen über dem Horizont. Alle hier wussten, dass sie jederzeit mit einem Angriff von unten rechnen mussten. Tatsächlich konnten die ausgerückten PSP-Kämpfer eine Zone starker Magie entdecken, ein Geflecht aus Abwehrzaubern, das sich um einen scheinbaren Berggipfel erstreckte. Die zehn Besengruppen flogen auf das Zentrum dieser Abwehrzauber zu und bildeten kleinere Untereinheiten, um auf verschiedene Weise gegen diese Abwehrmagie anzukämpfen. Die Luft begann zu flimmern, der Boden begann sich zu verformen. Felsen glommen in einem magischen Violett. Dann zuckten Entladungen aus unsichtbarer Quelle und schlugen auf die anfliegenden zurück. „Spinnenhexen, wir wissen, dass ihr dort unten seid. „Entkommen ist unmöglich. Wir haben bereits einen Ring aus Locattractus-Steinen aufgebaut und werden jede Flucht auf einem Besen unterbinden!“ rief die Anführerin, die auf einem Bronco Millennium saß und einen sonnengelben Umhang mit eingewirkten Schildzaubern trug.
Niemand reagierte auf die Ankündigung. Es schien, als seien nur die Abwehrzauber an diesem Ort. Als die Angreifer noch versuchten, einen Arrestdom zu errichten mussten sie feststellen, dass die Abwehrzauber zu weit ausgriffen, um einen stabilen Dom zu bauen. Also galt es, die Abwehr niederzukämpfen und dann in die Kavernen und Stollen vorzudringen, die der Spinnenorden wohl schon vor Jahren dort unten gegraben hatte.
Die, die mit Ausgrabungszaubern am besten vertraut sind versuchen, von außerhalb unter der Abwehr durchzukommen“, schickte Atalanta Bullhorn alias PSP-Alpha eine Generalanweisung über die Vocamicus-Verbindung zu ihren Untertruppenführern.
So begann um kurz nach neun Uhr abends am 24. Juni die entscheidende Auseinandersetzung zwischen derSonne der Reinheit und dem Netz der schwarzen Spinne.
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„Magische Turbulenzen in den San-Gabriel-Bergen“, meldete ein Überwacher der Zaubererweltadministration Kalifornien. Sofort rückten zwanzig Beobachter auf Harvey-8-Besen aus, um nach der Ursache der Turbulenzen zu suchen. Sie rechneten mit allem, mit einem neuen Aufstand der Regionalisten, einer Schlacht zwischen verfeindeten Orden oder dem Versuch, einen großen Zauber auszulösen, um sich mehr Macht zu verschaffen. Als sie dann in die Gegend vordrangen, wo die Turbulenzen verzeichnet wurden, sahen sie schon von weitem das Blitzen, Flackern, Glühen und flirren. Sie meldeten weiter, was sie sahen und erhielten den Auftrag, nur zu beobachten. „Das ist die Entscheidung zwischen Bullhorns Paranoiaarmee und einem der von ihm aufgescheuchten Wespenschwärme“, bemerkte Fornax Hammersmith dazu. „Erst warten, wie es ausgeht. Dann einsammeln, wer übrig ist!“ gab er noch aus.
„Im Moment kämpfen hier nur hundert Leute gegen ein Aufgebot an Abwehrzaubern und versuchen, diese mit Einschließungszaubern einzudämmen“, meldete der Anführer der Beobachtertruppe weiter. „Dann gibt es da unten wohl ein geheimes Versteck. Wie gesagt, abwarten, beobachten und erst nach der Entscheidung auflesen, was übrig ist!“
„Gerade erscheinen zehn, zwölf, nein zwanzig schwarze Spiegel. Hmm, aber die anderen kontern wohl gleich mit den einzig wirkenden Gegenzaubern und … Oi, haben dabei eine Art magischer Aufschaukelung ausgelöst. Zwanzig der hundert wurden von einer blauen Druckwelle zurückgeschleudert“, berichtete der Truppenführer. Dann meldete er: „Achtung, Enthüllungsfächer!“ Doch da reagierten die unsichtbar machenden Besen bereits mit einem Ausweichmanöver. Drei von ihnen gelang dieses jedoch nicht schnell genug. Unter starker Hitzeentwicklung und wildem silbernen Flackern wurden sie und die darauf sitzenden sichtbar.
„Rückzug! Rückzug! Rückzug!“ befahl der Truppenführer, als gleich drei Zehnergruppen in heller Gewandung anflogen, Hexen und Zauberer. Die unsichtbaren Beobachter, die nur einmal nachsehen wollten was hier eigentlich los war mussten sich entscheiden, ob sie fliehen oder kämpfen wollten. Wegen der unzureichenden Manövrierfähigkeit selbst der neuen Tarnbesen und der Übermacht der entschlossenen Angreifer entschieden sie sich für die Flucht. Zwar zogen sie damit einen Gutteil der zum Sturm angetretenen Zauberer und Hexen hinter sich her. Doch die Hauptwucht blieb am ermittelten Zentrum starker Abwehrzauber. Erst als die unsichtbar gebliebenen Beobachter mehr als fünf Kilometer weit fort waren ließen die ihnen nachsetzenden von ihnen ab.
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Atalanta Bullhorn war außer sich, als sie erfuhr, dass vier Zehnerpulks ein paar unsichtbare Besenreiter gejagt hatten. „Das waren sicher welche von den Hammersmiths aus Viento del Sol, die nachsehen wollten, was hier vor sich geht. Ihr hättet sie nur enttarnen und sichtbar halten müssen, mehr nicht. Aber wir haben einen Felsen, der scheint der Fokus der hier verflochtenen Abwehrzauber zu sein. Also alle wieder herkommen!“
„Schon Feindberührung?“ wollte jemand wissen. „Der Feind oder besser die Feindinnen sind unter der Erde und wollen uns mit ihren Abwehrzaubern hinhalten, um sich zu formieren. Aber wir werden die Ratten aus ihren Löchern herausjagen oder ausräuchern.“
„PSP-Alpha, bitte bedenken Sie, dass die auch Sprengfallen dort unten haben können.“
„Warnung notiert“, erwiderte PSP-Alpha. Dann stürzte sie sich weiter in den Kampf um den Zugang.
Währenddessen gruben sich zwanzig versierte Erdzauberspezialisten von außerhalb der festgelegten Absperrzone nach unten durch. Laut PSP-Alpha und ihren drei Assistentinnen sollte das Hauptlager in einer Höhle knapp 200 Meter unter der Oberfläche des Hochplateaus sein. Vielleicht gelang es, die Feindinnen von unten her zu überraschen, wenn sie wie aus dem Boden brechende Riesenregenwürmer in die gesicherten Stollen und Höhlen vorstießen.
Vor lauter Erregung, die lange erwartete Zwischenentscheidung erkämpfen zu können bedachte Atalanta nicht, dass das ihr nach der Rückkehr aus Ladonnas Rosengarten wieder aufgeprägte Geistesschutzritual nur Angriffe auf den eigenen Willen und das Gedächtnis vereitelte. Doch wer fähig war, fremde Gedanken zu hören und Gefühle anderer wie die eigenen zu empfinden vermochte weiterhin zu erfahren, was in ihr vorging. Okklumentieren hieß immer, keine Kraft für andere wichtige Dinge bereitzuhaben.
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Anthelia/Naaneavargia saß mit dreien der mit ihr ausgerückten Schwestern in der tiefsten Kaverne. Eigentlich hatte sie dieses Höhlensystem nur als Übungsstätte eingerichtet, um ihre neuen Mitschwestern auszubilden. Viel mehr als in Kristalle und Felsbrocken gebannte Abwehrzauber gab es hier nicht. Doch Anthelia hatte einen Ring aus Erdzauberumlenkern eingerichtet, der Ausgrabungs-, Aufweichungs- oder gar Erdbebenzauber von diesen Höhlen ablenkte und irgendwo nach unten oder in eine der Himmelsrichtungen abstrahlte. Ihr war bewusst, dass Kalifornien ein hochempfindliches Gefüge unterirdischer Spalten, Gräben und Brüche war und dass es immer wieder zu kleinen Beben kam. Sie wusste deshalb auch, dass jede überstark abgeleitete Erdmagie ein großes oder gar schweres Beben auslösen konnte. Daher war sie sofort aufmerksam, als gleich aus zwanzig Richtungen tief unter ihr Erdzauber gegen diese Absicherung prallten. Ausgrabezauber, wie sie am „Gesang der großen Mutter“ herausfinden konnte. Die wollten sich also von unten an sie heranwühlen wie die Maulwürfe, an sie, eine Großmeisterin der Erdmagie. Die würden sich umgucken, wenn sie mit ihren Buddelzaubern weit ab vom Geschehen landeten. Doch weiter oben entstanden nach den konservierten schwarzen Spiegeln und ihrer viel zu vorhersehbaren Brechung mit einfachen Heilzaubern erste Durchlässe in der Abwehr. Das Felsplateau und damit der natürliche Zugang in die Tiefen Höhlen war das Ziel der Angreifer. Denn so hatte es Atalanta Bullhorn sicher in den aufgepfropften und durch den Schutzrubin fest mit dem Gedächtnis des Ebenbildes von Portia Weaver verbundenen Bildern und Standorterwähnungen gesehen. Hier wollte Anthelia ihre neue Widersacherin zum Entscheidungskampf stellen. Es war nicht ihre Absicht sie zu töten. Doch vielleicht kam sie nicht darum herum.
„Höchste Schwester, die Feinde rücken näher. Sie haben zwei große Breschen geschlagen. Sollen wir sie zurücktreiben?“ fragte Schwester Gladys über den Vocamicus-Zauber. Denn Mentiloquieren ging wegen der von den Feinden mitgeführten Störkristalle gerade nicht.
„Lasst sie reinkommen und testet deren Abwehr gegen Schlafdunst. Falls sie dagegen geschützt sind macht hinter ihnen die Türen wieder zu, wie ich es euch gezeigt habe!“ erwiderte Anthelia.
„Werden die nicht langsam argwöhnisch, weil die bisher nur gegen stationierte Zauber gekämpft haben?“ fragte Schwester Melonia, die bei Anthelia war.
„Im Gegenteil. Weil sie diese Zauber niederkämpfen müssen gehen sie davon aus, dass unter dem Berg das ganz große Waffenlager von uns zu finden ist. Ah, die große Tochter der reinen Sonne ist in unserer Nähe“, spottete Anthelia. Sie hörte Atalantas Gedanken, auch wenn diese ihr merkwürdig Dumpf erschienen, als wenn sie nicht die Herrin ihres eigenen Willens wäre. Dann erkannte Anthelia, dass dies wohl jenes druidische Ritual war, mit dem die Inobskuratoren sich gegen geistige Zugriffe sichern konnten. Doch dagegen hatte Ladonna eine reine Körperverwandlung eingesetzt, um das für die Wirkung unbedingt im Fluss zu haltende Blut zu stoppen, ohne die Trägerin zu töten. Was Ladonna nicht mehr mitbekommen hatte war, dass Sardonia und damit auch Anthelia einen großflächigen Zauber erlernt hatten, um die Träger dieses Schutzes zurückzutreiben, gerade weil deren eigener Wille beschützt wurde.
„Gleich werden wir eine wichtige Erkenntnis gewinnenund hoffentlich auch an unsere Gegner weitergeben“, kündigte Anthelia an. Dann zog sie einen kleinen silbernen Dolch frei und ritzte sich damit die linke Handfläche auf. Sie legte die blutende Hand gegen eine besondere Stelle in der Wand im Osten. Dann sang sie in altkeltischer Sprache eine Litanei herunter, die ihre Blutgabe an die große Göttin der Erde dazu befähigte, alle zurückzutreiben, die den Ruf des Blutes nicht in ihrem Geiste hören konnten. Diese Anrufung wiederholte sie an einer Wand im Süden, im Westen und im Norden. Dann sprach sie die keltische Formel für sofortige Erfüllung aus und tippte mit dem Zauberstab auf den Schnittpunkt aller geraden Linien, die sich zwischen den von Antelia berührten Stellen bilden ließen. Der Boden erbebte kurz. Die Höhlendecke nahm für drei Atemzüge einen rot-grünen Farbton an. Dann war alles wieder wie vorher.
„Ui, was war das. Ich meinte, einen lauten tierhaften Aufschrei gehört zu haben“, sagte Melonia. Anthelia nickte. „Ja, der Aufschrei der erzürnten Erdmutter, wenngleich hier keine Gottheit als solche, sondern die Gesamtheit des in der Erde wachsenden Lebens gemeint ist. Ah, ihr hättet die Schlachten Sardonias studieren sollen. Dann wüsstet ihr, was euch soeben ereilt“, spöttelte Anthelia. Melonia wollte wissen, was die höchste Schwester meinte. Diese reichte ihr die Hand und dachte eine Zauberformel der Sinnesteilung. So konnte Melonia nun die aufgeregten Gedanken der immer weiter zurückgetriebenen hören.
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Es war wie eine wütende Sturmböe der höchsten Windstärke, als die vorrückenden PSP-Mitglieder unvermittelt von einer flirrenden Kraft zurückgeworfen wurden. Jene, die am Boden gegen die Abwehrzauber kämpften wurden regelrecht von den Beinen gerissen und wie an unsichtbaren Stricken durch die Luft gezogen und weit außerhalb des festgelegten Absperrkreises wieder abgesetzt. Ja, und als sie versuchten, ihn wieder zu betreten war es, als müssten sie gegen eine unsichtbare Mauer laufen. Auch Atalanta Bullhorn geriet in diesen Rückprellzauber hinein. Doch sie merkte, dass die Hauptwucht der Kraft in ihren Kopf hineindrängte. Da erkannte sie, dass es eine Abstoßung zweier artverwandter Zauber war. Dieses Spinnengezücht hatte eine verdammt geniale Methode erfunden oder gefunden, jene mit demselben Zauber belegte Gegner auf einmal zurückzuwerfen. Der einzige Zauber, den alle hier gemein hatten war das druidische Geistesschutzritual. Das erkannte sie erst, als sie mehr als eine Meile von ihrer bisherigen Stellung entfernt war. Sie versuchte sofort, mit dem Besen in den bereits geschwächten Absperrbereich einzufliegen. Doch es war ihr, als wolle jemand sie an Kopf und Oberkörper mit Macht zurückwerfen. Ihr Besen konnte nicht weiter vorwärts, weil er nach hinten überkippte und dann in Rückenlage in die Gegenrichtung davonjagte. Da wurde ihr klar, warum sich die Spinnenschwestern so sicher waren, dass ihnen niemand auf die Pelle rücken konnte. Sie hatten einen Zauber gegen die Inobskuratoren zur Hand. Dann wusste Atalanta auch, welche das waren. „Durchzählen!“ rief sie, nachdem sie sich zum drittenmal vergeblich gegen die Abweisung gestemmt hatte. Von ihren oberirdisch verbliebenen Leuten gab es noch alle achtzig, sie eingeschlossen. „Zehn brauche ich. Freiwillige vor!“ Aus der Menge traten dreißig hervor. Sie zählte noch einmal jeden dritten aus und winkte ihn oder sie nach vorne. Dann befahl sie den verbliebenen: „Verwandelt uns für eine halbe Minute in, öhm, Sofakissen und dann wieder zurück!“
Die Angesprochenen verzogen ihre Gesichter. Dann erklärte Atalanta, was ihr eingefallen war und warum es wohl auch möglich gewesen war, die Mitstreiter Mellow und Riverbottom zu überwältigen.
Atalanta ließ den Rest der Truppe Sichtschirme aufspannen. Die Feindinnen mussten das nicht miterleben. Am Ende sprangen sie noch hervor, riefen „April April!“ und belegten alle Verwandelten mit dem Inhibitus-Mutatus-Zauber. Sie wusste, wie heftig sie sich gerade ihrem größten Seelenschmerz stellte. Denn so ähnlich hatte Ladonna Montefiori sie überwältigt und ihr alle wichtigen Geheimnisse der nordamerikanischen Föderation entrissen.
Die nächsten drei Minuten waren die bisher angespanntesten. Dann, als die von Atalanta bestimmten Freiwilligen und sie für dreißig Sekunden geblümte Sofakissen gewesen waren, vermochten sie wahrhaftig über eine laut röhrende Linie hinweg in das Feindesgebiet zurückzukehren. „“Wir gehen nun mit maximaler Durchschlagskraft an die Sache heran, bevor denen da unten noch was neues oder scheinbar längst vergessenes wieder einfällt“, knurrte Atalanta Bullhorn. Dann kombinierten sie ihre Durchschlagszauber und schufen sogar eine Resonanz miteinander verwobener Abwehrzauber. Es dauerte nur noch eine Minute, da barsten die äußeren Ankergegenstände der Abwehrzauber. Das flirrende Plateau strahlte kurz auf. Dann lag es scheinbar natürlich und unberührt vor ihnen. „Von dem Plateau aus geht es in die unterirdischen Lager!“ rief Atalanta Bullhorn und trieb die zehn, die sie ausgewählt hatte zu höherer Geschwindigkeit an. Dann sah sie, wie sich in dem Plateau eine senkrechte Spalte auftat die breier und länger wurde. Dann sah sie an die zwanzig Lichtpunkte, die aus der Tiefe dieses Spaltes hervorschienen. Sie hatten die Feindeshöhle gefunden.
„Wir schaffen das, aber nun auf jeden Geisteszauber achten, nicht beeinflussen lassen!“ befahl sie. Dann flogen sie vorwärts auf die Höhle zu, wobei sie sich bereits in Zauberschilde einhüllten.
Die Lichter in der Höhle rückten ebenfalls vor. Dann brachen sie wie ausschwärmende Hornissen hervor, zwanzig, nein dreißig, nein vierzig Hexen auf fliegenden Besen in weißen Umhängen. Sie stürmten auf die zehn los, die sofort versuchten, sie mit Schockzaubern zu treffen. Doch die Schocker und Lähmzauber durchflogen die vierzig Besenreiterinnen wie Rauch und Nebel. Da wusste Atalanta, dass sie einer Illusion aufsaßen, dem Plurimagines-Zauber. Eine da unten hatte von sich vierzig Ebenbilder aus reinem Licht und leerer Luft erzeugt, die alle scheinbar eigenständig umherfliegen und mit Lichterzaubern um sich blitzen und funkeln konnten. Sofort zauberte sie den Blick für die Wirklichkeit, mit dem Illusionen durchdrungen werden konnten, ohne sie gleich aufzuheben. Ihre zehn Begleiter taten es ihr nach.
Nun sahen sie, dass es nur eine einzige Hexe in Weiß mit einem leuchtenden Zauberstab gab und flogen durch die ihnen entgegenstürmenden Bilder auf diese zu. Da tauchte genau vor ihr aus dem Boden eine Hexe in scharlachrotem Kostüm auf. Atalanta erkannte sie sofort. Nach ihr wurde ja immer noch gefahndet.
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Irgendwann musste der Tag oder besser die hereinbrechende Nacht kommen, wo sie beide sich begegneten, dachte Anthelia. Als sie Atalanta Bullhorn vor sich sah und ihr Erstaunen über Anthelias Erscheinen aus der Erde fühlte wusste sie, dass die Entscheidung in weniger als fünf Minuten fallen würde. Zweikampf oder Gruppenscharmützel? Das waren die einzigen beiden Fragen. Anthelia machte sich dabei keine Sorgen um sich selbst, sondern um ihre Hexenschwestern, die in der Höhle warteten, ob sie in den unmittelbaren Kampf gehen mussten oder nicht.
„Verdammtes Weib!“ spie ihr Atalanta entgegen. „Endlich habe ich dich vor mir. Du bist verhaftet, höchste Schwester der schwarzen Spinne! Und komm nicht drauf, dich zu verwandeln und mich als Spinne anzugreifen. Du würdest es sehr bitter bereuen.“
„Ach, weil ihr mal gehört habt, dass Spinnen keine Kälte vertragen und deine Leute darauf eingeschworen wurden, mich mit Vereisungszaubern anzugreifen, wenn ich meine Kampfgestalt annehme?“ fragte Anthelia. „Abgesehen davon gefällt mir meine Erscheinung so wie ich jetzt bin immer noch am besten. Außerdem darfst du mich nicht verhaften, mein Zauberröschen. Du bist gar nicht dazu berechtigt. Beide MAKUSA-Kandidaten haben deinen Sonnenorden für rechtswidrig erklärt.“
„Wage es, mich zu beleidigen und erleide alles, was seit Jahren auf deinem Konto angefallen ist, Spinnenschwester“, knurrte Atalanta.
„Wie erwähnt, ihr dürft weder mich noch meine treuen Mitschwestern verhaften. Nach euch wird doch selbst schon gefahndet. Ströme der Erde haben mir zugeraunt, dass Eileithyia Greensporn, die deiner Großmutter auf die Welt half, dich in ihrer Heilstätte sehen möchte, weil sie Angst hat, du könntest vor lauter Wut auf eine, die nicht mehr da ist, alle anderen Hexen umbringen. Ja, und falls du auch nur eine von denen umgebracht hast, die du fangen konntest bist du nicht besser als ich, sondern nur auf einem anderen, wesentlich schlingerndem Weg unterwegs.“
„Wie heißt du eigentlich, damit ich den Namen in das Protokoll schreiben kann“, sagte Atalanta, während die mit ihr angerückten ihre Zauberstäbe ausrichteten.
„Ich habe Antehlias Stellung und damit auch ihren Namen geerbt. Aber das wisst ihr Schattenjäger doch schon längst“, sagte Anthelia/Naaneavargia.
„Du bist nicht Sardonias Nichte“, knurrte Atalanta. „Und du bist nicht die Kommandantin der vereinten Schutztruppen der US-Zaubererwelt, Zauberröschen“, entgegnete die höchste Spinnenschwester. Wieder genoss sie, wie Atalanta unter dieser Bezeichnung zusammenzuckte und für eine Sekunde keinen klaren Gedanken fassen konnte. „In den Staaten gilt auch das Recht, einen Missetäter oder eine Missetäterin festzunehmen und ihn oder sie den Behörden zu übergeben“, erwiderte Atalanta.
„Ui, danke für die Rechtsbelehrung. Dann dürfte ich ja dich festnehmen, weil du Annabella Greywater auf dem Gewissen hast. War eine nette Idee mit dem Simulacrum. Aber jetzt sind Annabellas Verwandte erst recht wütend auf dich. Ja, dich, Atalanta Bullhorn, einstige Hoffnungsträgerin der nordamerikanischen Zaubererwelt.“
„Weißt du was, Flittchen, mir würde es auch gut gefallen, wenn du im Flug vom Besen fällst und auf einem der Berge da um uns zerschellst. Wer würde dir noch eine Träne nachweinen?“
„Du, weil du dann ja keine mehr hättest, auf die du all deinen aus verdrängter Selbstverachtung entzündeten Hass abladen könntest“, sagte Anthelia. „Abgesehen davon müsstest du ja dann einen Beweis vorlegen, dass du es warst, die mich besiegt hat. Die ganzen Leute da bei dir sind zu befangen, als als glaubhafte Zeugen zu gelten. Abgesehen davon hast du zu viele von unseren Schwestern einkassiert und nicht mehr freigelassen oder womöglich getötet, als dass du und deine Leute dafür Lob und Anerkennung ernten werden. Ich weiß das selbst aus eigener Erfahrung, dass Abneigung jeden Dank überlagert. Immerhin habe ich die Schlangenmenschenbrut davon abgehalten, Amerika zu verpesten, ebenso die Nachzügler in Australien. Man hat es mir nicht gedankt, weil man nicht mit meinen dazu nötigen Methoden einverstanden war. Ja, und wenn du dir immer noch einredest, dass deine Moral höher steht als meine Entschlossenheit weise ich dich darauf hin, dass du meine Schwester Portia Weaver getötet hast, um mich hier aufzuspüren. Du gehst genauso über Leichen wie ich, um dein Ziel zu erreichen. Außerdem hast du schon meinen Tod beschlossen, um mich als Trophäe durch New York zu tragen. Hmm, möchtest du auch Confetti dabei haben, Zauberröschen?“
Atalanta fuchtelte einmal wild mit dem Zauberstab und schoss eine Wolke grüner Funken heraus, die weit über Anthelia hinwegflog. Dann griff sie ohne weitere Vorwarnung an.
Anthelia blieb einfach stehen, als der Schockzauber sie traf. Dann konterte sie mit einem Mondlichthammer. Atalanta parierte diesen mit der Neumondsphäre. Dann feuerte sie in schneller Folge Körperverunstaltungsflüche ab. Doch Anthelia hielt immer passgenau dagegen und ließ Atalantas in die Kleidung eingewirkten Schildzauber mehrmals aufglühen. Rings um die beiden nun im offenen Duell stehenden Hexen platzte der Boden auf, schossen Dampffontänen in den Himmel oder entluden sich Funken. Die Mitstreiter Atalantas hielten sich noch zurück. Dabei hätten sie eigentlich gleich mit aller Macht auf die eine Kämpferin einfluchen können. Doch die Selbstsicherheit, mit der die makellos schöne Hexe in Scharlachrot sich dieser Übermacht ausgeliefert hatte und mit welcher Zielsicherheit sie Atalanta in dieses Duell hineinprovoziert hatte gaben den sonst so wagemutigen Kämpfern zu denken. Auch hatten Anthelias Worte von der Unmoral, einfach Hexen ohne Gerichtsverhandlung oder geltendem Recht festzunehmen und gefangenzuhalten ihre Wirkung getan. Die einzige, die in diesem Augenblick noch immer davon überzeugt war, das einzig richtige zu tun und dabei keine Rücksicht auf Recht und Anstand nehmen zu dürfen war jene, die nun alleine gegen die scharlachrote Hexe kämpfte.
Das Duell nahm noch mehr Tempo auf. Flüche und Gegenflüche folgten fast schneller als sie auszusprechen oder zu denken waren. Immer noch konterte Atalantas Feindin jeden von dieser geschleuderten zauber und prellte ihn sogar fast auf die Absenderin zurück. Atalanta merkte, dass sie das so nicht länger durchstehen konnte. Doch sie wagte es nicht, nach hinten zu rufen, dass man ihr beistehen solle. Das war ihre ganz persönliche Angelegenheit.
Das Anthelia nicht völlig leichtfertig in dieses Duell gegangen war zeigte sich, als zwei der zehn im Hintergrund stehenden PSP-Kämpfer ihre Zauberstäbe auf sie einschwänkten und unvermittelt in einer blauen Lichtsäule steckten. Ehe die anderen noch begriffen, wie jemand unsichtbares ihre Schildzauber überwunden und sie eingeschlossen hatte gerieten sie ebenfalls in den Bann von Célestrias Säule. Jeder von Atalantas Mitstreiter hatte während des Wortgefechtes zwischen Anthelia und Atalanta eine unsichtbare Gegnerin zugeteilt bekommen. Da sie nur auf das Durchblicken von Illusionen abgestimmt gewesen waren hatten sie ihre direkten Gegenspielerinnen nicht gesehen.
Das Duell zwischen Atalanta und Anthelia trieb nun dem Höhepunkt zu. Sie beharkten einander mit wirklich üblen Körperverunstaltungsflüchen. Dann hatte Atalanta die Nase voll und rief „Crucio!“ Der unverzeihliche Folterfluch schlug unsichtbar auf Anthelia über und zerstob in einer flirrenden grünen Aufa. Wie konnte die den von sich ablenken. Doch nun war die letzte Linie überschritten. Atalanta rief die zwei geächteten Worte: „Avada Kedavra!“
In dem Moment, wo sie das zweite der verbotenen Worte rief verwandelte sich die Gegnerin in ihre schwarze Spinnenform. Der grüne Todesblitz prallte mit scharfem Knall auf den halbrunden, behaarten Körper und zerstob in grünen Funken. Atalanta starrte auf das monströse Tier, dass einer Urwelt entsprungen zu sein schien. Es stimmte, etwas zu lesen, es erzählt zu bekommen oder es persönlich zu sehen waren immer ganz unterschiedliche Erfahrungen. Sie hoffte darauf, dass ihre Mitstreiter sofort mit Vereisungszaubern aushalfen. Doch als das nachtschwarze Ungeheuer mit den vielen auf sie gerichteten Augen und den leicht bebenden behaarten Beinen immer noch vor ihr hockte, als wolle sie sie gleich anspringen wusste Atalanta, dass sie in eine weitere Falle der Unseligen getappt war. „Na, wo ssind deine heroischschschen Mitsstreiterr?“ zischte die schwarze Spinne ihrer fast selbst wie eine Säule starren Gegnerin zu. „Sieh dich um, kratzzzzbürssstige Schschschwessster!“ fauchte das achtbeinige Ungeheuer.
Atalanta sah sich um. Keiner ihrer Mitstreiter konnte sich frei bewegen. Hexen oder Zauberer. Sie alle standen in Célestrias Säulen eingeschlossen da. Jemand musste das Duell genutzt haben, um sich im Schutze von Unsichtbarkeit und womöglich der verruchten Lebensaurenverdunkelung an ihre Leute herangeschlichen und sie einfach so handlungsunfähig gemacht haben. Ihr wurde klar, dass man ihre Leute auch hinterrücks hätte töten können.
„Komm, Röschen, bringen wir es zu Ende“, hörte Atalanta die Stimme Anthelias wieder. Sie fuhr herum und sah, dass die Spinne wieder zur überirdisch schönen Hexe geworden war. Die Schöne und das Biest in einer einzigen Person vereint, wie es sonst Werwölfen oder den Succubi zugestanden wurde. Gewissermaßen war dieses Unweib da ja auch eine Wergestaltige, die beliebig ihre Gestalt wechseln konnte und zu allem Verdruss wahrhaftig immun gegen den tödlichen Fluch war. jetzt stand sie wieder in ihrer überragenden Frauengestalt im bei Licht scharlachroten Kostüm vor ihr, den mittlerweile legendären silbergrauen Zauberstab zum Gruß oder zum nächsten Fluch erhoben.
„Dann eben so!“ rief Atalanta und zielte nicht auf Anthelia, sondern auf den Boden zwishen ihren Füßen. „Confringo Maxima!“ stieß sie hasserfüllt aus. Ein Blitz schlug aus ihrem Zauberstab, traf den Boden und zerstob mit kurzem Knistern. „Du wolltest mir ernsthaft einen Sprengzauber zwischen meine Füße jagen?“ fragte Anthelia verdrossen. Dann schickte sie gleich drei Flüche in Serie auf Atalanta. Ihr Schild erglühte heftig. Sie fühlte, wie ihre Kleidung erbebte und Wellen warf. Dabei übersah sie den flachen Stein, der wie von unsichtbarer Hand aufgehoben auf sie zuflog und mit seiner scharfkantigen Spitze ihren Umhang aufschlitzte, bevor er wie ein Geschoss davonraste. Atalanta Bullhorn erkannte erst, was passiert war, als ihr magischer Schild unter dem nächsten Fluch Antehlias zerbarst und ihr Umhang dabei noch weiter auseinanderklaffte. Ihr eingewirkter Schutz war vergangen. Fast in jeder Bedeutung nackt stand sie nun der anderen gegenüber. Doch noch konnte sie selbst Schildzauber wirken. Sie wehrte damit Anthelias nächste Attacken ab, Bis ein Entwaffnungsfluch ihren Zauberstab traf und davonschleuderte. Jetzt war sie nicht nur schutz-, sondern auch wehrlos.
„Ich könnte dir nun vor deinen gerade handlungsunfähigen Leuten befehlen, dich vor mir hinzuknien und mich um Gnade anzuflehen“, sagte Anthelia ohne sichtbare Spur von Überlegenheit. „Aber da ich mit widersetzlichen Schwestern nur wenig Gnade übe und du ja selbst nicht weißt, was das ist lassen wir das weg.“
„Du hast mich hereingelegt, du Miststück. Du hast einen Stein bezaubert, meinen Umhang aufzuschlitzen und dabei wichtige Schildrunen zu zerschneiden. also, was willst du jetzt tun, mich töten oder mich deinen Schwestern ausliefern. Denn an die Behörden wirst du mich sicher nicht ausliefern. Ich weiß zu viel über deine Mitschwestern und werde es denen mitteilen, und nur solange ich lebe können meine Mitkämpfer noch in das Hauptquartier hinein, um deine dort gefangenen Schwestern zu betreuen.“
„Stimmt, solange du lebst. Also lasse ich dich leben, lange genug, um deinen Mitstreitern die Wahl zu lassen, ob sie weiterhin deinem irrsinnigen Weg folgen oder nicht doch lieber wieder zum Schutz der Unschuldigen bereitstehen, mein Zauberröschen“, zischte Anthelia fast zu leise für Atalantas Ohren. Dann vollführte sie eine blitzartige Zauberstabbewegung. Atalanta wollte zur Seite springen, um dem Zauber auszuweichen. Doch Anthelia hatte ihren Fluchtsprung zu gut vorhergesehen. Als ein violetter Blitz aus dem Zauberstab schlug traf er Atalanta Bullhorn mitten im Seitwärtsflug. Ihr Körper strahlte im magischen Licht und wurde weißgolden. Dann schrumpfte er in nur einer Sekunde auf die Länge eines Unterarmes zusammen. Atalanta Bullhorn fiel auf den Boden. Doch sie hatte keine Füße mehr, keine Arme und keinen Kopf. Auf dem Boden lag eine langstilige Rose mit im schwachen Licht von Célestrias Säule hell schimmernden Blütenkelch. Dann erstrahlte Anthelias Zauberstabspitze im weißen Licht. Jetzt konnte jeder und jede hier sehen, dass es eine Rose mit goldgelbem Blütenkelch war. „Du hättest einfach nur wie alle anderen Betroffenen um heilende Hilfe bitten müssen, Atalanta!“ sagte Anthelia. Die langstielige Rose stieg von unsichtbarer Kraft geführt vom Boden und flog in Anthelias freie Hand. Anthelia hielt sich den Zauberstab an die Kehle und wisperte: „Sonorus!“ Dann rief sie mit weithin und deutlich verständlicher Stimme:
„Schwestern, gebt diese leichtfertig hinter ihr hergelaufenen wieder frei, damit sie unsere und die Schwestern anderer Gemeinschaften wieder freigeben, sofern diese noch leben. Sie hier behalte ich solange als Unterpfand, bis alle gefangenen Hexen wieder frei und unversehrt sind. Bis morgen sollte dies vollbracht sein. Ansonsten bleibt sie da mein ganzes Leben in meinem Garten eingepflanzt. Gehabt euch wohl!“
Mit diesen Worten disapparierte Anthelia mit der erneut verwandelten Atalanta Bullhorn. Unsichtbare Hände berührten die in Célestrias Säule gefangenen Mitstreiter von PSP-Alpha. „Ihr habt sie gehört“, rief eine der Hexen aus dem Unsichtbaren. Dann standen die ehemaligen Inobskuratoren und PSP-Kämpfer frei von jeder Fesselung auf dem Plateau.
„Haben wir das gerade erlebt oder geträumt?“ fragte einer der ehemaligen Mitstreiter Bullhorns. Doch weil Bullhorns aufgerissener Umhang und ihr Zauberstab auf dem Boden lagen glaubte niemand, geträumt zu haben.
Es schwirrte in der Luft. Erst unsichtbare und dann an die fünfzig sichtbare Besen rauschten heran. Auf jedem saß mindestens ein Sicherheitszauberer. Die Überlebenden der Schlacht auf den San-Gabriel-Bergen ließen sich nun ohne Widerstand entwaffnen und festnehmen. Da jedoch drei der auf den unsichbaren Besen fliegenden Anthelias letzte Forderung gehört hatten und mit seinem Superomniglas auch den Kampf der zwei erbitterten Feindinnen beobachtet hatten wurde festgelegt, dass die Gefangenen zur Milderung der zu erwartenden Strafe in das HQ PSP geschickt wurden, um die dort in Tiefschlaf gefangenen Hexen zu wecken und freizulassen.
„Bedenken Sie, dass es keinen Zweck hat unterzutauchen. Wir wissen jetzt, wer Sie alle sind“, sagte einer der Sicherheitszauberer.
Wenige Minuten später war das Plateau fast menschenleer. Nur fünf Zauberer aus Viento del Sol waren noch da. Sie untersuchten den Einstieg zu den Berghöhlen und erkundeten die hier noch wirkenden Zauber. Dabei kam heraus, dass es ausschließlich mächtige Erdmagie war, deren Aufruf jedoch nicht in der kurzen Zeit ermittelt werden konnte. Als die Zauberer eine Kammer betraten, in der zwanzig schwebende Kerzen leuchteten fanden Sie einen Zettel auf einem Stein, der fast so geformt war wie eine weibliche Brust. Fornax Hammersmith, der die Untersuchungsgruppe leitete las den Text leise und gab den Brief weiter. Alle die ihn lasen verzogen ihre Gesichter. Doch keiner wagte zu murren oder gar zu lachen, bevor nicht alle wieder aus dem Höhlensystem heraus waren.
An jene Zauberer, die es wagen, in die Übungshallen meiner Schwestern einzutreten nur so viel: Außer einer euch unverständlichen Form von bezauberten Steinen, die mit großer Erdmagie erfüllt sind, ist nicht mehr in den Höhlen zu finden. Da sie nun bekannt sind erfüllen Sie auch keinen weiteren Zweck mehr für mich. Viel Spaß damit!
Die schwarze Spinne
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Die Nachricht über das Hexenduell in den San-GabrielBergen und die Rückkehr der gefangenen Hexen ging durch alle Medien der Staaten, sowie die Temps de Liberté und gelangte somit auch nach Frankreich. Als Millie und Julius die Ausgabe lasen, wo Gilbert „Die Schlacht um die Rose“ getitelt hatte sahen sich die drei erwachsenen Apfelhausbewohner teils betroffen und teils unangenehm erheitert an. Als Millie noch leise vorlas, dass im Büro von Heilzunftsprecherin Greensporn ein kleiner Tontopf mit einer goldgelben Rose eingetroffen war nickten sie einander zu. „Die hat Atalanta nun endgültig zum Fall für die geschlossene Station gemacht. Natürlich hat Eileithyia Greensporn sie zurückverwandelt um sie gleich in dauerhafte Verwahrung zu übergeben. Die letzten von diesem PSP-Club haben sich nach dieser Meldung selbst gestellt. Die Vorstellung, einer auf eigenem Rachefeldzug befindlichen Fanatikerin gefolgt zu sein und dass sie alle auf Anthelias Tricks hereingefallen sind wiegt schwerer als die zu befürchtende Bestrafung, wenn die nicht gar zur Bewährung ausgesetzt wird“, sagte Julius. Seine beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen nickten bestätigend.
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Am 4. Juli war das Anwesen Greendale Cottage so voll wie sonst nur zu Hochzeiten oder runden Geburtstagen der beiden Hausältesten. Greendale hatte die neun anderen Familienpatriarchen eingeladen, das zu verfolgen, was er als größten Triumph seit 1904 ansah. Ebenso waren fast alle da, die zur weitläufigen Familie Greendale und ihrer angeheirateten Nebenlinien gehörten. Nur eine war körperlich unanwesend. Dennoch war sie gerade die wichtigste Person dieses Abends.
„So erreicht uns gerade auch aus Honolulu, Hawaii die amtliche Auszählung der abgegebenen Stimmen. Für Godiva Cartridge geborene Sweetwater votierten 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Rollin Firepan erhielt 30 Prozent. Zehn Prozent der Wähler nahmen Ihr Recht auf schriftliche Enthalgung wahr. Damit steht nun fest, dass unsere großartige magische Gemeinschaft im größten, vielfältigsten und innovativsten und traditionellsten Land zugleich lebenden Hexen und Zauberer eine neue Präsidentin gewählt haben. Mit den zu einem Drittel in die Wahl mit einfließenden Stimmen des zeitgleich gewählten MAKUSAs ergibt sich eine prozentuale Verteilung von dreiundsiebzig Prozent für Godiva Cartridge geborene Sweetwater. Herzlichen Glückwunsch, Madam President und immer eine sichere Hand für unser großes Land!“ so tönte die Stimme von Klio Sweetwater nicht ohne Stolz aus den Zauberradios im ganzen Land.
„Trinken wir auf unser ganz großes Mädchen, auf Goddy!“ brachte Anaximander einen Toast aus und stieß erst mit seiner viele Jahrzehnte an seiner Seite lebenden Frau Adelaide an und dann mit allen Erwachsenen im Raum. Dann kam der kleine Chrysander mit einem halbvollen Becher Orangenlimonade und sagte: „Prost, Urgroßpapa, auf Mommy Präsidentin.“ Alle hier lachten lauthals, als der nur körperlich kleine Chrysander mit dem Patriarchen der Greendales anstieß.
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Brittany war schneller mit der Nachricht als Gilberts Distantigeminus-Nachricht und sogar schneller als die sonst blitzartig von Erdteil zu Erdteil wechselnde Viviane Eauvive. „Dann habt ihr jetzt wieder eine Präsidentin in den USA. Bei den Magielosen wird das wohl noch bis ins 22. Jahrhundert dauern, bis die da mal einer Frau so viel zutrauen“, meinte Julius. Auch viel ihm gerade nicht ein, wer dafür überhaupt in Frage kommen konnte. „Na ja, die Greendales sind hin und weg, aber auch die Southerlands, also euer amerikanischer Ableger und die Goldfields, die mit meinen Urgroßeltern mütterlicherseits verbandelt sind und somit auch mit uns. Der Club der großen zehn hat seine Kandidatin durchgekriegt. Ob das echt so gut ist wird sich zeigen.
„Ich konte mit Godiva Cartridge immer gut sprechen“, meinte Julius. Millie bestätigte das. „Und gab es noch ein Nachspiel wegen der Sache in den San-Gabriel-Bergen?“ fragte Julius.
„Stellas Neffe, der aus dem LI, hat sich die Höhle noch einmal angesehen. Der sagt, dass die da wirkende Erdmagie eigentlich nur von zehn Leuten zugleich aufgerufen werden kann und dass er den Weg zu dieser Wirkung nicht entschlüsseln konnte, weil jeder Prüfzauber von den bezauberten Felsblöcken abrutscht. Sollen wir dem mal stecken, dass du diese Magie vielleicht besser kennst als jeder andere?“ fragte Brittany nur zum Scherz. „Nein, danke. Am Ende muss ich noch zu euch hinziehen, weil das ganze Laveau-Institut dann bei mir in die Lehre gehen will. Außerdem habe ich keine Generalerlaubnis, alles weiterzuunterrichten, was ich gelernt habe. Da bleibe ich lieber hier in Millemerveilles. Ja, und wie schön das hier ist dürft ihr dann erleben, wenn ihr am 20. Juli wieder bei uns seid“, sagte Julius. Brittany bedankte sich für die Einladung und versprach, mit Linus, Leonidas und Brooke zu kommen.
„Anthelia bleibt in den Staaten wohl eine unberechenbare Größe. Sie ist offiziell zur Fahndung ausgeschrieben“, sagte Millie. „Aber immerhin hat sie gezeigt, dass sie nicht jeden umbringen muss, der ihr dumm kommt.“
„Wie du sagtest, eine unberechenbare Größe“, widerholte Julius.
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sie hatte sich mit ihrem ausgesuchten Beraterstab in den heimlichen Hallen und Büros im Woolworth-Gebäude eingerichtet. Zehn Tage war die Wahl jetzt her. Die offizielle Amtseinführung sollte dann am 15. August stattfinden.
Am Abend des 14. Juli fand Godiva Cartridge eine Stunde Zeit, um sich unauffällig abzusetzen. Sie verließ New York auf einem Harvey-Besen und landete westlich von Newerk. Von dort aus disapparierte sie, um in drei Sprüngen zum Arches-Nationalpark zu wechseln. Dort verbarg sie sich zehn Minuten lang, bis sie an einem der dort natürlich entstandenen Steinbögen eine überlebensgroße schwarze Spinne sah. Nach allen Seiten Sichernd, dass keiner ihr zusah ging sie langsam auf den linkenSchenkel des Steinbogens zu. Das Spinnentier rannte behände die schroffe Steinwand hinunter. Als es am Boden war erkannte Godiva erst, wie groß sie war. Doch sie musste ihren Ekel und ihr Grauen überwinden. Zu viel stand auf dem Spiel. Die Umtriebe der Bewahrer und der Kreuzzug des Irrsinns, wie ihn der Kristallherold genannt hatte, bewiesen, dass es wichtig war, mit möglichst vielen mächtigen Gruppen Frieden zu machen. Auch wenn sie ihre gerade erlangte Präsidentschaft riskierte, sie wollte da weitermachen, wo Milton hatte enden müssen.
Die menschengroße schwarze Spinne trippelte auf ihren behaarten acht Beinen zu der neuen mächtigsten Hexe der USA hinüber. Dann stellte sie sich auf ihre zwei hintersten Beine und wurde innerhalb von nur einer Sekunde zu jener berückend schönen Hexe, die wenn sie wollte jeden für Frauen schwärmenden Mann um den kleinen Finger wickeln konnte, sofern sie sich dafür interessierte.
„Ich freue mich, Schwester Godiva, dass du meine Einladung nicht gleich zu den Inobskuratoren getragen hast. Die hätten mich nicht gefunden und dich eher verdächtigt, von etwas abzulenken, was deinem neuen Amt schaden könnte“, sagte die Spinnenfrau mit einer wunderschönen warmen Altstimme. Godiva Cartridge erwiderte darauf:
„Es hat in den letzten Wochen zu viele Tote und ebensoviele Einweisungen in die geschlossene Anstalt gegeben. Ich weiß, dass sie nicht die sind, die damals Sardonias Weg gehen wollte, auch wenn Sie das den verbliebenen Spinnenschwestern immer noch verkaufen. Sie mögen nicht auf derselben moralischen Straße wandeln wie ein Heiler oder ein Friedensprediger. Aber ich musste anerkennen, dass Sie das kleinere aller vorstellbaren Übel sind, Lady Anthelia oder wie Sie wirklich heißen mögen. Daher war und bin ich bereit, Ihren schwesterlichen Vorschlag anzunehmen. Sie und ihre Mitschwestern lassen sich nie von einem meiner Inobskuratoren erwischen und dürfen dafür mit den wirklich gefährlichen Wesen wie den Vampirgötzenanbetern oder den kriminellen Werwölfen aufräumen, wenn die ihnen über den Weg laufen. Auch muss ich anerkennen, dass Ihr gesellschaftliches Spinnennetz schon zu weit ausgespannt ist, als darauf zu verzichten, rechtzeitig vor einer von außen drohenden Gefahr gewarnt zu werden. Daher gehe ich auf Ihren Vorschlag ein, auch um Chrysanders Zukunft zu sichern.“
„Dann besprechen wir, wer wie und auf welche Weise dieses Land sichert und durch die Stürme lenkt, die bereits am Horizont drohen“, sagte Anthelia. Godiva Cartridge bestätigte das.
Als sich die beiden eine Stunde später wieder voneinander trennten warf Godiva noch einen aktivierten Incantivacuum-Kristall auf den Boden. Dann disapparierte sie. Wenige Sekunden später blähte sich eine 24 Meter durchmessende Lichtkugel auf. Sie verschlang alle Spuren magischer Ereignisse und Kräfte. Somit konnte niemand nachforschen, dass sich hier zwei machtbewusste Hexen getroffen hatten, die einen neuen Burgfrieden schlossen, um ein von Unruhen und unterschiedlichsten Interessenkonflikten gebeuteltes Land friedlicher zu machen.
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Der Apfel des Lebens machte seinem Namen wieder alle Ehre. Über hundert Hexen und Zauberer von gerade erst auf der Welt bis über 60 Jahren fanden sich am nachmittag des 20. Juli ein, um Julius Latierre zum 25. Geburtstag zu gratulieren.
Aurora Dawn war in Begleitung von Rosey und Gloria Porter aus Australien angereist. Die kleine Rosey freute sich sichtbar, wieder in Millemerveilles zu sein. Gloria sah wieder so adrett und selbstbewusst aus wie vor zwei Jahren noch. Sicher würde sie einiges über ihren neuen Job bei der australischen Tierwesenbehörde zu erzählen haben.
Julius fragte Florymont, ob die Wandelraumtruhe eine Füllgrenze hatte, weil über hundert Gäste kleine und große Geschenke hineinsteckten. „Also, das größte, was die für meine Familie gebaute Truhe je zu schlucken bekommen hat waren die Schrankkoffer, mit denen wir Jeanne, Claire und Denise zum elften Geburtstag bedacht hatten, sozusagen als stofflich gewordene Bestätigung, dass es nun nach Beauxbatons ging“, sagte Florymont. „Ja, und eure Truhe konnte ich mit für Rauminhaltszauber besser geeignetem Holz und Innenlackierung hinbekommen. Da geht also noch eine menge mehr rein“, fügte Florymont noch hinzu.
Das Geschenkeauspacken geriet zu einer mehr als einstündigen Veranstaltung. Julius bekam von Louiselle und Laurentine einen eigenen Kleiderfreund, um kleine Schäden an seiner Kleidung zu beheben, ohne auffällig mit einem Zauberstab zu hantieren. Des weiteren fanden weitere Bücher aus allen magischen Fachrichtungen Eingang in die Familienbibliothek der Latierres. Von seiner Mutter bekam Julius zwei DVD-ROMS mit neuen Sicherheitserweiterungen und Suchalgorithmen für das Arkanet.
Nach dem Abendessen auf der großen Wiese vor dem runden Haus saßen die Gäste noch bis zwölf Uhr im freien. Getanzt wurde nur zwischen halb zehn und elf Uhr. Julius nutzte die Möglichkeit, mit Gästen aus Übersee über die weltweiten Ereignisse zu sprechen. Ladonna Montefiori hatte trotz ihres unerhofften Endes noch viel Verdruss und viele offene Fragen hinterlassen, vor allem wer die verbliebenen, noch von Ladonnas Weg überzeugten Rosenschwestern waren. Auch stand noch nicht fest, ob die Neuauflage des magischen Kongresses der USA dort mehr Frieden und Sicherheit bringen würde. Allein die beiden Unruheherde Sol Puritatis und die sogenannten Bewahrer der Freiheit zeigten, dass auch in der Zaubererwelt der USA sehr stark voneinander abweichende Meinungen um die Vorherrschaft stritten. Ein Funke konnte die gerade bestehende Ruhe beenden und einen neuen wütenden Brand auslösen, der das ganze Land verheeren konnte. Doch Julius wusste auch, dass er selbst nicht viel dagegen tun konnte.
Glorias Erzählungen von ihrer Arbeit verrieten ihm und Millie, dass sie tatsächlich etwas gefunden hatte, das ihr Selbstwertgefühl hob und das sie vorerst davon abkommen ließ, sich für eine Stelle im Marie-Laveau-Institut zu bewerben, um in die Fußstapfen ihrer Großmutter Jane zu treten.
Kurz bevor sich die in Frankreich lebenden Gäste in ihre eigenen Häuser verabschiedeten übergaben Millie und Julius der Frauen-WG von Louiselle und Laurentine einen rauminhaltsbezauberten Rucksack, in den sie mehrere nützliche Dinge für die kleine Lucine hineingepackt hatten, darunter ein Reisebett, dass sie überall aufstellen konnten. „Schon heftig, dass es schon ein ganzes Jahr her ist, dass sie zu uns kam“, meinte Laurentine Hellersdorf. Julius konnte das nur bestätigen, wie schnell Zeit umging. Er erwähnte auch, dass das gerade an aufwachsenden oder noch auf die Geburt hinwachsenden Kindern zu sehen war und wie schnell das ging, dass die Kinder groß wurden, wenn Eltern sie auch groß werden ließen. Laurentine meinte dazu, dass es für Lucine sicher noch eine Umstellung sein würde, wenn sie Familien mit unterschiedlichgeschlechtlichen Elternpaaren kennenlernte. Aber an der Erklärung dafür arbeiteten Louiselle und sie bereits.
Kurz nach Mitternacht waren nur noch die Brocklehursts, die Merryweathers und die Latierres im Apfelhaus. Béatrice übernachtete für diese und die kommende Nacht mit Millie und Julius im Elternschlafzimmer, damit genug Platz für drei erwachsene Gäste und sechs Kinder war.
„Schon wieder ein Jahr mehr auf dem Kerbholz“, meinte Julius, als er zu Millie ins Ehebett stieg. „Ja, habe ich bei meinem fünfundzwanzigsten auch gedacht, wie schnell das