089. FRÜCHTE DER VERGANGENHEIT (1 von 2)
by Thorsten OberbosselP R O L O G
Ladonnas Macht ist gebrochen. Vier Jahre hatte sie mit Hilfe ihres einzigartigen wie unheilvollen Feuerrosenzaubers viele Zaubereiministerien unterjocht. Nach ihrer Entmachtung fielen die noch nicht aus ihrem Bann befreiten in einen unaufweckbar erscheinenden Tiefschlaf. Die Ministerien werden bis auf weiteres von außenstehenden Hexen und Zauberern aus der Liga gegen dunkle Künste betrieben. Doch das kann und soll kein Dauerzustand bleiben. Außerdem müssen viele durch Ladonnas Treiben aufgeworfene Fragen abschließend geklärt werden, unter anderem was mit den von ihr gesammelten Zaubergegenständen und Aufzeichnungen geschieht oder was den Umgang mit anderen Zauberwesen wie Kobolden und Veelas angeht.
Nachdem Ladonnas Blutsiegelzauber um den Weinkeller der Girandelli-Villa verfliegt versuchen mehrere Gruppen von Hexen und Zauberern, die dort angehäuften Artefakte und Aufzeichnungen aus aller Welt zu erbeuten. Albertrude Steinbeißer gelingt es mit einem flächendeckenden Betäubungszauber, die Konkurrenten auszuschalten und sich in den Besitz deutscher und altägyptischer Zaubergegenstände zu bringen. Dabei trifft sie eine kleinwüchsige Frau mit gläsernem Helm und silbernem Bogen, die von Albertrudes Betäugungszauber weit fortgeschleudert wird. Die Kleinwüchsige ist die Koboldstämmige Diana Camporosso, der Ladonna kurz vor ihrem Verschwinden den erbeuteten Seelenglashelm des Koboldgeheimbundgründers Deeplook aufgesetzt und dessen darin lauernden Geist Dianas Gedanken und Willen unterworfen hat. Diana will nun Königin der Kobolde und damit Ladonnas Nachfolgerin werden. Sie sammelt mit Hilfe von Deeplooks Wissen überlebende Mitglieder des Geheimbundes der Kobolde um sich. Diese glauben, Deeplook sei der vorherrschende Geist im unfreiwillig angenommenen Körper der koboldstämmigen Hexe. Sie versuchen Gringotts zu übernehmen. Das misslingt, weil einer der Gringottszweigstellenleiter bereits unter dem Bannwort des schlafenden Königs steht und die Aktion an die Ministerien verrät. So bleibt Diana nur, sich nach Afrika zurückzuziehen, wo noch Schlupfwinkel des Geheimbundes sind.
In den USA wird lebhaft diskutiert, ob es nicht ein neues Zaubereiministerium oder einen neuen magischen Kongress der USA geben soll. Diesen bevorzugen die zehn mächtigsten Zaubererfamilien, darunter die Greendales und die Southerlands und arbeiten darauf hin, dieses Ziel zu erreichen.
In Europa ist noch unklar, was mit den ehemaligen Unterworfenen des Feuerrosenzaubers geschieht. Außerdem gilt es, den von Ladonna verursachten Kriegszustand mit anderen Zauberwesen zu beenden. Julius Latierre hofft darauf, einen Frieden zwischen den Menschen und Veelas herbeiführen zu können. Die französische Zaubereiministerin plant eine Rundreise, um mit anderen Zaubereiministerien darüber zu verhandeln. Bevor Julius am 16. März aufbricht erfährt er noch, dass seine Frau Millie und seine mit ihm und ihr in einer Dreiecksbeziehung zusammenlebende Schwiegertante Béatrice gleichzeitig von ihm schwanger geworden sind. Mit dieser Erkenntnis und mit der Hoffnung auf eine europaweite Verständigung zwischen magischen Menschen und Zauberern begibt er sich mit der hochrangig besetzten Abordnung des Zaubereiministeriums auf eine Reise für den Frieden zwischen Menschen und denkkfähigen Zauberwesen. Dabei gelingt es ihm und der französischen Abordnung, mit allen Nordeuropäischen Delegationen wichtige Vereinbarungen zu treffen. Julius ist erleichtert, dass Russland und alle anderen Länder, in denen Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen leben, einen ähnlichen Friedensvertrag schließen wollen wie er in Frankreich verfasst wurde.
In Ägypten üben Mitglieder der Bruderschaft des blauen Morgensterns die Amtsgeschäfte aus. Doch als die afrikanischen Zaubereiministerien zu einer Konferenz in Kenia einladen kommt es zur Machtrückeroberung durch die Familie Al-Assuani. Diese wollen die von Ladonna Montefiori entführten Zaubergegenstände aus Ägypten wiederhaben, vor allem jene Artefakte, die zu den zwölf Schätzen des Nils gehören.
Worum es sich dabei handelt erfährt Julius, nachdem ihm Béatrice einen in das Familiendenkarium ausgelagerten Traum zeigt, den ihr Ashtaria geschickt hat. Er erfährt den Grund, warum Millie es erlaubt hat, dass Béatrice noch ein Kind, diesmal möglicherweise eine Tochter, von ihm empfangen durfte. Denn Béatrice wird von Ashtaria, die als Vorbild der ägyptischen Muttergöttin Isis gegolten hat, eine magische Halskette aus jenen zwölf Schätzen zum Erwerb angeboten, die Kette der Isis, die ihrer Trägerin, sofern sie bis dahin kein Menschenleben genommen hat, neunfache Kraft auf alle heilsamen Zauber verleihen soll aber eben nur von Hexen getragen werden kann, die bereits einmal Mutter wurden.
Mit diesem unglaublichen Wissen und möglichem Vermächtnis in Aussicht reist Julius mit der französischen Ministeriumsdelegation auf die Insel Malta, wo es zum Treffen mit den Mittelmeeranrainern, darunter den Ägyptern kommt. Julius erfährt, dass das spanische Zaubereiministerium nicht beabsichtigt, den Friedensvertrag mit den Veelas zu übernehmen und dass Ägypten alle ehemaligen Fluchbrecher von Gringotts zur Fahndung ausgeschrieben hat.
Gleichzeitig baut Diana Camporosso ihre Rangstellung in dem im Neuaufbau befindlichen Geheimbund der Kobolde aus. Doch sie plant auch, mit den ehemaligen Feuerrosenschwestern Kontakt aufzunehmen. Vor allem in Afrika will sie eine sichere Basis finden. dabei gerät sie zunächst an Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens. Diese kann sie mit vier Todespfeilen aus Anhors Bogen bewegungslos machen und denkt, sie getötet zu haben. Doch als sie die Pfeile wieder aus dem Körper zieht erholt sich die Abgrundstochter. Diana hat eine neue starke Feindin. Außerdem gerät sie an die in einem mächtigen Ankerartefakt überdauernde Vampirherrscherin Akasha und ihre treuen Nachtkinder. Diese hatten bereits versucht, normale Menschen für sich einzuspannen, um Getreuen nach Amerika zu schicken. Doch der ausgewählte Transporteur stand bereits auf einer Todesliste der von aller Welt für tot gehaltenen Campoverde-Geschwister. Diese lassen das Privatflugzeug des von Akashas Untertanen erwählten Waffenschiebers aus Nordafrika über dem Atlantik explodieren und mit ihm Boten Akashas.
Diana Camporosso sucht die verbliebenen Schwestern auf und plant mit ihnen eine Neuauflage unter neuem Namen. Als Hauptquartier wählt sie eine Höhle eines ehemaligen Vampirherrschers. Nachdem sie die dort überdauernden Blutwürmer besiegen konnte plant sie die Neugründung eines dunklen Hexenordens.
In den USA bereiten sich alle magischen Menschen darauf vor, einen neuen magischen Kongress zu wählen. Doch findet diese Idee nicht überall Zustimmung. Außerdem erhebt sich dort eine Gruppierung, die einen außerlegalen Feldzug gegen alle angeblich dunklen Hexen führen will. Unruhen und Widerstand drohen, die Wiedervereinigung der US-amerikanischen Zaubererwelt zu verhindern. Dies wiederum bekümmert die zehn wichtigsten Familien dort, die ihrerseits ihre Hoffnungen in die Neuauflage des MAKUSAs setzen.
In Texas und anderen US-Staaten kommt es zum Widerstand gegen die Wiedereinsetzung des MAKUSAS. Ein Nachfahre des dunklen Magiers Durecore steuert über eine Reihe besonderer Zauberbilder die Aktionen gegen Regionaladministrationen. Die zehn mächtigsten Familien der Staaten müssen sich zusammenraufen, alte Rivalitäten zu begraben und unterstützen die Neuordnung der USA. Zeitgleich jagd die von Ladonnas Rosenzauber an den Rand des Wahnsinns gedrängte Atalanta Bullhorn danach, alle ihr missfallenden Hexen zu fangen und zu töten. Doch Anthelia sorgt dafür, dass ihre eigenen Schwestern unbehelligt bleiben. Weil Bullhorns Vorgehen zu grausam ist wird ihr Tun von den noch regierenden Regionaladministrationen als Verbrechen eingestuft.
Nachdem es gelingt, den Anstifter der Anschläge und Störversuche zu stellen wird dieser von einem lebendigen, offenbar teilbeseelten Hut Durecores verschlungen. Dieser wiederum wird mit einem Basiliskenzahn zerstört.
Atalanta Bullhorn lässt sich von Anthelia zu einer Bergregion bei Los Angeles locken, wo sie auf die Anführerin der Spinnenhexen trifft und sich mit ihr duelliert. Es endet damit, dass Anthelia Atalanta wieder in eine langstielige Rose verwandelt und diese dem neuen MAKUSA überlässt. Bullhorns illegale Organnisation wird zerschlagen.
Am 4. Juli wird Godiva Cartridge zur ersten Präsidentin des neuen MAKUSAS gewählt. Sie trifft sich heimlich mit Anthelia und schließt mit ihr einen Burgfrieden. Solange Anthelia keine Menschen innerhalb der USA behelligt darf sie ihren Orden weiterführen.
Die Zaubereiministerien wissen, dass es noch zu viele Widersacher auf der Welt gibt. Es dauert auch nicht mehr lange, bis sich neues Unheil regt.
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War er männlich oder war sie weiblich? Nein, weder noch. Weder Fleisch und Blut, noch seelenloses Holz war das Wesen. Über sechshundert Jahre war es her, dass treue Anhänger des großen Meisters der Wälder und der dunklen Blutzauber den Keim im mit geopfertem Blut getränkten Boden vergraben hatten. Die Zeit verging für dieses Wesen nicht wie für Wesen, die atmen mussten und vom Schlagen eines Herzens am Leben gehalten wurden. Es stand jedoch immer in Verbindung mit jenem, das sowohl Vater wie Mutter sein mochte, dem herrschenden Wesen aller grünen Kinder der Erde, Dairons größtes Werk und Vermächtnis.
In den für das Wesen dahinfliegenden Warm- und Kaltzeiten, im wilden Tanz der über den unendlich hohen Himmel dahineilenden Kraftkörper von Feuer, Wasser, Luft und Dunkelheit wuchs das Kind des mächtigsten Wesens aller grünen Kinder der Erde heran. Es reifte eine eigene Seele aus, die ohne die geschlechtliche Einteilung der frei und schnell herumlaufenden, kurzlebigen Wesen aus Fleisch und Blut auskam. Immer wieder musste es den wütenden Winden widerstehen, die den mit ihm gewachsenen Mantel der Unverheerbarkeit erschütterten. Immer wieder bekam es mit, wie die von lauten Schlägen begleiteten Unwetterlichter die niederen Verwandten seiner Art erschlugen, doch um es herum unschädlich im Boden vergingen. Für das Wesen war das Wechselspiel von Hitze, Nässe, Wind und Kälte, Helligkeit und Dunkelheit wie eine Abfolge schneller Änderungen, die mal mehr und mal weniger in die eine oder andere Richtung schlugen.
Zu einer Zeit, die für das mittlerweile viele Dutzend Längen über die Anbeter seines Schöpfers hinausgewachsene Wesen unbedeutsam schien war eine Trägerin der hohen Kraft erschienen und hatte sich einer schmerzvollen Prüfung gestellt, die alle körperlichen und seelischen Qualen übertrug. Es war zum inneren Kampf des Kindes des allermächtigsten der grünen Kinder mit der von dunklen Begierden getriebenen gekommen. Die Trägerin der hohen Kraft war zeitweilig in den Leib des himmelanstrebenden Wesens hineingezogen worden und dort den eigenen Angstträumen und körperlichen Leiden unterworfen worden. Dabei hätte diese doch einfach nur ihr Sein mit dem des mächtigen Wesens verschmelzen und sich ihm hingeben müssen, in es einfließen und mit ihm weiterbestehen können. Doch die Fremde kämpfte dagegen an, vermochte es, sich aus der gnadenlosen Umklammerung zu lösen und sich unter für beide spürbaren Schmerzen aus dem Leib des Kindes des Mächtigsten herauszuwinden wie das Junge eines Kurzlebigen Wesens aus Fleisch und Blut. Dabei hatte sie einen Teil der Kraft und einen Gutteil des in jenem Wesen verankerten Wissens seines ehrwürdigen Schöpfers herausgesogen, bevor sie schnell atmend wieder freigekommen war. Dann war sie im Zwischenzustand zwischen Hiersein und Dortsein verschwunden, ohne dass das unter den Nachwirkungen des Kampfes erzitternde Kind des mächtigsten der grünen Kinder mitbekam, wo sie hinwollte. Es wusste nur, dass sie Anthelia geheißen hatte und dass sie die Erbin des Meisters und Schöpfers Dairon werden wollte, ohne sich dessen noch lebender Schüler und Anbeter anzuvertrauen. Es war dem hier aufgewachsenen und fortbestehenden Wesen nicht mehr möglich, die Seelenstimme der anderen zu vernehmen, wie es das bei jenen vermochte, die ihm ihren Lebenssaft darbrachten, um von ihm Ausdauer und Langlebigkeit erbaten. Was immer die andere vermocht hatte war stärker als die Künste Dairons gewesen. Doch sie hatte gelitten. Das beständige Wesen hatte es aus ihren inneren Sein wie dahinjagende Unwetterlichter erfasst, dass sie aus dem langen Schatten einer anderen Trägerin der Hohen Kräfte heraustreten wollte. Nur deshalb hatte sie sich ihm, dem Kind des mächtigsten der grünen Kinder der Erde, anvertraut. Als die Nachwirkungen des Kampfes um Sein oder Nichtsein endlich verklangen teilte das Kind dem Ursprungswesen mit, was geschehen war. Dabei eilten die zwei größten Lichter, das des gleißenden Feuers und das an der Welt ziehende kalte, immer wider wachsende und schrumpfende Licht, in mehr als zehn Runden über den Himmel. Doch so erfuhr das Kind von seinem Ursprung, dass die andere wohl unausgebrütete Junge geopfert hatte, um ihre körperliche und seelische Stärke zu erhöhen und deshalb gegen den Drang bestehen konnte, ganz und für immer eins mit jenem zu werden, das von den Verehrern seines Urschöpfers Dairon als Richtbaum bezeichnet wurde.
Die Anhänger Dairons vergingen. So blieben die Blutopfer und zu vertilgenden Fleisch- und Seelenopfer aus. Das Kind des mächtigsten der grünen Kinder der Erde verfiel in eine tiefe, hilflose Untätigkeit. Nur die es nährende Erde, das in für es sehr kurz aber viel aus der Höhe fallende Wasser und die bestärkenden Strahlen des Himmelsfeuers hielten es groß und beständig.
Als dann das mächtigste Wesen der grünen Kinder aus der Starre der Nichtbeachtung erwachte, weil ein noch im lodernden Feuer der Ausreifung glühendes Wesen sich ihm näherte erwachte auch sein geschlechtsloses Kind. Es bekam mit, wie sein Ursprung neue Seelen in sich aufnahm und daran erstarkte. Doch dann vernahm das viele Warm- und Kaltzeiten lang unbeachtete Kind die Schreie von Angst und Todesqual. Träger der hohen Kräfte bekämpften das mächtigste Wesen der grünen Kinder mit den Urmächten des Seins, Feuer, wasser, Luft und Erde, entrissen ihm die einverleibten Körper und Seelen der noch wachsenden Kurzlebigen und schwächten den höchsten Herrscher aller grünen Kinder so sehr, dass sein Körper selbst verging und alles, was das mächtigste Wesen von Dairons Werken aus der Welt stieß. Der Schrei des Todes klang mehrere schnelle Rundläufe der beiden größten Himmelslichter lang im geschlechtslosen Sein des Nachkommens. Dann verfiel dieser wieder in jene tiefe, unabwendbare Erstarrung der Untätigkeit, die es zu einem der vielen ernidrigte, die um ihn herum standen und jede Warmzeit neue Blätter und Blüten austrieben.
Nach ungezählter Zeit erfuhr das überlebende Nachkomme des einst mächtigsten der grünen Kinder der Erde, wie jene Trägerin der hohen Kraft in einem neuen Körper zu ihm kam und eine andere Kurzlebige mit ihm zusammenbrachte. Offenbar wollte die eine die andere dem Richtbaum opfern. Doch sie wirkte nur, dass ein im Leib der Gefangenen aufkeimender Nachkomme in nur einem Augenblick der Wahrnehmung jenes wartenden Wesens zur Schlupfreife heranschwoll und der Gefangenen entrungen wurde. Ja, die andere hatte die Umkehrung der geduldigen Zeit gewirkt, etwas, dass sie von ihm erlernt hatte, als sie mit ihm scheinbar unentrinnbar verschmolzen war. Dann brachte sie das auf diese Weise erbrütete Junge der Gefangenen dem Richtbaum als Unterpfand dar. Die hatte also auch behalten, wie der Richtbaum einen Gefangenen in sich aufnehmen und dauerhaft festhalten konnte, bis bestimmte Dinge eintraten. Die Mutter des in ihn, den Richtbaum eingeschobenen Jungn sollte wohl der anderen Dienen, um das Junge wiederzubekommen und es so auszubrüten, wie es die Natur ihres Fleisches vorgab. Dadurch bekam das Nachkomme des mächtigsten grünen Kindes alles mit, was jene Gefangene tat, dachte und fühlte. Die andere, die sich anthelia nannte und es geschafft hatte, mit Hilfe von Dairons Macht und Wirken einen neuen Körper zu erringen, wollte die Gefangene auf ihre Seite ziehen. Solange sollte der Richtbaum den leidenden und schlafenden Knaben in sich festhalten, unfähig, ihn gänzlich in sich aufzunehmen und in sich aufgehen zu lassen. Doch die andere, Bellatrix mit Namen, hatte zu viel Angst vor einem anderen machtvollen Kurzlebigen, den sie als ihren wahren dunklen Herren bezeichnete. Der Richtbaum, durch die Verpfändung eines ungereiften Menschenkindes mit dem Leben dessen Mutter verbunden, bekam dann mit, wie Bellatrix ihrem wahren Herren diente, doch immer in Angst lebte, gegen Anthelias Wort zu handeln. Dann geschah es, dass Bellatrix im Namen ihres Herren ein Haus voller junger Menschen betrat und dort für ihn focht. Dabei reizte sie die Mutter eines der dort lebenden Jungmenschen so sehr, dass diese Bellatrixes Leben beendete. Die letzten Empfindungen, die der Richtbaum von ihr empfing waren, dass sie zumindest von Anthelias Fluch befreit war und dass sie ihren letzten Sohn wohl niemals mehr in die Arme nehmen konnte. Dann war die Verbindung zu ihr erloschen. Doch dafür regte sich das noch ungereifte innere Sein des in ihm gefangenen männlichen Jungmenschen. Es begann, die Ströme des gewachsenen Wissens in sich einzulassen und erst Tropfen und dann Schluckweise davon zu nehmen, wobei es im Spiel von Warm- und Kaltzeiten immer mehr eigenes Denken und Fühlen ausreifte.
Der Richtbaum konnte das in ihm und von ihm lebende Wesen nicht in sich einverleiben, weil es durch Anthelias Unterpfandzauber und Bellatrixes vorzeitigen Tod unerfassbar war. Doch wollte Dairons letztes lebendes Erbe nicht, dass das in ihm wachsende und zehrende Wesen irgendwann in späterer Zeit alles erfuhr und alles nutzte, was nur dem Nachkommen des mächtigsten grünen Kindes der Erde erlaubt war. Als dann wie ein durch Luft und Erde jagender Stoß unbändiger Kraft aus Leid, Furcht, Zerstörungslust und Gier in den Richtbaum einschlug wie ein vom Mantel der Unverheerbarkeit durchgelassenes Unwetterlicht erwachten beide, das Nachkomme des höchsten Herrschers aller grünen Kinder und der in ihm gefangene Menschenjunge, der bereits genug von den strömen des im Holz fließenden Wissens genossen hatte, um ein eigenes Selbst zu entfalten wie einen Kranz aus fruchtbaren Blüten. Ab da erkannte der Richtbaum, dass er das in ihm zehrende Menschenwesen loswerden musste. Doch es war nicht zu töten, konnte nicht von ihm ausgesaugt und zu seinem eigenen Sein vertilgt werden. Er musste einen brutfähigen Menschen finden, der den in ihm heranwachsenden in sich aufnahm und neu ausbrütete. Doch wer konnte dies sein und wie konnte der von dem ihm als Unterpfand zugewiesenen Wesen immer mehr ausgesaugte Richtbaum diesen Menschen zu sich hinholen. Da erkannte Dairons hölzernes Erbe, dass Bellatrix eine von drei Brutfähigen war, die vom selben Fleisch und Blut waren. Es galt, eine der beiden anderen zu finden und mit Hilfe jenes in ihm erwachten und nun scheinbar unaufhaltsamen Menschenjungen zu sich hinzurufen.
„Du wirst mich nicht mehr los, Dairons Holz!“ hörte der Richtbaum die Stimme des Gefangenen in seinem Selbst, während die beiden großen Lichter der Zeit über den Himmel dahinjagten. „Die Macht von tausend dunklen Taten hat mich endlich stark genug gemacht, um mich groß und stark zu machen, dass ich das kann, was du kannst.“
„Du wirst vergehen, in mir zerrinnen oder aus meinem Leib ausgestoßen und ungereift verwelken, Sohn einer toten Kriegerin“, dachte das ungeschlechtliche Wesen, das von Dairons Anhängern nur als Richtbaum bezeichnet worden war.
„Nein, ich werde in dir wachsen, dich in mich einsaugen und dann tun, was du alles tun kannst“, widersprach das in ihn eingeschlossene Wesen.
„Das verhüte der Herr der Wälder und des dunklen Blutes“, widersprach der Richtbaum. Doch der in ihm immer weiter heranreifende, durch die in beide eingefahrene Kraft dunkler Taten bestärkte zeigte Gedanken der Erheiterung. „Du kannst mich nicht ausstoßen und verwelken lassen, weil mein Leben an dein Leben gebunden ist, weiß ich aus dem Saft deines Seins und Bestehens. Du kannst mich nur loswerden, wenn du einer, die mit meiner Mutter verwandt war meinen Körper aufzwingen kannst. Aber das werde ich nicht zulassen. Denn dann muss ich ja alles wieder hergeben, was ich schon weiß und kann.“
„Ich werde jene, die Andromeda oder jene, die Narzissa heißt zu mir hinrufen und dich ihr in den brutfähigen Leib hineintreiben. Dairon, der höchste aller Herrscher, will nicht, dass ich einem in mich eingetriebenen ungereiften Menschenwesen unterworfen bin.“
„Woher hast du das. In dem, was ich schon von dir aufsaugen konnte ist da nichts von zu finden, was Dairon wollte. Der hat doch nur herausfinden wollen, wie mächtig Bäume werden können“, antwortete der Junge, während er die Wissensströme ansaugte, die das Leben seiner Mutter bewahrt hatten. „Nein, du wirst mich wohl nicht los. Ich will kein schwächliches, viel zu kurz lebendes Menschenkind mehr sein. Wir werden eins, aber du wirst in mir aufgehen, und ich werde deinen Körper für mich alleine haben und das Erbe Dairons, Bellatrixes und Anthelias übernehmen.“
„O nein, das will ich nicht. Du bist mir unterworfen worden, damit Anthelia deine ursprüngliche Brutmutter beherrschen konnte. Doch die ist jetzt nicht mehr da. Dann ist es nicht mehr wichtig, dich zu behüten. Ich werde eine der beiden Blutsgleichen finden, von denen deine Mutter abstammte und dich ihr übergeben.“
„O nein, das wirst du nicht, Setzling eines niedergeworfenen alten Baumes. Anthelia hat mich zu dir geschickt, damit du mir Kraft gibst, nachdem Bellatrix meinen Körper nicht mehr zurücknehmen und neu ausbrüten kann. Also werde ich diesen deinen Körper zu meinem machen, alles, was du von Dairon und seinen Anhängern erlernt und verschlungen hast erlernen und was ganz neues damit anfangen. Ich werde dann der mächtige Herrscherbaum und durch die Seelen und das Blut aller mir geopferten Menschen auf deren Blutsverwandte einwirken, zu Ehren deines Schöpfers und zum Andenken an die, von der du mich in dich erhalten hast.“
„Nein, ich werde dich nicht über mich herrschen lassen. Du bist ein kurzlebiges Menschenwesen, dazu gemacht, in mir zu zerrinnen und dadurch eins mit mir zu sein. Welche große Kraft uns beide durchtränkt hat, sie wird mir mehr helfen als dir, denn ich bin älter, größer und stärker als du.“
„Nicht mehr lange. Wenn du es nicht vermagst, ein anderes Menschenwesen in dich einzuverleiben, das dir helfen kann, mich zu besiegen, werde ich bald schon stark genug sein, dich in mich hineinzuschlingen und mich ganz allein in deinem Körper auszubreiten. Dann werde ich der Nachkomme des mächtigsten grünen Kindes der Erde.“
„Ja, wirst du, aber nur als Teil von mir und meinem Willen, weil ich dieses Erbe zu wahren habe. So floss es mir in all den Kalt- und Warmzeiten zu, die du gefräßiges Geschöpf noch nicht in mir eingenistet warst. Aber ich danke dir, dass du mir den Weg verraten hast, wie ich meine eigene Kraft so sehr stärken kann, dass ich dich unaufhaltsam in mir vergehen lassen kann und dein von jenem alten Wort vor der letzten Verschmelzung abgeschnürtes Fleisch zu meinem eigenen Körperstoff werden lassen kann, falls es mir nicht gelingt, Andromeda oder Narzissa herzurufen, um dich ihr in den Leib zu stoßen, damit du den Weg aller schwächlichen kurzlebigen Menschen gehst, vom Keimen bis zum Verwelken des Fleisches und vertrocknen des Blutes. Ich finde und hole eine der zwei zu mir, weil ich über dich die Kraft habe, sie zu finden.“
„Eher sauge ich dir den Rest alles Wissens ab und werde dein Erbe“, begehrte der im Richtbaum erwachte Jungmensch auf. So begann ein innerer Kampf um die Vorherrschaft in jenem wie eine gewöhnliche Eiche aussehenden Baum, der vor über sechshundert Jahren gepflanzt und mit Dairons dunklen Zaubern gedüngt worden war.
So hielten sich die zwei im alten Richtbaum gefangenen Seelen im Streit. Als dann ein weiterer, wild schwirrender Erdstoß durch die Wurzeln und den Stamm jagte erzitterte der Wipfel im wilden Rauschen. Dann war es wieder vorbei. Beide im Streit verharrenden schwiegen, weil keiner von beiden wusste, was nun dieses war, ein Aufruhr der Erde selbst, um sie loszuwerden? Es vergingen eine volle Warm- und eine Kaltzeit, bis sie da weitermachten, wo sie aufgehört hatten. Nur wusste die ursprüngliche Seele des Richtbaumes nun, wie sie eine der beiden erreichen konnte, jene, die mit ihrem Schicksal haderte. Ja, sie wollte und würde er zu sich hinrufen.
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Der Ort war ohne Bewegung und ohne Empfindung für das was außerhalb lag. Es war ein kleiner, abgeschlossener Raum, fest und sicher, der dem Zweck diente, neues Werden in sich zu bergen, es zu stärken und als gereiftes neues Sein in die weite Welt hinauszubefördern.
In der räumlichen Mitte jenes abgeschlossenen Ortes schwebte ein Wesen, das nicht lebendig und auch nicht tot war, das nicht erstarrt aber auch nicht rege war. Es fühlte nichts von der verrinnenden Zeit. Es wusste nicht, was außerhalb der schützenden Umhüllung vorging. Es ruhte in einem Zustand ohne willentliche Regung und es umtreibende Gedanken. Kein lebendes Wesen konnte jenes ruhende, wartende, neu heranreifende Wesen erblicken. Selbst jene, die außerhalb warteten, erstarrt wie jenes neu heranreifende Wesen, konnten nicht in das starre Gefäß hineinsehen, das jenen mächtigen Ort des neuen Werdens begrenzte. So konnte auch niemand sehen, wie es langsam aber sicher wuchs und wuchs. Solange es nicht an die feste Begrenzung seines umschließenden Gefäßes stieß würde die Erstarrung anhalten. Ab da mochte es sehr schnell oder aber auch unerträglich langsam geschehen.
Die vor jenem kraftzehrenden Zweikampf mit den Zaubern eines alten Volkes mit Seele und Kraft eines anderen, mächtigen Wesens erfüllte und bestärkte musste warten, bis die vorsorglich ausgelagerten Kräfte wieder in den außerhalb jeder Stofflichkeit bestehenden Körper zurückflossen, um erneut nach einem inneren Antrieb zu handeln, das Vermächtnis eines anderen, für gewöhnliche Sterbliche unvorstellbaren Wesens zu handeln. Dessen feststoffliches Vermächtnis war jener Ort, der durch eine gedankenlose Tat eines selbst nach Macht gierenden Wesens aus Fleisch und Blut entstanden war. Nur der noch verbleibende Kraftunterschied bestimmte, wann das davon zu stärkende Wesen reif für die Welt sein würde.
Das ruhende Wesen dachte nicht daran, was es vor seiner ungewollten Einkehr in dieses schützende Gefäß getan und geplant hatte. Es wusste nicht, dass es kurz davor zu einem der mächtigsten Daseinsformen des großen Ganzen geworden war, dass es Angst und Schrecken verbreitete und dazu gemacht war, dies nach seiner Freilassung in die Welt erneut zu tun. Es kannte weder Geschlecht noch Alter, weder seinen namen, noch seine Herkunft. Denn kurz nachdem es sich hier eingefunden hatte war es im Einklang mit der Kraft, die dieses Gefäß enthielt in jenen Zustand zwischen Leben und Tod verfallen. Es erfasste auch nicht, dass abertausend fleisch- und blutlose Wesen in einer gewaltigen, vor jedem Funken Sonnenlicht geschützten Höhle warteten, dass ihre jenseits von Leben und Tod liegende Beschaffenheit die Umgebung derartig heruntergekühlt hatte, dass das wenige an Luftfeuchtigkeit zu Schnee und dann zu Eis gefroren war.
Unendlich langsam begann das Eingeschlossene Wesen eines seiner beine auszustrecken. Doch niemand sah dies. Dann berührten die Zehenspitzen des gestreckten Fußes die Innenwand des steinharten Gebildes. Unvermittelt erglühte die eine, rundliche Wand in einer mittleren Helligkeit und begann ganz sanft zu pulsieren. Zugleich glühte auch das bis dahin dunkle Wesen in seinem für die anderen sichtbaren Farbton. Mit jedem Pulsieren der umschließenden Wandung kehrte etwas mehr Bewusstsein in den schwebenden Körper zurück. Die erst träge dahinkriechenden Gedanken äußerten sich in weiteren Bewegungen von Armen, Kopf und Beinen. Dann endlich konnte das geborgene Wesen erfassen, wer es war, wo es war und warum es hier war. Es wusste jetzt, dass es ein weibliches Wesen war, eines, das von einem übernatürlichen Geschöpf aus seinen beiden lebenden Körpern gerissen und später von jenem machtlüsternen Sterblichen zur Verschmelzung gezwungen worden war. Sie wusste nun wieder, dass sie aus den Einzelseelen von Birgit Hinrichsen, einer sittenstrengen Ärztin und Ute Richter, einer lebenslustigen Studentin zusammengefügt worden war. Sie wusste nun auch wieder, dass sie gelernt hatte, aus jenem kristallischen Gefäß heraus nichtstoffliche Kinder zu gebären, die nur aus der von jener dunklen Zauberkraft erfüllten Seelen bestanden und ihr völlig gehorsam waren. Sie wusste, dass sie sich nach dem Schmerz der seelischen Verschmelzung zu einer einzigen Daseinsform Birgute Hinrichter genannt hatte und dass der in ihr eingewirkte Machttrieb eines gewissen Kanoras, getränkt mit der Zauberkraft eines gewissen Lord Vengor sie dazu trieb, zur Alleinherrscherin aller schattenhaften Geisterwesen und der Sterblichen zu werden. Sie wusste auch, dass sie die aus einem Kampf um ein anderes Gefäß freigesetzte Seele einer alten keltischen Hexenmeisterin namens Morgause in sich aufgenommen und mit ihrer vereinten Seele verschmolzen hatte. Dadurch hatte sie neue Erkenntnisse gewonnen, auch jene, ohne einen feststofflichen Zauberstab physische Kräfte auszuüben. Als vorherrschendes Bewusstsein Birgute Hinrichter hatte sie den Kampf mit einer anderen unnatürlichen Daseinsform aufgenommen, der Göttin der Vampire. Beide hatten sich einander als Todfeindinnen offenbart. Dann hatte sie erfahren, dass es einst neun ohne Vater entstandene Frauen gab, die jede für sich eine starke magische Beziehung zu einer Elementarkraft oder einem Himmelskörper erhalten hatte. Darunter war eine, die mit der Dunkelheit an sich hantieren und spielen konnte und dadurch alle mit der Abwesenheit von Sonnenlicht verbundenen Wesen, also auch solche wie sie selbst, unterwerfen und lenken konnte. Das hatte sie nicht hingenommen. Ihr war es gelungen, mit der wie sie schattenhafte Zwillingsschwester jener Thurainilla genannten Frau eins zu werden und dadurch einen Teil jener Kräfte zu erhalten, mit denen die Dunkelheit und ihre Wesen beherrscht wurden. So wurde sie zur Kaiserin der sogenannten wahren Nachtkinder und nannte sich für ihre Nachkommen und unterworfenen Untertanen Stella Nigra die einzige.
Dann war jener längst vergessene König aus Ägypten, oder besser dessen in seiner mit dunkler Zauberkraft erfüllten Grabstätte gefangener Geist wiederverkörpert worden und hatte es gewagt, sie und ihre Kinder zu jagen und zu unterwerfen. Zugleich hatte sie einen erneuten Zweikampf mit Thurainilla ausgefochten und es geschafft, sie zu überwältigen und ihren Geist und ihre Zauberkraft aus dem jede Lebenskraft verlierenden Körper zu reißen und wie den Geist Morgauses in sich einzufügen. Derartig mit neuer Kraft und weiterem Wissen bestärkt hatte sie den Zweikampf mit dem wiederverkörperten Pharao gesucht, war dabei jedoch von den Gegenzaubern seiner dunklen Grabstätte geschwächt und davongeschleudert worden. Sie hatte sich dann hier wiedergefunden, im von Kanoras zunächst in Form zweier Bindungskristalle erschaffenen und von Vengor auf Grund der daran gebundenen weiblichen Ausgangsseelen entstandenen kristallinen Uterus, aus dem heraus sie, Birgute Hinrichter, ihre dunklen Nachkommen gebären konnte. Ja, und jetzt ruhte sie selbst hier, weil sie beim Kampf mit dem ungenannten Herrscher einen Großteil ihrer magischen Substanz verloren hatte. Zumindest hatte sie vor ihrem Feldzug wieder diesen ägyptischen Körperdieb einen Gutteil ihr zugeflossener Kraft in jenes urweibliche Gefäß neuen Werdens ausgelagert. Diese Kraft war nun in sie zurückgeflossen. Jetzt, wo sie die im dunklen Rot pulsierende Wandung des birnenförmigen Gefäßes berühren konnte, da wusste sie, sie stand kurz davor, sich selbst wiederzugebären. Alle Erinnerungen strömten wieder in ihren Geist zurück. Die letzten Vorbereitungen für ihre Rückkehr in die Welt liefen ganz ohne ihr eigenes Zutun ab. Würde sie merken, wenn es soweit war? Musste sie sich dann so drehen, dass sie durch den schmalen Schacht des kristallienen Gebärmutterhalses passte? Würde der Geburtsvorgang ihr spürbare Schmerzen bereiten? Einerseits erfüllten sie diese Fragen mit Unbehagen. Andererseits war sie auf Grund ihrer von Birgit Hinrichsen erhaltenen Fachkenntnisse in Körperheilkunde und von den Erlebnissen Morgauses und ja auch ihrer erhabenen Daseinsform her gespannt, wie sich diese Fragen beantworten würden.
Sie versuchte, in Gedanken mit ihren Kindern und Untertanen in Verbindung zu treten. Doch ihr kristalliner Uterus ließ keine Gedanken hinaus oder hinein, solange sie selbst darin eingeschlossen war. Wie viel Zeit vergangen war wusste sie nicht. Es konnte eine Woche gewesen sein, ein Monat, ein Jahr oder gar ein Jahrtausend. Sie dachte daran, dass sie kurz vor dem Kampf mit dem dunklen Pharao ihren Untertanen befohlen hatte, die sieben Tempel der falschen Göttin zu stürmen und alle darin herumlaufenden Blutsauger zu töten, ja überhaupt alle in Reichweite befindlichen blutdurstigen Bleichgesichter zu entkörpern. Hatten sie ihren Auftrag erfüllt? Falls ja, dann waren sie wohl in Folge ihres Verschwindens ungelenkt herumgeirrt oder hatten sich in ihren eigenen Unterschlüpfen in eine ähnliche Überdauerungsstarre versetzt, wie ihr kristalliner Mutterschoß es mit ihr getan hatte, um sie ungestört neu ausreifen zu können. Falls sie ihren Auftrag nicht erfüllt hatten oder dabei vernichtet wurden, so mochte in der unbekannten Zeitspanne die falsche Göttin zur Herrin über alle Wesen aus Fleisch und Blut geworden sein und darauf lauern, ob ihre Todfeindin zurückkam oder dauerhaft verschwunden blieb. Die Ungewissheit, welche Welt sie erwarten würde, war größer als das Unbehagen um den Ablauf ihrer Wiedergeburt aus ihrem eigenen Schoß heraus. Dennoch wollte sie auf die Welt zurück. Hier war es ihr zu eng und zu eintönig. Konnte sie den Selbstgebärvorgang erzwingen?
Sie versuchte sich zu drehen. Tatsächlich gelang es ihr, durch Halt an der birnenförmigen Innenwand ihren Körper in die richtige Lage zu bringen, um mit dem Kopf voran durch den hoffentlich für sie durchquerbaren Geburtskanal zu gelangen. Doch als sie versuchte, sich dort hineinzudrücken prallte sie auf einen federnden, ausreichend starken Wiederstand. Da wusste sie, sie war noch nicht soweit. Sie überlegte kurz, ob sie sich noch einmal mit den Füßen zum schachtartigen Durchgang hin ausrichten sollte. Doch weil es eben keine Schwerkraft für sie gab war es auch egal, wie herum sie lag. So zog sie ihre Knie wieder bis zum Kinn und gab sich dem Pulsieren ihrer eigenen Kraftquelle hin. Sie dachte daran, dass neueste frauenheilkundliche Erkenntnisse aufzeigten, dass das werdende Kind den Zeitpunkt der eigenen Geburt bestimmte, nicht weil es sagte: „Mama, lass mich raus!“ Sondern weil sein Körper Botenstoffe produzierte, die mehr wurden, je näher der günstige Zeitpunkt rückte. Doch sie gab keine solchen Hormone ab. Musste sie also doch irgendwann wieder mit dem Kopf durch den engen Ausgang zu drängen versuchen? Oder reichte es aus, wenn die von ihr ausgelagerte Kraft weitestgehend in sie zurückgeströmt war? Womöglich gab dieser Zustand den nötigen Anstoß zu ihrer Wiedergeburt.
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Es war die zweite Nacht nach dem Vollmond im April. Zwanzig Männer und zehn Frauen saßen im großen Versammlungsraum im ersten Untergeschoss des verborgenen und durch Fidelius-Zauber gesicherten Hauses auf einer Insel mitten im Amazonas. Das Licht von zwanzig frei schwebenden Kerzen erleuchtete die Versammlung. In diesem Licht glühte das wilde, struppige Haupthaar eines großen Mannes wie rotglühendes Eisen. Ihm stand ein sehr schlanker Mann gegenüber, der gerade die Versammlung eröffnet hatte. Noch hatte er das Wort und sagte: „Du hast um diese Versammlung der ranghöchsten Brüder und Schwestern gebeten, weil du was an meinem Beschluss auszusetzen hast, Bruder León?“ Der Mann mit der roten Mähne und gleichfarbigem Vollbart nickte wild und erwiderte:
„Du meinst, wenn du es heimlicher als Rabioso machst würde es sinnvoller ablaufen? Das wage ich anzuzweifeln, Bruder Fino. Nur weil du deine so genannnten Anwerber nicht mit großem Getröte und Getrommel auf Reisen um die Welt geschickt hast wird es nicht wirklich besser als bei Rabiosos Lykotopia. Ja, und je mehr unwichtige Abhängige deine Leute anbeißen, desto mehr von dem Trank musst du brauen, um sie nicht zu früh wild herumschnappen zu lassen. Mein Weg ist da wesentlich erfolgversprechender. Aber davon wolltest du nichts hören, weil deine Mondinselleute dir eingeredet haben, das noch auszunutzen, dass die Blaulichtbanditen immer noch in ihren Räuberhöhlen hocken und bangen, ob nicht doch noch wer wie Ladonna nach ihren geheimen Brutnestern sucht, um sie abzufackeln. Wie gesagt, je mehr Leute du anwerben lässt, desto mehr von dem Trank musst du denen anbieten. Wie viele außer dir können den brauen?“
„Mit deiner langsam immer runder werdenden Gefährtin mit dem zarten Mund sind es zwanzig, von denen vier gerade hier sind und ja eine immer noch in England untergetaucht ist, weil sie mir nicht hinterherlaufen wollte“, sagte der dünne Mann sehr verdrossen.
„Als Sprecher der mexikanischen Gruppe unserer Bruderschaft mache ich von meinem Einspruchsrecht gebrauch, weitreichende Aktionen zu unterbrechen, bis sicher ist, dass wir dabei nicht gefährdet werden. Abgesehen davon verlange ich als Sprecher der mexikanischen Gruppe eine Entscheidung über das weitere Vorgehen. Mein Vorschlag ist bekannt: Nur die in unsere Gemeinschaft reinholen, die auch was taugen, also Ministeriumszauberer und -hexen, starke Frauenzimmer, die gute Welpen ausbrüten können und wichtige Nomagitos, die in den Fabriken und Handelsfirmen oder deren Regierung zu tun haben. Die Entscheidung soll der nächste Vollmond bringen, wie es der Brauch der Bruderschaft ist.“
„Ach, dann möchtest du eine Abstimmung haben, wie damals, wo Lunera und ich uns wegen der weiteren Vorgehensweise in der magischen Welt hatten?“
„Das könnte dir so passen, Bruder Fino. Sowas kannst du als Gehirnakrobat mit einer auf reine Wortgefechte setzenden Schwester anstellen, die dann so nachgiebig ist, dir die Schlüssel Espinados hinzulegen und sich ganz weit weg nach neuen Sachen umzusehen. Ich will die Entscheidung von Mond und Blut, Bruder Fino.“
„Ihr alle, die ihr hier sitzt habbt mitbekommen, was beim letzten Mal passierte, als jemand diese Entscheidung gefordert hat?“ fragte der dünne Mann. Alle nickten, auch der mit der roten Löwenmähne. Dieser antwortete dann: „Du hast gegen zwei Hohlköpfe kämpfen müssen, die nach dem Vorsatz möglichst schnell und möglichst stark zuschnappen gekämpft haben und sich deshalb von dir überrumpeln ließen. Aber ich habe schon gegen einen anderen starken Bruder gekämpft, der meinte, ich wolle sein Weibchen haben.“ Die anwesenden Frauen sahen den rotmähnigen Herausforderer sehr ungehalten an. Er sagte: „Chicas, es ist wie es ist. Ihr sollt unsere Kinder kriegen und aufpassen, dass die auch groß und stark werden. Die meisten sehen das ein. Nur weil Espinados Witwe sich auf dieses Spiel mit der Abstimmung eingelassen hat und nicht die Entscheidung unter dem Mond gefordert hat oder du, Zauberstabschüttler, nicht die Entscheidung im offenen Kampf gesucht hast, weil du ja keine Frauen anknabberst, die das nicht ausdrücklich bei dir bestellt haben, werde ich nicht auf dieses Recht verzichten, dass unser großer Gründervater Cortoreja Espinado gewährt.“
„Hmm, du hast gegen einen unserer Brüder gekämpft, um Bocafina doch nicht. Die hat sich doch so an dich drangehängt“, spöttelte der dünne Mann. „Nein, weil er dachte, ich wolle ihm sein Weibchen wegnehmen, du Steppengrashalm, der sich beim geringsten Wind biegt. Ja, und ich habe gewonnen und hätte dem sein Weibchen für mich einfordern können.“
„Auserwählte, Bruder León“, rief eine der anwesenden Mitschwestern eine Berichtigung in den Raum. „Seitdem Lunera unsere Anführerin war gilt die Gleichberechtigung und die Anerkennung von weiblichen Mitgliedern als achtbare Schwester, nicht mehr als williges, verfügbares Weibchen.“
„Hallo, ist das jetzt eine offene Debatte ohne geordnete Wortzuteilung oder was?“ ereiferte sich Bruder León und sah den dünnen Mitbruder verächtlich an. Dieser wandte sich an die Mitschwester, die sich unerlaubt zu Wort gemeldet hatte und sagte: „Schwester Saltaluna, ich kläre das hier mit unserem mexikanischen Mitbruder, sonst keiner. Also bitte ruhig bleiben. Das gilt auch für alle anderen, denen ich keine Sprecherlaubnis erteilt habe.“
„Oh, blitzt da doch sowas wie Führungsanspruch auf“, ätzte León und erntete abschätzige Blicke der anderen bis auf seine ganz getreuen, darunter die beiden Frauen Bocafina und Madrugadiña und den ebenfalls sehr schlanken, hochgewachsenen Palón und den eher wie einen aufrechtgehenden schwarzen Pudel wirkenden Blackface, seinen Schuhputzer und Müllbeseitiger. Fino erwiderte: „Die meisten hier erkennen meine Führung an, ohne dass ich laut oder tadelnd werden muss. Die allermeisten hier wissen, dass nicht das lauteste Mundwerk, sondern das größte Wissen den Führungsanspruch macht.“
„Jahaha, wenn der voll Wissen steckende Kopf von starken Armen beschützt wird, Dünnerchen. So wie du aussiehst kann ich dich jedenfalls wie einen morschen Besenstiel in der Mitte zerbrechen. Aber das widerspräche der altehrwürdigen Tradition. Ich bleibe dabei, wir zwei kämpfen das unter dem Vollmond im Mai aus. Wer überlebt hat recht, wer stirbt hat unrecht. Gewinnst du kannst du deine Masseneinbürgerung vorantreiben, so wie es diese Nocturnia-Königin mal versucht hat. Gewinne ich, und das wird ganz sicher so sein, hört das wahllose wüten auf, und ich suche mit denen, die sich mit dem Zaubereiministerium in Mexiko-Stadt auskennen die Leute aus, die sich lohnen. Tja, und von wegen deine Führung anerkennen. Espinados blonde Witwe hat deinen Ruf zur Ratssitzung der ranghöchsten Geschwister nicht befolgt. Liegt sicher daran, dass es herumgegangen ist, wie schwach du bei wirklich starken Frauen bist. Oder schwimmt die lahme Ente mit der schriftlichen Einbestellung noch auf dem Atlantik herum?“ erwiderte León mit bitterbösem Sarkasmus. Fino verzog sein Gesicht. León hatte ihn voll an der Stelle getroffen, die ihm am meisten in der Seele schmerzte. Dass Leóns Getreue nun schadenfroh feixten war die Steigerung der Unverschämtheit, die sich Fino vor den vielen wichtigen Zeugen nicht bieten lassen durfte. Er straffte sich und schien um ein Viertel länger aber um Bauch und Schultern herum breiter zu werden. Dann stieß er mit unterdrückter Wut in der Stimme aus:
„Du meinst, mich hier vor allen beleidigen zu können wie du willst, Bruder León? Du meinst, ich würde mich nicht trauen, gegen dich zu kämpfen? Das haben schon andere gemeint und es drauf angelegt. Gut, du sollst den Kampf und die damit verbundene Entscheidung haben, Bruder León. Der Vollmond im Mai soll der Zeuge unseres Kampfes werden, wie es das zweite Gebot Espinados bestimmt. Dann wird dein zweites Kind eben ohne seinen Vater aufwachsen müssen, falls Blackface Bocafina nicht als seine Gefährtin auswählt.“
„So, ihr habt es alle gehört und behaltet das hoffentlich. Der eierköpfige Besenstiel da will gegen mich kämpfen, um seine abgedrehte Entscheidung durchzusetzen. Soll er kriegen. Ja, ich nehme die Kampfaufforderung an, Bruder Fino. Der dritte Frühlingsvollmond soll uns kämpfen sehen. Er soll unser Blut erleuchten und uns beide zur Entscheidung führen. Ja, und was deinen Sohn angeht, Bruder Fino, der ist fast aus dem Welpenschutz raus. Ich werde mir das sehr genau überlegen, ob ich den dann noch weiter durchfüttern soll, wo er der Sohn eines Hänflings und einer selbstmörderischen Nomagita ist. Ihr alle hier habt es gehört?“
„Ihr müsst das richtig aussprechen, für das Protokoll, Brüder“, sagte ein kleiner, runder Mann mit Stoppelhaar und Mondgesicht, der wegen seiner Kleinwüchsigkeit und Leibesfülle Gordiño, das Dickerchen genannt wurde und diese abschätzige Bezeichnung als seinen Kampfnamen der Bruderschaft akzeptiert hatte.
„Wärest du dann auch bereit, den Kampf zu leiten, Gordiño?“ fragte Fino den Mitbruder. Der Gefragte stand auf und nickte. León grinste erst. Doch dann erkannte er, dass die Herausforderung ordentlich ausgesprochen werden musste. So sagte er: „Bruder Fino, Führer unserer Bruderschaft, weil ich nicht mit deinem Weg einverstanden bin und finde, dass mein Weg der bessere ist, fordere ich dich zum Nachfolgekampf unter dem dritten Frühlingsvollmond heraus. Ihr alle, die ihr hier seid mögt das bezeugen.“
„Ich, Bruder Fino, nehme deine Herausforderung an, um des Friedens und der Gemeinschaft willen. Soll der Mond unser Blut erleuchten und uns beide zur Entscheidung um den weiteren Weg führen. Brüder und Schwestern, ihr alle seid unsere Zeugen. Bruder Gordiño, du wirst den Kampf beaufsichtigen und die Entscheidung bezeugen.“
„Damit ist es nun beschlossen, dass alle Unternehmungen bis zur Entscheidung unter dem Vollmond ruhen“, sagte Gordiño, der vor dem sogenannten schmerzvollen Kuss der Mondweihe ein Rechtsanwalt in Buenos Aires gewesen war. Weil er nun offiziell zum Beaufsichtiger des Kampfes ernannt worden war durfte er sich diese Anweisung erlauben.
Gut, dann verschicken wir die Einladungen an alle Brüder und Schwestern, die sich Zeit nehmen können, dem Kampf zuzusehen“, sagte Fino. Sein Herausforderer bejahte das. Damit stand fest, dass bis zu diesem urwüchsigen Kampf um die Führerschaft keiner mehr weiter für alle laufenden Unternehmungen arbeiten würde.
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Er, der zur Strafe für einen winzigen Augenblick der Unaufmerksamkeit gefangener seiner eigenen Schöpfung geworden war, fühlte sich wie ein Blatt im wilden Herbststurm oder wie ein offenes Boot auf stürmischer See oder wie ein Tänzer auf dem glutheißen Strahl eines ausbrechenden Feuerberges. Um ihn herum tobten gewaltige Wirbel aus rotem Lichtschein. Unzählige Gefühlsentladungen warfen ihn herum. Er hörte die Aufschreie Dutzender ihrer Körper entrissener Seelen heranrasen und dann wie aus großer Höhe in Wasser einschlagend verebben. Er, den jene, die ihn sich einverleibt hatte und ihn deshalb Giriainaansirian, den kleinen ungeborenen Sohn der Nacht, nannte, in Wut, Furcht und Entschlossenheit dahintrieb und dabei um jede noch zu fassende Seele folgsamer Diener kämpfen musste. Denn ihre Feinde, die lichtlosen Geister, hatten es vollbracht, alle mächtigen Kultstätten von ihr zu stürmen und zu vernichten. Nicht jede dabei entkörperte Seele gelangte zu ihr hin. Viele von denen wurden von den Schergen der Schattenherrin verschlungen und unmittelbar darauf von der Verbindung getrennt, die ihre eigentliche Herrin erhalten hatte.
Er wollte wieder frei sein, die Gelegenheit ausnutzen, dass die andere gerade mit sich und ihren Gefolgsleuten zu tun hatte. Er versuchte, sich durch die lichtschwächeren Stellen in der wild um ihn tobenden Gewalten hindurchzuwinden. Doch immer dann, wenn er meinte, gleich dem unbeherrschten Aufruhr zu entwischen zog ihn etwas mit gnadenloser Gewalt zurück in die Mitte der entfesselten Daseinsform. Sie hielt ihn immer noch fest. Auch wenn er versuchte, mit Gedankenschlägen eine Lücke zu finden, um aus dem Gewühl der aufgebrachten Seelen zu entkommen warf ihn ein unwiderstehlicher Kraftstoß zurück und trieb ihn dorthin, wo sie ihn für immer haben wollte.
Vielleicht überlastete der Kampf den großen Stein der Mitternacht, in dessen stofflicher Beschaffenheit sie mit ihm eingebettet war. Wenn der Stein dabei verging würde sie den Halt in der Welt verlieren und mit ihm zusammen in den Ausdehnungen von Raum, Zeit und Erinnerungen verwehen wie eine Dampfwolke im Wind. Doch der Aufruhr wurde schwächer. Zugleich fühlte er, dass das ihn umschließende Gefüge aus abertausend Seelen wieder so stark wurde wie zu Beginn seiner Gefangenschaft. Alle von ihr eingeholten Seelen fügten sich klag- und zeitlos in den rein geistigen Körper ein, den sie besaß. Das Toben der Gefühle und Gedankenwirbel klang mehr und mehr ab. Er versuchte noch einmal, sich freizukämpfen. Doch seine Gedankenschläge und Gedankenstöße, die in reiner Anlehnung an sein körperliches Leben wie Faustschläge und Fußtritte wirkten, prallten auf einen schwach nachgiebigen aber unzerreißbaren Widerstand. Dann schloss sich jene riesenhafte rote Kugelschale um ihn wieder. Sein kleiner Geist wurde von den hier wirkenden Kräften wieder in die Mitte zurückgedrängt und im schwerelosen Zustand gehalten.
„Hast du dir so gedacht, dass du mir auskommst, weil dieses Schattenbiest mein Volk niedermetzelt, kleiner Möchtegernkaiser. Du bleibst bei mir und wirst mir helfen, diese Demütigung zu rächen“, hörte er nun ihre aus allen Richtungen dröhnende Gedankenstimme.
Gooriaimiria, wie sie sich seit der Einkehr in den Mitternachtsstein nannte, mochte zwar eine Menge ihrer in der Welt wirkenden Diener verloren haben. Doch sie blieb weiterhin mächtig. Das musste er einsehen. Die Schmach, von einem seiner eigenen Geschöpfe gefangengehalten, ja als Quelle weiteren Machtgewinns genutzt zu werden, ließ ihn noch einmal wild um sich schlagen. Doch das regte die, die sich gerade von einem ihrer größten Rückschläge erholen musste, nicht mehr auf. „Schlaf weiter, bis ich weiß, was ich von dir will, kleiner Geisterprinz! Schlaf weiter, bis ich weiß, was ich von dir brauche!“
„Du hast deine Untertanen und deine Herrschaft verloren, entthronte Herrin. Du wirst von mir nichts mehr erfahren. Und selbst wenn ich dir verraten sollte, was dir nützlich ist, so kannst du damit nichts anfangen, weil du nun ganz für dich allein bist. Deine Diener sind alle vernichtet, und die Dummheit meines ungebärdigen Schützlings Vengor hat das bewirkt. Am besten ist es, du … Nein!“ Er wollte noch mehr verächtliche Gedanken aussenden. Doch da wirkte ihr Befehl, zu schlafen. Über die dünne aber unzerreißbare Verbindung mit seinem letzten großen Diener dem Siebenarmigen trieb sie ihren Willen in seinen unzureichend starken Körper hinein. Er versank einmal mehr in einen Zustand völliger Empfindungslosigkeit und Untätigkeit.
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„Adrastea, sie zerstören unseren mehrfachen Wall! Verbirg dich!“ hörte er über das donnerschlagartige Wummern und sturmwindheftige Fauchen hinweg, dass ihm seit seinem Erwachen nach jener verhängnisvollen Gerichtsverhandlung umgeben hatte. Er dachte daran, dass sie ihn wortwörtlich hereingelegt hatten, ihn, den schlauen, bedachten Kundschafter. Ja, und seine eigene jüngste Schwester hatte ihn in sich aufgenommen. Er sollte sein eigener Neffe werden. Welche Schmach! Welche Demütigung für ihn! Das Fauchen der über ihm atmenden Lungen wurde hektischer. Das donnertrommelartige Pochen des auch für ihn mitschlagenden Herzens beschleunigte sich ebenfalls. Er fühlte das unruhige Schaukeln und erkannte, dass sie, Adrastea Borgogne, mit ihm im Bauch ganz schnell lief, weil sie offenbar nicht mehr apparieren durfte. Dann meinte er, aus ihr in einen völlig lichtlosen Schacht hineinzufallen. Das einzige, was er noch hörte war das schnelle Rauschen, dass erst leiser und dann wieder lauter wurde. Es verlangsamte sich. Er schnappte nach Luft und öffnete seine Augen. Er war nicht mehr im Mutterschoß. Er lag auf seiner Lieblingsliege am neuen Mittagsstrand. Das regelmäßige Rauschen waren die in ewiger Wiederkehr an- und abrollenden Brandungswogen, die sich am zermalenden Felsgestein brachen. Er hatte nur geträumt.
Äußerlich war der, der unter dem Namen Enceladus Borgogne wiedergeboren worden war, gerade achteinhalb Jahre alt. Doch seit seine Ohren, Augen und Tastempfindungen sich weit genug entwickelt hatten war sein Geist wiedererwacht und hatte die Tortur der letzten Monate im Bauch seiner eigenen Schwester Adrastea und die für beide schmerzvolle Wiedergeburt bewusst und scheinbar unauslöschlich in seinem Gedächtnis verwahrt. Dann hatte er von der, die Adrastea und ihm geholfen hatte, ihn auf die Welt zurückzubringen erfahren, dass er als „Einzige Ausnahme“ im Octagon des Inselvolkes anerkannt worden war. Seine Verdienste in seinen beiden vorangegangenen Leben, das als Ion Borgogne und das als Sebastian Pétain waren gewürdigt worden, um ihn nicht als unerwünschte Leibesfrucht abtöten zu lassen, vor allem wo Adrastea und er als verbliebene Bluterben des offenbar wegen seines vollständigen Versagens verstorbenen Onkels Phaeton Maintenon wertvoll waren, um das erhabene Blut zu mehren.
Seitdem er weit genug aufgewachsen war, um wieder eigenständig zu laufen hatte er immer die Nähe zum Meer gesucht, auch wenn das Eiland der Erhabenen, wie seine Bewohner es gerne nannten, nicht mehr am ursprünglichen Ort lag. Sie hatten damals bei einem Sturmangriff von Grandchapeaus Leuten mit bis dahin völlig unbekannten Aufhebungs- und Umkehrzaubern den einzigen Fluchtweg genommen. Phaeton, der mit ihm, damals noch Sebastian Pétain, den zur Schnapsidee entarteten Plan umgesetzt hatte, Frankreichs Zaubereiministerium zu unterwandern, hatte sich dafür geopfert, um den von mehreren Dutzend Erdzauberkundigen gewirkten Ortsversetzungszauber auszulösen. Statt der Elfenbeininsel ruhte nun ein gleichschwerer aber nur zwei Drittel so hoher Felsen an der Stelle, wo die Insel ursprünglich im Mare Nostrum gelegen hatte. Der Felsen stammte aus dem südlichen Pazifik, zwanzig Breitengrade unter dem Äquator. Nun war dort die trapezförmige Insel, die Enceladus wahre Heimat war, das Eiland mit den vier großen Hügeln und dem Felsenpalast mit den acht Türmen, von dem aus das kleine aber wertvolle Volk verwaltet wurde. All das wusste Enceladus, weil seine zweite Mutter, die vor der erzwungenen Empfängnis seine Schwester gewesen war, ihm das erzählt hatte. Ja, und bis er selbst mit einem Zauberstab und dem Segen des Achterrates in die weite Welt hinausziehen und im Namen der geflüchteten Elfenbeininsulaner wirken durfte, würde er hier auf der Insel bleiben. Zumindest hoffte er das. Denn er kannte auch die Mitteilung, dass der Achterrat vor einem Jahr ein Reiseverbot für zwanzig Jahre nach dem Lageortswechsel verhängt hatte um den rest der Welt im Glauben zu halten, von ihnen ginge keinerlei neue Bedrohung aus. Auch wusste der Wiedergeborene, dass der Achterrat immer noch an jenem heftigen Schrecken zu kauen hatte, den Grandchapeaus Schergen ihm und den anderen Bewohnern der Elfenbeininsel eingejagt hatten.
Die Nähe zum Meer, das war seine persönliche Hassliebe. Denn die regelmäßig rauschenden Brandungswogen erinnerten ihn überdeutlich an Adrasteas für ihn mitatmende Lungen. Sie beruhigten ihn und erinnerten ihn zugleich daran, wie beengt sein jetziges Leben begonnen hatte und dass er im Grunde immer noch von der großen Welt abgeschirmt war. Denn solange er keinen eigenen Zauberstab besitzen und benutzen konnte und solange es nicht gelang, heimlich ein neues Tor auf das Festland zu öffnen, solange blieb er hier auf dieser Insel ebenso gefangen wie vor nun achteinhalb Jahren im Leib Addrastea Borgognes. Und das alles nur, weil seine eigene damalige Gefährtin Syrinx den Grandchapeaus verraten hatte, dass sie in seiner Hörweite nur „Syrinx will dich wiederhaben“ sagen mussten um einen ihn damals selbst überraschenden Zauber wachzurufen, der seinen Körper zerstörte und seinen Geist in einer befruchteten Eizelle in Adrasteas Leib einschloss, die sich zu seinem neuen Körper entwickelte. Immer wenn er ans Meer ging loderte in ihm der Hass auf die Grandchapeaus und auf den schlammblütigen Mutanten und dessen besserwisserische Mentorin Blanche Faucon, die ihn in diese Lage getrieben hatten. Doch statt sich vom eigentlich völlig fremden Meer fernzuhalten zog es ihn immer wieder an einen der vier Strände, um dem ewigen Spiel der Wogen zuzusehen und ihrem regelmäßigen Rauschen zu lauschen. Er blickte über die im grellen Sonnenschein schneeweiß widerscheinenden Schaumkämme hinweg auf die Fläche des nicht ganz so stillen Ozeans hinaus. Der Mittagsstrand war wie er neu benannt worden. Denn der frühere Mittagsstrand im Süden lag durch die Südversetzung der ganzen Insel nun in Mitternachtsrichtung. Wenn er nach norden blickte sah er nur das wogende Weltmeer und den von diesem bewegten Horizont, die Grenze seiner kleinen Welt. Dort lag das Ziel seiner Wünsche, der Sinn seines neuen Lebens. Er durfte das nicht vergessen, dass er irgendwann wieder dorthin zurück wollte, um Vergeltung zu üben, auch wenn Adrastea ihm immer wieder einzureden versuchte, dass es keinen Sinn machte, für reine Rache zu leben. Er sollte irgendwann mit den noch in Frankreich lebenden Landsleuten Kontakt aufnehmen, wenn die verhängten zwanzig Jahre Reisesperre vorbei waren. . Ein reiner Rachefeldzug würde das schon im Ansatz vereiteln, so seine neue Mutter.
Von den noch unentdeckt gebliebenen Kundschaftern in Frankreich und dem Rest der Welt wussten deren Blutsverwandte, dass nach dem Halbblut Voldemort ein deutscher Zauberer mit Namen Wallenkron das Erbe dunkler Magier antreten wollte, dass Armand Grandchapeau dem Anschlag verborgener Feinde zum Opfer gefallen sein sollte und danach die mit menschengestaltigen Zauberwesen paktierende Ornelle Ventvit zur Ministerin erwählt worden war. Dann war der Name Ladonna Montefiori gefallen und dass jene, die er selbst aus den Geschichtsbüchern kannte, einen Gutteil Europas unter ihre Herrschaft gezwungen haben sollte und Frankreich als eines der ganz wenigen noch freien Länder verblieben war. Ladonna war eine Veelastämmige, die im Verruf stand, auch Sabberhexenblut in den Adern zu haben. Es stand zu befürchten, dass sie sich die Welt unterwerfen mochte. Dann waren gleich vier der fünf Kundschafter der Elfenbeininsulaner festgenommen und zu lebenslanger Haft im Gefängnis Tourresulatant verurteilt worden, weil sie zu Familien gehörten, die nur noch reinblütige Zauberer an der Macht halten wollten und nicht die nötige Geduld aufbrachten, durch einen heimlichen Umsturz Macht zu gewinnen. Also gab es in Frankreich nur noch einen Kundschafter, der auf dringenden Befehl des Achterrates keine politischen Ansprüche erheben durfte. Mit dieser Person, von der Enceladus Borgogne nicht erfuhr, wer genau das war, sollte er dann, wenn er wieder erwachsen war, Kontakt aufnehmen. Doch irgendwie dauerte ihm das zu lange. Er wollte und er würde nicht zehn Jahre abwarten, bis er offiziell alt genug war, um eigenständig handeln zu dürfen. Wenn ihm jemand einen Zauberstab in die Hand gab konnte er doch jetzt schon wieder alles tun, was er gelernt hatte. Selbst die Zeit im Bauch seiner Schwester und die ihn anwidernde dritte Kindheit hatten das nicht aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Immerhin wusste er, dass Blanche Faucon zur hauptamtlichen Schulleiterin von Beauxbatons geworden war und dass dieser Schlammblutmutant Julius Latierre die Erwartungen der Latierres erfüllte und ständig neue Bälger zeugte, die irgendwann mal so überragende Zauberfähigkeiten wie er haben sollten. Pech für die Latierres war nur, dass der eben nur Töchter zeugen konnte, weil seine Schwiegerverwandtschaft ihn ja unbedingt mit dieser Göre Mildrid Latierre in die versteckte Burg der Mondtöchter geschickt hatte. Wer da zu Mann und Frau erklärt wurde musste innerhalb von drei Jahren das erste Kind hinbekommen, das dann auf jeden Fall eine Tochter wurde. Warteten sie danach nicht sechs Jahre ab wurde das nächste Kind auch eine Tochter. Dann hätten sie neun Jahre zu warten, um vielleicht doch einen Sohn hinzubekommen. Doch das alles hatten die beiden nicht getan oder nicht gewusst, dass sie es so hätten machen müssen, um einen Sohn hinzubekommen.
Wegen dieser perfiden Fortpflanzungsorgie dieses früher als achso besonnenen Mutanten hatte Enceladus den Gedanken aufgegeben, dessen ganze Familie auf einen Schlag auszurotten. Dafür war ihm, dem Wiedergeborenen, ein nicht minder verwegener Gedanke gekommen. Wenn er weit genug zum fortpflanzungsfähigen Jüngling herangewachsen war konnte er sich vorstellen, sich an eine Tochter dieses Mutanten heranzumachen und sie in der bewährten Art dazu bringen, ihm aus der Hand zu fressen und als sein Rachewerkzeug zu dienen, erst als Spionin und später als seine Henkersmagd. Doch dazu würde er erst einmal einen eigenen Zauberstab führen müssen und eine völlig unverdächtige Tarnidentität annehmen. Er würde jedoch diesmal darauf bestehen, nicht noch einmal als hilfloser Säugling in eine Familie von Muggeln eingeschmuggelt zu werden, um als deren Wunderknabe wieder groß zu werden. Jetzt, wo er bewusst die Reifung im Mutterleib, die Geburt und die Säuglingszeit erlebt hatte, widerte ihn der Gedanke an, noch einmal so klein und hilflos zu werden, ja auch, dass ihm ein Zeitabhängiger Gedächtniszauber auferlegt würde, wie damals, als er und Phaeton diese unsägliche Schnapsidee hatten, dass er als Sebastian Pétain in der Zaubererwelt Frankreichs aufwachsen und leben sollte.
Es ploppte vernehmlich. Der im Körper eines achtjährigen steckende Wiedergeborene blickte sich hastig um. Dann sah er seine nun schon dritte Mutter, die vom äußerlichen her auch seine Großmutter hätte sein können. „Enceladus, komm nach Hause! Oder willst du verhungern?“ sprach sie zu ihm. Er verzog sein Kindergesicht und dachte an den Blutfindungszauber, mit dem Blutsverwandte, vor allem die Mütter, ihre Verwandten aus großer Ferne orten konnten. Adrastea, deren tiefschwarzes Haar nicht verriet, dass sie schon über siebzig Jahre alt war, blickte ihn sehr fordernd an. Er erkannte, dass es keinen Sinn ergab, ständig auf die Wellen zu starren und sich gegen sie aufzulehnen. Scheinbarer Gehorsam und Unauffälligkeit waren seine Schlüssel zu seiner Befreiung. Also nickte er und ging zu ihr hin. Sie bot ihm ihren linken Arm dar. Er ergriff ihn und wünschte sich unverzüglich, zu Hause im östlichen Hügel der Insel zu sein. Keine Sekunde später zwengte ihn das völlig dunkle Zwischenstadium zwischen Ausgangs- und Zielort ein. Danach rollten die Wogen des gerade friedlichen Ozeans unbeirrt gegen den nördlichen Strand der trapezförmigen Insel mit den vier grünen Hügeln an, die durch neue Unortbarkeits- und Tarnzauber für den Rest der Welt völlig unsichtbar war.
Adrastea Borgogne sah den Jungen, den sie selbst in Form eines kleinen weißen Lichtballs in sich aufgenommen und als ihren Sohn wiedergeboren hatte. Er wusste nicht, dass sie bereits vor dessen Wiedergeburt einen Zauber ausgeführt hatte, um seine Gedanken zu hören, solange er nicht weiter als hundertfache Rufweite von ihr entfernt war. Eigentlich hatte sie auch vorgehabt, ihn mit dem Lacta-Deditionis-Zauber zu beeinflussen, nichts zu tun, was ihr missfiel. Doch falls er sich dessen bewusst werden mochte und durch den Genuss der Milch einer anderen Hexe davon loskam hätte sie ihren eigenen Mörder zur Welt gebracht. Also beließ sie es nur bei ihm verborgenen Zaubern. Doch wenn er wie vorhin daran dachte, sobald er einen Zauberstab führte auf Rache auszugehen, war ihr sehr unwohl. Er durfte sich nicht in Gefahr bringen. Sie hatte wegen ihm zwei Opfer gebracht. Zum einen hatte sie sich ohne sein Wissen zum selben Zeitpunkt wie er infanticorporisieren lassen, um als bessere Kontaktperson für ihn zu dienen, nachdem ihre gemeinsame Mutter zu schwach für Gedankensendungen über große Entfernungen geworden sein sollte. Zum anderen hatte sie sich mit dreißig wiedererlebten Jahren darauf eingelassen, eine Erweiterung des Iterapartio-Zaubers durchzuführen, um ihn, falls er in Erfüllung seines Auftrages starb, wiederzuempfangen und in die Welt zurückzugebären. Diese beiden Opfer durften nicht umsonst gewesen sein, vor allem, wo der Achterrat gleich nach der erzwungenen Ortsversetzung der Insel beschlossen hatte, dass solche Versuche nie wieder angestellt werden durften. Starb der, den sie neu geboren hatte, dann würde er tot bleiben. Sie wusste aber auch, dass sie ihm das nicht vorhalten durfte. Sein Hass gegenüber jenen, die in ihr in den Bauch geweht hatten war zu mächtig. Dagegen anzusprechen mochte ihn ihr zum Feind machen. Nein, sie musste überlegen, wie sie vorgehen sollte, um ihn nicht in ein selbstzerstörerisches Leben hineinstürmen zu lassen. Sie ging davon aus, dass er mindestens noch zwei Jahre abwarten musste, bis man ihm den Besitz eines eigenen Zauberstabes gestatten würde. Auch gab es kein neues Tor mehr aufs Festland. Das alte Tor war durch die Ortsversetzung zerstört worden. Der Achterrat hatte nach den letzten Alarmbotschaften der Kundschafter beschlossen, mindestens noch zwanzig Jahre abzuwarten, bis dass niemand auf dem französischen Festland mehr an die Bewohner der Elfenbeininsel dachte. Das hieß für den auf seine Rache hoffenden Enceladus, dass er noch neunzehn Jahre abzuwarten hatte. Würde er das schaffen? Falls nicht, würde sie ihn hindern können, aus lauter unterdrücktem Hass zu handeln? Die Antwort darauf war ein klares, unmissverständliches und bedingungsloses Ja.
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Sie wohnte nun schon drei Jahre im Gutshaus Glenfield Brooks bei Brighton, jener abgesicherten Festung der europäischen Mondgeschwister. Ihre Tochter Lykomeda war froh, so viele neue Kinder als Spielkameradin zu haben. Lunera Tinerfeño hatte sich daran gewöhnt, nicht mehr die große Anführerin zu sein. Tara McRore war die offizielle Sprecherin der Mondgeschwistergruppe Großbritannien, Irland und Nordeuropa. Nach den heftigen Verlusten in den Reihen der einstigen Vereinigung um Fenrir Greyback waren viele, vor allem nichtmagische Mondgeweihte den Mondgeschwistern beigetreten, zumal die ihnen sichere Häuser vermitteln konnten, um Versammlungen abzuhalten. Ziel der Vereinigung war und blieb die friedliche Übereinkunft mit den eingestaltlichen Menschen mit und ohne Magie bei gleichberechtigter Mitbestimmung männlicher und weiblicher Mitglieder. Dass sie damit einen anderen Weg beschritten als die von Fino lange Zeit geführte Gruppierung spanischsprachiger Mondgeweihter wussten sie. Dass Fino und seine Anhänger immer mehr auf Rabiosos Pfad wandelten und unwissende Menschen in die Gemeinschaft hineinbissen störte Tara, Lorna, Maura und Lunera zwar. Doch sie wollten sich nicht darauf einlassen, diesen Weg zu gehen. Allerdings konnte diese Unstimmigkeit der eigentlich gemeinsamen Sache doch noch sehr hinderlich werden. Doch seit Luneras Fortgang von der Mondlichtungsinsel mitten im Amazonasstrom galt auf beiden Seiten, jedem Revierinhaber seine Jagdmethode. Tara hatte bereits angedeutet, dass bei einer Ausuferung der Einberufungen die Frage nach Sinn und Zweck der Gemeinschaft neu gestellt werden musste.
Einerseits konnte sich Lunera denken, dass Fino es ausnutzte, dass Vita Magica sich wegen Ladonna Montefiori nicht mehr so ausgiebig betätigte. Andererseits galt gerade nach Ladonnas angeblichem oder wahrhaftigem Ende, dass die Zaubereiministerien jetzt wieder Zeit hatten, sich um die ihnen lästig fallenden Zauberwesengruppen zu kümmern und sie in ihre vorgeschriebenen Grenzen zurückverwiesen werden sollten. Tara hatte da was erfahren, dass sich die Ministerien in internationalen Konferenzen darüber abstimmten, wie sie gegen unliebsame Wesen wie die Vampire, die Nachtschatten und eben auch die Lykanthropen vorgehen wollten. Fanden die eine gemeinsame Lösung hing es davon ab, wie sich gerade die Lykanthropen verhielten, ob sie als vordringliche oder zu vernachlässigende Gefahr oder als möglicher Verhandlungspartner eingestuft wurden. Das hatte Tara auch an Fino geschrieben. Sie erwarteten dessen Antwort, da die Schallverpflanzungsdosenverbindung wegen der Schutzbezauberung von Glenfield Brooks nicht mehr bestand.
Am 20. März traf die erwartete Antwort ein. Sie war an Lunera gerichtet. Doch diese gab den verschlossenen Umschlag an Tara weiter. Diese berief eine Vollversammlung aller Bewohner des Gutshofes ein, um die Antwort aus Übersee laut zu verlesen.
An die zweihundert männliche und weibliche Mitglieder der Mondgemeinschaft Nordeuropa fanden sich in dem ehemaligen Ballsaal des Herrenhauses von Gut Glenfield Brooks ein. Für jeden und jede gab es einen schmalen aber bequemen Stuhl. Alle Stühle waren auf das viereckige Podest ausgerichtet, dass wie eine kleine Bühne wirkte. als Lorna McRore meldete, dass alle erwachsenen Mitglieder der Gutsgemeinschaft anwesend waren erhielt sie die Aufforderung: „Mach die Tür und die Fenster zu, Lorna!“ Das tat sie. Sogleich trat der wegen seiner Dauerhaftigkeit unsichtbare Klankerkerzauber in Kraft. Zudem fielen vor den Fenstern leicht silbrige Schleier wie Nebel im Mondlicht herunter, um die Sicht von außen zu vereiteln. All das war eigentlich nicht nötig, weil das Gut von starken Schutzzaubern umgeben wurde und zudem unter Ortungsschutzzaubern stand, dass es nicht gefunden werden konnte. Doch die Sicherheit der Gemeinschaft konnte nicht groß genug sein. Lunera dachte daran, dass die besten Vorkehrungen nicht halfen, wenn es in den eigenen Reihen einen Verräter oder eine Verräterin geben mochte. Natürlich wusste sie und auch Tara, dass es einen Berichterstatter gab, der unabhängig von Tara und Lunera in das Hauptquartier der Mondgeschwister meldete, was außerhalb des Gutes stattfand und wie viele Mitbewohner es hatte. Manche der alten Mitstreiter mochten deshalb neidisch sein, dachte Lunera. Sie dachte mal wieder an Rabiosos Versuch, mit unbändiger Gewalt ein Königreich der Zweigestaltigen namens Lykotopia zu errichten. Er war am Ende an einer ebenso gnadenlos vorgehenden dunklen Hexe gescheitert. Das galt für alle hier als Mahnung, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Doch galt dies auch noch für Fino und die anderen?
„Schwestern und Brüder unter dem Mond Britanniens, Irlands und Nordeuropas“, begann Tara eine Ansprache und deutete auf das vor ihr auf der kleinen Bühne stehende Rednerpult. „Wir haben vor vier Wochen eine Anfrage an unsere amerikanischen Daseinsgenossen geschickt, wie diese sich die weitere Zukunft unserer Gemeinschaft vorstellen und unsere Besorgnis eingebracht, dass ein Weg, wie ihn Rabioso und die Seinen gewählt haben, jede Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens verderben mag. Nur weil die uns alle betreffende Bedrohung durch das verfälschte Mondlicht von Vita Magica und die von Veelas abstammende Hexe Ladonna Montefiori und ihr Rosenkönigreich uns zur Vorsicht zwangen waren wir uns einig, dass Rabiosos Weg der falsche ist. Doch seitdem Ladonna nicht mehr da ist und die Zaubereiministerien sich neu ordnen müssen meint Fino wohl, dass ein Mittelweg zwischen Luneras Vorhaben einer friedlichen Verständigung und Rabiosos Weg der gewaltsamen Eroberung und Vermehrung erfolgreich sein mag.
Wegen der einzuhaltenden Heimlichkeit unserer Postwege dauerte es eben mehrere Wochen, bis wir die Antwort erhielten. Ich habe sie schon gelesen und möchte sie euch allen nun laut vorlesen. Bitte hört alle aufmerksam zu! Danke!
Aufmerksame Stille breitete sich im Versammlungssaal aus. Tara nickte allen anwesenden zu, hob das Pergamentstück vom Rednerpult und begann laut vorzulesen:
„An die zaghaften Schwestern und zögerlichen Brüder östlich des Atlantiks. Wie ich erfuhr habt ihr euch in den Jahren, die wir mit Ladonnas Übergriffen zu tun hatten ein reines Versteckspiel betrieben. Gut, solange wir immer noch kein wirksames Mittel gegen Vita Magicas blaue Mordstrahlen haben ist es verständlich, dass ihr bei Vollmond immer in eurer Zuflucht zusammenkommt. Aber das ist eigentlich das Verhalten von Schafen bei Gewitter, nicht das von zielstrebigen und entschlossenen Wölfen wie uns. Daher haben wir die Macht des Trankes, den unser großer Gründer Cortoreja Espinado erfunden hat, auch außerhalb der Vollmondnächte nach neuen Getreuen gesucht und sie in unsere Gemeinschaft hinübergeholt. Bedauerlicherweise gelang es uns wegen Ladonnas Einwirkung auf die hispanoamerikanischen Zaubereiministerien nicht, genug dort tätige Mitarbeiter anzuwerben. Dies werden wir nun, wo diese veelastämmige Schlampe erledigt ist, schnellstmöglich nachholen. Wir können nicht wissen, wielange Vita Magica sich noch zurückhält. Außerdem wollen wir ja auch diese Brut der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder loswerden, von diesen Nachtschatten ganz zu schweigen, die ja auch meinen, ihnen gehöre die Welt. Daher haben wir, die Beratungsgruppe neue Mitglieder und ich, der durch mehrere Entscheidungskämpfe bestätigte Anführer, kein Verständnis für weiteres Zögern. Sicher müsst ihr nicht drauf los beißen, sondern solltet schon nach würdigen Mitgliedern suchen. Ich kann mich erinnern, Lunera, dass du und ich uns da immer einig waren und das auch eine schöne lange Zeit lang so gemacht haben. Aber offenbar hast du dich zu sehr von den drei McRores beschwatzen lassen, dass ein paar hundert Mondgeweihte völlig ausreichen, wenn sie dem Zaubereiministerium ihres Jagdrevieres gestatten, sie zu reglementieren. Ja, ich weiß, du bevorzugst die friedliche Übereinkunft, und ja, Rabiosos Versuch hat gezeigt, wie es nicht gemacht werden sollte. Aber wir werden in nicht all zu ferner Zeit genug Mitglieder in den nichtmagischen Siedlungen zusammenkriegen und nebenbei noch einige Ministeriumszauberer und -hexen auf unsere Seite holen, um Espinados Werk zu vollenden. So wie es aussieht wollt ihr da offenbar nicht weiter mitmachen. Gut, das können wir gerne in einem direkten Gespräch klären, wenn ich Leóns Herausforderung zum Nachfolgekampf überlebt haben werde. Denn er und ich sind uns einig, dass wir es diesmal nicht bei einer rein menschlichen Abstimmung belassen, sondern hier das Recht des stärkeren und erfahreneren Kämpfers gelten lassen wollen. Wie üblich werden wir uns im Mai bei Vollmond messen. Wenn er danach nicht mehr da sein wird gilt mein Beschluss, dass wir heimlich aber schnell genug weitere hundert Mitglieder dazugewinnen. Er hofft ja, falls er gewinnt, dass er dann seine Meinung durchsetzt und ausschließlich nach Ministeriumszauberern und -hexen sucht, die er und seine Leute anwerben können, bevor Vita Magica wieder aus dem Dornröschenschlaf aufwacht, in den Ladonnas Feuerrosenregime sie gestürzt hat. Vielleicht erwischen er oder ich sogar wen von denen und kriegen raus, wo die Babymacher und Blaulichtbanditen sitzen. Bleibt ihr mal schön auf euren zwei Inseln und an der Nordseeküste! Ich melde mich dann wieder, wenn der Nachfolgekampf entschieden ist.
Gruß von Fino dem obersten Bruder der Mondgemeinschaft“
Die Stille hielt vor. Nur dass es jetzt eine eher angespannte Stille war. Einige der hier versammelten sahen unsicher auf ihre Sprecherin. Diese deutete auf Lunera und fragte: „Was meinst du, welche Aussichten hat Fino im Zweikampf?“
„Er hat schon zwei gewonnen, Tara. Aber León del Fuego ist sehr schnell, stark und wild. Ich wundere mich nur, dass der Fino nicht schon früher herausgefordert hat. Wir sollten besser erst abwarten, wie der Kampf ausgeht und uns dann klar positionieren“, sagte Lunera. Tara nickte ihr zustimmend zu und wandte sich dann an ihre Schwester Maura. „Maura, verlies uns allen hier noch mal die Abschrift der sieben Gebote Espinados, besonders das mit dem Verhalten bei Uneinigkeit! Wir müssen klar wissen, was uns bevorsteht, wenn da jemand ist, der uns einen unannehmbaren Weg aufzwingen will.“
„León ist doch Mexikaner. Der wird sicher erst zusehen, dass sein Land ihm nichts mehr antut“, meinte Maura McRore. Dann holte sie aus ihrer Tasche eine dreißig mal dreißig Zentimeter messende Steintafel. „Höhö, wie bei Moses und den zehn Geboten“, scherzte Hank Mosley, der noch keinen wirklichen Kampfnamen hatte. Dessen Gefährtin Lorna McRore räusperte sich und rief zurück: „Espinado war kein Gott, aber entschlossen.“
„Ruhe bitte!“ gebot Tara, während ihre Schwester Maura die Bühne bestieg und sich direkt neben sie stellte. Dann verlas sie die in Stein gekratzten Zeilen, angeblich von Cortoreja Espinado in Wolfsgestalt mit der rechten Vorderkralle eingeschrieben.
„Ich, der Gründer der ehrenwerten Bruderschaft des Mondes, durch die Macht von Mond und Blut zur Zweigestaltigkeit befähigt, graviere im Lichte des dritten Frühlingsvollmondes diese Gesetze, nach denen alle meine Mitbrüder, deren Gefährtinnen, Schwestern und Töchter und ich zu leben beschließen und für alle zukünftigen Brüder von uns zur späteren Kenntnis und Befolgung. Vernehmet die sieben Gebote der Bruderschaft des vollen Mondes!
Erstes Gebot: Nur wer den Kuss der Mondverbundenheit empfangen hat und dessen heiße Glut in jeder Vollmondnacht verspürt und dem Ruf der wilden Entschlossenheit und Jagdbereitschaft vernimmt oder dessen Gefährtin, Schwester, Sohn oder Tochter darf unserer Gemeinschaft angehören
Zweites Gebot: Jedes Mitglied unserer Bruderschaft unterwirft sich jenem Mitglied unserer Bruderschaft, das durch Bestimmung durch mich oder meinen Nachfolger, eine Wahl oder offenen, unter dem dritten Frühlingsvollmond in erhabener Wolfsgestalt ausgetragenem Kampf auf Leben und Tod bestimmt ist. Sein Wort ist Gesetz, bis seine Führerschaft durch die genannten Bestimmungsarten endet.
Drittes Gebot: Der Führer bestimmt und beschreitet den Weg. Er hat die Wahl der Mitstreiter und die seiner Gefährtin frei. Alle anderen Brüder dürfen sich eine Gefährtin erwählen oder im offenen Kampf bis zur Kampfunfähigkeit unter dem letzten Frühlingsvollmond erwählen.
Viertes Gebot: Solange keine unserer Schwestern oder Töchter es vollbringt, die Führerschaft zu erlangen unterwerfen sich alle Schwestern, Töchter und Gefährtinnen dem Wort des männlichen Beschützers. Nur wenn eine von uns die Führerschaft erhält, gilt auch für alle anderen Mitschwestern Mitsprache- und Beschlussrecht, bis ein neuer oberster Bruder die Führerschaft erlangt.
Fünftes Gebot: Jeder von uns darf durch den schmerzhaften Kuss des Mondes einen oder so viele Mitbrüder oder Schwestern anwerben und zu deren Sprecher und Beschützer werden. Missfällt dem obersten Bruder oder einer obersten Schwester jedoch das Verhalten der neu erworbenen, so kann er oder sie ihn oder sie vor mindestens zehn ranghohen Brüdern aburteilen und mindestens aus der schützenden Gemeinschaft verstoßen, wenn nicht sogar töten. Dagegen darf der Werber und Beschützer nicht einsprechen, wenn er nicht selbst ausgeschlossen oder getötet werden will.
Sechstes Gebot: Unsere Kinder sind unsere sicherste Zukunft. Paare aus Mondgeweihten, die einander als Gefährten angenommen haben dürfen so viele eigens gezeugte Kinder hervorbringen wie sie wollen. Sie unterliegen bis zum sechzigsten Vollmond ihres Lebens dem Welpenschutz. Sie dürfen also nicht von anderen als den Eltern geschlagen, gequält oder unterdrückt werden und von niemandem getötet werden. Wer dagegen verstößt ist selbst zu bestrafen. Endet der Welpenschutz soll der Anführer allein bestimmen dürfen, welches Kind zum Wohle der Bruderschaft weiterleben oder sterben soll.
Siebtes Gebot: Die Mitgliedschaft endet mit dem Tod oder dem schmachvollen Ausschluss durch den bestehenden Anführer. Wer Verrat an der Bruderschaft begeht ist zu töten. Wer ihr dient ist zu schützen, bis zu einem Nachfolgekampf oder bis zum vom Alter gebrachten Tode.
Nachdem ihr Brüder und Schwestern diese Gebote vernahmt wisst ihr nun, wofür ihr zu leben habt und worin euer Dienst besteht. So seid gesegnet von der Macht des vollen Mondes und tragt unser großartiges Sein in die Welt hinaus, auf dass wir unauslöschlich darin weilen mögen!“
„Dafür dass Cortoreja so ein Bauernlümmel war hat der aber schon echt gut formuliert“, wagte Peter Walters, Hanks Cousin und immer noch nicht ganz mit seinem Schicksal in Frieden lebender Vetter. „Na nicht so frech, Pete“, ermahnte ihn Petes Gefährtin Maura, die nach dem gerade verlesenen Gebot der Anwerbung dessen Beschützerin und Lenkerin war. Dann sagte sie der Zuhörerschaft zugewandt: „Woher Espinado kam und wann er den von ihm bezeichneten Kuss des Mondes erhielt hat er nie vollständig erzählt. Wir wissen nur, dass er in Spanien gelebt hat.“ Lunera bestätigte es durch Nicken.
„Das heißt im Klartext, dass Frauen in dieser Gemeinschaft nur dann mitreden dürfen, solange eine Frau Anführerin ist. Aber das ist doch nicht so“, sagte eine der Zuhörerinnen. Darauf erhob sich Lunera und antwortete: „Für Cortoreja war der Nachfolgekampf entscheidend. Abstimmungen hielt er für zu menschenartig, nicht wild und eigenständig genug. Aber weil ich die einzige war, der er je wirklich über den Weg getraut hat übergab er mir damals die Schlüssel der Bruderschaft, einen Bund aus schwarzen Obsidianschlüsseln, die in verschiedene, hier nicht näher zu erwähnende Schlösser passen, wo Cortoreja seine Schätze des Mondes untergebracht hat, zumindest das, was er dafür hielt. Weil ich vor drei Jahren Fino diese Schlüssel übergab, nachdem wir in einer friedlichen Abstimmung feststellten, dass er mehr Leute hinter sich hat als ich, konnte er ohne Entscheidungskampf Anführer werden und blieb es auch über zwei oder drei Kämpfe hinaus. Offenbar hat sich doch wer gefunden, der ihn wieder herausgefordert hat.“
„Dieser spargeldünne Hänfling soll in brutalen Zweikämpfen auf Leben und Tod stärker sein als ein Typ vom Bauplan Arnie Schwarzeneggers oder Wesley Snipes?“ fragte Pete sehr verächtlich. Maura sah ihn sehr tadelnd an. Doch ihre große Schwester und Sprecherin dieser Gemeinde hier schüttelte den Kopf und sah Lunera an. „Fino ist sehr gerissen, wendig und schnell. Man muss kein Brocken von Kerl sein, um einen anderen zu überrumpeln und dem dann den tödlichen Schlag oder Biss zu versetzen. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob seine Zuversicht, auch mit León del Fuego fertig zu werden so gerechtfertigt ist. Also sollten wir es wirklich abwarten, wie es ausgeht.“
„Ja, und solange sich die Kerle kloppen bleiben wir Schwestern mitspracheberechtigt oder was?“ fragte eine noch junge Mitschwester namens Lissy Bowman. „Ja, bis eine Nachfolgekämpferin im Kampf stirbt“, sagte Lunera. „Steht so aber nicht in den Geboten vom großen Mondgott Espinado“, sagte Pete. Maura wollte schon los, ihren Gefährten zu züchtigen. Doch Tara hielt sie am Blusenärmel und sagte: „Wenn Lunera sagt, dass Espinado das so entschieden hat und alle dabei waren, die ihn noch miterlebt haben gilt ihr Wort, Peter Schandmaul. Ja, so solltest du heißen. Kläre ich noch mit deiner Gefährtin und durch Gesetze der Bruderschaft bestimmten Schutzherrin von dir.“
„Das hast du jetzt davon, Pety, dafür darfst du heute Nacht wohl im Keller auf dem Boden schlafen“, ätzte Hank Mosley. Pete zog nur eine verdrossene Schnute.
„Sollten wir uns nicht beraten, wie wir uns je nach Ausgang dieses archaischen Entscheidungskampfes verhalten sollen?“ fragte Lorna McRore. Alle anderen hier raunten Zustimmungsbekundungen. Tara nickte und bat dann Lunera auf die Bühne, damit sie berichtete, wie genau dieser Kampf ablief, ob er vor Zeugen stattfand und was nach dem Kampf anstand. Das tat Lunera dann. Die Jungen und Männer hier grinsten ein ums andere mal. Die Frauen und Mädchen schüttelten die Köpfe. „Mädchen, das ist nicht ungewöhnlich, dass auch wir Mondschwestern gegeneinander kämpfen, wenn der Preis es wert ist. Früher haben welche von uns auch um die Leitwölfinnenrolle gekämpft, also das Recht, Nachwuchs zu bekommen. Das ging nicht selten auf Leben und Tod. Also tut jetzt mal nicht so, als wenn wir Weibchen die reinsten Kuschelhündinnen wären. Dass Fino mich damals nicht zum Kampf herausgefordert hat lag daran, dass er sichern wollte, dass ich, eine der Gründerinnen der Bruderschaft, weiterhin für die Bruderschaft da sein kann. Wer kämpft setzt sein Leben ein. Nur der überlebende gilt als Sieger. Nur wer um einen Gefährten oder eben um eine Gefährtin kämpft darf den Unterlegenen weiterleben lassen. Das steht wenigstens in den sieben Geboten der Bruderschaft.“
„Und du hättest Fino fast einmal umgebracht“, erinnerte Lorna die Mitstreiterin. Diese bejahte es und erwähnte, dass dies auch im Einklang der sieben Gebote erlaubt gewesen wäre, weil Fino die Bruderschaft zu gefährden drohte. „Öhm, dann hast du ihm diese Schlüssel überlassen, obwohl du dir nicht sicher warst, ob er uns alle danach nicht in den Abgrund führt?“ fragte einer der jüngeren Mitbrüder. „Die Abstimmung drohte, den Frieden zu gefährden. Ich hatte damals keine andere Wahl. Er hätte mich sonst auch herausfordern können. Aber wie erwähnt wollte er mich nicht umbringen“, erwiderte Lunera.
„Also, Leute, was machen wir, je danach, wie der erwähnte Zweikampf ausgeht?“ fragte nun Tara McRore und bat um Vorschläge. Es begann eine einstündige Debatte, bei der sich am ende zwei Vorschläge durchsetzten: Weiterhin stillhalten und den Sieger bewusst ins Verderben laufen lassen oder sich ganz von der Bruderschaft des Mondes lossagen und eine eigene kleine Gemeinschaft gründen. Immerhin hatten sie hier zwanzig magisch begabte Mitglieder, die in Hogwarts und Greifennest ausgebildet worden waren und somit die Schutzzauber aufrechterhalten und neue hinzufügen konnten. Die Vorschläge wurden nun zur Abstimmung gestellt. Es siegte jener Vorschlag, bei einem als unannehmbar erkannten Weg des Siegers die Gemeinschaft aufzukündigen, auch wenn das siebte Gebot befahl, dass die Mitgliedschaft erst mit dem Tod endete. „Wir sind hier gut beschützt und können uns selbst versorgen. Die anderen sind weit genug von uns weg. Falls also etwas von denen unternommen wird, bei dem wir nicht mitgehen können, ohne unsere eigenen Kinder zu gefährden, entsagen wir der Gemeinschaft Finos oder Leónn del Fuegos.“
Als dies beschlossen war konnte Maura, die sozusagen als Protokollführerin und Zeremonienmeisterin amtierte die große Doppeltür wieder öffnen und damit den Dauerklangkerker und den Einblickschutzzauber beenden.
Lunera, die seit ihrem Umzug mit dem jungen Rudolfo, einem ehemaligen italienischen Lastwagenfahrer verbandelt war, traf sich noch einmal mit den drei McRore-Schwestern. „Wie hoch schätzt du die Chance ein, dass Fino auch den dritten Kampf gewinnt, Lunera?“ wollte Tara außerhalb des Protokolls wissen. „León gilt als durchtrieben, kann aber auch sehr brutal sein, je danach, was ihm Erfolg bringt. Fino kennt einige Tricks. Aber wenn der Kampf nach nur einer Minute nicht für ihn entschieden ist könnte er verlieren“, vermutete Lunera und war sich nicht sicher, ob ihr diese Einschätzung gefallen oder widerstreben sollte. Immerhin hatte Fino noch den kleinen Alejandro bei sich. Starb Fino könnte der Junge nach Ende des sogenannten Welpenschutzes von sechzig Vollmonden, also viereinhalb bis fünf Jahren von León getötet werden, um nicht von ihm irgendwann herausgefordert zu werden. Blutrache stand zwar nicht in den sieben Geboten, weil Espinado nichts davon hielt. Doch hatte sich in den Jahren seiner Herrschaft so mancher darauf berufen und den angeblichen oder wahrhaftigen Mörder eines Familienmitgliedes herausgefordert. Cortoreja Espinado hatte dem zugestimmt, allein um den Friedenund damit die Unterstützung seines Führungsanspruches zu sichern. Tja, so hatte sich das Recht auf Blutrache zum ungeschriebenen Gesetz gemausert. Wenn León del Fuego gewann mochte er den letzten Erben Finos töten. in Gedanken sah sie den Kleinen blonden Jungen noch in den Armen ihrer damaligen Schutzbefohlenen Nina. Starb Alejandro, war auch das letzte weg, was von ihr stammte. Durfte sie das zulassen?
Sie hörte die kleine Lykomeda, die zu aller Zufriedenheit nicht als Luneras Kronprinzessin auftrat und sich mit den mittlerweile vierzig in die Gemeinschaft geborenen Kindern gut vertrug. Manchmal vermisste sie Alejandro. Doch ihre Mama hatte ihr immer wieder ruhig erklärt, dass Alejandro bei seinem Papa besser aufgehoben war und sicher einmal zu Besuch kam, wenn sein Papa alle schweren Sachen erledigt hatte, die noch zu erledigen waren. Wenn sie in Medis Augen sah erkannte sie die Intelligenz und den Charme ihres Vaters Valentino. Warum hatten der und Nina sich damals von dieser Inkapredigerin Patanegra bequatschen lassen, mit ihr in den Tod zu gehen? Sie verstand es bis heute nicht. Doch Lykomeda, Medi, sollte ihren Vater immer in guter Erinnerung behalten, auch wenn Lunera irgendwann ein neues Kind bekommen mochte und das genausoviel Aufmerksamkeit brauchte wie Lykomeda.
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der dritte Frühlingsvollmond blickte auf die tropische Waldlichtung hinab. Nur das leise Plätschern des um die Insel herumfließenden Amazonas-Stromes war zu hören. Die Lichtung spiegelte das auf sie fallende Mondlicht in allen Grautönen. Ja, fast konnte man das Grün der die Lichtung umsäumenden turmhohen Bäume erahnen, so hell strahlte der Mond. Daher hatte die Lichtung ihren Namen Mondlichtung.
In den Stunden vor Mondaufgang hatten dreißig starke Mitbrüder einhundert Steine gleicher Größe zu einem Kreis aufgebaut, der südlich des dreistöckigen Versammlungshauses angelegt war. Nur zwei Stellen im Kreis waren bewusst offengeblieben, eine im Osten und eine im Westen. In der Mitte des Kreises lag ein besonders schwerer Felsbrocken mit glatter Oberfläche, der Stein der Entscheidung. Auf ihm musste der amtierende Sprecher der Bruderschaft die schwarzen Schlüssel Espinados ablegen. Gewann er den Kampf, durfte er sie wieder an sich nehmen. Gewann der Herausforderer, so durfte, ja musste er diese Schlüssel an sich nehmen, wenn der von beiden zum Kampfrichter erwählte Mitbruder den Sieg bestätigt hatte. Da der Kampf auf Leben und Tod geführt wurde war diese Entscheidung nur eine Formsache, eine für die Zuschauer nötige Bestätigung, wem sie weiterhin zu folgen und zu gehorchen hatten.
Es war verpönt, andere Lichter als das des Vollmondes zuzulassen. Daher wirkten die nun leise aus allen Richtungen herantrabenden Geschöpfe wie graue bis nachtschwarze Schatten. Es waren ausnahmslos erwachsene Wölfe mit auffallend buschigen Ruten und untypisch kurzen Schnauzen. Die einen hatten kräftige Pranken und biegsame Hinterläufe. Die anderen eilten auf beinahe zierlichen Pfoten dahin. Nur an den Geschlechtsteilen war zu sehen, wer männlich und wer weiblich war. Aus den Seiteneingängen des Versammlungshauses und den offenen Türen der fünf Wohnhäuser strömten die Gestalten, die bei Tage aufrechtgehende Menschen waren. Sie nahmen außerhalb der aus flachen Steinen gebildeten Kreislinie ihre Plätze ein. Dank des mächtigen Lykonemisis-Trankes konnten sie trotz ihrer Wolfsgestalt wie Menschen denken und Handeln. Nur das Sprechen mochte schwerfallen. Daher unterließen sie es meistens, mit körperlicher Stimme zu sprechen.
Aus dem Versammlungshaus traten nun drei aufrechtgehende Männer in ledernen Lendenschurzen. Der eine war lang und dünn und wirkte nicht gerade stark. Der zweite dagegen ließ starke Oberarm- und Brustmuskeln spielen, während er ins Mondlicht hinaustrat. Der dritte von ihnen war klein und beleibt und trug neben dem Lendenschurz noch eine Umhängetasche. Der lange dünne Mann hielt in seiner rechten Hand einen großen Schlüsselbund. Als sie drei ganz im Mondlicht gebadet wurden begannen sie zu beben, als wenn der Boden in Aufruhr wäre. Ihr Wille, in Menschengestalt zu bleiben kämpfte gegen die vom Mond in ihr Blut übermittelte Magie, die sie ebenfalls in Wolfsgestalt wandeln wollte.
Unter den nun aufmerksam beobachtenden Wölfen befanden sich auch eine im zweiten Drittel schwangere und ein weiteres dünnes Männchen, die beide den muskulöseren Mann mit der wilden Löwenmähne und dem struppigen Vollbart ansahen, voller Hoffnung oder voller Schicksalsergebenheit?
Vor zwei Monaten hatte es jenen Streit gegeben, bei dem sich Fino und León nicht darauf verständigen konnten, wie sie die Verluste der letzten Jahre ausgleichen konnten, vor allem wo sich ihre schlimmsten Widersacher entweder gegenseitig niedergerungen hatten oder aus Angst vor weiteren Rückschlägen in ihren Verstecken verkrochen hatten. Weil der Streit der Luna-Ascendienda-Gruppe und der der Mondlichtungsgruppe nicht mit Worten und Verbrüderung beigelegt werden konnte hatte León Fino zum Nachfolgekampf herausgefordert. Der Tradition nach sollte er am dritten Frühlingsvollmond vor allen interessierten Zuschauern ausgetragen werden. Natürlich war die englische Gruppe mit den McRore-Schwestern und Lunera nicht gekommen. Damit hatten sie hier in Südamerika nun wirklich nicht mehr gerechnet. Doch je danach, wer heute gewann würde sich die Gruppe in Europa zu entscheiden haben, wie groß ihre Verbundenheit mit der Bruderschaft war. Bocaffina, die schwangere Lykanthropin und ausgebildete Hexe, hoffte darauf, dass ihr Gefährte siegen würde, damit dieser endlich ein Machtwort sprach, was Lunera Tinerfeño anging. Falls Fino der Anführer bleiben würde wusste sie, dass dieser Lunera weiterhin an der ganz langen Leine laufen lassen würde und seinen Vermehrungsfeldzug durch die kleineren Siedlungen und Elendsviertel der Riesenstädte Südamerikas fortführen und sich nicht um Lunera und die anderen Europäerinnen scheren würde. Dann würde sie Leóns Kind ohne Vater aufziehen und darauf hoffen, dass dieser nach dem in Stein gekratzten Welpenschutz weiterleben durfte. Alejandro, Finos Sohn, mochte im Fall von Leóns Sieg nicht mehr lange leben, falls sie keinen Einspruch erhob und ihn als späteren Gefährten ihrer möglicherweise gerade heranreifenden Tochter einforderte.
Gordiño, der von beiden ausgewählte Kampfrichter, griff in seine Umhängetasche und holte ein weißes Tuch heraus, dass das auftreffende Mondlicht vollkommen spiegelte. Mit diesem ging er zum altarartigen Felsblock in der Mitte des Steinkreises, wobei er den östlichen Durchlass benutzte und wie die Gestirne erst nach süden ging und dann das Tuch auf dem Stein ausbreitete. Dann sagte er mit das eigene Beben überspielender Stimme: „Heute, Brüder und Schwestern unter dem Mond, wollen sich unsere Mitbrüder Fino und León dem urwüchsigen Kampf um die Nachfolge stellen. Wie bereits zweimal gesehen wird der Kampf auf Leben und Tod ausgefochten. Gnade ist nicht erlaubt. So frage ich dich, oberster Bruder Fino, bist du bereit, deine Führungsstellung gegen Bruder León zu verteidigen und dafür dein Leben einzusetzen?“
„Bruder Gordiño, ich bin bereit“, sagte der dünne Mann mit leicht erbebender Stimme. „So lege die Schlüssel unseres Gründervaters Cortoreja Espinados auf den Stein der Entscheidung ab und lege deine Kleidung außerhalb des Kreises des Zweikampfes nieder!““, erwiderte der kleine runde Mann. Der Dünne betrat den Kreis durch den Ostdurchlass und legte den Schlüsselbund auf den mit weißem Tuch bedeckten Steinblock ab. Dann schlüpfte er aus seinem Lendenschurz und legte diesen außerhalb des Steinkreises nieder.
„Bruder León, du hast gemäß der Bestimmung der Nachfolgerechte den urwüchsigen Kampf unter dem dritten Frühlingsvollmond gefordert, um von Bruder Fino die Nachfolge zu erobern. Bist du bereit, deinem Wort Taten folgen zu lassen und zum Preis deines Lebens um die Nachfolge zu kämpfen?“ León del Fuego sagte mit entschlossener Stimme: „Ja, ich bin bereit, Bruder Gordiño.“ „So leg auch du deine Kleidung außerhalb des Kreises ab und betrete diesen durch den Eingang in Abendrichtung!“
León schlüpfte behände aus dem Lendenschurz und betrat in natürlichster Erscheinung den Kreis durch den Westzugang. „Brüder, verschließt den kreis!“ befahl Gordiño. Darauf trabten vier Wölfe im Osten wie im Westen zu einer Stelle, wo die entwurzelten und entasteten Stämme junger Bäume lagen. Die je vier Wölfe krochen unter die Stämme und stemmten diese hoch genug, dass sie wieder auf allen vieren laufen konnten. Sie trugen sie zu den bisher freigelassenen Lücken und legten die Stämme behutsam darüber. Der Kreis war nun verschlossen. „So habt ihr vor Mondaufgang einen letzten gemeinsamen Trunk genommen und auf den Fortbestand der Bruderschaft angestoßen. So wandelt nun eure Erscheinung und zeigt euch uns und dem Mond in eurer kraftvollen Form!“ befahl der Zeremonienmeister oder Kampfrichter.
Nun vollzog sich an den beiden Kämpfern die unheimliche Verwandlung. Sie stöhnten und ächtzten vor Schmerzen. Doch am Ende genossen sie auch, den Widerstand gegen den Mond aufgeben zu können. Da sie den Trank der Macht über den eigenen Körper getrunken hatten behielten sie ja ihren freien Willen. Fino wurde zu einem Wolf mit dunklem Fell und einem langgestreckten Körper wie ein Fuchs oder Windhund. León del Fuegos wilde Löwenmähne schrumpfte zu einem nur noch halblangen Fell, das nun auch seinen ganzen freien Körper überzog. Er wirkte weitaus gedrungener als Fino. Nun standen sie sich beide gegenüber, der amtierende Führer und sein Herausforderer. Einer von beiden würde in dieser Nacht sterben. Der andere würde die Schlüssel Espinados vom Stein der Entscheidung nehmen und damit die verborgenen Verliese in Spanien aufsperren, wo Espinado seine Schätze des Mondes verstaut hatte, wenn diese gebraucht wurden.
„So werde nun auch ich meine Mondgestalt annehmen und eurem Kampf beiwohnen“, sagte Gordiño und kletterte über die südliche Kreisbegrenzung. Dann ließ er sich auf alle viere fallen und gab sich ebenfalls der Verwandlung hin. Als diese vollendet war begann der tödliche Zweikampf.
Wie Fino gedacht hatte griff León del Fuego sogleich mit wütenden Sprüngen und zuschnappendem Maul an. Fino wich den Angriffen durch geschickte Seitwärtssprünge aus, wobei er jedoch kurze, spürbare Bisse an Leóns linker oder rechter Flanke anbrachte. León hieb mit den Pranken nach ihm, als wäre er ein Kater auf Mäusejagd und versuchte, Fino in eines seiner zerbrechlich scheinenden Beine zu beißen. Doch der konnte seinerseits einen Tatzenhieb auf Leons Nase anbringen, dass sie blutete. León gab nur ein kurzes, schmerzhaftes Aufjaulen von sich, um dann noch wütender auf seinen Gegner einzustürmen. Ihm war klar, dass er die schnelle Entscheidung herbeiführen musste, um nicht zu ermüden und Fino damit wieder einen seiner gemeinen Tricks zu ermöglichen, mit denen er den letzten Gegner erledigt hatte. Er ließ es dabei zu, dass Fino ihn fast im Genick zu packen schaffte und schnappte nach der pelzigen Brust seines Gegners. Ratschend riss ein Bündel Fell aus, und aus einer halbmondförmigen Bisswunde tropfte Finos erstes Blut. Der Vollmond erleuchtete nun das Blut der beiden Kämpfer.
Fino nahm den Schmerz ohne Laut hin und versuchte, seinen Gegner zu einem weiteren Sprung ins Leere zu verleiten. Doch der verhielt mitten im Anlauf und schnellte provozierend auf seine kräftigen Hinterläufe. Das war eigentlich ein taktisch sehr ungeschicktes Vorgehen, weil er Fino damit Brust, Bauch und Geschlechtsteile zum Hineinbeißen darbot. Doch Fino nahm das Angebot nicht an, wohl weil er davon ausging, geködert zu werden. Er richtete sich ebenfalls auf und balancierte auf seinen Hinterläufen. Seine buschige Wolfsrute pendelte fast wie ein wedelnder Hundeschwanz hin und her, um sein Gleichgewicht zu halten. Fino grollte aus tiefstem Bauch heraus und hielt seine Pranken nach oben gestreckt. So verharrten die beiden Kämpfer für mehrere Sekunden in der Imponierstellung. Dann hatte León del Fuego genug von diesem sinnlosen Gebaren und ließ sich wieder auf die Vordertatzen Fallen. Er lief los. Das hatte Fino gehofft und sprang nur mit der Kraft seiner Hinterläufe hoch. León geriet so unter Fino, der ihn sogleich mit allen vieren umklammerte und sich im struppigen Bauchfell des Gegners festkrallte.
León del Fuego stemmte sich jedoch gegen die ihm auf den Rücken geprallte Last seines Gegners und versuchte, ihn abzuwerfen oder ihm in die frei hängenden Geschlechsteile zu beißen. Doch Fino schob sich weiter vor und bekam die Wurzel von Leóns kurzer, buschiger Rute zu fassen und biss sich daran fest wie ein Fisch am Anelköder.
Die Anwesenden sahen diese Demütigungsgeste Finos und wie León versuchte, den Herausgeforderten wieder abzuschütteln. Allen hier war klar, dass Fino nicht schwer genug war, um León zu Boden zu drücken. Außerdem galt der Kampf nur als gewonnen, wenn einer der beiden den anderen tötete. Also konnten die wegen des Lykonemisis-Trankes weiterhin klar denkfähigen Zeuginnen und Zeugen Finos Ritt auf Leóns Rücken nur als weitere Provokation, als Ausbund von Frechheit und Verachtung sehen. So sah es wohl auch León und sprang mit lautem Wutgeheul vom Boden ab, um sich im freien Flug auf den Rücken zu werfen, um den auf ihm festhängenden Gegner unter sich zu begraben. Dieser hatte jedoch genau damit gerechnet und gleich nach dem Absprung losgelassen. Er wurde wegen Leóns stärkerer Sprungkraft höher geschleudert als León und glitt zur Seite weg. Als León merkte, dass er sich gerade in eine für ihn lebensgefährliche Lage drehte prallte er auch schon auf dem Boden auf. Fino brauchte jedoch noch, um auf seine Füße zu kommen. Diesen winzigen Sekundenbruchteil nutzte León aus, um sich blitzartig zusammenzurollen. Fino öffnete das Maul zum Zubeißen und schnellte seinen Kopf vor. Da schnappte Leóns kräftiges Maul zu und erwischte den gestrafften Hals seines Gegners. Fino erkannte schmerzvoll, dass er Leóns Kraft und Biegsamkeit sträflich unterschätzt hatte. Vor allem aber merkte er, dass León nun gnadenlos zubiss. Wie mit rasiermesserscharfen Dornen gespickte Eisenbacken eines Schraubstockes gruben sich die Kifer des Herausforderers in die Kehle des bisherigen Anführers. Fino versuchte, sich mit seinen Pranken zu wehren, teilte verzweifelte, schlecht sitzende Hiebe gegen Leóns Gesicht und Ohren aus. Doch der andere hielt sich an ihm fest und versuchte, ihn mit kräftigen Nackenbewegungen durchzuschütteln.
Finos Bewegungen wurden immer ungelenker, immer schwächer. Alle Zeugen hörten ihn verzweifelt nach Luft röcheln. Doch León hielt sein Opfer fest wie eine lebende, struppige Wolfsfalle. Fino versuchte, sich mit den Hinterläufen freizustrampeln. Dabei glitt er aus, so dass León, der weiterhin festhielt, über ihm zu liegen kam. Mit aller Kraft umklammerte León nun mit seinen Vorderpranken den Brustkorb seines Gegners. Dieser stieß noch zwei pfeifende Atemzüge aus. Dann zuckte er nur noch und strampelte hilflos mit den Beinen in der Luft. Das ging mehrere gnadenlose Minuten lang. Dann regte sich Fino nicht mehr. Mit einem lauten Knurren biss León noch eine Spur kräftiger zu. Dann ließ er ab. Sein Maul troff vom Blut des soeben getöteten Gegners. Dessen Hals war eine einzige klaffende Bisswunde. Der Vollmond beleuchtete das daraus strömende Blut als letztes Zeichen seiner Existenz.
Nun geschah, was jedem widerfuhr, der in der erhabenen Zweitgestalt den Tod erlitt. Das dunkle, vom eigenen Blut und dem des Gegners besudelte Fell zog sich zurück. Kopf, Glieder und Hinterleib verformten sich. Aus dem toten Wolf Fino wurde der tote Menschensohn Jaime Diego Sánchez Fontanero. Der Anführer war tot. Sein Nachfolger stand mit bebendem Körper und blutendem Maul über ihm. Dann warf er seinen Kopf in den Nacken, riss das Maul auf und stieß ein langes, triumphierendes Heulen aus. In das Triumphgeheul fielen auch Leóns direkte Vertraute ein, darunter seine schwangere Gefährtin mit dem schmaleren Maul, Bocafina. Sie priesen den Mond für den Sieg ihres Gefährten und neuen Anführers.
Gordiño erhob sich von seinem Platz und überstieg die Begrenzungssteine. Im Vergleich zu den beiden Kämpfern wirkte er wie ein überfütterter Schoßhund, der gerade genug Kraft aufbrachte, um zu seinem Fressnapf zu laufen. Dennoch sahen ihn alle hier nicht mit Spott oder Mitleid an, sondern mit Achtung. Sie alle wussten, wie intelligent der kleine Dicke war und dass er der Mondbruderschaft schon sehr gute Hinweise hatte geben können, wo es sich lohnte, zuzubeißen und wo größere private Goldverstecke waren, die sich zu plündern lohnten, um genug Gold für die Antivampirwaffen zusammenzukriegen. Natürlich war er kein Kämpfer. Aber Berater waren in der Bruderschaft auch wichtig. Das hatte Fino zu schätzen gewusst. León würde da wohl nicht anders empfinden, vor allem jetzt, wo der Sieg im Kampf seinen Weg für die Bruderschaft bestätigt hatte.
Gordiño trat zu León in Wolfsgestalt, der über dem in seine Menschengestalt zurückverwandelten Leichnam Finos thronte und weiterhin seinen Sieg in die Vollmondnacht hinausrief. Dann richtete sich der Kampfleiter auf, kämpfte gegen den Drang seines runden Bauches, wieder nach unten durchzusacken und auch gegen die Macht des Mondes, die ihn in dieser Gestalt hielt. Zitternd und mehrfach zuckend verwandelte er sich in seine menschliche Erscheinungsform zurück. Als ihm das nach nur dreißig Sekunden gelang reckte er beide fleischigen Arme nach oben zum Mond und rief: „Der Mond sah den Kampf. Der Mond erleuchtete das Blut der Kämpfenden. Der Mond sah den Sieg. Der Mond hat entschieden, wessen Wort und Weg wir alle folgen. Bruder León del Fuego ist unser neuer Anführer. Grüßt den Sieger und ehrt den obersten Bruder!
Leóns Getreue heulten nun noch lauter. Nun stimmten erst zögerlich und dann in der gebotenen Stärke die anderen in das Chorgeheul der versammelten Mondbrüder ein. Auch die Wölfinnen gaben mit hohen Stimmen langgezogene Töne von sich. Da Fino keine lebende Gefährtin mehr hatte – nach dem, was ihm die Spinnenhexe angetan hatte, und von dem er niemandem berichtet hatte war ihm die Lust auf eine neue Gefährtin vergangen – trauerte niemand wirklich um ihn. Denn hier waren nur erwachsene Brüder und Schwestern. Die Kinder lagen von Schlaftränken betäubt in ihren Betten, sofern sie schon geboren waren.
„Bruder León, erweise uns nun die Ehre und sprich zu uns als unser neuer Anführer!“ rief Gordiño so laut, dass er selbst den Chor aus über hundert heulenden Wölfen übertönte. Sofort wurde es so still, dass nur noch die leisen Atemgeräusche der Anwesenden und das rastlose Plätschern des fließenden Amazonasstromes zu hören waren.
León kämpfte darum, seine Menschengestalt zurückzubekommen. Offenbar hatte ihn der Kampf und der Rausch des Sieges derartig ausgezehrt, dass er die Kraft des Vollmondes nicht so locker abschütteln konnte wie der kleine runde Kampfleiter. Er bebte und zitterte, wand sich und versuchte, sich aufzurichten. Teilweise filen ihm die buschigen Haare aus dem Rückenfell. Dann endlich setzte die erzwungene Rückverwandlung ein. León del Fuego wurde wieder zum kräftigen Mann mit langem, struweligem Haar und Vollbart. Als er wusste, dass er die im Mondlicht schwer zu haltende Menschenform zurückgewonnen hatte richtete er sich auf und stand blutbesudelt und nackt vor den Zeuginnen und Zeugen des Kampfes. Dann sagte er mit leicht erbebender Stimme:
„Brüder und Schwestern, ihr wisst, das reden ist nicht so meins.“ Ein wildes Hächeln und Röcheln erklang, das bei Menschen wohl als Lachen gezählt hätte. „Ich sage schon mal vielen Dank dafür, dass ihr mir und dem Dünnen da zugesehen und meinen Sieg mitbekommen habt und das so allen erzählen könnt, die heute nicht herkommen wollten oder konnten. Deshalb sage ich nur so viel. Gordiño, wenn du mir das erlaubst nehme ich gleich die Schlüssel von unserem großen Gründer Espinado, damit das richtig amtlich abgeschlossen ist, wer jetzt weiter sagt, wo es langgeht. Dann werde ich auch sagen, wie es weitergeht.“
„Oberster Bruder Feliciano Torres, gerühmt und geehrt unter dem Namen León del Fuego, ergreife die auf dem Stein der Entscheidungen bereitliegenden Schlüssel unseres großen Gründervaters Espinado und nimm sie als Zeichen deiner neuen Führerschaft und Befugnisse an!“ tat Gordiño dem neuen Anführer den erbetenen Gefallen. León, der immer noch damit kämpfte, nicht wieder zum Wolf zu werden, ging eilig zum altarartigen Stein und grabschte wie ein Kind, das eine begehrte Süßigkeit erhaschen will nach dem Schlüsselbund und hielt ihn ins Mondlicht. Dann sagte er:
„So, ihr seht, die Schlüssel tun mir nichts. Die erkennen mich also auch als neuen Jefe an.“ Wieder erfolgte das rhythmische Röcheln und hächeln, als hunderte von Wolfskehlen menschliches Lachen nachzuahmen versuchten. „Ja, und jetzt, wo ich die Schlüssel habe sage ich an, dass alle, die auf der Insel wohnen bleiben wollen gerne hierbleiben können. Das davor unter Wasser festgebundene Schiff Reina de las Mareas kann auch gerne da liegen bleiben, bis wir’s brauchen oder für die, die nicht jeden Vollmond die Gestalt wechseln wollen. Aber ab dieser Nacht … Mann lass mich das noch saaa..“ Fell spross wieder aus Leóns Brustkorb und Beinen. Seine bezeichnende Löwenmähne und der Bart schrumpften auf die halbe Länge. Leóns Mund fing an, sich zur Wolfsschnauze auszubilden. Röchelnd und knurrend kämpfte er dagegen an und schaffte es, die Verwandlung zu unterbrechen und wieder zurückzudrängen. „Also, bevor mich der Mond doch wieder voll packt nur so viel: Ab heute ist die Hacienda, die Fortaleza Luna Ascendienda heißt nicht nur mein Wohnhaus, sondern mein Herrscherhaus. Alle wichtigen Versammlungen und Beschlüsse passieren nur noch da, bis ich entweder durch die Alte Frau mit den Knochenfingern oder von einem von euch, der oder die meint, mich in einem oder wie vielen Jahren herauszufordern aus der Welt geschafft werde. Wer also was will muss auf die Hacienda kommen. Wenn es was www… ooorg!! …“ Wieder schien sich die vom Vollmond beschworene Wolfsgestalt gegen Leóns Willen durchzusetzen. Doch noch einmal schaffte er es, sie zurückzudrängen. „Gut, weil ich jetzt die Schlüssel habe gilt auch, dass ich sage, wo es lang geht. Ja, und die wahllose Beißerei bei unwichtigen Leuten, die keine Weibchen sind hört auf. Ab heute suchen wir uns genau die aus, die es wert sind, neue Mondbrüder zu werden, wie es die Witwe von Espinado schon mal angesagt hat, bevor sie sich dem Dünnen da unten geschlagen gegeben hat, ohne auch nur einen Hauch von Kampfeswillen zu zeigen. Wie war das beim letzten mal, wo der noch mit einem ungeahnten Trick gewonnen hat. Der Besiegte wird in den Fluss geschafft und da dem Wasser überlassen und vielleicht auch diesen kleinen bösen Beißern, falls die ehrliches Wolfsfleisch vertragen. Ansonsten soll er ins Meer treiben, wo der Mond Ebbe und Flut macht. Blackface, Palón, Pelopinto, ihr macht das. Alle anderen können die Nacht noch den Mond genießen. Aaauuu! Mond, gib mir noch die eine Minuteeee!!!“ Wieder versuchte die unheilvolle Natur des Lykanthropen, Leóns Körper zu verwandeln. Er schaffte es noch einmal, das zu unterdrücken. schnell sagte er: „Ach ja, schreibt allen, die heute nicht hier waren, egal ob sie nicht konnten oder nicht wollen, dass ich jetzt die Schlüssel habe und wo die Versammlungen abgehen! Ich will, dass ihr alle in den nächsten zwei Monaten selbst mit euren Gefährtinnen und Kindern bei mir vorbeikommt und mir zum Sieg gratuliert und mir die Füße küsst, damit ich weiß, dass ihr mich als neuen Führer anerkennt. Wer das nicht macht oder einfach nur zu spät kommt verliert entweder drei erreichte Rangstufen oder gleich das Recht, von der Bruderschaft beschützt zu werden. Schreibt denen das alles. Ich werde das gewissen Frauenzimmern selbst schreiben, damit ich weiß, dass die das auch mitkriegen. Die anderen schreiben das ihren Leuten, die heute nicht hier waren. So, und jetzt muss ich die Schlüssel in Sicherheit bringen, bevor mich … Uuaarrrg!“ Die letzten Worte vergingen in einem langgezogenen Schmerzenslaut und Grollen, als sich die Natur des Werwolfs gegen Leóns Willen durchsetzte und ihn innerhalb von nur zehn Sekunden in seine Wolfsgestalt verwandelte. Dabei fiel ihm der Schlüsselbund aus der zur Pranke verformten Hand. Noch zwei Sekunden stand er bebend auf den Hinterbeinen. Dann gab er den Kampf gegen die Kraft von Vollmond und seinem Blut auf. Er fiel auf alle viere nieder. Sogleich stellte er seine rechte Vordertatze auf die Schlüssel Espinados, damit bloß keiner auf die freche Idee kam, sie ihm wegzunehmen. Auch wenn er wusste, dass dies keine und keiner hier wagen würde wollte er sich nicht darauf verlassen, dass die Schlüssel sich gegen unerlaubten Zugriff wehrten, wie Espinado, Lunera und Fino das immer behauptet hatten.
„Jungs, ihr habt den Jefe gehört. Bringt unseren toten Bruder Fino zum Fluss und schiebt ihn rein. Ich denke nicht, dass sich die Piranhas trauen, das Blut eines Mondgeweihten zu trinken und sein Fleisch zu fressen“, sagte Gordiño, der völlig anders als León kein Problem damit hatte, im vollen Vollmondlicht als Mensch herumzulaufen, obwohl auch in ihm das wilde Wolfsblut wallte.
Die von León aufgeforderten Mondbrüder trabten zum toten Fino hinüber, ergriffen ihn mit ihren Mäulern an Armen und Beinen und zogen ihn behutsam aus dem Steinkreis, nachdem andere Brüder den Baumstamm über der Westlücke zur Seite gerollt hatten. Sie schafften den Leichnam zum Flussufer und schoben ihn weiter und weiter in den Strom hinein, bis dieser ihn völlig ergriff und mit sich nahm. Sie selbst mussten nun gegen den Strom anschwimmen und kämpften sich auf den Strand zurück. Dabei sah Blackface unter der Wasseroberfläche mehrere handgroße Schatten in großer Eile davonhuschen. Er hatte schon frei schwimmende Piranhas gesehen. Einer hatte sogar mal einen der Mondbrüder angebissen und eine blutende Wunde verursacht. Doch dann war der sonst so hungrige Sägesalmler wie ein Pfeil davongeschossen, als habe er angst, das Blut würde ihn verbrennen. Es stimmte also doch, dass die sonst so gefürchteten Raubfische des Amazonas kein Werwolfsblut vertrugen oder irgendwas darin deren Fluchttrieb auslöste. So konnten Blackface, Palón, Murillo, der in Wolfsgestalt wie ein menschengroßer Ziegelstein aussah und Pelopinto, dessen Wolfsfell helle, kreisrunde Flecken aufwies völlig unbesorgt auf die Insel zurückkehren, während ihr toter Bruder Fino weiter und weiter davontrieb.
Der Sieger des Kampfes um die Nachfolge legte sich auf die erbeuteten Schlüssel. Dabei achtete er darauf, dass er diese mit keiner nun verkrusteten Wunde berührte. Seine Ohren blieben in Horchstellung aufgerichtet. Er atmete immer ruhiger. Als er das typische Trappeln von Wolfspfoten auf tropischer Waldlichtungserde hörte bewegte er nur das linke Ohr in die Richtung. Dann roch er, dass es seine neuen Mutterfreuden entgegengehende Gefährtin war. Diese tippte seine Schnautze mit ihrer Nase an und schleckte ihm das Gesicht ab. León erbebte, ob vor wohliger Erregung oder Verärgerung, weil sie ihn am Einschlafen hinderte. Dann hörte er ihre Gedankenstimme in seinem Kopf: „Was machen wir mit Finos Welpen. Der hat jetzt keine Eltern mehr.“
„Ich gehe davon aus, dass Lunera nicht will, dass dem was passiert. Deshalb werden wir den mitnehmen und ihr klarmachen, dass sie den nur noch lebendig wiedersieht, wenn sie zu mir hinkommt und mich als ihren neuen Anführer anerkennt. Sonst kann ich die Schlüssel von Sommer, Herbst und Winter nicht benutzen. Ich merke das, dass die mich nur akzeptieren, weil ich Finos Leben ausgelöscht habe. Aber um die ganz zu benutzen muss die, die sie an ihn übergeben hat, mich auch als ihre Nachfolgerin anerkennen. Solange behalten wir Finos Welpen.“
„Und wenn du nicht recht hast, Cariño? Wenn ihr das egal ist, was mit ihm passiert und sie ja ihre eigene Tochter bei sich hat?“
„Hmm, könnte der echt einfallen. Überleg dir was, damit die zu mir kommt, auch damit du endlich deinen Frieden mit ihr hast, Querida!“ gedankengrummelte León del Fuego. „Am besten denke ich mir die Worte aus, die du in den Brief reinschreibst, mit dem du sie zu dir hinrufen willst, Leoncito.“
„Ja, solange keiner von den Chiquitos das mitkriegt, dass du mir den Brief vorgeschrieben hast, sonst kommen Palón, Murillo und Pelopinto auf die komische Idee, ich würde dich fragen müssen, wenn ich wem was schreibe.“
„Ach, und du meinst, Blackface und Madrugadiña können das ruhig wissen?“ kam bei ihm eine ziemlich freche Frage an. Er grummelte mit körperlicher Stimme. Dann schickte er zurück: „Blackface ist ein kleiner, kriecherischer Wurm, der alles macht, was ich dem sage. Madrugadiña hat genug mit ihrem ersten Welpen zu tun.“
„Wie du meinst, mein starker Held unter dem Mond. Dann genieße ihn noch. Soll ich die Schlüssel nicht in unser Zimmer tragen?“
„Neh, lass die besser bei mir, bis ich die selbst wieder anfassen und wegtragen kann. Nachher machen die doch noch was, weil sie nicht vom richtigen angefasst wurden“, gedankensprach León del Fuego. Seine Gefährtin stupste ihn zustimmend mit der kurzen, schmalen Wolfsschnauze an. Dann schlabberte sie ihm noch einmal über sein Gesicht und zog sich von ihm zurück.
Während sie mit dem unruhig um sich tastenden und tretenden Ungeborenen im Leib zum versammlungshaus zurücktrabte dachte Bocafina schon darüber nach, wie sie den von ihren Gefährten erbetenen Drohbrief verfassen wollte, dass Lunera ihn auch ernstnahm. Denn ihr lag eine Menge daran, dass Lunera den Rest ihres Führungsanspruches auf die Führung der Mondgeschwister aufgab. Sicher, solange sie nicht von León in einem Entscheidungskampf getötet wurde galt auch das Mitspracherecht aller Mondschwestern weiter. Aber ihr persönlich ging es darum, dass auch ihre Rangstellung anerkannt wurde, als „Leitwölfin“ und Begründerin einer neuen Wegstrecke. Wenn das Kind, das sich in ihrem verwandelten Körper bewegte eine Tochter sein sollte hoffte Bocafina, dass diese sowohl die körperliche Stärke ihres Vaters als auch die Auffassungsgabe, Voraussicht und Willenskraft ihrer Mutter erben würde und somit eines Tages als weitere Leitwölfin der Mondgemeinschaft anerkannt werden mochte. Dann dachte sie, dass es nicht verkehrt wäre, wenn ihre Tochter, falls die echt jetzt in ihr heranwuchs, mit Finos und Ninas Sohn Alejandro zusammengebracht werden sollte. Denn auch wenn León es nicht hören wollte, Fino war ihm was Zauberkraft und Zauberkenntnisse anging immer sehr weit vorausgeblieben. Ja, und die blonde Schutzbefohlene von Lunera war auch sehr gewandt und geistig rege gewesen. Sie verstand es bis heute nicht, warum die sich mit der Verräterin Patanegra und Luneras Begatter in den Tod gestürzt hatte. So schlecht war es doch nicht, eine Mondgeweihte zu sein.
Bocafina zuckte zusammen, weil das ungeborene Kind ihr voll gegen die Blase trat. Sie verlor Wasser. Dann nickte die gerade in Wolfsgestalt bestehende Gefährtin des neuen Anführers und grinste nur innerlich. Offenbar hatte der oder die Kleine ihre Gedanken an sie und Alejandro mitbekommen. War das so ausgeschlossen, wo sie eine Hexe war und zugleich den Lykonemisis-Trank im Körper hatte?
Wieder im Versammlungshaus prüfte sie, ob die Kleidung ihres Angetrauten noch über dem breiten Lehnstuhl im Einzelaudienzzimmer hing. Dann legte sie sich auf den dicken Teppich, den sie als ihren neuen Schlafplatz ausgewählt hatte, wenn sie in diesem Haus zu Gast war. Dank des Trankes konnte sie trotz des in ihr prickelnden Blutes in einen tiefen, erholsamen Schlaf finden. Die Rückverwandlung würde sie früh genug wecken. Dann wollte sie mit León del Fuego in das eigene Zuhause und den neuen Hauptsitz der Bruderschaft zurückkehren.
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Lucius war mal wieder unterwegs, um neue Goldquellen zu erschließen, wie er sich immer ausdrückte. So war seine Frau Narzissa Malfoy geborene Black mal wieder alleine in jenem mit schönen wie schrecklichen Erinnerungen erfüllten Herrenhaus. Der durch die Vermittlung Harry Potters beim Hauselfenzuteilungsamt zugeteilte Elf Hoaky zählte quasi als Einrichtungsgegenstand, auch wenn seine neuen Meister ihn weit aus respektvoller behandelten als Dobby.
Narzissa pflegte bei Abwesenheit ihres Gatten in ihrem ganz eigenen Zimmer, ihrem Boudoir, zu verweilen, wo sie all die Gegenstände und erinnerungsstücke aufbewahrte, die Harry Potter nicht in dem von ihrem Cousin Sirius geerbten Haus behalten wollte. Seit jener Gerichtsverhandlung, bei der sie gerade so noch einer Gefängnisstrafe entronnen waren und wegen der vielen erwiesenen mildernden Umstände mit einer hohen Goldstrafe davongekommen waren herrschte zwischen den Malfoys und Harry Potter eine Art Burgfrieden. Harry hatte nicht vergessen, dass Draco trotz der gebotenen Gelegenheiten nicht daran gedacht hatte, ihn an den dunklen Lord auszuliefern und dass Narzissa Malfoy ihm das Leben gerettet hatte, als der dunkle Lord glaubte, Harry mit seinem Todesfluch getötet zu haben. Die Malfoys erkannten hingegen an, dass Harry Draco mehrmals das Leben gerettet hatte, als dessen tumbe Nachläufer Crabbe und Goyle, Söhne zweier früher so geschätzter Mitstreiter für die Reinblütigkeit, mit Dämonsfeuer herumgemurkst hatten, ja und dass Harry vor Gericht ausgesagt hatte, dass Draco sich geweigert hatte, Dumbledore mit dem Todesfluch zu ermorden, obwohl die Carrows ihn dazu drängen wollten. Doch zwischen Lucius, dem entthronten Vorzeigetodesser und Draco, der seinen Vater einst so abgöttisch bewundert und verehrt hatte, war es zum Zerwürfnis gekommen, weil Draco es gewagt hatte, seinem Vater vorzuhalten, er habe ihn, seinen einzigen Sohn, zusammen mit der offenkundig wahnsinnigen Tante Bellatrix an den dunklen Lord verschachert wie ein Stück Nutzvieh. Dies, so Draco, sei ihm erst bei der Sache mit Hermine Granger so richtig bewusst geworden. Sein Vater hatte darauf hin Abbitte und neuerlichen Respekt eingefordert. Doch Draco hatte darauf nur erwidert: „Dir war es doch damals nicht um unsere Familie gegangen, sondern nur darum, dass du diesem irren Halbblut die Füße küssen konntest, und wir, Mum und ich, sollten dem als Fußabtreter und Verheizmaterial dienen. Und ich pubertärer Trollhirni habe das damals noch für supertoll gehalten, da mitmachen zu dürfen.“ Da war für beide das Maß der Geduld voll gewesen. Narzissa erinnerte sich, als sei dies erst gestern geschehen, dass die beiden ihre Zauberstäbe gezogen und einander bedroht hatten. Nur ihr Eingreifen hatte verhindert, dass sich Vater und Sohn gegenseitig zerfluchten. jedenfalls hatte Lucius Draco überdeutlich klargemacht, dass für einen „undankbaren Bengel“ kein Platz in seinem Haus war und ihm gerade noch drei Stunden Zeit gewährt, mit seinen persönlichen Sachen auszuziehen. Da Draco damals auch bei den ehemaligen Mitschülern in Ungnade gefallen war, weil der nicht rücksichtslos genug gegen Harry Potter vorgegangen war hatte der sich bei einem anderen Verwandten in Irland eingemietet. Hierzu nutzte er das Gold, dass er in seiner neuen Anstellung bei Rushford & Cronk in der Nokturngasse verdiente. Dann hatte er sich mit Astoria Greengrass eingelassen, einer ebenfalls reinblütigen Hexe aus hohem Haus, das jedoch von den Todessern nichts hatte wissen wollen. Die beiden hatten sich auf eine Ehe verständigt, die die beiden reinblütigen Sippen zusammenbringen sollte. Kinder waren da zunächst keine in Planung gewesen, sehr zum Bedauern von Dracos künftiger Schwiegermutter und Narzissa. Lucius hatte dazu nur gesagt, dass Draco wohl nur deshalb bei den Erben von Alan Greengrass einheiraten durfte, weil die sich damit schmücken wollten, mit den Blacks und den Malfoys zwei der ruhmreichsten reinblütigen Zaubererfamilien in ihre Blutlinie einzupflegen. Tja, und wie es die Natur so wollte verkündete Astoria dann vor einem Jahr, dass sie doch ein Kind von Draco trug. Lucius hatte diese Neuigkeit nur mit den Worten „Egal ob Junge oder Mädchen, der Undankbare braucht sich keine Hoffnung auf Großvaters Goldreste zu machen“, gegrummelt. Doch Narzissa freute sich, dass ihre edle Blutlinie der Blacks weiterbestehen würde. Dass ihre Nichte Nymphadora, die den werwutverseuchten Remus Lupin geheiratet hatte, von dem einen Sohn bekommen hatte nahm sie als unliebsames Beiwerk zur Kenntnis, als Irrläufer der Natur. Doch laut sagte sie das nicht, weil sie nicht daran erinnern wollte, dass ihre Schwester Bellatrix Andromedas Tochter umgebracht hatte.
Doch wenn Narzissa wie gerade an diesem 20. Mai des Jahres 2007 allein in ihrem Boudoir saß grübelte sie darüber nach, was das Leben ihr noch zu bieten hatte. Denn seit dem tiefen Fall von einer der angesehensten Familien der britischen Zaubererwelt auf das Niveau gerade noch geduldeter Leute hinterfragte sie schon, welchem Zweck ihr Leben dienen sollte. Hätte sie außer Draco noch mehr Kinder geboren könnte sie wenigstens sagen, dass sie mitgeholfen hatte, eine der edelsten Zaubererfamilien zu vergrößern. Doch nach Dracos Geburt hatte Lucius nicht mehr viel davon gehalten, auf neue Kinder hinzuwirken. Sie wollte ihm auch keinen Liebestrank unterjubeln. Wäre das nämlich doch herausgekommen, wäre das für ihn der Grund schlechthin gewesen, sie ohne Gold und sonstige Dreingaben zu verstoßen. Sie hatte das all die Jahre als Notwendigkeit ausgehalten, weil es ja um höhere Ziele gegangen war. Doch in Stunden wie jetzt, wo sie allein war meinte sie doch eine leise Stimme in sich zu hören, die ihr Vorhaltungen machte, dass sie, eine gesunde Hexe, ihr reines Blut nicht möglichst gut vermehrte. Auch dachte sie an die wenigen Male, wo sie und Lucius in ehelicher Liebe das imposante Himmelbett zum schwingen gebracht hatten. Unangenehm war das nicht gewesen. Auch die Schwangerschaft mit Draco und dessen Geburt hatten sie nicht dazu gebracht, den Vorlauf dazu abzulehnen. Doch weil sie gleich beim ersten großen Versuch den von Lucius ersehnten Stammhalter hervorgebracht hatte war sein körperliches Interesse an ihr deutlich abgeklungen. Sie war für ihn die Frau zum Repräsentieren, die, auf deren Abstammung er stolz war, weil es ihm gelungen war, eine der Black-Schwestern zu heiraten und so mit seiner nicht minder reinblütigen Ahnenreihe zu verschmelzen. Draco war der Kronprinz und würde das Erbe weiterführen, fertig. Doch nun war der Kronprinz beim Fürsten in Ungnade gefallen und hatte den Stammsitz verlassen. Dass Lucius es nicht freute, dass Draco einen Sohn bekommen hatte hatte Narzissa erst gewundert. Doch dann hatte sie erfahren, dass Lucius es den Greengrasses übelnahm, dass diese sich aus den Bestrebungen des dunklen Lords so geschickt heraushalten konnten. Nur der alte Alan Greengrass, der jahrelang der heimliche Schatzmeister des dunklen Lords gewesen war, hatte sich für die Sache begeistert. Doch genau das nahm ihm Lucius übel, weil der alte Alan Greengrass es viel geschickter angestellt hatte als er selbst, nicht von den Verfolgungen der Auroren behelligt zu werden. Der war keinmal vor Gericht erschienen, weder als Zeuge noch als Beklagter. auch ging in den Kreisen der ehemaligen Todesser um, dass der alte Greengrass eine Menge Gold zusammengerafft hatte, davon aber keinem was abgab, ja sogar seinen Sohn Auric dazu angestachelt hatte zu behaupten, Draco hätte Astoria nicht der Schönheit ihrer Augen oder der Aussicht auf gesunde Kinder wegen geheiratet, sondern weil der sich wegen der Dummheiten seines Vaters und ihm selbst kein eigenes Gold mehr verschaffen könne und daher all zu gerne in eine reiche Familie eingeheiratet habe. Ab da war wohl für Lucius jeder Anspruch auf großväterliche Aufmerksamkeit erloschen. Nur Narzissa legte wert darauf, über die Entwicklung ihres Enkelsohnes auf dem laufenden zu bleiben. War es das, was ihr Leben weiterhin bestimmen sollte?
„Meisterin Narzissa, der Tee ist fertig“, pipste Hoakys vom Alter angerauhte Stimme. Der Elf war auch froh, dass er in seinem Alter noch eine sinnvolle Anstellung gefunden hatte, dachte Narzissa Malfoy. Allerdings wussten sie und auch Lucius nun, dass es zu leicht nach hinten ausschlagen konnte, den eigenen Hauselfen zu quälen und zu schinden. Dobby hatte sie verraten. Creacher war wegen fehlender Aufmerksamkeit zu Bellatrix gekommen und hatte Harry Potter verraten. Die achso diskreten, immer arbeitssamen Wesen konnten bei falscher Behandlung zu leicht zum Stolperstrick werden. Also behandelten sie den alten Hoaky mit mehr Respekt als Dobby. Gut, eine Kunst war das nicht, wusste Narzissa. Doch immerhin hatten sie einen Hauselfen bekommen, obwohl in Ungnade gefallene Familien sonst jeden Anspruch auf Zuteilung eines Hauselfens verwirkten. Auch hier musste sie Harry Potter und dessen guten Beziehungen zu den hohen Ministeriumsbeamten danken. Lucius wusste das auch und zeigte das dadurch, dass er immer dann den Raum verließ, wenn Hoaky dort saubermachte, um bloß nicht wieder in Verdacht zu geraten, seinen Hauselfen zu schikanieren.
Narzissa bedankte sich bei Hoaky, dessen wolkengraue Tennisballaugen im faltigen Gesicht schon leicht eingetrübt waren und genoss den aus drei exotischen Sorten zusammengestellten Tee und vier ofenfrische Scones. „Wann erwarten Sie den Meister Lucius wieder zurück, Meisterin Narzissa?“ wollte Hoaky wissen. „Das kann ich dir nicht sagen, Hoaky. Der Meister hat sich bei mir nicht darüber ausgesprochen, wielange er ausbleiben möchte.“
„Möchten Sie dann wie üblich um sieben Uhr zu abend essen, Meisterin Narzissa?“ fragte der Elf. „Nein, heute bitte erst um acht Uhr. Ich möchte gerne bis dahin noch Post bearbeiten“, erwiderte Narzissa. Sie hatte „bitte“ gesagt, etwas, dass ihr bei Dobby niemals über die Lippen gekommen wäre. Hoaky bestätigte die neue Essenszeit und wartete geduldig, bis Narzissa ihren Tee getrunken und die Scones aufgegessen hatte. Dann räumte er den Tisch ab und zog sich in seinen zugewiesenen Bereich zurück, bis er wieder in der Küche zu tun haben würde.
Narzissa suchte die hauseigene Bibliothek auf. Immerhin hatte das Aurorenkorps den größten Teil des Buchbestandes hiergelassen. Die wirklich brisanten Schriften und Bücher hatten sich nicht im Leseraum befunden. Narzissa holte sich einen dicken Folianten über die Familiengeschichte der Blacks, den ihr Harry Potter zugeschickt hatte, weil er alles, was die Blacks jemals zusammengetragen hatten an dessen noch lebende Verwandte verteilte, um das von Sirius geerbte Haus ganz und gar zu seinem Haus zu machen. Früher hätte sie das als unverzeihlichen Frevel angesehen. Doch sie verstand, dass Harry Potter und das von ihm geheiratete Weasley-Mädchen nichts von den Blacks behalten wollten. Grimmauldplatz Nummer zwölf sollte ein von den neuen Machthabern wohlwollend betrachtetes Haus sein.
Narzissa versank in der Lebensgeschichte von Nausikaa Thornapplle, geborene Black, die im 17. Jahrhundert gelebt hatte und eine glühende Mitstreiterin der dunklen Schwester Sycorax Montague gewesen war, bis diese von der aus Frankreich eingewanderten Hexe Anthelia vom Bitterwald in einem Entscheidungskampf getötet worden war. Nausikaa hatte daraufhin versucht, Anthelia, die Usurpatorin, zu meucheln und dafür mit dem eigenen Leben bezahlt. Ihre Söhne Aries und Draco hatten das Stammhaus der Blacks zum Widerstandsnest gegen ausländische Hexenköniginnen ausgebaut und sich mit den Gefolgshexen Anthelias eine Schlacht geliefert, die zum auch den Muggeln all zu vertrauten Großbrand Londons geführt hatte. Grimmauldplatz 12, das damals noch in einer anders heißenden Straße gestanden hatte, war nur durch die Unfeuerzauber der beiden Söhne Nausikaas verschont geblieben. Die beiden hatten den Fidelius-Zauber darüber gewirkt und mit einer großen Explosion die Vernichtung des Hauses vorgetäuscht. Erst als Anthelia starb war die Geheimhaltung wieder aufgehoben worden, um den Stammsitz der Blacks als das zu nutzen, was er immer schon sein sollte, als beliebter Treffpunkt reinblütiger Zaubererfamilien, wo Ehen und Vorhaben beschlossen und geschlossen wurden.
Narzissa merkte nicht, wie sie über der für sie so spannenden Lektüre immer müder wurde und schließlich in dem mit Drachenhaut bezogenen und mit Phönixdaunenfedern gepolsterten Sessel einnickte.
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Der Frühling war im vollen Gange, auch dort, wo er stand, der alte Richtbaum, einstmals Abkömmling des Königs aller grünen Kinder. Die Tage wurden wieder länger. Die Sonne trieb das Leben in die Zweige und Blätter des alten Eichenbaumes, der als lebendes Denkmal dunkler Zeiten aufragte. Von den Zweigen gingen unsichtbare Strahlen aus, die in die frische, sonnendurchflutete Luft hinaustasteten und immer weiter ins Land reichten und suchten. Sie suchten nach einer verwandten Quelle. Jener ewig ungeborene Sohn einer toten Kriegerin, dessen winziger Leib und aufgekeimte Seele im Stamm des ehemaligen Richtbaums eingeschlossen war, fühlte genau, was sein Wirt wollte. „Du wirst keine von denen herholen. Wir zwei sind eins. Du wirst mir dienen. Vergiss das, mich einer dieser kurzlebigen Brüterinnen in den Bauch zu treiben!“
„Solange meine Wurzeln in nährenden Boden hinabreichen und meine Zweige Wind und Unwetter trotzen werde ich darum kämpfen, dich unerwünschtes Balg wieder loszuwerden. Ah, da ist … aarrrg!“
Es war wie der tödliche Streich eines von lautem Donnerschlag gefolgten Blitzes, als die unsichtbaren Suchstrahlen auf etwas trafen, das scheinbar auf sie ansprach und dann mit einer dem alten Baum so unerwarteten Gnadenlosigkeit zurückschlug. Für eine winzige Zeit, die Menschen als Ewigkeit vorkommen mochte, hatte die dem Richtbaum innewohnende Seele das Bild einer dunkelhaarigen Frau erfasst, die mit einem Knaben zusammensaß. Doch dann war diese Wahrnehmung von grellem, schmerzhaft heißem Feuer überlagert worden, dass gnadenlos in jene Zweige hineinfuhr, aus denen die scheinbar erfolgreichen Suchstrahlen entglitten waren. Der Stamm des Baumes erbebte. Die in die tiefe Erde hinabreichenden Wurzeln krümmten und wanden sich. Dann war es vorbei. Der laute Schmerzensschrei der Seele des Richtbaumes und das erschrockene Aufstöhnen der mit ihr zusammengesperrten Seele des ungeboren gebliebenen Sohnes der toten Kriegerin brauchten eine Zeit, bis die lichtspendende Sonne weiter in Richtung Himmelsrand gesunken war, um sich von diesem Gegenstoß zu erholen. „Ihr Haus wird von einem starken Hauch der Gegenwehr umweht“, erkannte der Abkömmling des einstigen Königs aller Bäume Dairons. „Hat wohl nicht so gewirkt, wie du das wolltest. Die wehren sich gegen deine Traumstrahlen, Bäumchen“, spottete der ungeborene Sohn der toten Kriegerin. „Das war eine von ihnen. Doch wenn die zweite schläft und ich sie ertaste werde ich dich ihr übergeben, damit du endlich dort hinkommst, wo eure Beschaffenheit es befiehlt.“
„Vergiss das. Eher brennt der ganze Wald ab, in dem wir wohnen und der Boden schluckt dich und mich“, erwiderte jener, den der Richtbaum als immer lästigeren Plagegeist empfand. Dann erspürten beide, wie die neuen ausgesandten Strahlen ein darauf ansprechendes Ziel fanden. Die Seele des ungeborenen Knaben erbebte, und die Seele des Richtbaumes empfing das Bild einer hochgewachsenen Frau mit gelben Haaren, die gerade meinte, in einem großen überdeckten Raum, einem Steinhaus zu sein. Unvermittelt entstand eine wechselseitige Strömung von Lebens- und Gedankenkraft und erfüllte den Baum. „Nein, lass die in Ruhe. Die will mich eh nicht neu ausbrüten“, versuchte die im Takt der Artverwandtschaftsgleichschwingung bebende Seele des ungeborenen Knabens das Vorhaben seines Wirtes zu beenden. Doch dieser war nun erst recht bestärkt, sein Ziel zu erreichen und begann mit dem, was er bereits vor mehreren hellen Lichtern beschlossen hatte und von dem sein immer unangenehmer werdender Untermieter zu gut wusste, dass es gelingen mochte.
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Es hatte sich zu einer gewissen Tradition entwickelt, dass die nun vierköpfige Familie Potter alle vier Wochen bei Andromeda Tonks zum Tee vorbeikam. Harry Potter hatte beim Ausmisten der Kellerräume seines Hauses mehrere Folianten mit Chroniken angeblich heldenhafter Angehöriger der Blacks gefunden. Eine Chronik hatte er in einem Anflug von Mitgefühl an Narzissa Malfoy geschickt, damit sie zumindest ihre Familiengeschichte zur Verfügung hatte, auch wenn die meisten darin mitwirkenden alles andere als ehrenvolle Leute gewesen waren. Da es von der Chronik drei Abschriften gab hatte er auch Narzissas verwitweter Schwester Andromeda eine Ausgabe davon übergeben und ihr auch den von Zauberern und nicht reinblütigen Black-Hexen nicht zu öffnenden Band „Die ruhmreichen Töchter der Blacks“ übergeben. Es hatte sich dabei herausgestellt, dass das Buch nicht mit einem Fluch, sondern einer Unterart des Blutsiegelzaubers belegt war. Denn Andromedas Haus stand seit bald zehn Jahren unter dem Sanctuafugium-Zauber, den Harry und seine einstigen Mitstreiter im Aurorenkorps erlernt hatten und mit dem auch das einstige Black-Haus am Grimmauldplatz gesichert worden war. Dabei war das große Vollporträt von Sirius‘ Mutter laut kreischend von der Wand gefallen und war zu pechschwarzer Asche zerfallen, aus der blutrote Dampfschwaden entstiegen und an der Decke in knisternden Funken zerstoben waren. Der Wanndteppich der Blacks, der den sich selbst verlängernden Stammbaum trug, konnte nach dem Sanctuaffugium-Zauber abgenommen werden und hing nun im Haus von Andromeda, die wollte, dass ihr Enkelsohn Ted sich immer bewusst sein sollte, welche unrühmlichen Vorfahren er hatte, um nicht selbst auf den dunklen Pfaden seiner Voorfahren zu wandeln.
Ted nahm es mal wieder als notwendiges Übel hin, dass da zwei kleine, immer mal wieder laut plärrende Jungen zu Besuch kamen. Doch wenn er weiter gut mit seinem Patenonkel Harry klarkommen wollte musste er das eben aushalten. Doch er war froh, als er nach der gemeinsamen Teestunde in sein eigenes Zimmer im gesicherten Haus der Tonks gehen und da seine Ruhe haben konnte. Dafür machte er dann auch gerne seine Schularbeiten.
Er war gerade dabei, aus einzelnen Worten aus dem Lesen-und-Sprechen-Buch so zu ordnen, dass er die Geschichte eines Besenausflugs in ganzen kurzen Sätzen erzählen konnte, als er meinte, einen Gesang wie von fünf Leuten zu hören, die er gerade nicht sehen konnte. Der Schreck darüber machte, dass Ted statt der Braunen Haare schneeweißes Haar bekam und seine Augen fast auf die doppelte Größe wuchsen. Er blickte sich mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung suchend um, wo die fünf Leute waren, die sangen. Es hörte sich für ihn an, als würden sie um ihn herumgehen und ihm aus allen Richtungen in die wegen des angestrengten Lauschens immer länger werdenden Ohren hineinsingen. Der Schrecken ging weg. Jetzt hörte Ted ganz begeistert bis hingebungsvoll zu, wie die fünf nicht zu sehenden Sänger sangen, dass aus fünf Tönen ein gleichbleibender, ihn tief beruhigender Klang wurde. Dann wurde der Gesang leiser und leiser, bis er nur noch in Teds Kopf nachhalte. Ted Lupin lauschte, wobei seine nun wie die rosaroten Ohren eines Elefanten umherlauschenden Ohren nach den fünf wunderschön singenden Leuten suchten. Als er merkte, dass die nicht mehr da waren fühlte er, was sich an ihm alles geändert hatte. Mit einem Gefühl von Ertapptheit und Verlegenheit wünschte er sich seine Ohren, Haare und Augen wieder so, wie er sie sonst hatte. Es dauerte jedoch mehrere Herzschläge, bis seine Ohren wieder auf ihre übliche Größe verkleinert waren und auch seine aus den Höhlen quellenden Augen wieder auf ihre übliche Größe zurückgeschrumpft waren. Dass sein Haar sich verändert hatte bekam er mit, weil er in seinem Zimmer einen Spiegel hängen hatte, an dem er sehen konnte, ob er „mal wieder“ irgendwas mit sich angestellt hatte und ob er so bleiben wollte oder nicht. So ließ er sein schneeweißes Haar wieder so braun werden wie das von seinem Daddy, der, so seine Oma Rommy, für ihn und viele andere Kinder gegen den bösen Zauberer Tom Riddle gekämpft hatte und dabei in das Land der Vorfahren gegangen war, aus dem keiner mehr zurückkommen konnte. Jetzt sah der Junge, der von seiner Mutter die seltene Begabung der zauberstablosen, eingeschränkten Körperveränderung abbekommen hatte, wieder so aus wie sein Vater Remus auf den Bildern, die seine Oma Rommy im Haus an die Wände gehangen hatte.
„Oma Rommy, hast du das auch gerade gehört?!“ rief der neunjährige Junge.
„Ach, hast du auch Leute singen hören?“ hörte er durch die geschlossene Tür seine Oma antworten. Er rief „Ja, fünf Leute haben was gesungen und sind dabei um mich herumgetanzt. Aber ich konnte keinen von denen sehen, Oma. Was war das?“
„Bereden wir gerade. Komm mal zu uns!“ hörte er seine Oma Antworten.
Auch Andromeda Tonks hatte den Klang wie von drei Sängern und zwei Sängerinnen vernommen und für eine halbe Minute das Gefühl gehabt, dass diese um sie herumtanzten. Harry und Ginny hatten jedoch nichts dergleichen gehört oder gefühlt. Nicht mal die beinahe unkenntlich verblasste Blitznarbe Harrys hatte reagiert. Doch das da was war hatte Ginny gespürt, weil sie eine Fremdzaubermeldebrosche trug. Diese hatte wie üblich beim Betreten des gesicherten Grundstückes warm pulsiert. Doch gerade eben war sie derartig warm geworden und hatte auf einem tiefen Ton vibriert. Das sagte sie Harry und Andromeda Tonks. Dann kam Teddy Lupin aus seinem Zimmer und erzählte, was er mitbekommen hatte und dass er erst wieder so aussehen wollte wie beim Teetrinken, weil er beim Hinhören elefantenartig große Ohren bekommen hatte.
„Irgendwer wollte uns wohl aus der Entfernung was böses anhexen, Teddy. Aber der starke Schutzzauber, der von Onkel Harry und seinen Arbeitskolleginnen und Kollegen gemacht wurde, hat das böse in einen ganz ruhig machenden Ton verwandelt, damit wir keine Angst haben“, erklärte Teddys Oma Andromeda. Sie verschwieg ihm jedoch, dass nur er und sie diesen Fünfklang gehört hatten. Als Teddy beruhigt war, dass der beschützende Zauber weiter stärker als alle bösen Zauber war ging er wieder in sein Zimmer zurück.
„Das mit den Elefantenohren hätte ich gerne mal gesehen“, meinte Ginny, als sie sicher war, dass Teddy Lupin sie nicht mehr hören konnte. Harry meinte darauf: „Immer noch ein freches Mädchen, obwohl du schon zwei Kinder bekommen hast, Ginny. Mir wäre das peinlich, mit so großen Ohren rumzulaufen. Kann Teddy verstehen, dass er die schnell wieder schrumpfen wollte.“
„Ja, aber immerhin haben wir es heileramtlich, dass er mit größeren Ohren auch besser lauschen und sogar Töne unter oder über unserer üblichen Hörgrenze hören kann. Wenn er seine Augen größer macht kann er im Dunkeln sehen und dabei bis zu viermal so weit sehen. Ich denke, der wird irgendwann mal bei euch als Kundschafter anfangen.“
„Hmm, habt ihr von Heilerin Brightgate und der Kollegin Highdale abklären lassen, ob diese besonderen Sachen, die er bei Neu- und Vollmond machen kann so bleiben oder nur bei bestimmten Stimmungen auftreten?“ fragte Harry nun sowohl als Patenonkel sowie als bereits drei Rangstufen aufgestiegener Auror des Zaubereiministeriums.
„Heilerin Brightgate vermutet, dass die von seinem Vater unweckbar vererbte Lykanthhropie mit der von Nymphadora geerbten Metamorphmagus-Veranlagung zu einer mondabhängigen Eigenschaft verschmolzen ist. Sie geht sogar davon aus, dass sie sich während der Pubertät oder beim allerersten Geschlechtsakt endgültig entfaltet. Ich bin nicht sonderlich begeistert davon, dass Teddy von den Heilern als Studienobjekt angesehen wird, weil er diese Kombination aus zwei magischen Anlagen in sich vereinigt. Aber ich muss wenigstens einsehen, dass diese Veranlagungen genau erkundet werden müssen, damit er sie zu beherrschen lernt und sie ihn nicht unterwerfen.“
„Da bist du wesentlich aufgeschlossener als meine werte Tante Petunia“, grummelte Harry. Die will bis heute nichts von den beiden Kleinen wissen, und ich muss ehrlich sagen, dass das auch gut so ist, vor allem wo sie jetzt richtig am Rad dreht, weil ihr Mann, mein achso Magie hassender Onkel Vernon, den angeblich größten Coup seiner Geschäftslaufbahn gelandet hat. Hmm, stimmt, Ginny, habe ich euch ja noch nicht erzählt, dass sich mein einstmaliger Heimstattgeber wider Willen in eine US-amerikanische Firma für Baugeräte eingekauft hat und deshalb mit dem Gedanken Spielt, mit Tante Petunia nach Atlanta in Georgia umzusiedeln. Big Dee ist da nicht so von begeistert, hat sich aber schon damit abgefunden, weil sein Vater ihm das Haus überschreiben will, wenn er bis zum 31. Dezember dieses Jahres eine vorzeigbare Verlobte vorweisen kann. Aber mein Cousin hat gerade die erste größere Zwischenprüfung an der Uni vor der Brust und steht im Finale der Universitätsmeisterschaften im Boxen. Er hat mir das vor einer Woche auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass er sich sicher ist, einen gewissen Phil Banks, Kampfname Knochenspalter zu besiegen. Er meinte sowas, dass er dann noch einen Fuß in einer der internationalen Boxvereinigungen haben könnte, falls das mit der Uni doch nicht ganz klappt. Wenn er meint“, erwähnte Harry Potter.
„Öhm, und seine Eltern wissen immer noch nicht, dass er weiter mit dir in Kontakt ist?“ fragte Ginny ihren Mann. „Oh, die würden den voll enterben, Ginny. Die haben dem klar gesagt, dass Zitat: „Das Kapitel Harry Potter und Zaubererwelt“ für sie endgültig erledigt sei und zu bleiben habe und gerade er das gut finden sollte, nachdem, was ihm die Zaubererwelt so angetan hat.“
„Ja, aber so wie er das auf deine Telefonanrufbeantwortermaschine gesagt hat ist er ja gerade durch die Schweinerei von Umbridges Dementoren darauf gekommen, was er selbst für ein verzogener Rotzbengel war“, meinte Ginny.
„Hmm, da waren diese düsteren Unholde doch mal für irgendwas wirklich gut“, meinte Andromeda Tonks. Dann kehrte sie wieder zu jenem Vorfall von eben zurück. „Ich fürchte, dass jemand gezielt nach Ted und mir gesucht hat, um uns was anzutun. Bist du dir ganz sicher, Harry, dass meine hochnäsige Schwester Narzissa keine Rachegelüste hat?“
„Dazu müsste ich wissen, was in der vorgeht, Andromeda. Aber was meine Familie und mich angeht gilt der Burgfrieden zwischen den Malfoys und uns, zumal Draco eine einträgliche Stellung gefunden hat und er jetzt selbst Daddy ist. Könnte nur sein, dass Lucius Malfoy wieder davon träumt, einem mächtigen, reinblütigen Zauberer nachlaufen zu dürfen oder irgendwann selbst ein solcher zu werden. Aber wieso kommst du darauf, dass jemand es gezielt auf dich und Teddy abgesehen hat, Andromeda?“
„Eben weil nur Teddy und ich diese fünf Stimmen gehört und den Eindruck unsichtbar um uns herumtanzender Leute gehabt haben. Irgendwer oder irgendwas ganz mächtiges hat gezielt auf ihn und mich eingewirkt und wurde nur durch den Schutzbann zurückgedrängt beziehungsweise zum harmlos beruhigenden Fünfklang umgewandelt. Es kann sein, dass wer immer das versucht hat dabei einen sehr schmerzhaften Rückschlag abbekommen hat. Aber so richtig beruhigt mich das nicht, dass Ted und ich diese Wahrnehmung hatten und ihr nicht.“
„Verwandtschaftsbeziehungen sind die mächtigsten Magieverstärker, aber auch Schicksalsbande im guten wie im bösen, wie ich das ja selbst am eigenen Leib mitbekommen musste“, erläuterte Harry Potter, der als aufstrebender Auror eine Menge über die dunklen Künste und ihre Abwehr erlernt hatte und immer noch lernte. Ginny fragte dann, woher die Empfindung von fünf umtanzenden Sängern kam. Das wiederum konnte ihr Mann sofort beantworten. „Das waren sicher alle fünf, die den Sanctuafugium-Zauber ausgeführt haben, also Ernie, Stacy, Laura, Justin und ich.“ Andromeda Tonks nickte und erwähnte, dass sie Harrys Stimme hatte hören können und jetzt auch sicher war, dass der höchste Ton im Fünfklang von Stacy Silverlake stammte, die in ihrer Freizeit als Kammer- und Opernsängerin auftrat und deshalb den Spitznamen Tosca von Birmingham abbekommen hatte. Harry erwähnte, was der für die Freiheit der Zaubererwelt im allgemeinen und den Schutz von Hogwarts und aller dort lehrenden und lernenden gestorbene Albus Dumbledore am ersten Abend in Harrys erstem Schuljahr über Musik erzählt hatte. Deshalb vermutete er, dass ein beruhigender Ton von den in den Zauber eingeflossenen Stimmmusstern den Geist der von außen bedrängten noch besser gegen den Fernfluch oder Suchzauber abschirmen konnte. „Ich behaupte mal, ihr hättet davon gar nichts gespürt, wenn der Sanctuafugium-Zauber nicht bestünde. Andererseits gilt für den, dass der eigentlich jeden bösartigen Fernzauber abfängt, bevor der die im Schutzbereich befindlichen Zielpersonen erreichen kann. Zumindest haben das Professeur Delamontagne aus Beauxbatons und Fluchabwehrmeister Whitefire so beschrieben“, sinnierte Harry. Darauf wagte nun Ginny eine Vermutung. „Wie du sagtest ist ein Verwandtschaftsbezug ein sehr guter Zauberkraftverstärker. Außerdem wissen wir ja alle seit dem 26. April 2003, dass viele mit dunkler Magie erfüllte Dinge oder Wesen auf der Welt viel stärker geworden sind als davor. Vielleicht ist da irgendwas jetzt erst aufgewacht und sucht nach passenden Ansprechpartnern, die mit dem, der was immer erschaffen hat oder beseelt blutsverwandt sind. Das mit den vier in Australien eingekerkerten Schlangenmenschen ist doch auch erst ein halbes Jahr nach der Welle dunkler Kraft passiert. Und das mit diesem dunklen Pharao, der Bills Kollegen übernommen hat ging auch erst, als der so trollblöd war, in dessen nähe zu gehen. Vielleicht ist da wieder was aufgewacht, was neue Opfer sucht. Hmm, aber dann solltest du die Malfoys warnen, Harry. Nicht dass Drecksau Draco oder seine Mutter von wem immer zu neuen Gefolgsleuten gemacht werden.“
„Hmm, dann müsste ich erwähnen, dass ich das von Andromeda und Teddy habe, dass da irgendwer oder irgendwas nach denen getastet hat. Öhm, das ist immer noch gültig, dass deine Schwester Narzissa nichts mehr von dir hören oder wissen will, Andromeda?“
„Ja, weil ich es gewagt habe, den „werwolfwelpen“ großzuziehen, ja den sogar mit meiner Milch gestillt habe, was Narzissa als Blutschande ersten Grades ansieht. Wenn du der wie immer erzählst, dass Teddy und ich was gespürt haben, was wir nur als beruhigenden Fünfklang wahrgenommen haben wird sie wohl nur „Hach“ sagen und sich abwenden. Ja, sie wird sogar behaupten, dass die Werwut seines Vaters Teddy nun richtig verdreht und ich, weil ich ihn gesäugt habe damit angesteckt wurde. Außerdem müsstest du dann auch genau wissen, woher der Angriff kam und was er ursprünglich anrichten sollte, ja, sofern es überhaupt ein Angriff war. In dem einen Buch über die „wundervollen Kriegerhexen der wohlbekannten Black-Familie, dass du mir mitgebracht hast steht drin, dass die geborenen Black-Hexen immer gut mit den Nachtfraktionsschwestern auskamen und sowohl mit den Rainbowlawns zusammengingen, auch wenn die sich zwischendurch nichtmagisches Blut in ihre Ahnenlinie hineinholten und auch mit Rax Montague der älteren zusammengingen. Am Ende ist von der alten Rax Montague was aufgewacht, wie bei den Franzosen in Millemerveilles das Erbe der dunklen Königin Sardonia. ich weiß zumindest von meiner unseligen Schwester Bellatrix, dass sie gerne in diesem Buch miterwähnt worden wäre und dass sie vor der Kontaktaufnahme mit den Todessern nach Hinterlassenschaften von Rax Montague gesucht hat, weil eine unserer Vorfahrinnen, Nausikaa Thornapple geborene Black von Rax Montague irgendwas erhalten haben soll, dass sie jedoch nicht im Stammhaus der Blacks aufbewahren wollte, weil ihr Vater nicht wissen durfte, dass sie eine Nachtfraktionsschwester war.“
„Ja, aber ohne dich noch mal heftig anzupieksen, Andromeda, deine irrsinnige Schwester Bellatrix hat es nie gewagt, bei den schweigsamen Schwestern mitzumachen. Steht zumindest im geheimen Tagebuch von ihr, dass nach der Räumung des Lestrange-Hauses im Archiv der Aurorenzentrale gelandet ist“, sagte Harry. Ginny verzog ihr Gesicht, während Andromeda betroffen dreinschaute. „Die wäre niemals auf die Idee gekommen, mit den Nachtfraktionsschwestern Kontakt aufzunehmen, weil sie das als späte Kapitulation vor Sardonia und Anthelia aufgefasst hätte. Hmm, Könnte es sein, dass jenes Tagebuch ein Horkrux ist, Harry. Am Ende strahlt das irgendwas aus, um Bellas bösartigem Geist einen neuen Körper zu verschaffen.“ Ginny zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen und erbleichte. Doch Harry sah beide Hexen beruhigend an und sagte:
„Erstmal haben wir Auroren genau wegen der Sauerei mit Riddles Tagebuch und der Kammer des Schreckens damals das Buch mit einem Basiliskenzahn angeritzt, damit jede Art von dunklem Leben entweicht, ohne die ohne Bezauberung geschriebenen Texte auszulöschen. Zum zweiten haben wir das Buch, nachdem du und Narzissa Malfoy schriftlich bekundet habt, nichts mehr von ihr zu beanspruchen, in einer mit Fluchabwehr- und Flucheinsperrzaubern belegten Silberschatulle in unserem eigenen Hochsicherheitsverlies eingeschlossen, das wiederum mit starken Bannzaubern gegen von außen oder innen ausgreifende Flüche abgesichert ist. Ja, und gerade wegen der heftigen Verstärkung dunkler Zauber in Gegenständen durch die Welle dunkler Zauberkraft haben wir alle gesicherten Gegenstände noch einmal mit Conservatempus-Zaubern belegt, nachdem wir aus Frankreich den Tipp bekamen, dass der auch geistige Such- oder Rufzauber in Gegenständen unwirksam macht. Also Bellatrixes Geheimtagebuch ist nicht der Grund für das eben, Andromeda und Ginny.“
„Ja, aber Andromeda hat leider recht. Du müsstest die Malfoys an und für sich warnen, dass da was nach Black-Nachkommen sucht“, sagte Ginny. Darauf schüttelte Andromeda Tonks, die ihrer verachteten und verstorbenen Schwester Bellatrix unangenehm ähnlich aussah den Kopf. „Wenn es ein den Auroren noch unbekannter Suchzauber ist, der nicht schaden sondern irgendwas verstärken soll könnte Narzissa, sofern sie überhaupt daran glaubt, dass Teddy und ich was gespürt haben finden, dem nachzugehen, weil sie seit der gesellschaftlichen Abwertung ihres Mannes und dem Auszug ihres Sohnes mehr Zeit zum Grübeln hat. Sie könnte auf den Gedanken kommen, danach zu suchen was das sein sollte und es womöglich auch finden und genau das auslösen, was ihr verhindern wollt, Harry und Ginny. Und falls es ein Fernfluch sein sollte wird der sicher auch von Abwehrbannzaubern um ihr Haus abgewehrt.“
„Das soll heißen, dass wir so tun sollen, dass nichts passiert ist?“ fragte Ginny. Ihr Ehemann wiegte den Kopf, als müsse er darin eine schwere Bleikugel in Ruhelage bringen. Dann sagte er: „Falls sich das von vorhin nicht wiederholt können wir nicht nachprüfen, was es war und daher nicht sicher sagen, was es bewirken sollte. Ich kann höchstens anregen, dass die Malfoys wieder mehr überwacht werden. Das kriege ich vielleicht mit dem Boss unserer Truppe und mit deinem Dad durch, Ginny. Aber wegen erwähnter dunkler Welle haben wir im Moment auch viel mit aus langer Vergessenheit auftauchenden verfluchten Gegenständen zu tun, und weil Ladonna Montefiori unerwartet aus der Welt verschwunden ist gibt es wieder mehr Zauberer und Hexen, die gerne in das von ihr hinterlassene Vakuum eindringen wollen. Wohin sowas führt weißt du ja leider genausogut wie ich. Daher brauchen wir jeden Außentruppler einsatzbereit, auch weil sich Hinweise verdichten, dass die Vampirgötzin wieder munter wird. Ja, und diese Schattendämonen und ihre Urmutter sind leider auch noch nicht aus der Welt. Ich fürchte, wenn ich Mrs. Malfoy vor irgendwas warne könnte sie auf die Idee kommen, danach zu suchen und dann erst recht das passieren, was der oder die Urheber von eben vorhaben. Deshalb werde ich wohl so tun müssen, als wenn das gerade eben nicht passiert ist, Ginny. Es sei denn, du möchtest, dass ich deine Schwester darüber informiere, Andromeda.“
„Vergiss es, Harry!“ erwiderte Andromeda unerwartet salopp und verbittert. Mehr musste sie dazu nicht sagen.
Sie unterhielten sich nun über das, was Andromeda aus dem entfluchten Buch über die Töchter der Blacks zu berichten hatte und von dem sie wollte, dass Harry und das Aurorenkorps es bei Gelegenheit für das eigene Archiv aufschrieben. Alle drei wussten, dass die lebenden Nachtfraktionshexen sicher gerne was darüber erfuhren oder auch verhindern würden, dass es Uneingeschworenen bekannt wurde. Dann erwähnte Ginny, dass Fleur im September das zweite Kind bekommen würde. Sie wüsste auch schon, ob es ein Junge oder Mädchen war. Ginny konnte der Versuchung nicht widerstehen, darüber abzulästern, dass das gemeinschaftliche Heilungsritual, dass Fleurs weibliche Blutsverwandte an Bill vorgenommen hatten die Lust der beiden aufeinander angeregt haben musste und dass sie nun, wo sicher war, dass Bill vollständig vom schlummernden Werwutkeim befreit war keine latente Lykanthropie geben könne, selbst wenn der Veelaanteil und vor allem das besondere Immunsystem gegen magische Erkrankungen einer erwachsenen Veela den Ausbruch der Werwut unmöglich machte. Sie verschwieg jedoch, dass sie vermutete, selbst wieder schwanger zu sein. Denn das wollte sie erst sicher bestätigen lassen, um es weiterzuerzählen.
Als James Sirius und Albus Severus immer müder und quengeliger wurden befanden ihre Eltern, jetzt aus dem Flohpulverkamin der Tonks zum Grimmauldplatz Nummer zwölf zurückzukehren. Harry rief Teddy noch einen Abschied zu. Dann lud er sich den Erstgeborenen auf seine Schulter, während Ginny den bald ein Jahr alten Albus in die Arme Schloss. Mit dem Ausruf: „Grimmauldplatz!“ verschwanden die Potters im smaragdgrünen Flohpulverfeuer, dass danach laut zischend in sich zusammenfiel. Andromeda Tonks war nun wieder alleine mit ihrem Enkelsohn Teddy. Sie überlegte, ob es nicht doch sinnvoll gewesen wäre, mit Narzissa wenigstens darüber zu reden, dass da etwas über sie beide hinweggetastet haben mochte. Dann beschloss sie, dass sie diesen schlafenden Drachen besser doch nicht kitzeln wollte. Weder die britischen Auroren noch sie hatten davon erfahren, was vor drei Jahren im fernen Japan geschehen war. Sonst hätten Andromeda oder Harry Potter ganz andere Schlussfolgerungen gezogen und entsprechend reagiert.
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Lucius und sie liefen durch Hogwarts. Um sie herum zischten, fauchten, schwirrten und krachten Flüche und Gegenflüche, fanden Ziele oder schlugen als Irrläufer in Wände, Boden oder Einrichtungen. Die Todesser drängten in die große halle, wo die gerade eben noch tief betrübten Verteidiger von Hogwarts zu neuem Kampfesmut erwacht waren. Sie hörte das schrille Lachen ihrer irgendwie doch irrsinnig gewordenen Schwester Bellatrix, als diese mit dem Weasley-Mädchen, der Tochter des Weltfremden Xenophilius Lovegood und dieser Schlammblüterin Hermine Granger ein Mehrfachduell ausfocht und wie er, der dunkle Lord sich mit Shacklebolt, Slughorn und McGonagall ein ebensolches Mehrfachduell lieferte. Doch ihr und Lucius ging es nur noch darum, Draco wiederzufinden, bevor dieser getötet wurde.
Fast wäre sie von einem Knochenbrecherfluch Runcorns getroffen worden, und Lucius konnte gerade noch soeben einen nicht direkt ihm geltenden Beinklammerfluch zurückschlagen. Wo war Draco?
„Nicht meine Tochter, du Schlampe!“ hörte sie die Stimme von dieser übergewichtigen Halbblüterin Molly Weasley. Dieses Hausweibchen wagte es doch ernsthaft, ihre in dunklen Zaubern exzellent gebildete Schwester herauszufordern? Ja, allen Ernstes. Doch weil sie da gerade Dracos blonden Schopf hinter einer Säule beim schon leicht angeschlagenen Hufflepuff-Tisch entdeckte beachtete sie nicht, wie Bella diese tollkühne Beschimpfung hinnahm. Sie winkte Lucius zu, der gerade mit großer Beklemmung zusah, dass sein großer Meister es nicht schaffte, sich aus dem dreierpulk Shacklebolt, Slughorn und McGonagall freizukämpfen. Als er sah, wo sie hinzeigte nickte er und lief mit ihr zum Hufflepuff-Tisch hinüber. „Dracoo, komm wir verschwinden!“ sagte sie zu ihm. „Nein, Zissy, wir kämpfen das jetzt zu Ende, allein schon, damit er uns nicht noch alle drei bestraft, weil du ihn verraten hast“, zischte Lucius. Doch Draco wirkte nicht so, als wollte der noch einmal in den Kampf ziehen. Sein Vater starrte ihn verbittert an. Da wollte Draco wissen, womit seine Mutter den dunklen Lord verraten hatte. Sie seufzte, dass sie ihn belogen hatte, was Potters Tod anging. „Der hat den nicht mit dem Vivideo-Zauber geprüft?“ fragte Draco verwundert und blickte hektisch umher, ob jemand ihn angreifen wollte. Dabei sah er wie seine Mutter, dass Bellatrix gerade ein Duell eins gegen Eins mit Molly Weasley ausfocht. „Er meinte, der würde bei Potter nicht anschlagen, weil der sicher von Dumbledore gelernt habe, seine Lebensaura zu verdunkeln. Deshalb habe ich das machen müssen, weil er von dem Fluch noch so geschwächt war und zudem auf diesen Halbriesen aufpassen musste, dass der ihn nicht noch tottrampelt.“
„Mum, dafür wird er dich zu Hackfleisch fluchen und dieser wiederlichen Schlange vorwerfen“, unkte Draco. Da flüsterte seine Mutter: „Dieses Untier ist tot. Der Longbottom-Junge hat es mit einem Silberschwert geköpft, das er aus dem sprechenden Hut gezogen hat, wieso auch immer.“
„Lahmarsch Longbottom … Öhm, Neville hat Nagini umgebracht. Und das hat sich der dunkle Lord gefallen lassen, wo der dieses Biest so heiß und innig geliebt hat?“ fragte Draco ungläubig. „Offenbar steht Longbottom unter einem ähnlichen Schutz wie Potter“, knurrte Lucius Malfoy. Narzissa sah ihm an, dass er gerade zwischen allen Stühlen hing. Die Verbundenheit, ja Hingabe an den dunklen Lord stritt sich mit anderen Gefühlen, darunter der Angst um Draco und sie, weil sie offenen Verrat begangen hatte. Dann wurde sie von Bellatrixes schriller, höchst provokanter Stimme abgelenkt. Sie hielt Molly Weasley gerade vor, dass sie diese gleich ebenso töten würde wie ihren Sohn Freddy und dann auch ihre Tochter töten würde. Da wurde Narzissa klar, dass Bella vollkommen wahnsinnig geworden sein musste. Eine aufgebrachte Mutter mit dem Tod ihres Kindes zu bedrohen war schlichtweg irre. Sie bekam mit, wie ihre Schwester unverzüglich den fälligen Preis dafür zahlte. Von einem Sonnenspeerzauber ins Herz getroffen fiel sie um. Doch Narzissa hatte den Eindruck, dass Bellas Mund ein weißer Dunst entstieg, der mehrere Meter nach oben stieg und sich zu einer nebelartigen Nachbildung von ihr ausformte. „Die hat mich echt totgeflucht, diese fette Mutterkuh!“ hörte Narzissa die vor Wut und Verwunderung triefende Stimme ihrer Schwester. Ihr feststofflicher Körper lag am Boden. Ihr dunstartiges Sein wippte und wankte über allen hier kämpfenden. Dann ballte sich die Dunstgestalt zusammen und schnellte wie eine abgefeuerte Kanonenkugel in den flackernd und Funken sprühenden Abklatsch des Nachthimmels, den die schon angekratzte Hallendecke nachbildete.
Narzissa stand wie erstarrt da, als der dunkle Lord und Harry Potter sich zum letzten Duell einander gegenüberstellten und der dunkle Lord damit prahlte, einen unbesiegbaren Zauberstab zu haben. Doch wieso hatte der dann nicht seine drei Opponenten damit erledigt, bevor Bellatrix gestorben war? Die Antwort gab Harry Potter und auch, dass er durch die Eroberung von Dracos Zauberstab der wahre Herr jenes mysteriösen Zauberstabes geworden sei. Das wollte der dunkle Lord natürlich nicht wahrhaben und rief den tödlichen Fluch aus. Harry rief zeitgleich den von ihm so geliebten Entwaffnungszauber auf. Beide trafen sich auf halbem Weg. Am Ende lag der dunkle Lord reglos am Boden, und Potter fing den aus dessen Hand geprellten Zauberstab auf. Die Schlacht von Hogwarts war entschieden. Ja, und auch wenn sie es bis dahin nicht für möglich gehalten hatte, ihr fielen ganze Felsbrocken vom Herzen, dass es so ausgegangen war. Damit beging sie den nächsten und auch letzten Verrat am dunklen Lord. Lucius, der wie die meisten offen kämpfenden Todessers nicht sofort wahrhaben wollte, dass er, der dunkle Lord, der von allen anderen Du-weißt-schon-wer genannt worden war und in Wirklichkeit Tom Vorlost Riddle geheißen hatte, von einem gerade mal ins UTZ-Jahr gelangten Halbblüter besiegt worden war. Dafür nutzten die Feinde der Todesser die Gelegenheit, ihre Gegner der Reihe nach zu lähmen, zu betäuben und zu entwaffnen, sofern die nicht die Flucht ergriffen.
Die Malfoys standen ebenso unschlüssig da, bis Luna Lovegood alle drei mit einem Erstarrungszauber traf. Doch für Narzissa war dies wie ein Fremdbeförderungszauber. Denn unvermittelt fand sie sich im Haus der Lestranges. Vor ihr schwebte, nun konturgenau erkennbar und von einer blattgrünen Aura umflossen, der Geist ihrer toten Schwester Bellatrix. „Mir war klar, dass sie dich festnehmen wollten, Zissy. Doch jetzt, wo er, der unvergleichliche und ich für das große ganze unser Leben haben geben müssen, will ich, dass du, meine einzig reinblütige Schwester, unser Familienerbe antreten sollt, nicht das Haus am Grimmauldplatz, sondern das Erbe der Töchter der Blacks, der wahren Herrinnen der magischen Welt, das unsere Mutter und unsere Tante bewahrt haben und das sie außerhalb der Reichweite der Mannsbilder versteckt hat. Wenn du es findest werden wir zwei eins sein und alle vor uns lebenden Hexen übertreffen, Medea von Rainbowlawn, Yuna McCormack, Sycorax Montague und ja auch die Französin Sardonia und ihre widerwärtige Nichte Anthelia. Suche nach dem Sohn des grünen Königs, Dairons höchstem Diener der Wälder. Dort werde ich dich erwarten.“ Als sie diese Worte sprach glühte die grüne Aura um ihren feinstofflichen Leib immer heller. Dann verschwand ihre Erscheinung vollständig im blattgrünen Leuchten und trieb wie ein Blatt im Wind davon, durch die Wand von Bellatrixes Schlafzimmer hinaus. Narzissa wollte ihr noch was hinterherrufen. Doch da fühlte sie einen Sog, der sie fortriss, hinein in einen kurzen Schauer aus Blitzen. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen fühlte stand sie zwischen Lucius und Draco. Die Sieger der Schlacht von Hogwarts umringten sie. Dann befahl Kingsley Shacklebolt, dass alle überwältigten Todesser nach Askaban geschafft werden sollten, bis ihnen der Prozess gemacht werden würde.
Im nächsten Moment fand sich Narzissa auf einem der Büßerstühle im großen Gerichtssaal. Sie verfolgte mit, wie ihr Mann, Draco und sie angeklagt wurden. Doch wegen aller erwiesenen Umstände, dass sie drei nicht mehr mit vollem Einsatz für den gestürzten dunklen Lord gekämpft hatten, ja Draco und sie Harrys Leben gerettet hatten und weil es eine neue Vereinbarung zur Entschädigung aller Opfer der Todesser gab kamen sie alle mit Freisprüchen davon. Narzissa meinte nach dem endgültigen Schlusswort Shacklebolts die Stimme ihrer toten Schwester zu hören, die verächtlich lachte. „Dein weiches Herz wird der Hammer sein, unter dem dieses armselige Gewürm zermalmt wird. wir beide werden das Erbe der Töchter der Blacks antreten und die alte Macht der Druiden und der größten Hexen nach ihm vereinen. Geh mit deinem wankelmütigen Mann und eurem verzärtelten Sohn nach Hause und bereite dich darauf vor, dein wahres Erbe anzutreten!“
Ohne einen Schritt zu tun und ohne sich darüber klar zu werden, wo die letzten Tage und Wochen geblieben waren fand sie sich nun im Büro von Kingsley Shacklebolt, der als neuer Zaubereiminister Großbritanniens eingesetzt worden war. Auch diese Blutschänderin Andromeda war da. Offenbar hatte das Ministerium ein Testament von Bellatrix gefunden. Dieser kahlköpfige Importzauberer aus Afrika mit dem viel zu protzigen goldenen Ohrring las mit schwer beherrschter Verdrossenheit vor, was Bellatrix hinterlassen hatte. Es wunderte Narzissa und Andromeda nicht, dass das Verlies in Gringotts an ihren Mann Rodolfus ging und erst nach dessen Tod an Narzissa Malfoy fallen sollte. Die Einrichtungsgegenstände und Dokumente, die ihr im Lestrange-Haus gehört hatten sollten die beiden Schwestern unter sich aufteilen. „Und wenn du, Zissy, Rommy bei der Gelegenheit zerfluchst soll mir das auch gefallen“, las Shacklebolt mit unübersehbarer Verärgerung vor, was Bellatrix zu diesem Punkt geäußert hatte. Andromeda verzichtete sofort und für das Protokoll auf ihren Anteil am Erbe. „Ja, und Sie, Mrs. Malfoy sollten sich nicht zu früh freuen. Wir haben alle Möbel aus dem Lestrange-Haus und vor allem alle Tränke, Trankzutaten und Dokumente beschlagnahmt und untersuchen sie, ob sie für bösartige Zwecke bestimmt sind oder mit Flüchen oder anderen Schadenszaubern belegt sind. Sollte da was bei sein, was verflucht ist müssten wir annehmen, dass Sie von Ihrer Schwester darauf hingewiesen wurden und unter Umständen eine neue Anklage gegen Sie erheben, wegen Aneignung und Besitzes böswilliger Zaubermittel. Öhm, sofern Sie nicht wie Ihre Schwester Andromeda hier und rechtskräftig bekunden, das Erbe Ihrer verstorbenen Schwester auszuschlagen.“ Bei den letzten Worten hatte sie sehen können, dass Shacklebolt überlegen grinste. Nahm sie als einzige das Erbe an mochte sie sich bald wieder vor dem Gamot finden und womöglich dann doch für mindestens ein Jahr oder gar zehn Jahre in Askaban landen, mit oder ohne Dementoren. Schlug sie das Erbe aus entging ihr womöglich ein beträchtlicher Anteil am Familienvermögen, dass Bellatrix bei ihrer Heirat mit Rodolfus mitgenommen hatte. „Nimm das Erbe an und bestehe darauf, dass du seit Jahren nicht mehr in unserem Haus warst!“ hörte sie wie aus weiter Ferne Bellatrixes Stimme. Doch zugleich dachte sie daran, was die Lestranges im Laufe ihres Lebens alles angesammelt haben mochten. Sie erinnerte sich an die Hinterlassenschaften im Hause der Blacks und die Sammlung, die ihr Mann Lucius angelegt hatte. Wenn da was ganz übles bei war kam sie wohl nicht mehr davon. Sie dachte, dass sie nur Bellatrixes Erbe antreten konnte, wenn sie frei und unbescholten blieb. So sagte sie laut: „Unter den Umständen, dass ich nicht weiß, was meine Schwester und ihr Mann an unerlaubten Dingen zusammengetragen oder hergestellt haben bitte ich darum, festzuhalten, dass ich meiner Schwester gehörige Inventar des Lestrange-Hauses nicht erben möchte. Hiermit verzichte ich auf alle Erbansprüche seitens meiner verstorbenen Schwester Bellatrix Lestrange geborene Black.“
„Das wirst du bereuen!“ brüllte die wie aus allen Richtungen dringende Stimme von Bellatrix. „Doch dein Blut wird den Weg bestimmen, und dein wachsweiches Herz wird zum eisernen Rammbock werden, mit dem diese Welt in Stücke geschlagen wird, um sie neu zusammenzufügen.“
„Bitte widerholen Sie Ihre letzte Aussage!“ forderte Shacklebolt Narzissa Malfoy auf. Sie befolgte die Anweisung. „Somit stelle ich, der amtierende Minister für magische Angelegenheiten der britischen Inseln, Irlands und aller ihrer Außenstellen fest, dass Mrs. Andromeda Tonks geborene Black und Mrs. Narzissa Malfoy geborene Black eideskräftig bekunden, jeden auf jeden gesetzlichen Anspruch zu verzichten, das Erbe ihrer verstorbenen Schwester Bellatrix Lestrange geborene Black, anzutreten. Diese Bekundung ist rechtskräftig und kann weder von den beiden Beurkundenden noch von deren gesetzlichen Erben widerrufen werden. Ich danke Ihnen beiden für Ihre Einsicht und Ihre Aufmerksamkeit, die Damen.“ Andromeda sah Narzissa verwundert und dann mit einem spöttischen Lächeln an. „Du wolltest nur nichts davon haben, weil du nicht doch noch in Askaban landen willst, wo das Gefängnis auch ohne Dementoren zum unangenehmsten Ort der Zaubererwelt umgebaut wird.“
„Ja, und du kannst es mit deiner scheinheiligen Auffassung von Gerechtigkeit und wegen deines Mannes und deiner Tochter nicht vereinbaren, dass Bellatrix dir doch noch was hinterlassen hat, obwohl du sie offen verachtet hast.“
„Ich sie, Narzissa? Sie mich, und das weißt du hochnäsiges Frauenzimmer ganz genau. Ja, und ich will auch nichts erben, an dem Blut und Tränen unschuldiger Leute kleben, wie den Longbottoms zum Beispiel. Du weißt, dass Frank und Alice immer noch in der geschlossenen Abteilung von St. Mungo sind?“
„Ich habe das irgendwann mal gehört“, erwiderte Narzissa biestig und meinte, Bellatrixes schrilles, gehässiges Lachen zu hören.
„Nun, wo Sie beide aus freien Stücken das Erbe ausgeschlagen haben kann ich besten Gewissens erwähnen, dass Mr. Neville Longbottom allen Ernstes erwägt, Schadensersatz für seine in den Wahnsinn gefolterten Eltern einzuklagen. So wird er sich wohl an Rodolfus halten, der anders als Ihr Gatte, Mrs. Malfoy nicht genug Gold zur Haftverkürzungszahlung besitzt. Da er ja noch Zugangsberechtigter des Verlieses von Bellatrix Lestrange ist wird die vielleicht zugesprochene Entschädigung daraus entnommen, solange er für die erwiesenen Untaten einsitzt, nur soweit, weil Sie beide ja auch mit ihm verschwägert sind“, erwähnte Kingsley Shacklebolt.
„Da wünsche ich Ihnen oder wem auch immer, der dort eindringt viel Spaß bei den Sicherheitsvorkehrungen dort“, grummelte Narzissa. „Wir wissen, welche Vorkehrungen das sind und stehen bereits mit den Kobolden in Verhandlungen, diese aufzuheben. Immerhin schulden die uns Zauberstabschwingern jetzt eine gewisse Dankbarkeit, weil wir das Übel Tom Riddle aus der Welt geschafft haben. Und sie, Mrs. Malfoy, dürfen Ihrem Gatten und Ihrem Sohn von mir ausrichten, dass sie ebenso froh sein dürfen, noch frei herumlaufen und zumindest am Körper unversehrt geblieben zu sein. Wäre diese Jahrtausendkoinzidenz mit Riddles erbeutetem Zauberstab nicht eingetreten könnten Sie sicherlich nicht darüber nachdenken, ob ihre Schwester Ihnen irgendetwas wertvolles hinterlassen hat.“
„Dies ist mir durchaus bewusst“, schnaubte Narzissa Malfoy. Warum musste diese schwarze Billardkugel da noch mit glühender Nadel in der Seelenwunde herumstochern? Klar, die Siegestrunkenheit. Womöglich hätte Lucius sich nicht anders aufgeführt, wenn er mit dem Absatz auf Shacklebolts totem Körper gestanden hätte.
Vor der Bürotür fragte Narzissa ihre Schwester: „Und, wann schickst du den Welpen deiner Tochter ins Waisenhaus für unerwünschte Bälger?“
„Er ist kein Welpe sondern ein Baby, Narzissa Hochnäsig Malfoy. Ich werde ihn im Namen meiner Tochter Nymphadora großziehen und ihm beibringen, seine Mitmenschen zu achten, um selbst geliebt zu werden. Das war nämlich, was eurem geisteskranken Herrn und Meister die ganze Zeit gefehlt hat und worüber er mit allen gestürzt ist, die meinten, sich für ihn umbringen lassen zu müssen.“
„Du willst diesen Werwolfsjungen großziehen, den deine trolldumme Tochter von Lupin ausgebrütet hat?“ fragte Narzissa Malfoy mit der Angewidertheit und Verachtung, die sie seit der Bekanntgabe der Geburt von Ted Lupin empfunden hatte. „Ja, ich werde ihn großziehen, als Amme und Ziehmutter, damit er lernt, was dein vom Gold und seiner Abstammung verdorbener Mann nie lernen wollte, Schwester.“
„Amme? Du willst dieses Wolfskind an deinen Brüsten saugen lassen? Abgesehen davon, dass du dafür sicher zu alt bist und da wohl nichts nahrhaftes rauskommt ist das der Gipfel der Blutschändung, einen werwütigen vom eigenen Körper zu nähren.“
„Du hast nicht zugehört, Narzissa Malfoy. Er ist ein gesunder, unschuldiger kleiner Junge, kein Wolfskind und kein Welpe. Ja, und wie du sicher mal im Zaubertrankunterricht gelernt hast können Hexen jeden Alters, die über ausgereifte Brüste verfügen, Stillmütter werden, ob mit sechzehn oder zweihundert Lebensjahren.“
„Dann bleibt mir nur, dir als letzten schwesterlichen Rat mitzugeben, dass du und das Balg von Lupin und Nymphadora möglichst nie näher als eine halbe Meile an mich oder meinen Sohn herankommt. Es könnte mir sonst einfallen, den Bengel vor deinen Augen totzufluchen.“
„Das muss ich wohl als drohung ansehen“, erwiderte Andromeda Tonks verbittert. „Aber sei es. Führ du dein Leben, sofern du es wieder in den Griff bekommst und lass ihn und mich unser Leben führen, wie ich es für richtig halte und wie er es eines Tages anerkennt, wenn er alt genug ist.“ Das waren die letzten Worte, bevor sich die Wege der zwei unterschiedlichen und unversöhnlichen Schwestern trennten.
Als wenn sie durch ein Portal getreten wäre fand sich Narzissa wieder in ihrem Salon. Sie sah, wie der von grünem Licht umflossene Geist ihrer toten Schwester über dem Stuhl vor Kopf schwebte, als habe sie sich gerade darauf niedergelassen. Mit verwegenem Grinsen sah der Geist von Bellatrix sie an und sagte mit einer wie aus großer Ferne heranfliegenden Stimme: „Du hast dich gut damit abgefunden, dass ihr Malfoys gerade nichts mehr zu bestellen habt, wie. Oh, ich merke es, wie es zwischen Lucius und Draco gährt, weil beide sich gegenseitig vorwerfen, dass sie zu sehr dem dunklen Lord gefolgt sind. Doch Lucius weiß genau, dass er keine Wahl hatte. Wen er wollte, den hat er zu sich geholt. Ja, und nur weil du so einen Versager in die Welt hineingepresst hast ist der dunkle Lord gefallen. Deshalb schuldest du mir was. Mein Gold und meinen Schmuck wolltest du nicht haben. Aber in deinen Adern fließt das Blut der Blacks, großer Zauberer und Hexen. Du wirst seinem Ruf folgen und das Erbe dieser großartigen Töchter antreten, für Cassiopeia, für Nausikaa, für Aramintha und für uns beide. Rommy hat das Recht auf diese große Ehre verwirkt, weil sie ihr Blut mit dem eines Schlammblutes vermischt hat. Deshalb bist du verpflichtet, unser Erbe anzutreten. Vor allem kannst du dann über solche Versager wie Lucius und deinen achso wohlbehüteten Sohn Draco herrschen.“
„Die beiden haben sich gestern überworfen. Ich musste Erstarrungszauber wirken, um beide davon abzuhalten, sich gegenseitig zu verstümmeln oder zu töten“, seufzte Narzissa, obwohl ihr dieses Ereignis gar nicht als erlebt bewusst war. „Ich weiß. Wo du bist bin auch ich und erlebe mit, was du erlebst, bis du unser Familienerbe antreten und wir zwei die neue Weltordnung der einzig wahren Hexenschwestern antreten werden.“ Als Bellatrix das sagte meinte Narzissa, in ihrem grün umstrahlten Körper Bilder zu sehen, wie sie in einem goldenen Kleid mit einem weißen Hexenhut mit goldener Spitze die Stufen eines weißen Marmorthrones hinaufstieg. Der Thronsessel war mit dicken Daunenkissen gepolstert. Ohne es zu sehen wusste sie, dass es der Jugendflaum eines viermal intereinander getöteten und wiedergeborenen Phönixes war. Der Thron stammte aus Frankreich und war jener, auf dem einst Sardonia gesessen hatte.
„Alles soll dein sein, der Thron, die Herrschaft, der Ruhm und der Reichtum“, lockte der Geist von Bellatrix. Da meinte Narzissa, eine weit entfernte Jungenstimme zu hören: „Hör nicht auf sie. Du stürzt dich ins Unglück. Das ist alles nicht wahr!“ Narzissa sah, wie Bellatrixes Geist wild flackerte und dann die durchsichtigen Beine zusammenschlug. „Schweig still, nie geborener Sohn, der mich nicht zur Mutter wollte“, zischte Bellatrixes Geist.
Narzissa trat auf die Erscheinung zu und berührte sie. Dabei meinte sie in eine grüne Nebelwolke hineinzutauchen und frei zu schweben. „Nein!!“ hörte sie jene Jungenstimme rufen und sah nur noch einen schwarzen Vorhang vor sich niederfallen.
„Meisterin Narzissa, das Abendessen ist fertig“, krächzte die vom Alter angerauhte Stimme von Hoaky. Narzissa erkannte, dass sie wohl eingeschlafen war und geträumt hatte. Ja, sie musste geträumt haben. Denn dass Bellatrix als Geisterfrau in der Welt verblieben war hatte nicht stattgefunden.
„Danke, Hoaky, ich komme. Ist der Meister Lucius wieder da?“
„Nein, ist er nicht. Er hat eine Eule geschickt. Der Brief liegt im Speisezimmer!“ erwiderte Hoaky.
Narzissa ging ins Bad und wusch sich Gesicht und Hände. Sie kämmte ihr Haar mit dem silbernen Kamm aus Einhornhorn glatt. Dann begab sie sich ins imposante Speisezimmer, in dem bis zu fünfzig normalgroße Personen mühelos an einem langen Tisch sitzen konnten. Es erinnerte sie immer wieder an die großen Feiern, aber auch an jene grauenvollen Exempel, die der dunkle Lord hier statuiert hatte. Mittlerweile hatten sie den einstigen Edelholztisch gegen einen anderen Tisch ausgetauscht. Doch wenn Narzissa nicht die eingeübten Ablenkungstechniken verwendete musste sie auch immer wieder an dieses gefräßige Kriechtier denken, dass der dunkle Lord als seine mächtigste Vertraute erwählt hatte und von dem sie in all den Jahren erfahren hatte, dass er einen Teil seiner eigenen Seele daran gebunden hatte.
Der Brief von Lucius besagte, dass ihr Mann mit „alten Weggefährten“ in Deutschland war und dort über die Zeit nach Ladonna Montefiori sprach und erst am 30. Mai zurückkehren würde. Narzissa erkannte, dass sie weiterhin allein sein würde, allein in diesem großen, protzigen Herrenhaus, allein mit all den erfreulichen wie bedrückenden Erinnerungen, die es erfüllten.
Während sie aß dachte sie an jenen Traum von vorhin. Was wäre, wenn Bellatrix wirklich in der Welt verblieben wäre? Konnte sie wirklich alles mitverfolgen, was sie so tat? Ja, und was sollte das Gerede von einer Erbschaft, die nur Töchter der Familie Black antreten konnten? War sie wirklich dazu ausersehen, zur obersten Königin aller Hexen und Zauberer aufzusteigen. Sie dachte an das, was der Geist ihrer Schwester ihr gesagt hatte. Irgendwo sollte es den Sohn des Königs aller grünen Kinder geben. Auch hatte sie den Namen Dairon erwähnt. Dairon war einst ein druide der dunklen Seite gewesen. Wo die meisten Druiden mit Heil- und Schutzzaubern hantiert hatten wollte Dairon die Herrschaft über alles was lebte und alle verdorbenen Seelen antreten und hatte hierzu verschiedene Gegenstände erschaffen, die Legendär waren. Darunter sollte ein Gürtel sein, der alle Formen gewaltsamen Todes auch jeden Todesfluch abwehren konnte und einen Kristall, mit dem unsichtbare Wesen zur Sichtbarkeit gezwungen und unterworfen werden konnten, wenn man ihre wahren Namen und die ihrer geschlechtsgleichen Vorfahren kannte. Ja, und da fiel ihr auch ein, dass Dairon einst dort, wo heute der verbotene Wald von Hogwarts war, den Setzling einer verwunschenen Eiche hingepflanzt hatte, die er mit Blut und Samen von gewaltsam getöteten, verbrecherischen Menschen gedüngt hatte und den er zum König aller Bäume gekrönt hatte. Sie hatte vor Jahren gelesen, dass dieser verwunschene Baum zu neuer Tätigkeit erwacht sein sollte und die damaligen Lehrer von Hogwarts ihn in gemeinsamer Anstrengung zerstört hatten. Doch hatte der am Ende noch einen Setzling hervorgebracht? Wenn ja, wo war der? Sollte sie es wagen, ihn zu suchen? Was, wenn dies nur ein irrwitziger Traum war, hervorgerufen durch Narzissas schlechtes Gewissen, weil sie das Erbe ihrer Schwester und damit das Erbe der Blacks ausgeschlagen hatte? Ja, so musste es sein. Sie hatte nur einen irrwitzigen Traum gehabt, keinen Albtraum. Aber dennoch einen sehr befremdlichen Traum.
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Es sah schon merkwürdig aus, zumindest für uneingeweihte. In einem achteckigen Saal saßen acht Menschen um einen achteckigen Tisch herum. Das war nicht das befremdliche. Auch dass es vier männliche und vier weibliche Personen waren war noch kein Grund zur Verwunderung. Doch dass fünf von ihnen rein äußerlich gerade acht bis zehn Jahre alt wirkten und nur drei über achtzig Lebensjahre alt zu sein schienen war schon seltsam. Dass alle hier sitzenden weiße Roben trugen und ein goldenes Achteck auf dem Brustteil trugen wies sie als Mitglieder der gleichen Institution aus. Sie waren die großen acht, Hüterinnen und Hüter der Gemeinschaft der erhabenen Insel Ebonesia, einer in selbsterwählter Isolation lebenden, seit neun Jahren weit fort von der Urheimat mitten im Pazifik beheimateten Gemeinschaft aus gerade 19230 lebenden Mitgliedern, davon fünf, die in den nächsten drei Jahren rechtmäßigen Anspruch auf Rückkehr in den Rat der acht erheben durften, sofern nicht vorher schon einer davon wegen irgendwas ausscheiden musste.
Heute, am 25. Tag des Gasbardinmonats, sollten drei zukunftsträchtige Entscheidungen gefällt werden. Besonders für drei der acht bedeutete dieser Tag einen wichtigen Abschnitt. Für Eugène Boisrich, den körperlich ältesten hier, würde der Tag entscheiden, ob er ab morgen zum ersten mal durch den Körperverjüngungszauber sein Leben verlängern würde oder vielleicht noch bis zu seinem zweiundneunzigsten Geburtstag wartete. Für die gerade wieder aufwachsende und vor fünf Jahren in den Rat zurückgekehrte Lucine Borgogne würde sich entscheiden, ob ihre und Adrasteas Bemühungen umsonst gewesen waren. Cagliostro, der vor neun Jahren an die Stelle des in Ungnade gestürzten und zum Schutz der Gemeinschaft geopferten Phaeton Maintenon im Rat saß, würde sich heute entscheiden, ob seine Zunft der Torhüter demnächst wieder ein stabiles Tor nach Frankreich errichten, vielleicht sogar weitere Ausgänge in anderen Ländern erschaffen oder auf unbestimmte Zeit als reine Gebäudeinstandhalter beschäftigt sein würden.
Eugène Boisrich war wegen seines körperlichen Alters der Gesprächsleiter, galt jedoch als erster unter gleichen. Daher durfte er das erste Wort ergreifen und es nach Meldungen oder Stand der Beratung an andere Mitglieder weitergeben. Er sah die im Vergleich zu ihm uralt gedienten Ratsgeschwister an und sagte: „So verkünde ich für den unbestechlichen Mitschreiber, dass der Rat der großen acht heute, am fünfundzwanzigsten Tage des Gasbardinmondes im Jahre zweihundertsiebzehn nach Gründung der ebonesischen Gemeinschaft, die Sitzung eröffnet. Zur Beratung stehen heute an die folgenden Punkte:
Zum ersten gilt es, den Bericht der Torhüterzunft zu hören und darüber zu beraten, ob und wenn ja wann wir ein neues Tor in die Urheimat errichten lassen können und ob dabei nicht auch Ziele in anderen, ja uns auch näheren Ländern möglich erscheinen. Hierzu wird Ratsbruder Cagliosto Gasbardin den Bericht des amtierenden Tormeisters vorlesen und dessen Einschätzung mitteilen, da er ja deren Vertreter im Rat der acht ist.
Zum zweiten wird uns Ratsschwester Lucine Borgogne berichten, wie sich die vor einem Jahr mit sieben zu acht Stimmen beschlossene Fernreisesperre auf üblichem Wege auf die Gemeinde auswirkt und ob im Falle, dass kein neues Ferntor errichtet werden kann oder soll, neue Arten der Fernreise erörtert werden sollen oder ob die wirksame Fernreisesperre verkürzt oder auf die bisherige Höchstlänge von einundneunzig Jahren verlängert werden soll, um jeden Argwohn in der Urheimat einzuschläfern.
Zum dritten soll beschlossen werden, ob wir zu den zehn nach der Schande von Phaeton und Ion verbliebenen schnellen Jäger neue schnelle Jäger erbrüten lassen oder mit den zehn noch lebenden alleine auskommen. Die Ratsbrüder Canopus und Perigrin sind da uneins und erbitten die Beratung im ganzen Rat.
Abschließend wird über die nächsten Beratungsthemen beschlossen.“
So durfte Cagliostro, der vor neun Jahren für Phaeton Maintenon die Wiederverjüngung über sich hatte ergehen lassen den Bericht der Torhüterzunft vorlesen. Er begann mit einer umständlichen Ehrenbekundung der Zunft und las dann vor, was die Prüfung über eine Wiedererrichtung des Tores unter den veränderten Bedingungen ergeben hatte. „Grundsätzlich ist es möglich, auch über die nun zwölffache Entfernung nach Frankreich und über den Äquator hinweg ein neues Tor zu errichten“, las er den ersten konkreten Satz. „Hierzu benötigt die Zunft jedoch die einhundertvierundvierzigfache Menge der bisherigen Lenksteine, die dann auch noch größtenteils unter wasser ausgelegt werden müssen. Dies ist zwar möglich, da die Zunft der Küstenschützer und Fischer die nötigen Zauber für Unterwasseratmung bereitstellen können, wenn der Rat dies ausdrücklich verfügt. Schwierigkeiten sind jedoch bei der Bezauberung der Lenksteine und der noch in Frankreich liegenden Zielsteine zu erwarten, da durch die zwei verschiedenen Sonnenlaufkreise über und unter dem Äquator und den Mittagsstandsunterschied zwischen uns und Frankreich weiterführende und kraftaufwendige Zauber auszuführen sind. Dies, so Tormeister Bellevue, birgt die Gefahr in sich, dass kleinste Abweichungen von der Ausrichtung und Zauberkraftspeicherung zu Abweichungen bei der Zielankunft oder gar einer unbestimmbaren örtlichen und zeitlichen Ankunft führen können. Es kann also geschehen, dass ein Reisender zwar aus unserem Tordurchgang verschwindet, aber erst Stunden, Tage oder gar Jahre später am Ziel ankommt und dabei möglicherweise den Zielstein um mehr als eintausend Meilen in der Fläche und tausend Klafter in der Höhe verfehlen kann. Das sowas zum Tode des Reisenden oder der Zerstörung des beförderten Gutes führen kann ist wohl allen von euch klar. Die Zunft der Torhüter setzt daher für die unbedingt einzuhaltende Genauigkeitsarbeit und Ausführung einen Zeitraum von zwei Jahren an und gibt zu bedenken, dass bei der Neubezauberung der Zielsteine mehr Magie aufgewandt werden muss, die auch bei bestmöglicher Abschirmung verräterische Streustrahlungen verursachen kann oder zu erd- und Astralmagischen Schwankungen führen mag, die von kundigen Hexenund Zauberern erfasst und gedeutet werden kann. Als Arbeitskosten werden für die Beschaffung der zusätzlichen Lenksteine fünfzig römische Libra in Gold oder der gleiche Wert in anderer Form und für die Ausführung über die zwei angesetzten Jahre und die abschließende Verwendbarkeitsprüfung einhundert römische Libra in Gold oder die diesem Wert entsprechende Menge eines anderen Stoffes veranschlagt. Das ergibt die Gesamtsumme von einhundertfünfzig römischen Libra in Gold.““
Cagliostro hatte damit gerechnet, dass diese Zahlen und Angaben der möglichen Gefahren Aufregung verursachte. Doch als er den Zeitraum und den Arbeits- und Materiallohn erwähnte schlugen sich vier der acht die Hände vor die Gesichter. Canopus Bellevue bat ums Wort und stellte die Anfrage, im Haus der Aufzeichnungen nach dem Arbeits- und Materiallohn für die Errichtung des ersten Tores zu suchen. Cagliostro Gasbardin konnte da nur ein Grinsen unterdrücken. Er holte ein weiteres Pergament hervor und verlas mit Erlaubnis des Gesprächsleiters die damalige Vereinbarung und die Bestätigung der Bezahlung. Damals waren gerade zwanzig römische Libra in Gold bezahlt worden, wobei die Gemeindemitglieder die aus Frankreich geretteten Goldvermögen angreifen mussten. „Besteht was die Bezahlung angeht noch Verhandlungsspielraum?“ fragte Boisrich Cagliostro. Dieser sagte sogleich: „Das ist der vom Rat beschlossene Lohn für langwierige und aufwendige Zaubereien, und die Lenksteine zu beschaffen und auf ihre Qualität zu prüfen erfordert weitere Arbeiten und gefahrvolle Reisen, zumal die Küsten- und Fischerzunft denselben Lohn veranschlagt wie die Tormeister, da sie ja für die Unterwasserarbeiten einspringen sollen. Da ist kein Verhandlungsspielraum, schon gar nicht nach unten.“
„Wie hoch ist die derzeitige Gesamtmenge dem Rat selbst zugänglichen Goldes?“ wollte Boisrich wissen und erhielt die Antwort von seinem körperlich ähnlich alten Ratsbruder Maurice BleuChat, dass nach den jährlichen Abgaben gerade 500 römische Libra Gold in den Barrenlagern vorrätig waren. Es sei also nicht nötig, an die Privatschätze der Bewohner zu gehen. „Gut, dann ist hiermit die Beratung eröffnet, ob es sich lohnt, ein solches Tor aufzumachen und ob wir darüber entscheiden wollen, dass wir auch an andere Orte Zufallsausgänge legen“, sagte Boisrich.
Zwanzig Minuten wurde hin und her argumentiert, wozu sie das Tor brauchten, bis sich die Ansicht durchsetzte, dass darüber erst klar entschieden werden sollte, wenn Punkt zwei und drei abgehandelt waren. Allerdings verzichteten sie jetzt schon auf eine Erweiterung der Ankunftsbereiche nach Australien oder Neuseeland.
Punkt zwei ergab, dass sich die überwiegende Mehrheit der Gemeindemitglieder gut damit arrangierte, jetzt noch weiter von Frankreich fortzusein und im Niemandsland des stillen Ozeans zu leben. Einerseits sei das Wetter hier beständiger, von den wenigen Zyklonen abgesehen, gegen die die für Luft- und Wasserzauber ausgebildeten Mitbürger jedoch brauchbare Schutzkuppeln für die vier Hügel und den Felsenpalast errichtet hatten. Viele hatten sogar die Ansicht, dass sie nun überhaupt nichts mehr mit der Urheimat zu tun haben wollten. Da bereits mehr als drei Generationen auf der Insel geboren worden waren empfanden wohl viele die Isolation als erträglich. Jene, die mehr von der großen Welt sehen wollten murrten zwar über das gerade geltende Fernreiseverbot, erkannten jedoch an, dass die Verborgenheit der Insel zur Zeit der beste Schutz der Gemeinschaft war.
Als nach diesen Berichten aus der Bevölkerung beraten wurde, ob das geltende Fernreiseverbot nun noch neunzehn Jahre gelten sollte oder ob es sobald das neue Tor errichtet war endete oder ob nicht eher ein langfristiges Stillhaltegebot gelten sollte zeichnete sich eine Mehrheit für eine Verlängerung um weitere 71 Jahre ab. In der Zeit sollten dann befristete Kundschafter die Lage in der Welt beobachten und ohne selbst in die Geschehnisse eingreifen zu dürfen Einschätzungen nach Hause zurückbringen, ob und wenn ja auf welche Weise wieder mit der Außenwelt Kontakt gesucht werden sollte. Lucine Borgogne erhob Einspruch, weil eine Verlängerung der Fernreisesperre zum einen bedeuten mochte, dass sie die Bindung zur Urheimat verloren und zum anderen keinen Einfluss auf magische Entwicklungen nehmen konnten und damit die eigene Zukunft gefährdeten. Dazu wandte Cagliostro Gasbardin ein, dass diese Ermahnung ein jahr zu spät käme und es denen hätte mitgeteilt werden sollen, die sich am Umsturzversuch gegen das französische Zaubereiministerium beteiligt hatten und jetzt auf unbestimmte Zeit in Tourresulatant begraben und somit für die Ebonesier wertlos waren. „Im Grunde können wir sogar noch von Glück sprechen, dass diese kurzsichtigen Mitgeschwister nur wegen ihrer Beteiligung an Sanguis Purus inhaftiert wurden und nicht zu weiteren Tätigkeiten verhört wurden“, sagte Canopus Bellevue. „Ich bin auch dafür, dass wir beobachten, was in der Welt geschieht. Aber wenn wir wieder versuchen, Einfluss auszuüben, ohne vorher sichergestellt zu haben, dass unsere Agenten unbehelligt bleiben können und ohne dass wir wieder wen in nichtmagische Familien einschmuggeln müssen, um der magischen Welt Mitglieder mit nichtmagischer Abstammung vorzugaukeln, dann dürfen wir gerne über eine Neugliederung eines ständigen Kundschafterdienstes beraten. Abgesehen davon kann das Fernreiseverbot ja jedes Jahr nach Wirksamwerdung überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden. Ich sehe da keine Unwägbarkeit.“
„Du bist der Vertreter für Außenüberwachung und Außenverbindungen, Ratsbruder Canopus“, grummelte Lucine Borgogne. „Deshalb wundert mich das jetzt doch, dass du freiwillig darauf verzichten willst, vertrauenswürdige und sichere Beobachter und Handlungsbevollmächtigte in Frankreich zu haben. Gerade dieser unsägliche Fehlschlag der Sanguis-Purus-Bewegung beweist, wie wichtig es ist, sichere Nachrichtenquellen und einsatzbereite Ärgernisausräumer vor Ort zu haben. Mein Sohn Ion war dort wo er war sicher und einflussreich.“
„Ja, bis er meinte, Janus Didier als Minister abzulösen, der da schon in einen vorzeitlichen Schlangenkrieger verwandelt war und danach ganz und gar den Kopf verloren hat und deshalb zurecht von deiner Tochter neu ausgetragen und geboren werden musste. Dummheit muss eben auch mal weh tun, damit sie kuriert wird.“
„Gesprächsordnung!!“ rief Eugène und hob den kleinen Hammer, mit dem er beschlossenes bestätigte oder aufgekommene Unruhen beenden konnte wie ein Richter. Doch er brauchte nicht auf den Tisch zu hauen. Alle sahen ihn an, wohl auch, weil sie alle davon ausgingen, dass er heute seinen vorerst letzten Tag im Rat erlebte und nicht vor vier Jahren wieder zurückkehren durfte. „Also stimmen wir ab. Wer will das Fernreiseverbot in seiner jetzigen Fassung beibehalten?“ Keiner stimmte zu. „Wer möchte es zum nächstmöglichen, also zum Zeitpunkt der Errichtung eines neuen Ferntores aufheben?“ Hier stimmte nur Lucine Borgogne zu. „Wer stimmt einer Verlängerung des Fernreiseverbotes bis zum vierten Tag des Bleuchatmonats im Jahre dreihundertsieben unter der Bedingung der jährlichen Überprüfung der Verbotsgründe zu?“ Alle verbliebenen sieben stimmten zu. Daraufhin beantragte Lucine Borgogne die Frage nach der Einrichtung eines ortsgebundenen Kundschafter- und Eingreifhelferdienstes. Dem stimmte sie alleine zu. „Heißt das, dass bis auf weiteres keine neuen Kundschafter in Frankreich angesiedelt werden sollen?“ fragte sie. „Nach dem Abstimmungsergebnis heißt es das“, meinte Boisrich. Canopus Bellvue beantragte dann die Einrichtung einer Forschungsgruppe, die statt lebender Kundschafter eigenständig bewegliche Bild- und Wortaufnahmegeräte entwickeln wollte, um Fehlschläge wie mit Ion Borgogne alias Sebastian Pétain zu verhindern. Doch da stimmten fünf gegen. Sie wollten sich nicht auf seelenlose Automata verlassen, die nur berichten aber nichts ausrichten konnten, selbst wenn sie sich bei Entdeckung bedenkenlos selbstvernichten konnten. Canopus meinte zu Lucine: „Es besteht also für deinen Enkelsohn Hoffnung, dass er nach Ende seines Wiederaufwachsens irgendeine wichtige Tätigkeit in der Außenwelt übernehmen darf.“
„Ja, in neunzig Jahren, sofern wir bis dahin das Fernreiseverbot nicht aufgehoben haben und ein stabiles Ferntor eingerichtet haben, ohne entdeckt zu werden“, knurrte Lucine.
Da nun beschlossen war, wie lange das Fernreiseverbot gelten sollte wurde gleich noch beschlossen, dass ein neues Ferntor im Zeitraum von drei Jahren errichtet werden sollte. Bis dahin mochte die Welt hoffentlich nicht vollends untergehen, meinte Eugène Boisrich in Lucines Richtung.
Nun wurde noch darüber beraten, ob es gut und richtig sei, den Bestand der kleinen, schlanken Jagddrachen von gerade noch zehn auf wieder fünfzig Einzelwesen aufzustocken. Selbst wenn sie nicht von sich aus in die Welt hinausgingen müssten sie immer mit einem Angriffsversuch rechnen, auch und vor allem nachdem sie die Berichte über die Vampirsekte studiert hatten. Somit ergab sich eine Stimmenzahl von acht von acht für die Nachzucht der schnellen Jäger und die Ausbildung der Pulkführer. Danach konnte Eugène Boisrich den Beratungstag beschließen und bedankte sich bei den sieben Ratsgeschwistern für die Mitarbeit. „Ich werde morgen zum ersten mal das Vorrecht der Wiederverjüngung annehmen und dem Kollegen Roubin, der bereits seit zwei Jahren auf seine Wiederaufnahme wartet, die Rückkehr ermöglichen“, sagte Boisrich. „Ich hoffe, die zweite Kindheit ist nicht so unangenehm wie viele von euch erwähnt haben.“
„Du musst ja nicht noch einmal im Mutterschoß heranwachsen und neu geboren werden“, meinte Lucine dazu und erntete zustimmendes Nicken von Cagliostro Gasbardin, der froh war, seine vier ersten Jahre im dritten Leben doch einigermaßen gut überstanden zu haben.
Später traf Lucine ihre wesentlich älter aussehende Tochter Adrastea und Enceladus und berichtete von den Beschlüssen. „Dann wollen die zwar das Tor wieder aufbauen, aber bis zum Jahr dreihundertsieben keinen mehr rausschicken, sofern keine Gründe eintreten, das Verbot vorher aufzuheben?“ fragte Enceladus verdrossen. Seine beiden Blutsverwandten bejahten das und auch, dass es keinen festen Kundschafterdienst mehr geben sollte. „Tja, dann werde ich wohl abwarten, bis Ratssprecher Boisrich wieder in den Rat zurückkehren darf. Wer ist denn nach ihm für die Wiederverjüngung vorgesehen?“
„Vorerst keiner“, sagte Lucine. Adrastea bemerkte dazu: „Tja, dann wird der gute Eugène wohl genauso erst wieder aufwachsen dürfen wie du, Kleiner.“
„Nur weil ich mal da dringesteckt habe bin ich kein Kleiner“, grummelte Enceladus und deutete auf Adrasteas Unterbauch. Sie fühlte über die geheime Gedankenüberwachung, dass ihn die Schmach, wiedergeboren werden zu müssen auch weiterhin umtreiben würde und dass er bereits an möglichen Racheplänen brütete. Das machte ihr Sorgen. Doch ihm und ihrer wiederverjüngten Mutter durfte sie davon nichts sagen. Denn Lucine stand voll und ganz auf Enceladus‘ Seite.
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Gooriaimiria, die erwachte Göttin ohne große Anhängerschaft, hatte den Befehl an die wenigen Überlebenden des Schattensturmes ausgegeben, behutsam nach neuen Mitgliedern zu suchen. Sie selbst überwachte ihre gerade so noch entkommenen Diener, darunter Halanocturna, die aus den zwei Seelen einander liebender Nachttöchter zu einer einzigen Daseinsform zusammengewachsene Anwärterin auf ein hohes Priesteramt. Diese wusste, dass alle Pläne ihrer Göttin um mindestens ein Jahr zurückgeworfen worden waren. Unternehmen „Nachthimmel“ konnte erst dann durchgeführt werden, wenn es genug Kinder der Nacht gab, die daran teilnehmen konnten. Außerdem gab es noch an die fünfzig niedere Priesterinnen, die um die Nachfolge der sieben vernichteten Tempelhüterinnen kämpfen mussten. Sicher war nur, dass es Jahre dauern würde, auf jedem Erdteil einen neuen Tempel der Göttin zu errichten.
jene, auf die Gooriaimiria einst sehr große Hoffnungen gesetzt hatte, hatte einen magielosen Weg gefunden, den Rotblütlern aber auch den Schattenstrudeln Gooriaimirias zu entrinnen. Nyctodora, die Hohepriesterin, hielt sich seit dem Sturm auf die sieben Tempel nur noch in einem großen, mit doppelt so großen Treibstoffspeichern versehenen Flugzeug auf, das über mehrere Satellitenanlagen eine ständige Verbindung zu den Flughäfen, Fabriken und Büros von Eleni Papadakis halten konnte, ohne dass die Geschäftsführerin dort selbst anwesend sein musste. Immer wieder ließ Nyctodora ihre gegen Radarstrahlung abgeschirmte Maschine in der Luft nachbetanken. Außerdem hatte sie mit der von Gooriaimiria erlernten Zauberkraft das Material ihres fliegenden Befehlsstandes auf ein zehntel des Ausgangsgewichtes erleichtert und zugleich unzerbrechlich und strahlungssicher gemacht. So konnte sie beinahe wie auf einer großen Wolke durch die Luft schweben und mal hier und mal dort sein.
Monate lang hatte Gooriaimiria in einem selbsterwählten Zustand zwischen Besinnungslosigkeit und vollem Bewusstsein zugebracht und dabei eher durch Zufall als mit Absicht die zaghafte Erholung ihrer Gefolgschaft mitbekommen. Nun gab es wieder an die zweihundert Getreue. Die Schattenkönigin, die ihr die größte Niederlage seit Jahrzehnten zugefügt hatte, schien ebenfalls geschwächt zu sein. Denn ihre treuen Diener jagten nicht nach den Nachtkindern. Gooriaimiria fühlte, dass die Schattenkönigin noch da war und dass sie selbst wohl gerade schlief. Doch sie wurde jede Nacht ein wenig stärker. Auch die vaterlosen Töchter, einst die schlimmsten Feindinnen der Nachtkinder, gab es noch. Gooriaimiria konnte sogar fühlen, wie aus einer zusammengefügten zwei unabhängige Bewusstseinsquellen wurden. Offenbar hatte eine von denen eine entkörperte Schwester neu ausgereift und auf die Welt zurückgeboren. Auf jeden Fall spürte Gooriaimiria, dass wenn sie nicht bald wieder tätig wurde, ihre Feindinnen zu stark waren, um einen Fortbestand der Kultgemeinschaft zu sichern. Sie brauchte eine Waffe gegen alle Feinde.
Nyctodora hatte mit ihren Verbindungen in die gegenwärtigen Kriegsgebiete dieser Welt an die hundert weitere Kristallstaubträger erschaffen, die Gooriaimiria einst als ihre Paladine geschätzt hatte. Doch diese Wesen starben schon, wenn sie die Schreie gerade geborener Menschenkinder hörten. Der Mitternachtskristall, der aus hunderten gewaltsam getöteter und entseelter Menschen entstand, war dem neuen, unschuldigen Leben unterlegen. Doch das musste nicht so bleiben. Sie erinnerte sich, dass der in ihr eingeschlossene Iaxathan, der nur noch als Giriaisirian angesprochen wurde, nicht nur sein Auge der Mitternacht aus teilweisem Unlichtkristall erschaffen hatte, sondern auch Waffen und ja auch Rüstungen, die jene dunkle Kraft von Leid und Tod bündeln konnten. Bisher hatte sie ihn nicht dazu gebracht, ihr die genaue Herstellung dieser Waffen und Rüstungen zu verraten. Dieses Versäumnis wollte sie nun beseitigen. Wenn sie die Rüstungen besaß würde sie daran gehen, Nocturnia neu zu gründen, das Reich ohne Grenzen. Dazu wollte sie abertausend neue Kinder der Nacht erschaffen, nicht durch den sonst üblichen Blutaustausch, sondern wie damals, wo sie ein Mittel gefunden hatte, um im Blut von arglosen Menschen den Keim der Nachtkinder aufgehen zu lassen. Doch dazu brauchte sie einen mächtigen Vermittlungsstoff. Damals, wo sie als Lady Lamia einen lebenden Körper besessenund den Stein der Mitternacht in ihrem Unterleib aufbewahrt hatte war ihr Blut jener Vermittlungsstoff gewesen. Das ging so nicht mehr. Doch sie konnte die in ihr vereinten Kräfte auf andere Nachtkinder übertragen. Womöglich konnten die dann mit ihrem Blut einen neuen Wirkstoff herstellen. Die Pläne für die Umwälzanlage und für die Herstellung des Vampyrogens kannte sie noch wie am ersten Tag.
Mit ihrer von Heptachiron erbeuteten Fertigkeit, 28 ihr treue Nachtkinder zugleich zu überwachen und zu ihnen zu sprechen berief sie für den ersten Frühlingsneumond eine Versammlung im verbliebenen Tempel ein, der unter dem Elbrusgebirge geschaffen worden war. Auch Nyctodora sollte dort erscheinen, um die neuen Befehle der Göttin entgegenzunehmen. Gooriaimiria fühlte, dass die auf ihre Flugmaschine vertrauende Hohepriesterin etwas widerwillig zusagte. Doch noch war sie die Hohepriesterin, also musste sie dort erscheinen.
Als die Nacht der Beratung anbrach erschien die rot leuchtende Abbildung der erwachten Göttin zwischen ihren getreuen. Wie immer wirkte sie wie das aus sich selbst heraus leuchtende Bild einer riesigen Frau, die gerade im zweiten Drittel schwanger war.
„Meine verbliebenen getreuen Töchter und Söhne! Es hat gedauert, bis die erhabene Gemeinschaft sich von jenem gewaltigen Schlag erholte, den Verrat und das Machtstreben einer blutlosen Unwesenheit verursachten. Unsere Feinde sammeln ihre Kräfte. Außerdem gibt es in Afrika noch immer den Orden Akashas, der darauf wartet, endlich mit unserer Gemeinschaft vereint zu werden. Ebenso gilt es, die abertausend hingeschlachteten Brüder und Schwestern möglichst bald und schnell zu ersetzen. Hierzu habe ich folgendes beschlossen.“
Die Erscheinung der Göttin sprach zu ihren erwartungsvoll lauschenden Getreuen und erwähnte ohne für die aller meisten unverständliche Fachbegriffe zu verwenden, wie sie es sich vorstellte. „Wir müssen dafür Forscher und Hersteller unter unsere Herrschaft bringen, die helfen, die nötigen Herstellungsvorrichtungen zu bauen und zu betreiben. Jetzt wissen wir leider alle, dass genau dort, wo die wohnenn und arbeiten, die für uns besonders interessant sind, jene widerwärtigen Blutaufheizungskristalle angebracht sind, die jeden von euch überhitzen und zu lebenden Fackeln machen können. Die grauen Nachtkinder widerstehen ihnen zwar sehr gut, können aber durch das einfache Geschrei ganz kleiner Menschenkinder getötet werden. Wir brauchen also einen Weg, der uns Wwiderstandsfähig gegen die Blutaufheizungsschwingungen und einfaches Säuglingsgeplärr macht. Mir, eurer Göttin und Mutter, ist etwas in den Sinn gekommen, wie dieses so wichtige Ziel erreicht werden kann. Jene fünfzig von euch, die ich als Blutspender erwählt habe sollen von fünfzig kampfstarken Kriegern unterstützt werden, die eine besondere Rüstung tragen sollen. Um diese zu fertigen müssen jedoch kundige Rüstungsschmiede angeworben oder unterworfen werden, die uns diese Rüstungen machen. Wie genau dies geht ergründe ich und übermittel es dann an euch. Ihr, die er das große Schlachten unseres Volkes überlebt habt, bereitet euch darauf vor, einen Schmied oder eine Schmiedin für Panzerrüstungen zu betrauen. Ich setze dabei erst einmal nur auf eine unwiderstehliche Bezahlung, damit uns die Zauberstabträger nicht doch noch frühzeitig darauf kommen, dass wir etwas großes planen.“ Die Göttin erwähnte nun, wie sie sich das mit den Schmieden vorstellte. Hierzu sollte das von den nichtmagischen Menschen in den letzten fünfzehn Jahren ausgebaute und zum allgegenwärtigen Zivilisationsträger gemachte Internet dienen. Die Bezahlung sollte in erbeuteten Geldsummen erfolgen. Gooriaimiria hatte durch die Einverleibung ehemaliger Geldwäscher und Finanzbetrüger alle Tricks vorrätig, um an elektronisch gelagertes Geld zu kommen. Außerdem wollte sie einige ihrer Getreuen in bekannte Goldbergwerke hineinschicken, um die dort geförderten Golderze abzugreifen, um ein eigenes Vermögen aufzubauen. Sie sagte mit unüberhörbarer Verachtung: „Geld kann wirksamer als der stärkste Unterwerfungszauber den Geist von Menschen unterwerfen. Also besorgen wir uns genug davon, um im Zweifelsfall die ganze Erdbevölkerung zu kaufen! Wenn wir die von mir erwähnten Rüstungen schmieden lassen können besteigen wir die nächste Stufe unseres großen zieles, die Anwerbung und verwendung jener Forscher und Wirkstoffhersteller, die sich mit Blut und Vererbungsvorgängen in lebenden Körpern besonders gut auskennen, um unser erhabenes und mächtiges Volk so schnell zu mehren, dass die restlichen Menschen nicht anders können als ihm zu dienen. Mein Reich, Nocturnia, das Land ohne Grenzen, soll dann eure unvergängliche und unbezwingbare Heimat auf der Erde sein. Soweit meine Pläne für die unmittelbare Zukunft.“
Nun teilte sie die einzelnen Aufgaben zu. Nyctodora sollte die bereits vorhandenen Geldvorräte auf geheime Konten in der Schweiz, Liechtenstein, Singapur und den Kaimaninseln umschichten. Halanocturna sollte selbst und mit ihren bereits neu angeworbenen Helferinnen das Internet nach den besten Schmieden für alte Rüstungen absuchen und Unterhändler mit Solexfolien dort in Stellung bringen, um die Rüstungsmacher anzuwerben. Auch sollte Nyctodora keine neuen Kristallstaubträger mehr erzeugen, sondern nur noch den Unlichtkristallvorrat vergrößern, um daraus den Grundstoff für die neuen Rüstungen zu gewinnen.
Nachdem sie alle ihr gekommenen Einfälle ausgesprochen und die daraus entstehenden Unteraufgaben verteilt hatte befahl sie ihren treuen Gefolgsleuten, wieder in ihre Heimatgebiete zurückzukehren. Vielen von ihnen half sie dabei, indem sie sie mit Schattenstrudeln in versteckte Höhlen beförderte. Am Ende blieben nur noch Halanocturna und Nyctodora zurück. Die beiden ranghohen Nachttöchter blickten einander an. Nyctodora versuchte einmal mehr, die Gedanken der anderen, sehr geistesstarken Mitschwester zu erfassen. Doch Halanocturna wusste ihren Geist sehr wohl zu verschließen.
„Ich weiß, dass die Göttin dich als eine neue Priesterin Nordamerikas erwählt hat, Lunadorada. Aber denke dabei immer daran, dass ich dir immer noch sagen kann, was genau du tun sollst.“
„Hohepriesterin Nyctodora, wir beide wissen, dass die große Mutter der Nacht immer und überall über uns wacht und nur ihr Wort zählt. Wenn sie sagt, ich soll dir weiterhin dienen, dann tue ich das. Wenn sie befiehlt, dorthin zu gehen, wo du mich hinbestellst, dann tue ich das. Wenn sie gebietet, für unsere Gemeinschaft den Tod zu finden wird meine Seele in Demut und Freude in den Geist der Göttin einkehren, um ihn zu stärken“, sprach Halanocturna. Sie dachte hinter einem sorgfältig gefestigten Gedankenschild, dass Nyctodora doch einfältig war. Allein schon, dass sie immer noch dachte, dass sie Lunadorada hieß und dass die Seele ihrer einstigen Geliebten und schwesterlichen Gefährtin bereits die Gnade erfahren hatte, im machtvollen geistigen Körper der Göttin zu ruhen wusste Nyctodora nicht. Ja, und dass Nyctodora, die immer wieder ihre Grenzen ausreizte nur deshalb noch die Hohepriesterin war, weil ihre besondere Natur und ihre Beziehungen in die Nichtmagische Welt für die Göttin zu wichtig waren. Doch wenn das Unternehmen „Nachthimmel“ erfolgreich abgeschlossen sein würde, so die Göttin, würde sie, Halanocturna, die neue Hohepriesterin der erhabenen Gemeinschaft der erwachten Göttin sein, allein schon, weil sie anders als Nyctodora die Kraft und Gegenwart der Göttin vollständig in sich aufnehmen konnte.
„Ich hoffe, wir beiden werden weiterhin im Einvernehmen mit unserer großen Mutter zusammenarbeiten“, erwiderte die äußerlich immer noch überragend schöne wie besonders intelligente Nyctodora. Da Halanocturna ihren eigenen Gedankenschild aufrechterhielt bekam sie nicht mit, was im Geist der Hohepriesterin vorging. Natürlich wusste diese, dass sie nur auf Abruf lebte. Natürlich war Nyctodora klar, dass sie bereits mehrere unverzeihliche Fehler begangen hatte und deshalb auf einer strengen Bewährung war. Ja, und natürlich wusste Nyctodora auch, dass ihre besondere Natur, eine Feuervampirin zu sein, die keine Angst vor der Sonne haben musste, nicht so empfänglich für die Göttin war wie die anderen. Doch sie war auch so klug, das untergeordneten Gefolgsleuten nicht zu zeigen, wie angespannt sie war, wenn die Göttin neue Aufträge an sie vergab. Doch dieser Auftrag würde nicht an ihr scheitern, dachte die noch amtierende Hohepriesterin Gooriaimirias.
Als die Göttin den beiden befahl, ebenfalls an ihre Wirkungsstätten zurückzukehren nutzte Nyctodora die eigene Zauberkraft und disapparierte. Halanocturna wurde mit einem neuen Schattenstrudel in ihr heimliches Hauptquartier zurückversetzt. „Arbeite weiter an „Nachthimmel“, meine starke Mitstreiterin! Wähhle aus, wen du aus den nichtmagischen Organisationen als erstes in unsere Gemeinschaft hinüberholst!“ sprach die große Mutter der Nachtkinder. Halanocturna bestätigte das.
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Über dem Eiland breitete sich eine leicht dunstige gelbe Glocke aus, die nur von besonders hellem Sonnenlicht überstrahlt wurde. Die Wellen, die gegen den Strand der gerade einmal anderthalb Kilometer großen Insel brandeten, zersprühten in goldenen Tropfen. Ihr Rauschen klang wie aus mehreren Kilometern Ferne. Wie genau die gelbliche Glocke beschaffen war wussten die, die hier lebten nicht mehr. Irgendwo in den tiefen Höhlen der Insel befand sich eine uralte magische Vorrichtung, die von spanischen Zauberern entdeckt und wieder in Gang gesetzt worden war. Seitdem konnte nur jemand auf die Insel, der die nötige goldene Plakette mitführte. Nachts, wenn der Mond schien, glänzte dieser immer in jenem gelblichen Ton, den die Glocke bei Tageslicht ausstrahlte. Daher besaß die Insel ihren Namen, La Isla de las Lunas Amarillas.
Die Insel galt als Luxusresidenz für wohlhabende mexikanische Zauberer, aber auch als Unterbringung für Geheimnisträger, die nicht mehr in die Öffentlichkeit durften. Doch von denen wusste auch niemand mehr, wie die magische Schutzvorrichtung bedient wurde, welche die Insel für Uneingeweihte unsichtbar und unerreichbar hielt. Zu den gerade kurze Zeit auf der Insel wohnenden gehörte die komplette Führungsriege des mexikanischen Zaubereiministeriums mit allen Familienangehörigen. Denn der zeitweilige Rat für magische Dinge Mexikos beriet noch, ob sie nach der Befreiung aus dem Bann der Feuerrose wieder vollumfänglich im Ministerium arbeiten durften oder sich damit abzufinden hatten, den Rest ihres Lebens auf dieser sonnigen Insel der gelben Mondnächte zu verbringen.
Fast hatte sich Andrés Piedraroja daran gewöhnt, sein restliches Leben auf der Isla de las Lunas Amarillas zu verbringen. Doch am 24. Mai wurde er von fünf Beauftragten des COTECOMAMEX abgeholt und nach Mexiko-Stadt zurückgebracht. Dort erfuhr er, dass er von allen Anklagen gegen ihn freigesprochen worden war und unter der Bedingung, dass die Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse und gefährliche Tierwesen maßgeblich in die Sicherheitsverwaltung mit einbezogen werden sollte, dazu beauftragt, das Zaubereiministerium zu reorganisieren. Die zwei Anstifter der Blutfehde zwischen den Fuentevivas und Torrealtas hielten sich weiterhin versteckt. Ihre Familienstammsitze lagen wie auch die Hacienda der Piedrarojas unter starken Abwehrzaubern. Die landesweiten Haftbefehle blieben in Kraft. Wenn einer von ihnen irgendwo auftauchte sollte er festgenommen werden. Doch offenbar besaßen die zwei verfeindeten Familien genug Nahrungsvorräte, um die Quasibelagerung weiter durchzuhalten. Eigentlich war das unsinnig, fand Piedraroja. Denn die Suche nach ihnen verjährte erst in hundert Jahren. Nach einem alten Gesetz, dass nach dem Wüten eines spanischen Dunkelmagiers im Jahre 1806 erlassen wurde, konnte jemand für Untaten gegen die magische Gemeinschaft, bei denen auch tote zu beklagen waren, solange zur Verantwortung gezogen werden, bis er oder sie eines natürlichen Todes starb. Nur wenn jemand vor Gericht kam und drei unabhängige Heiler bestätigten, dass er körperlich oder geistig nicht mehr haftfähig war konnte er zu lebenslangem Hausarrest verurteilt werden. Das hätte der aufbrausende Carlos Fuenteviva oder Silvano Torrealta wissen müssen. Doch womöglich dachten die beiden Streithähne, dass der von ihnen, welcher die Fehde siegreich beendete, alle Gesetze Mexikos neu ausfertigen und umsetzen würde.
Piedraroja rechnete nach dem Freispruch für sich und seine engsten Mitarbeiter damit, dass sich jene geheimnisvolle Gruppe „La Mano Ayudante“ noch einmal bei ihm melden würde, um den Preis für die geleistete Hilfe zu benennen. Doch wer immer hinter dieser Bezeichnung steckte legte offenbar viel Wert darauf, unerkannt zu bleiben. Doch Andrés Piedraroja war sich sicher, in nicht all zu ferner Zeit zu erfahren, wem er die Beendigung der Blutfehde zwischen den Fuentevivas und Torrealtas zu verdanken hatte.
Es dauerte jedoch nur drei Tage, nachdem er wieder als Zaubereiminister eingesetzt war, bis der Rat mexikanischer Hexen und Zauberer indigener Abstammung einen Unterhändler zu ihm entsandte und ihn darauf hinwies, welche Gegenleistungen er versprochen hatte. Da er diese mit seinem eigenen Blut beeidet hatte würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als die Bedingungen zu erfüllen. Hierzu gehörte auch die Übergabe der Sonnenpyramide mit allen in Mexiko gefundenen Zaubergegenständen der präkolumbianischen Hochkulturen und die schwarze Pyramide der Buße und Pein, in der die spanischen Kolonialherren schon abtrünnige Hexen und Zauberer eingekerkert hatten.
Piedraroja beschloss am 28. Mai, diese alte Gefängnisstätte zu besuchen. Zwar rieten ihm Mitglieder der Gesellschaft gegen dunkles Erbe und gefährliche Tiere davon ab. Doch wenn er dem Rat der indigenen Zauberer diese alte Tempelstätte des Aztekengottes Huitsilupochtli zurückgeben musste wollte er vorher wissen, in welchem Zustand sie war.
Als er am Mittag die Stelle erreichte, wo sich die Pyramide im Urrwald zwischen Südmexiko und Nordguatemala befand, meinte er, nicht in einer tropischen Landschaft zu sein, sondern in einer kalten Steppenlandschaft. Dürres, eher gelbliches Gras umgab den nachtschwarzen Stufenbau, der ein wenig an die Mayapyramiden erinnerte und von Magiehistorikern gerne als Kulturüberschneidungsbeweis eingestuft wurde, dasss die Mayas und Azteken eine Zeitlang miteinander in regem Kunst- und Handelsaustausch gestanden hatten. Der in diesen Breiten sonst anzutreffende tropische Regenwald war ganze fünf Kilometer entfernt. Vor fünf Jahren, wo er das letzte mal mit seinem Sicherheitsabteilungsleiter hier war hatten die Bäume noch bis nur hundert Metern entfernung aufgeragt. Auch war es damals nicht annähernd so kalt gewesen wie jetzt.
Als Piedraroja auf die Pyramide zuflog fühlte er, wie die Kälte zunahm. Auch fühlte er mit jedem zehnten Meter näher an dem alten Bauwerk, dass er immer trübere Gedanken hegte. Traurigkeit und Unbehagen wogten durch sein Bewusstsein wie von einem dunklen Sturm aufgepeitschte Wellen. Da begriff er, warum ihn die Fachleute von der Gesellschaft zur Abwehr dunkler Zauber und Zauberwesen davon abzuraten getrachtet hatten, diesen Ort zu besuchen. Allein die nach außen strömende Aura dieser Pyramide mochte reichen, um jedes fühlende Wesen in Angst und Verzweiflung zu stürzen. Die grauen Wächter, jene eingeschworene Truppe zur Beaufsichtigung der Gefangenen, besaß mehrere Schutzartefakte, um diesen „Atem der Angst und Verzweiflung“ zu ertragen. Doch wie lange mochte er es aushalten? Ja, und was war mit den Gefangenen? Waren sie wirklich alle dem Wahnsinn verfallen oder zu halbtoten, dahinvegetierenden Geschöpfen verkümmert?
Piedrarojas fröstelte es. Er fühlte dass die ihn bedrückende Kälte nicht von außen kam, sondern in ihm erzeugt wurde. Auch hatte er immer wieder an seine schlimmsten Erlebnisse und an alle ihn zu tiefst berührenden Trauerfälle denken müssen. Doch er musste es wissen, was in der Pyramide vorging. Erst wenn er das wusste konnte er entscheiden, ob er sie so an die Vertreter der Erben der alten Völker zurückgeben durfte. Am Ende gerieten diese dadurch sogar in Gefahr, wenn sie sie übernahmen, ohne sich gegen die hier herrschende Kraft schützen zu können.
Piedrarojas erinnerte sich auch an die Berichte vom europäischen Gefängnis Askaban, wo vor der zweiten Zeit des dunklen Magiers, den seine Anhänger „El Señor tenebroso“, den dunklen Herren nannten, jene dämonischen Wesen als Wächter wirkten, die von den Europäern Dementoren genannt wurden und von denen die indigenen Völker als „Söhne der finsteren Trräume“ gesprochen hatten. Die hatten auch eine weiträumige Aura der Dunkelheit, Kälte und Verzweiflung verströmt. Gut, außerhalb der Pyramide war es taghell. Doch die unheimliche Kraft unterdrückte jeden Versuch eines freudigen Gedankens.
Als er leicht bibbernd vor einem der drei Zugänge der Pyramide landete trat ihm ein Wächter in grauem Kapuzenumhang entgegen. Er trug eine Sonnenbrille mit besonders dunklen Gläsern. Vertrug er das Licht der Sonne nicht mehr?
„Sie wurden angekündigt, Minister Piedraroja“, gab der Wächter in einem unheilverheißenden Tonfall von sich. „Bitte legen Sie dies um, um frei zu atmen und zu denken, Señor!“ sagte der graue Wächter und übergab Piedrarojas eine goldene Kette. Er sah, dass die Glieder der Kette in bestimmter Weise geschmiedet waren, sodass sie magische Zeichen ergaben. Als er sie anfasste meinte er, in einen Trupp unsichtbarer Ameisen hineinzugreifen, die über seine Finger und seine Hände liefen und erst von seinen Oberarmen wieder zurück unter seinen Handflächen durch in die Kette zurückmarschierten. Er erinnerte sich nicht daran, dass das Gefühl so intensiv war. Früher hatten diese goldenen Ketten nur sacht und warm pulsiert. Er legte sich die Kette um und meinte für drei Sekunden, von kribbelnden und sengenden Nadeln gestochen zu werden. Dann waren jedoch die Kälte und die trüben Gedanken aus ihm vertrieben. Jetzt pulsierte die Kette im Takt seines eigenen Herzschlages. Sie verband seine eigene Lebensaura mit dem hier nötigen Abwehrzauber.
Er folgte dem grauen Wächter durch die von außen nicht sichtbare Tür in einen nachtschwarzen Durchgang. Dann erreichten sie ein Labyrinth aus engen Korridoren, von denen aus Türen in die Zellen der Gefangenen abgingen. Piedraroja hörte das Stöhnen, ächzen, Wimmern und Schluchzen, die einmal nahen und dann ferne klingenden Aufschreie und immer wieder das irrsinnige Lachen, mit dem jemand hilflos auf das reagierte, was ihm gerade durch den Kopf ging. Piedraroja erschauerte. Als er das letzte mal hiergewesen war hatten die Gefangenen keinen Ton von sich gegeben. Ja, sie waren betrübt, schwermütig und beinahe hilflos erschienen. Doch was er jetzt hörte mochte genauso in einer Verwahranstalt für hochgradig geisteskranke Menschen zu hören sein. Waren das echt all die damals so entschlossenen Hexen und Zauberer, die versucht hatten, sich gegen das Ministerium und die magische Gemeinschaft zu stellen? Waren das jene, die meinten, die Herrinnen und Herren aller Grausamkeiten zu sein? Waren das die, die skrupellos genug waren, unschuldige Menschen zu quälen und zu töten, nur um etwas mehr Gold oder etwas mehr Macht zu erobern? Waren diese Menschen nun alle vom Wahnsinn befallene, hilflose Geschöpfe, unfähig, jemals wieder eigenständig zu leben? Er dachte daran, dass nicht alle hier lebenslänglich eingekerkert sein sollten, sondern auch solche dabei waren, die nur für fünf, zehn oder fünfzehn Jahre hier einzusitzen hatten. Diebe, Betrüger, Räuber und Massenmörder, alle hier wurden von der allgegenwärtigen, aus den Wänden strömenden, in der Luft schwebenden Kraft durchdrungen, die vor aberhundert Jahren von aztekischen Priestern geweckt und genährt worden war und die von den spanischen Eroberern dankbar ausgenutzt wurde, um ihnen missfallende Hexen und Zauberer klein und wehrlos zu machen.
„Ich möchte die Gefangenen sehen, die noch einigermaßen bei Verstand sind“, forderte Piedraroja und erschrak fast über das hohl nachklingende Echo seiner Worte. Der ihn führende graue Wächter wiegte seinen von einer Kapuze bedeckten Kopf. Dann sagte er kurz angebunden: „Gibt es keinen mehr hier, Señor.“
„Wie bitte?! Sie beherbergen nur noch geistesgestörte bis vollkommen wahnsinnige hier?“ fragte Piedraroja. „nein, da sind auch halbohnmächtige bei, die nur noch atmen und nur noch trinken können“, erwiderte der graue Wächter.
„Zeigen Sie mir die Gefangenen! Ich weiß, ich will es nicht sehen, aber ich muss es wissen“, sagte der wieder ins Amt zurückgekehrte Zaubereiminister.
„Gut, Sie wissen, was sie müssen“, sagte der graue Wächter. Dann öffnete er mit seinem Zauberstab die Sichtluken in den Türen. Der Minister konnte nun wie wild in ihren Zellen tobende klapperdünne Menschen sehen, die laut schreiend und wütend aufbrüllend mit ihren knochigen Fäusten gegen die dunklen Wände hieben und mit ihren nackten Füßen dagegentraten. Die Wände waren mit polsternden Tapeten überzogen, sonst hätten sie sich sicher längst alle Glieder gebrochen, dachte Piedraroja. Dann sah er die wirr umherblickenden Augen eines Gefangenen. Der blickte durch ihn hindurch, als wäre er nicht vorhanden. Seine Goldkette erwärmte sich für eine Sekunde noch mehr. „Nicht zu lange in die Augen sehen, Señor. Die bündeln den Atem der Angst und Verzweiflung und können ihn über ihre Blicke auf andere übertragen“, warnte der Wächter einige Sekunden zu spät, wie Piedraroja fand. Die goldene Kette kämpfte gegen die ihm aufgedrängte Trübsal und Angst an. Erst nach zehn weiteren Sekunden hatte das Schutzartefakt diesen Kampf gewonnen. Doch der Minister war sich sicher, dass die goldene Kette dies nicht unendlich oft tun konnte. „Wielange können Sie mit den Ketten Patrouille gehen?“ fragte er. „Bei Tag gerade vier stunden. Nachts geht hier niemand mehr. Da liegen wir alle in den goldenen Ruheräumen und haben zusätzliche Nachtmützen auf, um nichts mehr zu hören.“
Ein markerschütternder Angstschrei schrillte durch die Gänge. Eine Hexe musste ihn ausgestoßen haben. Piedraroja erinnerte sich, dass Ladonna Montefiori ihn davor gewarnt hatte, weiterhin Hexen in dieses Gefängnis zu sperren. Die hier eingekerkerten Hexen waren allesamt Gehilfinnen dunkler Magier gewesen, sowohl der europäischer als auch indigen amerikanischer Abstammung. „Das war La Paloma Negra, Señor. Sie träumt wohl wieder vom Tod im Feuer“, sagte Piedrarojas grauer Führer. Der mexikanische Zaubereiminister musste an die phantasievolle Geschichte über Himmel und Hölle denken, die der Italiener Dante verfasst hatte. Wenn jemand vom Tod im Feuer träumte kam das der Hölle der Christen erschreckend nahe. Dann dachte er daran, wie viele der Gefangenen vorzeitig verstorben waren. Ja, er dachte an einen Geheimbericht, den er vor einem Jahr noch gelesen hatte, dass zwanzig lebenslang hier einsitzende unter sechzig Jahren an Herzschlag oder Gehirnschlag verstorben waren oder schlichtweg verhungerten. Jetzt wusste er auch warum. Er hätte sich gleich nach der Welle dunkler Zauberkraft damit befassen müssen, diese Inhaftierungsstätte zu überprüfen, ja ihre Verwendung in Frage zu stellen. Im Grunde schrien, stöhnten und wimmerten die hier einsitzenden nur deshalb, weil er sie nicht rechtzeitig herausgeholt und anderswo untergebracht hatte. Doch damals hatte er genau wegen der dunklen Woge die Drohung dieses Ortes hochhalten müssen. Damals hatte er befürchtet, dass die Aufgabe der schwarzen Pyramide dunkle Magier anlocken mochte, die sich die hier herrschende Kraft der Angst und Verzweiflung zu Nutze machen würden. Sollte das so bleiben?
Der Wächter zeigte ihm weitere Gefangene, die entweder wimmernd in einer Ecke hingen, sich wie unter körperlichen Schmerzen zuckend und windend auf dem Boden wälzten und nur wegen der sicherheitshalber gepolsterten Oberflächen nicht schon längst alle Haut abgeschürft hatten. Dann erreichten sie die Zelle, wo die Hexe einsaß, die als „La Paloma Negra“, die schwarze Taube, traurige Berühmtheit errungen hatte, weil sie sich durch die Verwendung von Kinderherzen in einem eigenen Zaubertrank die Unsterblichkeit erkaufen wollte und Macht über intelligente Vögel wie Raben und Tauben besessen und diese Tiere zu Angriffen auf ihre Gegner getrieben hatte. Sie rief immer wieder „Ich verbrenne! Nein, hilfe, die Hitze!“ Er erinnerte sich, dass die Pyramide die tiefsten Ängste eines Gefangenen erfühlen und hervorrufen konnte. Wer Angst vor Feuer hatte mochte also in seiner ganz eigenen Hölle schmoren. Als er es riskierte, ihr in die tränenden, flatternden Augen zu sehen meinte er, von zwei gelbroten Flammenstrahlen getroffen zu werden. Für mehrere Sekunden meinte er selbst, lichterloh zu brennen. Dann jagte die schützende Goldkette eine magische Entladung wie eiskaltes Wasser durch seinen Körper, und er war von dieser Vision befreit.
„Wer keine Kette trägt steckt sich mit dem an, was die Gefangenen durchmachen“, warnte ihn der Wächter noch einmal und zog ihn weiter.
„Ich fürchte, ich habe mehr als genug gesehen. Zeigen Sie mir nur noch einen der Schutzräume“, sagte Piedraroja. Der graue Wächter befolgte seine Anweisung.
In einem der goldenen Schutzräume fand Piedraroja wieder zu sich selbst. Hier hörte er auch die Laute des Irrsinns und der unerträglichen Angst nicht mehr. Drei weitere graue Wächter hatten sich hierher zurückgezogen, um sich und ihre Goldketten zu erholen. Piedraroja erfuhr nun aus erster Hand, dass die Wächter nur noch vier Stunden täglich Dienst tun konnten und dass sie, wenn sie abgelöst wurden, fast eine Woche lang in wilden Glücksgefühlen gefangen waren, weil ihre Gehirne gegen die hier dauerhaft wirkende Trübsal ankämpften. „Wir müssen Dysphoriatränke schlucken, um nicht vor lachen tot umzufallen“, sagte einer der hier ausruhenden Wächter in jenem brummigen, trübseligen Ton, den Piedraroja schon kannte. Sein Führer fügte dem hinzu: „Ja, und außer den Hermanos grises will niemand mehr hier arbeiten. Wir sind gerade zwanzig Mann, alle unverheiratet, keine Kinder. Sterben wir, gibt’s hier keine Wächter mehr.“
„Ja, ich verstehe. Ihre Aufgabe ist eine sehr undankbare. Aber Sie können doch vorher in den Ruhestand gehen, wenn ein Heiler befindet, dass Sie diese Belastung nicht mehr ertragen können“, sagte Piedraroja. Da sagte sein Führer: „Wir lassen keinen Heiler an uns. der könnte uns verbieten, weiter hier zu arbeiten. Aber wir müssen das machen. Die Bruderschaft bestimmt das so.“
„Und wenn einer von Ihnen krank wird?“ fragte Piedraroja. „Heilen wir uns selbst. Wir können Tränke brauen, und zwei von uns können Brüche und Verwundungen heilen“, sagte ein zweiter Wächter, dessen Namen Piedraroja aus einem ihm selbst nicht bekannten Grund nicht erfragt hatte.
„Und wenn das Zaubereiministerium jetzt beschließen will, dieses Gefängnis zu schließen und die Gefangenen alle in ein Krankenhaus zu bringen?“ fragte er. „Dürfen Sie nicht, weil die dann vor Überfreude und völliger Sinnesüberreizung tot umfallen“, sagte der graue Wächter, der ihn bis hierher geführt hatte. „Die können nicht mehr draußen leben, und die Heiler dürfen keinen umbringen“, sagte ein Kollege von ihm. „Mit anderen Worten, wer hier reinkommt stirbt lange vor dem letzten Herzschlag“, sagte Piedraroja. „Ist so, Señor Ministre“, bestätigte sein Führer.
„Und was ist, wenn wir die alle ganz jung zaubern und denen alle Erinnerungen aus den Köpfen nehmen?“ fragte er. „Die Körper sind nicht mehr zu verwandeln. Die alte Kraft macht, dass keiner sich ihr durch Verwandlung entziehen kann. Wer mehr als einen Monat hier ist kann ein Jahr lang nicht mehr in was anderes verwandelt werden. Haben wir grauen Brüder rausgefunden. Wer länger als ein Jahr hier ist kann nie wieder in wen oder was anderes verwandelt werden“, sagte Piedrarojas Führer. „Ist die stärkere Kraft, seitdem die Erde gewackelt und alle Lichter für eine Minute ganz ausgegangen sind und wir alle auch mit Goldketten mehr als eine halbe Stunde gefroren haben“, fügte einer seiner Kollegen hinzu.
Piedraroja fragte sich doch nun, wie es sein konnte, dass sein Sicherheitsabteilungsleiter, der auch für den Strafvollzug zuständig war, das solange hatte laufen lassen können. Die Gefangenen hier hatten doch auch Angehörige, die wissen wollten, wie es ihnen ging. Gut, Kontaktsperre war eine der Strafmaßnahmen, um die hier einsitzenden kleinzukriegen. Aber die hier einsaßen waren nicht klein, sondern kaputt, lebende Skelette, die nur noch in ihren wildesten Albträumen gefangen waren. Gut, dass das bisher noch keiner von den Uneingeweihten wusste. Es hätte zu einem Aufstand gegen ihn geführt. Jetzt wusste er auch, was Ladonna damit gemeint hatte, als sie mit sichtbarem Unbehagen gestanden hatte, dass ihr die Magie der ersten Amerikaner sehr unheimlich vorkam. Hatte sie womöglich diesen Hort des Wahnsinns und des dauerhaften Entsetzens besucht, um zu erkunden, was an dieser Pyramide dran war? Doch die grauen Wächter waren nicht unter den Feuerrosenzauber genommen worden. Ladonna hatte auch darauf bestanden, keine weiteren Gefangenen in deren Obhut zu geben. Ihr war klar, dass die sie selbst hier eingekerkert hätten, wenn sie ihrer habhaft geworden wären.
„Ich bedanke mich bei Ihnen allen für das, was sie hier in unser Namen leisten und ertragen“, sagte Piedraroja. „Ich bin nun darüber im Bilde, wie es hier zugeht. Das wird meine Überlegungen, ob dieser Ort noch neue Gefangene erhalten wird vorantreiben.“
„Wir brauchen neue Gefangene“, sagte einer der Wächter. „Die hier wirkende Kraft saugt Leben. Wenn weniger als zehn hier sind bleiben die Türen zu, bis alle hier tot sind. Wir brauchen immer neue Gefangene.“
„Danke für diesen Hinweis“, sagte Piedraroja. „Ich werde das mit meinen Beratern besprechen“, fügte er noch hinzu und bangte, dass man ihn hier nicht mehr lebend hinauslassen mochte, wenn er offen zugab, dass er keinen mehr hier einkerkern wollte. Denn ihm wurde klar, dass die grauen Wächter nur noch dafür lebten, hier zu arbeiten. Sie konnten in der freien Welt nicht mehr leben. Gab es keine Gefangenen mehr würden sie hier in der Pyramide sterben. Doch genau dagegen wehrten sie sich offenbar noch. Er durfte denen nicht auftischen, dass er die Pyramide an die Nachfahren der Azteken zurückgeben sollte. Aber durfte er diesen von übelster Magie durchfluteten Bau überhaupt an irgendwen abgeben, der oder die nicht mehr unter seiner Kontrolle stand? Er begriff, was die zeitweiligen Zaubereiverwalter auszustehen hatten. Die Gesellschaft gegen dunkle Erbschaften und gefährliche Bestien mochte diesen Ort als einen der schlimmsten Orte dunkler Magie sehen. Doch ihn zu evakuieren hatten sie in all den Monaten nicht gewagt, die sie die Verfügungsgewalt hatten.
„Ich bringe Sie wieder raus. Aber Sie werden uns grauen Brüdern zusagen, bald wieder neue Gefangene zu liefern. Zehn der hier eingeschlossenen werden nicht mehr lange leben. Da müssen neue hierher.“
„Ich habe verstanden“, sagte Piedraroja, dessen Unbehagen nun noch größer wurde. Ja, er hatte wirklich verstanden. Dieser Ort und seine Bewohner gierten nach neuen Seelen, immer und immer wieder.
Als ihn der graue Wächter wieder durch die von Irrsinns- und Angstlauten erfüllten, von der frei wirkenden Aura der Angst und Verzweiflung durchfluteten Gänge geleitete fühlte er, wie die goldene Kette um seinen Hals wieder heißer wurde. Zugleich meinte er, sie immer enger anliegen zu fühlen. Er konnte gerade so vermeiden, sich an den Hals zu fassen. Und noch etwas. Als er versuchte, seinen Führer zu überholen, meinte er, gegen eine ihn abbremsende, vibrierende Wand zu prallen. „Hinter mir bleiben. Wer sich nicht auskennt verläuft sich hier“, warnte ihn der graue Wächter. Diesmal meinte Piedraroja, einen überlegenen Unterton zu hören. Ja, wenn er hier alleine herumlief mochte er sich gnadenlos verirren. Wie lange hielt ihm die Kette noch einmal die dunklen Einflüsse vom Hals?
Als er in der Ferne einen Lichtpunkt sah bremste der Wächter seinen Lauf. Piedraroja konnte nicht anders, als selbst langsamer zu werden. „Da ist die Tür. Wer hier länger als zehn Minuten ist muss sich erst wieder an die freie Sonne gewöhnen. Wer hier Dienst macht braucht Sonnenschutzgläser. Also erstmal die Augen zumachen, bevor Sie da rausgehen!“
Sie näherten sich langsam der steinernen Tür, durch deren haarfeine Ritzen das verheißungsvolle Tageslicht sickerte. Dann hielt der Wächter. Piedraroja sah, wie dieser nicht nur seinen Zauberstab zog, sondern einen Obsidiandolch mit schmaler Klinge. „Sie sollen jetzt schwören, dass wir bald neue Gefangene kriegen, Minister Piedraroja“, sagte der Wächter mit nun eindeutig bedrohlichem und entschlossenem Unterton. „Sie werden das beim Blut aus ihrem Herzen und dem Gold aus dem Schoß der Erde schwören, aus dem die Kette um Ihrem Hals ist.“
„Ich sagte, wir müssen das beraten“, sagte Piedraroja. „Ich werde hier und jetzt keinen Schwur leisten, der…“ Unvermittelt erhitzte sich die goldene Kette um seinen Halsund zog sich immer enger zusammen. Sie drückte bereits so stark auf seine Adern und Luftröhre, dass er jeden Herzschlag wie ein Durchquetschen fühlte und merkte, wie ihm der Atem schwerfiel. „Sie schwören!“ beharrte der graue Wächter darauf, dass Piedraroja ihm und seinen Brüdern neue Gefangene zusicherte. Als Piedraroja erneut daran dachte, dass er keinen mehr in diese aus Stein und alter Magie erbaute Hölle hineinschicken würde würgte ihn die sengendheiß gewordene Kette so sehr, dass er schon fürchtete, gleich zu ersticken oder von diesem vom Schutzartefakt zum Mordinstrument mutierten Goldding um seine Kehle enthauptet zu werden. Er röchelte und kämpfte um jeden Atemzug. „Sie werden schwören!“ wiederholte der graue Wächter. Piedraroja erkannte in Todesangst, dass er hier nicht mehr lebend herauskam, wenn er sich weiter weigerte. Er nickte dem Wächter zu. Dieser hielt ihm den Dolch hin, um sich damit eine blutende Wunde zuzufügen. Als er die aus geschliffenem Obsidian gemachte Spitze durch seinen Unterarm schneiden fühlte ließen das Würgen und die sengende Hitze nach. Er keuchte und schnaufte, froh um jeden Liter Luft, den er in seine Lungen saugen konnte. „So schwören Sie beim Blut aus Ihrem Herzen und dem Gold aus dem Schoß der Erde, dass Sie uns und der Pyramide der Buße und Pein bald wieder neue Gefangene zuführen werden“, sagte der Wächter nun mit lauter, unerbittlich gebieterischer Stimme. Piedraroja schwor es wie ihm befohlen war. Dabei musste er seinen blutenden Arm an die Kette halten. Er fühlte, wie aus seinem eigenen Herzen heiße Wellen in die Kette schlugen. Er verdingte sich durch sein eigenes Blut diesen grauen Brüdern und ihrer wahrhaftigen Hölle. Als er den ihm abverlangten Eid geschworen und der Boden und die Kette genug von seinem Blut abbekommen hatten ließ die Hitze der Kette nach. Der Wächter sagte nun: „So gehen Sie und erfüllen Sie den Schwur, Señ,Or Piedraroja!“
Die Tür glitt langsam schabend auf. Mit jedem Millimeter drang mehr und mehr Sonnenlicht herein. Der Minister schloss die Augen, um den Lichteinfall zu ertragen. Dann fühlte er frische Luft auf seiner Haut. Der Wächter ergriff ihn bei seinem unverletzten Arm und zog ihn durch die Tür hinaus. Draußen griff er behände nach der nun leicht und locker um Piedrarojas Hals hängenden Goldkette und zog sie ihm über den Kopf. Sofort meinte Piedraroja wieder, in Kälte und steigende Verzweiflung einzutauchen.
„Sie dürfen nun gehen. So nach einer Minute sollten Sie wieder unbeschwert ins Licht sehen, aber nicht gleich in die Sonne gucken“, riet ihm der Wächter und führte ihn wie einen Blinden Mann von der Pyramide weg.
Piedraroja verabschiedete sich. „Sie werden uns im nächsten Monat die ersten neuen schicken, weil da sicher schon wieder welche sterben“, sagte der Wächter mit gnadenloser Bestimmtheit. Piedraroja zog es vor, nichts dazu zu sagen. Er hörte, wie sein Führer wieder durch die offene Tür in die Pyramide der Buße und Pein zurückkehrte und wie die Tür sich leise schabend wieder schloss. Die hier draußen noch wirkende Aura dieses grauenvollen Gebäudes trieb Piedraroja zu einer schnelleren Gangart an. Da hier gerade nur Gras wuchs musste er keine Angst haben, gegen etwas zu laufen. Er lief einfach mit vor die Augen gehaltenen Händen gerade aus, bis ihm wieder wärmer wurde. Er öffnete vorsichtig die Augen und zwinkerte ein paarmal. Dann hatten seine Pupillen sich an das natürliche Tageslicht gewöhnt. Er zog seinen mitgebrachten Flugbesen aus dem rauminhaltsbezauberten Rucksack hervor. Doch zunächst heilte er mit seinem Zauberstab die zugefügte Armwunde. Er hatte unter Todesdrohung einen Eid geleistet, der weiteren Menschen, ob sie Verbrecher waren oder nicht, die Qualen wachsenden Wahnsinns und ein Dasein auf der Schwelle des Todes zufügen würde. Er sollte mithelfen, dass dieser Hort des Horrors weiterbestand, dass die in ihm wirkende dunkle Magie weiter mit fühlenden Wesen gefüttert wurde und dass diese mit diesem Unheilsbauwerk in einer düsteren Zweckgemeinschaft lebenden Wächter weiterhin einen Ort zum Leben hatten. All das wurde ihm klar, als er im Eiltempo von diesem Ort des Schreckens fortflog. Das Ultimatum echote in seiner Erinnerung, dass er im nächsten Monat die ersten neuen Gefangenen schicken sollte. Sicher gab es viele, die vor einer Verurteilung standen, allen voran die in Tiefschlaf gehaltenen Angehörigen der Fuentevivas und Torrealtas. War es seine Bestimmung, diese beiden Familien zur Hölle auf Erden zu verurteilen? Warum nicht? Die hatten es doch verdient. Immerhin hatten sie ihm doch gedroht, seine Familie umzubringen. Wieso dachte er das? Wieso empfand er gerade diese an Hass grenzende Verachtung? Das war unmöglich sein eigenes Denken. Der Gedanke, dass die dunkle Wechselwirkung zwischen Pyramide, Wächtern und Schutzkette diese Gefühle erzeugte erschreckte ihn so heftig, dass er fast vom Besen fiel. Diese grauen Brüder hatten ihn zu ihrer Marionette gemacht. Er war wieder einmal ein hilfloser Sklave, nachdem er unter Buggles‘ Treueid und dann unter dem Zauber der Feuerrose gestanden hatte war es nun das dritte mal, dass eine fremde Macht sein Denken beherrschte. Nein! Er war kein willenloser Sklave. Er war jetzt frei. Diese Gedanken waren nicht sein Wille. Er musste und er würde sie niederringen und aus dem Bewusstsein verdrängen. Doch was wollte er gegen die ihm aufgezwungene Frist tun? Ihm war klar, dass er durch den Schwur auf sein Blut seinen Körper verpfändet hatte. Hielt er sich nicht an den abgepressten Eid, litt er oder starb sogar. Wollte er das? Er musste das mit jemandem besprechen, der oder die sich mit sowas auskannte. Denn sicher war dieser Fluch, dem er sich sehenden Auges ausgeliefert hatte ein alter Aztekenfluch. Dagegen musste es doch was geben, vor allem, wenn er dieses Bauwerk wirklich an indigene Zauberer übergeben sollte. Doch wieder überkam ihn die Frage, was diese damit anfangen würden, ja ob sie überhaupt was damit anfangen konnten? Diese Fragen konnte und wollte er nicht hier beantworten. Er musste zunächst zurück nach Mexiko-Stadt, sich mit seinen Leuten beraten. Er beschloss, denen, die sein Vertrauen hatten, von dem ihm aufgezwungenen Eid zu berichten. Konnte er das, ohne zu leiden, gab es sicher eine Möglichkeit, ihn davon zu befreien. Ja, jetzt, wo er mehr als zwei Kilometer von der Pyramide entfernt war und den tropischen Urwald voraus erblickte fühlte er sich wesentlich freier und empfand auch keine Qualen, wenn er daran dachte, diesen Eid nicht einzuhalten. Er hatte ja auch noch einen Monat zeit, fiel es ihm ein.
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Offiziell hieß er Arnold Fichtenwurz und war der gerade viereinhalb Jahre alte Sohn von Hildegunde und Alwin Fichtenwurz, Angehörige des Gemeinderates von Greifenberg. Bisher hatte er es gut in sich verborgen, wer er wirklich war, der mit den aus tiefen verschlossenen Gedächtnisspeichern mit den Erinnerungen eines Zauberers namens Hagen Wallenkron versehene ehemalige Dämonendiener Kaharnaantorian, der Geist der Unrast oder ruheloser Geist. Erst hatte er befürchtet, dass der ihm übergestülpte Körper regelrecht abbrennen würde wie ein mit Pech getränktes Stück Zunderschwamm. Doch er hatte herausbekommen, wie er das verhindern konnte, indem er sich der Vorstellung hingab, alles sei ein Traum. Außerdem hatte er erkannt, dass er gewissermaßen in einen entseelten Körper eingefahren war und somit dessen Besitzer geworden war wie jemand, der ein leeres Haus betritt und sich dort ohne Sorge vor früheren Eigentümern zurechtfinden und einrichten konnte. Das war der wesentliche Grund, dass sein fleischlicher Körper nicht so rasch dahinwelkte wie der Körper eines gewaltsam übernommenen Menschen. Er war kein jüdischer Dibbuk – die Bezeichnung kannte er aus jenen bei seinem Erwachen geöffneten Gedächtnisspeichern. Doch er wusste von irgendwoher, dass er in dem Moment, wo er eigene Zauberkraft anwendete, die beschleunigte Alterung dieses Körpers herbeiführen würde, weil seine Seele vierfach so stark war wie die eines auf natürliche Weise mit dem eigenen Körper entstandene Seele. Also galt, nicht aufzufallen, bloß nicht zu früh zeigen, wer er war. Denn er wusste, dass da draußen mächtige Feinde lauerten. Das was ein gewisser Hagen Wallenknron im körperlichen Hirn dieses von ihm ausgefüllten Jungen gespeichert hatte verriet ihm, dass es außer jenem Dämon namens Iaxathan, dem er eine Zeit lang unterworfen gewesen war, noch eine übermächtig gewordene körperlose Vampirin gab, die ihresgleichen aus Fleisch und weißem Blut wie eine Königin regierte. Auch wusste er von den Zaubereiministerien und von geheimen Gruppierungen, die ihn unverzüglich gefangensetzen würden. Vor dem Tod hatte er keine Angst. Im Gegenteil. Wenn sein Körper starb würde er erst recht frei sein. Doch er durfte nicht den schnellen Tod suchen, solange er nicht genug Wissen über jene hatte, gegen die er dann anzutreten hatte, um die Herrschaft über alle lebenden und geisterhaften Wesen dieser Welt anzutreten. Er brauchte Zugang zu niedergeschriebenem Wissen, um sich vorzubereiten. Allerdings gab er seinem gerade aufwachsenden Körper nur zehn Jahre Zeit. Denn ab dem Moment, wo er eigene Zauber ausführen durfte, mochte sein Körper schneller altern als üblich. Das würde auffallen. Hatte er bis dahin nicht alles erfahren, was ihm helfen sollte, drohte ihm die Gefangennahme, bis sein Körper starb und er als Geisterkönig freigesetzt würde.
Vor einem Jahr hatte er, als seine Eltern ihn zum ersten mal allein im Haus zurückgelassen und alles brennbare und giftige außerhalb seiner Reichweite weggeschlossen hatten, die Pergamente gefunden, die besagten, dass er als Findelkind aus der Wurzelmannklinik in die Obhut von Hildegunde und Alwin Fichtenwurz übergeben worden war. Hildegunde hatte ihn nicht geboren. Da hatte er erkannt, dass sein Körper jener des Zauberers namens Hagen Wallenkron war. Offenbar hatten seine Feinde ihn in einen Säugling zurückverwandelt und scheinbar alle Erinnerungen ausgelöscht. Doch er hatte die wichtigsten davon in drei Gefühls- und Erinnerungsspeichern untergebracht, die dann freigegeben wurden, als ein denkfähiges Bewusstsein, sein überlegener Geist, daran rühren konnte. Mit diesem ersten wichtigen Wissen konnte er schon eine Menge anfangen.
Um nicht zu sehr aufzufallen erlaubte sich der wieder aufwachsende die üblichen Kleinjungenfrechheiten und -aufsässigkeiten und nahm die dafür ausgesprochenen Strafen mit einem überlegenen Grinsen hin, sobald er sicher war nicht beobachtet zu werden. Er hatte aus den heimlich gelesenen Dokumenten erfahren, dass seine völlig ahnungslosen Pflegeeltern immer wieder Berichte an das Zaubereiministerium übermittelten und er bei den immer wieder anstehenden Besuchen bei einer Heilerin Stoff für weitere Berichte lieferte. Einmal hatte dieses Weib, zu dem seine Pflegeeltern ihn immer hinbrachten versucht, ihm eine Falle zu stellen, indem sie Namen wie Wallenkron oder Hagen nannte, um zu prüfen, ob er darauf ansprach. Weil er aus den Tiefen seines Seins wusste, seine Gedanken zu verhüllen konnte die ihm auch nicht das Wissen über ihn aus dem Geist schöpfen. Dagegen musste er der Versuchung widerstehen, seinerseits in den Geist der Heilerin vorzudringen, denn das würde sie merken.
Am 22. Mai des Jahres 2007 war er mal wieder allein zu hause. Sein Pflegevater Alwin hatte nach dem Frühstück die tagesfrische Ausgabe der Zeitung Feenstimme auf dem Tisch liegen lassen. So konnte der als Arnold Fichtenwurz verzeichnete Junge ganz ruhig die Artikel lesen. Dabei erfuhr er, dass Europa nach dem Ende von Ladonna Montefiori, die ihm sicher genauso gefährlich hätte werden können, endlich wieder zur Ruhe gekommen war. Allerdings warnte das Zaubereiministerium vor neuerlichen Übergriffen von Werwölfen und Vampiren. Ja, da war doch was, dachte Kaharnaantorian alias Arnold Fichtenwurz. Es hieß, dass es irgendwo auf der Welt eine entkörperte Blutsaugerin geben sollte, die neuerdings als deren Göttin auftrat. Er erinnerte sich an die wenigen Augenblicke oder langgedehnten Jahre, als er versucht hatte, die von seinem Peiniger entblößte Spiegelkugel zu durchdringen. Er hatte wie in weiter Ferne mitgehört, dass Iaxathan, der Erzdämon, dem Wallenkron ihn geopfert hatte um nicht selbst zum Sklaven zu werden, von jener weiblichen Macht einer übermächtigen Blutsaugerin eingefangen und fortgeschlossen wurde. Also beherbergte sie jenen, der sein Meister werden wollte und wusste womöglich, dass es ihn gab. Doch sie wusste nicht, wo er sich befand oder hielt es für denkbar, dass er noch in der Nimmertagshöhle feststeckte. Er dachte zunächst, dass diese Vampirgöttin seine gefährlichste Gegnerin sein musste. Doch dann las er einen Artikel von einem Lichtwächter namens Hanno Eichentor, der die Bevölkerung erneut darauf hinwies, sich vor Nachtschatten zu schützen. Ja, da fiel ihm ein, was Wallenkron vor seiner Niederlage gegen die Fortpflanzungserzwinger angestellt hatte. Der hatte aus zwei weiblichen Nachtschatten eine vereinte Seele gemacht. Die war frei, weil sie nicht mehr an die Sklavensteine gebunden war, wie alle anderen Schatten, die einem Unterdämon namens Kanoras gedient hatten. Das war also seine wirklich gefährlichste Gegnerin. Denn auch wenn es seit dem 31. Oktober 2006 ruhig um sie um ihre Unterworfenen war hieß das nicht, dass sie aus der Welt war. Zumindest erwähnte Hanno Eichentor, dass das Ministerium und die Lichtwachenzentrale davon ausgingen, dass jene selbsternannte Kaiserin der Nachtschatten geschwächt, aber immer noch in der Welt war und sich wohl irgendwann zurückmelden würde. Zumindest kannte Kaharnaantorian nun seine größten Feinde, die Vampirgöttin und die selbsternannte Kaiserin der Nachtschatten. Ihm kam die verwegene Idee, sich mit deren Feinden zu verbünden, wenn er nicht mehr ein kleiner, behütsamer Junge sein musste. Ja, so konnte es gehen. Er würde die Feinde dieser beiden ihm gefährlichen Gegenspielerinnen zu seinen Freunden machen, diese für sich einsetzen und dann, wenn sie die beiden Widersacherinnen erledigt oder diese zum Kampf gegeneinander getrieben hatten, hintergehen, um sich zum neuen Meister aller Menschen und Geister auszurufen, dann, wenn ihn nichts und niemand mehr aufhalten konnte. Fast hätte er laut gejubelt, weil ihm noch ein verwegener Gedanke kam. Wenn er den feststofflichen Anker jener Vampirgöttin fand konnte es ihm gelingen, den von ihr festgehaltenen Erzdämon Iaxathan von ihr wegzureißen und ihn sich einzuverleiben, um durch seine Kraft und sein Wissen an seine Stelle zu treten. Dann würde er, Kaharnaantorian, der Erbe des Urdämons, dem dieser Volltrottel Wallenkron sich verbinden wollte, der wahre Herr aller lebenden und Toten. Also galt es, sich mit jenen zu verbünden, die nach dem Ankergegenstand der Vampirgöttin suchten. Die Nachtschattenkönigin wollte er nach möglichkeit erst niederkämpfen, wenn er Iaxathans gesamtes Wissen in sich aufgenommen hatte, sofern die nicht doch schon längst ausgelöscht war oder bis zu seiner Enthüllung ausgelöscht sein würde.
Da Wallenkron früher Quidditch gespielt hatte nahm er die Berichte über die letzten Testspiele der deutschen Nationalmannschaft vor der Weltmeisterschaft in Indien als kurzweilige Randmeldung zur Kenntnis. Ja, auf einem schnellen Besen zu reiten, das würde ihm wieder gefallen.
Er legte die Zeitung wieder so auf den Küchentisch, wie sein Pflegevater sie dort hatte liegen lassen. Nicht aufzufallen war Kaharnaantorians oberster Grundsatz, nicht aufzufallen wie ein Zeck im Gebüsch, darauf lauernd, sich auf ein nahrhaftes Wirtstier herabfallen zu lassen. Geduld und Beharrlichkeit würden ihn zum Ziel führen.
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„Wisch dir die Füße ab!“ plärrte die kirschrote Fußmatte vor der drei Zoll hohen Türschwelle aus schwarzem Marmor. Astoria Malfoy grinste und scheuerte ihre weißen Drachenhautschuhe so lange, bis die magische Stimme: „Ist gut jetzt!“ krächzte. Der hinter Astoria gehende hochgewachsene Zauberer mit dem silberblonden Haar und dem blässlichen Gesicht wartete erst gar nicht, bis er zum Füßeabwischen aufgefordert wurde. Als auch er gesagt bekam, dass es genug war überstieg er die Türschwelle und trat auf die schachbrettartig gemusterten Marmorfliesen der Empfangshalle von Greengrass Grove, dem Sommersitz der Greengrasses und von Alan Greengrass großzügig seinem Erstgeborenen Auric als Familienhaus überlassen.
Zuerst wurden sie von Astorias Mutter Drusilla begrüßt, die in ein zinoberrotes Kleid gehüllt war und dank der Mittel der Hexenkosmetik zwanzig Jahre jünger aussah als sie war und dank verschiedener Bewegungssportarten und Balletttanz sehr schlank und beweglich geblieben war. „Hat euch der alte Münzenzähler alleine geschickt oder wollte er noch kommen?“ fragte Drusilla ihre Tochter und freute sich, ihren Enkel Scorpius knuddeln zu dürfen. Dafür schenkte sie Draco ein anerkennendes Lächeln.
„Mum, Opa Alan ist tot. Er wurde von irgendwem in Texas ermordet“, flüsterte Astoria und deutete auf den tiefschwarzen Schal, den sie über ihrem mitternachtsblauen Kleid trug. Draco, der in einen nachtschwarzen Umhang mit Stehkragen gekleidet war, nickte seiner Frau zu und rang seinem Gesicht eine gewisse Trauermiene ab.
„Der alte ist umgebracht worden“, versetzte Drusilla zwischen Schrecken und Verwunderung. „Deshalb hat sein Porträt gewackelt“, fügte sie an. „Auric meinte schon, dass er irgendwas erlebt hat, was sein Porträt angestupst hat. Aber kommt bitte in den Audienzraum. Ich schicke Auric zu euch. Der will sicher alles wissen, was passiert ist“, wisperte sie und winkte ihrem Besuch, ihr zu folgen.
Draco hatte den nicht unberechtigten Eindruck, dass seine Schwiegermutter nicht sonderlich erschüttert war, dass ihr Schwiegervater tot war. Er dachte daran, was es damals wohl für Gerüchte gegeben hatte, als die Kronprinzessin der Thornapple-Sippe den Kronprinzen der Greengrasses geheiratet hatte. Eigentlich hatte Alan Greengrass auf Chrysophila Summerwind als Schwiegertochter gehofft. Die hatte sich aber mit Logan Greyrock eingelassen und mit der unter anderem Kelly Greyrock in die Welt gesetzt, an die sich Draco auch mit gemischten Gefühlen erinnerte. Alan hatte seinem Sohn nie wirklich verziehen, dass er sich mit Drusilla eingelassen hatte, bis deren Urgroßvater starb und seinen Blutsverwandten zu gleichen Teilen Gold im Wert von drei Millionen Galleonen hinterlassen hatte. Weil Drusilla so kein armes Bauernmädchen war hatte Alan sie doch als Mutter seiner Enkel akzeptiert.
Der Audienzsaal von Greengrass Grove war eigentlich ein kleiner, rechteckiger Raum von gerade mal zehn mal sechs Metern, in dem ein dreistufiges Podest mit einem großen, mit der Haut eines walisischen Grünlings bezogener Ohrensessel und mehrere schmale Stühle mit vergoldeten Beinen und Lehnen standen. Als fest verbautes Element herrschte ein schwarzer Marmorkamin, in dessen Sockel rubinrote Flammen eingearbeitet waren. Draco wusste, dass dieser und der Kamin im Familiensaal als Grreengrass Grove ans britische Flohnetz angeschlossen waren, aber selten als Flohpulverkamine benutzt wurden. Kaum standen Astoria und ihr Mann im Audienzsaal apparierte mit dezentem Plopp ein Hauself in einem grasgrünen Geschirrtuch, auf dessen Bauchteil ein rundes goldenes Wappen mit den fünf Grasrispen der Familie prangte. Ohne weitere Befehle abzuwarten wuchtete das dienstbare Wesen mehrere Holzscheite auf den Kaminrost und entzündete sie mit einem Stück Zunderschwamm und einem silbernen Feuerzeug, das angeblich alle letzten Feuerstöße jenes Drachens in sich gespeichert hatte, dessen Haut zum Bezug des protzigen Sessels und anderer Vorzeigesachen in diesem Haus und im grünen Turm, dem eigentlichen Stammsitz der Greengrass-Familie, benutzt worden war. Der Hauself in Grün nickte den Besuchern zu und sagte mit einer froschartig quakenden Stimme: „Das Feuer der Beratung brennt, Meisterin Astoria, Meister Draco.“ Dann verschwand der Elf genauso leise wie er erschienen war.
„War das Whispy, der Leisespringer von Schwiegeropa Alan?“ fragte Draco im Flüsterton. „Stimmt, das war er. Der hat offenbar mitbekommen, dass sein ursprünglicher Meister nicht mehr wiederkommt. Hauselfen haben da so eine gewisse Bindung“, wisperte Astoria. Draco nickte beipflichtend.
Auric Greengrass betrat den Audienzsaal. Er trug einen honigfarbenen Umhang und an den Füßen grüne halbstiefel, die sicher aus derselben Haut eines walisischen Grünlings geschustert waren, die auch den Sessel überzog. „Ihr habt es offiziell gemacht. Whispy kam schon vor drei Tagen und meldete, dass er die Verbindung mit seinem Meister verloren habe und ich nun sein neuer Meister sein soll. Was ist mit Opa Alan passiert, Astoria?“ fragte er seine Tochter, wobei er sich in den Sessel auf dem Podest niederließ. Astoria berichtete nun von der Reise nach Amerika und dass ihr Großvater Alan darauf bestanden hatte, ganz alleine zu einer Verabredung zu gehen, die irgendwo in Texas stattfinden sollte. Sie schloss den Bericht damit, dass die Spieluhr in Form eines goldenen Phönixes ihr Trauerlied gespielt hatte und sie daher wussten, dass Alan Greengrass gestorben war. Da sie nicht davon ausgingen, dass er einen altersbedingten Herzstillstand erlitten habe müssten sie davon ausgehen, dass er ermordet worden war. „Zumindest nicht von euch, weil der Phönix dich sonst sofort mit seinem Feuerstrahl als Blutsverbrecherin gebrandmarkt hätte und du, Draco gar nicht erst über die Fußmatte gekommen wärest, wenn das Blut meines Vaters an deinen Händen kleben würde“, grummelte Auric Greengrass. Dann forderte er die Herausgabe der erwähnten Spieluhr. Auric Greengrass wiegte sie in den Händen und flüsterte ihr etwas zu, so leise, dass weder Astoria noch Draco es hören konnten. Darauf erklangen vier laut scheppernde und schwirrend nachhallende Akkorde. Dabei hob der goldene Phönix seinen Kopf in den Nacken und sperrte den Schnabel auf.
Erst dachte Draco, der Metallvogel wollte einen weißblauen Feuerstrahl speien. Doch aus dessen Schnabel glitt ein Lichtstrahl, der sich aufblähte und zu einer drei Meter durchmessenden Lichtkugel wurde. Diese wurde durchsichtig. Jetzt konnten sie zwei Personen sehen, eine davon Alan Greengrass. Er unterhielt sich mit einem gewissen Tucker Greengrass. Es kam zu einer Unstimmigkeit. Alan schockte Tucker, nachdem dieser ihm prophezeit hatte, dass jede Gewalthandlung gegen ihn sofort vergolten wurde. Tatsächlich waren gleich darauf mehrere Zauberer appariert und hatten Alan angegriffen. Als letztes Bild sahen sie vier rote Kugeln, die zu einer einzigen zusammenwuchsen und dann in pechschwarze Dunkelheit übergingen, als schwebe mitten im Audienzsaal ein schwarzes Loch in der Luft. Dann tauchte aus dessen Mittelpunkt ein blutroter Lichtpunkt auf, der sich zu Linien und Kurven auseinanderzog, die sich zu einer durch Schnörkel verbundenen Schrift am Rande der dunklen Sphäre formten. Die Schrift besagte, wie die Mörder Alans mit vollem Namen hießen, alles Brüder. Dann flammte im Zentrum der kugelförmigen Erscheinung ein rot flammender Satz auf: „Strafe meinen Mördern!!!“ Dieser flammende Befehl und die am Rand weiterhin leuchtenden Namen der Mörder Alans blieben mehr als eine halbe Minute lang sichtbar. Dann fiel die Kugel in sich zusammen, wurde zu einem feuerroten Lichtball, der passgenau in den Schnabel des goldenen Phönix zurückgesaugt wurde. Der Metallvogel schloss leise klickend seinen Schnabel.
„Ehre deinem Andenken, Vater!“ sprach Auric Greengrass. „Strafe deinen Mördern“, fügte er hinzu.
„Was wirst du machen, Dad?“ wollte Astoria wissen.
„jetzt wo ich weiß, was passiert ist muss ich alles versuchen, um die namentlich erwähnten Mörder aufzuspüren und entweder von eigener Hand zu töten oder sie noch schlimmer für ihre Bluttat büßen zu lassen“, schnarrte Auric Greengrass.
„Dabei könntest du sterben. Hast du nicht gesagt, Beryllius sollte nicht den grünen Turm und die Schlüssel zu den Goldbergen erben?“ fragte Astoria. „Stimmt, ich könnte ihn mitnehmen. Der hat sich mit Dad sowieso immer besser verstanden als ich mit ihm, sonst wüsste ich ja längst, welche Nummern die verschleierten Verliese haben, in denen der Großteil des Familiengoldes liegt“, grummelte Auric Greengrass.
Draco hielt es für klug, nichts dazu zu sagen. Er überließ es seiner Frau, zu antworten. „Dad, weiß Beryllius schon, wo die Verschleierten Verliese sind?“
„Falls ja sagt der mir das nicht. Aber ich denke eher, dass der nun hoffentlich in den Hallen der ruhmreichen wandelnde Alan Greengrass es ihm bisher auch nicht erzählt hat. Als Erstgeborener darf ich, wenn ich wahrheitsgemäß bezeugen kann, den letzten Willen meines Vaters vollstreckt zu haben, in die Kammer der Ahnen im grünen Turm. Ganz sicher liegen da alle geheimen Unterlagen, die auf die verhüllten Verliese hinweisen“, erwiderte Auric Greengrass. Je schneller ich die Angelegenheit beende desto früher kann ich daran. Allerdings muss ich deinem Onkel Berry mitteilen, was passiert ist. Könnte sein, dass der darauf hofft, mich auch noch beerben zu dürfen, da Scorpius ja gerade erst ein Jahr auf der Welt ist und das Familienvermögen nur an volljährige männliche Nachkommen weitergegeben werden darf. Also ihr beiden, ich danke euch, dass ihr mir die Nachricht überbracht habt, auch wenn es keine erfreuliche war! Ihr hört dann von mir und Berry“, sagte er noch. Dann erhob er sich aus dem Sessel. Er zog seinen Zauberstab hervor und zielte auf das Kaminfeuer. „Lignum ardens nunc transmissum!“ rief er. Mit einem kurzen Fauchen und vernehmlich nachknisterndem Plopp verschwanden alle brennenden Holzscheite aus dem Kamin. „Ratzeputz maximus!“ rief Auric noch und machte mehrere Wischbewegungen mit dem Zauberstab. ein rosaroter Schaumstrahl fuhr in den Kamin und überstrich den Rost. Keine drei Sekunden später war der Kaminrost vollkommen Asche- und rußfrei. Astoria griff nach der Hand ihres Mannes und deutete auf die Tür. Draco verstand und folgte ihr schweigend. Sie begaben sich in den Familiensaal, wo ebenfalls ein schwarzer Marmorkamin mit roten Flammenmustern stand. In diesem loderte bereits ein Feuer. „Das ist sein Stolz, der Kaminfeuerübertragungszauber“, wisperte Astoria und deutete auf die brennenden Holzscheite. Draco schwieg immer noch. Erst als Drusilla zusammen mit dem kleinen Scorpius auf dem Arm hereinkam und den Jungen in eine bereitstehende Wiege legte wagte er wieder zu sprechen. „Ich hoffe, dass alles was jetzt ansteht bestmöglich ausgeht“, sagte er.
„Hat er den Phönix befragt?“ wollte Drusilla wissen. Astoria und Draco nickten bestätigend. „Dann wird er den jetzt wohl an seinen Herzschlag und die letzten Atemzüge seines Lebens binden“, seufzte sie. „Ja, und je danach, was der Vogel ihm geflötet hat wird er wohl handeln müssen.“ Astoria nickte. Draco fragte, ob er was machen könne, um ihr zu helfen. „Fessel ihn und knebel ihn in der kleinen fensterlosen Kammer, bis der von meinem Schwiegervater verfügte Erinnerungszauber sich totgelaufen hat, ohne ihn zu beeinträchtigen. Aber wenn du das versuchst könnte das Haus dich als nicht blutsverwandten Feind abweisen und irgendwo im Umkreis von hundert Meilen absetzen, wobei nicht nur die Fläche gemeint sein kann“, raunte Astoria. Dann erzählte sie, was der Phönix nicht nur ihrem Vater offenbart hatte. „Oha, das heißt Blutfehde mit der Familie derer, die Alan getötet haben. Dabei gilt in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert ein Blutfehdeverbot. Ob es das drüben bei den Amerikanern auch gibt weiß ich nicht. Aber sicher werden die nicht erfreut sein, dass ein Engländer Landsleute von denen richten will. Aber wie ich lernen musste ist es sehr schwer, einem Greengrass was auszureden.“
„Ja, am Ende urteilen Sie Auric ab, weil er versucht hat, an deren Gerichten vorbeizuhandeln. Es sei denn, die haben in den Staaten immer noch das Recht auf eigenständige Vergeltung“, sagte Draco. Seitdem er glimpflich aus allen Vorwürfen wegen seiner Unterstützung des dunklen Lords herausgekommen war las er sich immer mal wieder die Berichte über besondere Strafanklagen durch und wusste daher, dass es in den Staaten ein gewisses Recht auf eigenständige Vergeltung gab. Das bezog sich zwar im wesentlichen auf die Verteidigung von Eigentum und Leben der Angehörigen, wurde aber früher gerne auch als Freibrief zur Hinrichtung von Einbrechern oder eben auch Mördern genutzt, wenn es genug Zeugen gab, die das ursprüngliche Verbrechen bezeugen konnten. Das hatte den Yankees früher viele langwierige Fahndungen und Gerichtsprozesse erspart. Aber galt das Recht auch für Ausländer, die mit texanischen Staatsbürgern abzurechnen hatten? Draco wusste, dass es seinem Schwiegervater egal war, ob es dieses Recht gab und inwieweit es für Ausländer galt oder nicht galt.
„Drue, ich bin bei Berry und Tony um zu besprechen, was wegen Dad ansteht!“ klang Auric Greengrasses Stimme wie aus leerer Luft. „Bist du zum Abendessen wieder da?“ fragte seine Frau dem brennenden Kamin zugewandt. „Wohl nicht. Whispy packt schon meinen Überseekoffer. Wenn der Halbzwerg und seine Bande noch nicht ganz im Feuerwhisky ertunken sind bin ich mit denen wohl schon heute abend auf dem Weg über den Salzwassergraben. Lass dir von Ria und Draco erzählen, was der Phönix geflötet hat, falls sie das noch nicht getan haben!“ klang Aurics Stimme wieder aus der Luft. „Macht bitte nichts unüberlegtes, Ricky! Was immer ihr rausfindet, macht es rechtssicher!“
„Das Recht liegt auf unserer Seite, Drue. Ich liebe dich und werde dich immer lieben“, antwortete die magisch übertragene Stimme ihres Mannes.
„Dann komm her und sag mir das vor Ria und ihrem Mann ins Gesicht!“ forderte Drusilla. Darauf kam keine gesprochene Antwort mehr. Tatsächlich apparierte ihr Mann, gekleidet in einen tiefschwarzen Umhang mit einem Zylinder auf dem Kopf und wiederholte es ohne magische Hilfsmittel, was er seiner Frau sagen wollte. Er küsste sie noch einmal. Dann disapparierte er wieder. Whispy apparierte nun wesentlich leiser als sein neuer Herr und Meister und sprach mit gedämpfter Stimme: „Meisterin Drusilla, Whispy hilft Meister Auric, sein Gepäck zu ordnen. Gibt es was, dass Whispy dem Meister mitteilen soll?“ „Nein, was er mir mitteilen wollte hat er mir schon mitgeteilt“, sagte Drusilla dem Hauselfen. Dieser verbeugte sich so tief, dass seine karottenförmige Nase fast den Parkettboden berührte. Dann verschwand er wieder ganz leise.
„Ihr bleibt bitte noch zum Abendessen. Ich möchte noch die weniger düsteren Erlebnisse von euch hören und was ihr demnächst vorhabt“, sagte Drusilla Greengrass. Draco und Astoria stimmten zu. Sie hatten ja auch keine andere Wahl.
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Sie war Nausikaa. Gerade hatte sie erfahren, dass ihre große Lehrmeisterin Sycorax von einer aus Frankreich eingewanderten Hexe im Zweikampf besiegt worden war. Jetzt hielt sich jene Französin, die mit ihrer machtvollen Abstammung aufschnitt, für die rechtmäßige Nachfolgerin von Sycorax Montague. Doch die Regeln der Schwesternschaft verlangten, dass nur jene die Nachfolge erlangen durfte, die auf selbem Heimatboden geboren war wie die Vorgängerin. Diese Französin, die Anthelia hieß, war also eine unrechtmäßige Würdenräuberin. Sie musste weg und Platz für einen regelgerechten Nachfolgezweikampf machen. Nausikaa, in deren Adern das immerdar reingehaltene Blut der Blacks strömte, sah sich als rechtmäßige Anwärterin auf Sycorax‘ Amt der höchsten Schwester Britanniens. Also wollte sie die Usurpatrix auslöschen, ihr mit dem grünen Todeslicht aus dem Osten oder der schwarzen Klinge der Rache den Garaus machen.
Nausikaa saß im fensterlosen Lesesaal des Thornapple-Turmes, dem Geschlechterturm der heil- und Todeskundigen Familie Thornapple, die sich wie die Blacks und die Montagues über alle Generationen hin reinblütig gehalten hatten. Hier im von flammenlosen Leuchtkugeln erhellten Leseraum, in den kein Sonnenstrahl dringen konnte, studierte sie die Geschichte der Dienerinnen Dairons dem dunklen Druiden, der beinahe ein Jahrhundert lang Wales und Cornwall beherrscht hatte. Da sich die Usurpatrix Anthelia auf das druidische Erbe der Vorzeit berief – zumindest tat ihre verwünschte Tante Sardonia dies – galt es, entsprechende Zauber und Rituale zu kennen, um sie niederzuwerfen. Denn Nausikaa kannte die Geschichten, dass jene, die die dunklen Geheimnisse von Leben und Tod kannten, ihre Körper unverwüstlich machen konnten und wenn sie doch den Tod fanden als unsichtbarer Geist umgingen, um in den Leib eines gerade unter Schmerzen geborenen Kindes gleichen geschlechtes neuen Halt zu finden und im Körper des Neugeborenen versteckt heranzuwachsen, bis die Zeit kam, wo der eingedrungene Geist die natürliche Seele überwältigen und in sich hineinschlingen konnte um dann den alten Weg einzuschlagen.
Nausikaas Mann Atropinius hatte behauptet, dass in seiner eigenen Hausbücherei eine Reihe von Bänden über Dairons dunkle Taten und Erfindungen schlummerte. Doch sie hatte diese Reihe von Büchern nicht gefunden, nur Tagebücher von Dairons Bettgespielinnen und dessen zehn Töchtern, die alle nach dunklen Göttinnen der walisischen, irischen und europäisch-keltischen Sagenwelt benannt worden waren. Von Morrigan, der erstgeborenen Tochter Dairons, las sie, dass diese als Königin der dunklen Wälder und Felsen geherrscht haben sollte. Doch sie war von jenen gutmenschlichen Zauberern, von denen auch der große Merlin abstammte, in einen blutfarbenen Stein eingeschlossen worden. Ja, sowas mochte die gerechte Bestrafung für die amtsräuberin sein, dachte Nausikaa. Doch wie jener gnadenlose Bann, der aus dem altkeltischen „Stein der ewigen Ungnade“ übersetzt hieß, gewirkt wurde, ob ein Zauberer oder eine Hexe ausreichte, ihn zu wirken oder wie viele, das stand nicht in jenem alten Folianten, den Nausikaa gerade behutsam durchblätterte. Sie suchte deshalb weiter nach jener Gruppe Bücher über Dairons dunkle Taten da selbst. Doch sie fand nur ein Buch, dass von Dairons grünen Wächtern handelte. Druiden waren die Hüter der magischen Eichen gewesen, bezogen aus diesen ihre Kräfte des Lebens und ihr Wissen über die Kräfte aller Pflanzen. Jene, die auf den Pfaden bedingungslosen Machtgewinns wandelten wie Dairon nutzten auch die Geheimnisse des Todes und des Lebens, die Verschiebbarkeit der Grenze zwischen der Menschen- und der Geisterwelt, zwischen Mensch, Tier und Pflanze und was die frei sprießenden Zauberkräfte im Spiel der Natur an Mischformen hervorgebracht hatten oder hervorzubringen verstanden, wenn die rechten Mittel und Worte benutzt wurden.
Das Kapitel über einen Baum, der als Nachfolger von Dairons mächtigster Züchtung angesehen wurde, las sie mit großem Interesse. Die Bluteiche oder der Richtbaum des dunklen Hüters, so wurde dieser irgendwo in einem versteckten Eichenhain in Wales gepflanzte baum genannt. wer den Standort und die Worte Dairons kannte und vom eigenen Blut und dem von anderen gewaltsam entnommenen Blut opferte konnte die eigene Zaubermacht vervielfachen, je danach, wie die Gestirne standen und wie oft jenes Menschenwesen bereits eigenes Leben hervorgebracht hatte. Es wurde davor gewarnt, dass diese Prüfung auf Rechtmäßigen Machtgewinn zum Verlust von Leib und Seele führen konnte.
Nausikaa bedachte, dass sie zwei Söhnen das Leben geschenkt hatte, Neffen des amtierenden Familienoberhauptes der Blacks und ebenso rechtmäßige Erben aller Schätze des grünen und schattigen Wissens der Thornapples. Also war sie durchaus berechtigt, die Kraft des alten Richtbaumes zu erbitten, um die Usurpatrix Anthelia zu vernichten.
Eifrig schrieb sie sich alles in einer Geheimschrift auf, die sie von ihrem Vater erlernt hatte und die nur innerhalb der Black-Familie unterrichtet wurde, bevor die Kinder alt genug waren, um in Hogwarts in allen Dingen der Zauberei und Hexerei ausgebildet zu werden. Doch als sie die drei Pergamentseiten auf Genauigkeit prüfte fiel ihr ein, dass ihre Söhne Aries und Draco diese Schrift auch erlernt hatten. Diese standen der Vorstellung, dass Hexen die wahren Herrinnen der Welt zu sein hatten, feindlich gegenüber und sollten bloß nicht wissen, dass sie eine der entschlossenen Schwestern war und dass sie vorhatte, die nächste höchste Schwester Britanniens und Irlands zu werden. Also nahm sie aus ihrer kleinen, rauminhaltsbezauberten Gürteltasche unter ihrem Umhang die größte verfügbare Flasche heraus, in der sie eigentlich fremde Zaubertränke für eine weiterführende alchemistische Untersuchung sammeln wollte. Sie schob die Pergamentseiten in die Flasche, verkorkte diese unter Zuhilfenahme von Wachs und verstaute die Flasche in ihrer Gürteltasche, die niemand außer ihr öffnen konnte, solange sie lebte.
Als sie nach einer weiteren Stunde immer noch keine Bücher von Dairons dunklen Taten und Erfindungen gefunden hatte gab sie sich mit dem erreichten zufrieden und verließ die Bücherei. Sie begab sich in den Mittelsaal, der auf halber Höhe des geschlechterturms lag. Im Gegensatz zur fensterlosen Bücherei besaß der Mittelsaal an jeder nicht zur Treppenhaustür gehörenden Wand bodentiefe Fenster, die im Bedarfsfall mit schweren, stählernen Läden verschlossen werden konnten, aber ansonsten einen beeindruckenden Rundblick über die Ländereien der Thornapples und die weitere Umgebung boten. Besser war nur noch die Aussicht in der Wachhausspitze ganz oben. Hier im Mittelsaal pflegte der Hausherr auch Gäste zu empfangen, gewisserweise Hof zu halten. So stand dessen thronartiger goldener Stuhl vor Kopf der langen Tafel. Zu dessen rechten durfte sie sitzen, sofern kein Besuch im Haus war, der mehr Ehre erwarten durfte als die Gattin des Hausherren.
Atropinius saß allein im weiten Saal und grinste sie verwegen an. „Und ich hegte die Befürchtung, Ihr wolltet erneut sieben Jahre hoher Schulung durchlaufen, dass Ihr Euch in unserer erhabenen Bücherei vergrubet, Nausikaa“, grüßte er.
„Es regte mich an, nach den Berichten aus der magischen Gemeinschaft Schottlands näheres über Eure und meine druidischen Vorfahren zu erfahren, mein Gatte“, erwiderte sie mit gespielter Unterwürfigkeit. „Ach, Dairon und Gefolgsleute. Hat Euch unser Erstgeborener also verraten, dass wir die Schriften über Dairons Werk und Wirken hüten und habt sie gesucht?“ fragte Atropinius mit unüberhör- und unübersehbarer Überlegenheit. „Tja, diese Bücher sind nur für männliche Träger reinen Blutes auffindbar und lesbar, solange kein Weibsvolk näher als zehn Schritt in alle Richtungen des Raumes weilt. Aber über Dairons liebeskranke Gespielinnen und sich für seine wahren Erbinnen haltenden Töchter gibt es eine Menge zu lesen, wenngleich das immer mit jener Behutsamkeit zu würdigen ist, die Berichten aus dritter, vierter oder fünfter Hand ansteht, insbesondere, wenn die Berichtenden sich für rechtmäßige Königinnen dieser Erde halten, weil unsere Erde da selbst als große Mutter allen Lebens angebetet wird. Ich erwähne dies nur, weil ich nicht darum bangen möchte, dass Ihr euch auf einen verwirrten Pfad begebt, der in einer Sackgasse oder in einem meilen tiefen Abgrund münden mag.“
„Du verdammter Heuchler“, dachte Nausikaa. Doch sie war auf der Hut, ihre Abneigung nicht offen zu zeigen. Selbst eine Anwärterin auf den Thron aller Hexen und damit aller Welt musste auf der Hut sein, nicht zu früh enthüllt zu werden. Außerdem musste sie stolz sein, dass auch sie dem Haus Black eine weitere reinblütige Erblinie verschafft hatte. So sagte sie ihrem Angetrauten: „Nun, mein Gatte, die Wege der Hexen und der Zauberer mögen mal gleich verlaufen, doch meistens verlaufen sie in anderen Bahnen. Auch mögen die Ziele verschieden sein oder das eine große Ziel. Erst wer am Ende eines Weges ankommt weiß, ob dieser ein Irrweg war oder ihm oder ihr der rechte Weg war. Daher danke ich Euch für Eure Warnung vor fehlerhaften Wegweisungen und erkenne die große Weisheit Eurer Vorväter an, die für uns Hexen unzureichenden bis schädlichen Schriften vor unserem Blick und Zugriff zu verbergen. In der Tat habe ich viele Berichte über Dairons den dunklen Pfaden folgenden Töchter gelesen und erfuhr auch, wie viel Feindschaft sie sich erwarben, als sie danach trachteten, ihre Väter an Macht und Wissen zu übertreffen. Dies ist mir bereits eine ausreichende Warnung, eben diesen Töchtern nicht nachzueifern, was ihr Scheitern anbetrifft.“
„So ist es recht, meine im Zeichen reinen und machtvollen Blutes angetraute Gattin“, lobte der Hausherr jene, die seine Stammhalter geboren hatte und seitdem nicht mehr das Lager mit ihr zu teilen pflegte. Nausikaa dachte, welch ein Narr er war, dass er es überhört hatte, dass sie die Fehlschläge von Dairons Töchtern nicht nachahmen wollte. Das hieß doch nur, dass sie aus den Fehlern lernen wollte, um sie nicht zu wiederholen und dadurch mehr Erfolgsaussichten zu haben als jene, die gescheitert waren.
Die restliche Zeit sprachen sie über die Ereignisse, die aus allen Richtungen der magischen Welt berichtet wurden. Natürlich hatte auch Atropinius vom Sturz der dunklen Lady Sycorax erfahren, zumal die Thornapples auch mit den Montagues verschwägert waren. Es ging auch darum, wen sich Aries und Draco als ihre künftigen Eheweiber ausgesucht hatten und ob deren Väter der Vermählung zustimmen würden oder nicht. Denn auch wenn lange und ehrenvolle Blutlinien wichtig waren, so waren jene, die über ihren Fortbestand zu wachen hatten auch sehr wählerisch, was die Einbringung in andere Blutlinien betraf und nicht jeder, der den heeren Zaubererstolz im Herzen trug befürwortete eine Verbindung mit dem Blut der Blacks. Jene, die sich als Nachfahren des mächtigen Salazar Slytherin sahen trachteten danach, ebenbürtige Nachkommen aus anderen europäischen Familien zu gewinnen, die eigene Linie fortzusetzen. Da die Vorfahren der Blacks mit denen Slytherins oftmals in Fehde gelegen hatten galt es für Slytherins Nachkommen, ihr „hochedles Blut“ nicht mit dem „vergifteten Lebenssaft“ der Blacks zu verderben. Doch für Aries‘ und Dracos Auserwählte hegte Nausikaa keine Bedenken. Jene jungen Hexenmädchen würden schon aus eigenem Stolz mit ihnen die Ehe schließen, um die ehrwürdigen Blutlinien Ares Blacks und Spinus Thornapples in die eigene ebenso wertvolle Blutlinie einzuweben. Abgesehen davon dachte sie so heimlich sie konnte daran, dass nach der Niederwerfung der französischen Usurpatrix eine ganz neue Zeit anbrechen würde, wo nicht mehr die Väter eine Ehe segneten, sondern jene, die die betreffenden Kinder aus eigenen Schößen in die Welt geboren hatten und daher noch sorgfältiger abwägen mussten, wessen Nachkommen ihre Kinder hervorzubringen hatten.
Als Nausikaa in ihrem eigenen Schlafgemach war führte sie zunächst Zauber aus, die das Betreten für Unbefugte vereitelten. Auch gegen die zauberstablose Ortsversetzungsfähigkeit von Hauselfen konnte sie vorgehen, weil sie vor Monaten schon Blut des eigenen Hauselfens in ein Gemisch für hochwirksame Zaubertinte eingerührt hatte. Als sie sicher war, in den nächsten Stunden nicht behelligt werden zu können entzündete sie noch die flammenlose Leuchtkugel unter der Zimmerdecke und beschwor mit „Conjuro velaminem noctis!“ einen völlig lichtschluckenden Schleier vor der eigenen Tür, auf dass kein verräterischer Streifen Lichtes unter der Tür hervordringen mochte. Nach all diesen Vorkehrungen las sie erneut die aus den Berichten über den Richtbaum angefertigten Abschriften und prägte sich alles ein, was sie brauchte, um sich der Prüfung des Baumes zu stellen. Dabei fiel ihr etwas ins Auge, dass sie im Eifer der schnellen Abschrift nicht sofort durchdacht hatte. In der Abschrift stand was davon, dass der auf Macht und Erkenntnis ausgehende Bittsteller oder die Bittstellerin nicht nur das Blut aus dem eigenen Körper als Opfer darzubringen hatte, sondern auch jenes gewaltsam entrissene Blut eines eigenen Nachkommens, sofern dieser noch unberührt war, bestenfalls gerade erst geboren war. Also musste sie, eine Hexe, einen ihrer hoffentlich noch unberührten Söhne mitnehmen und ohne dessen Willen Blut von ihm opfern, um dem Baum zu bekunden, auch das Blut eines eigenen Kindes zu vergießen, um dessen Gunst zu erwerben. War sie dazu bereit? Darüber musste sie erst einmal im Schlafe nachdenken.
Als sie schlief träumte sie davon, gegen die hörigen Heerscharen der Machträuberin Anthelia zu kämpfen, wobei sie mächtige Flächenzauber ausführte, die ihre Feindinnen in Scharen niederwarfen, darunter einen, der „Vortex sanguinis“ hieß und jeden von Blut durchströmten Gegner im Umkreis der eigenen Rufweite alle Lebenskraft aus dem Leib spülte und somit mächtiger war als der aramäische Todesfluch. Allerdings forderte dieser Zauber auch ein Opfer von ihr. Sie verlor dabei einen Tag eigene Lebenszeit je niedergestrecktem Gegner. Doch da sie auch einen Körperverjüngungstrank kannte, der ohne die geistige Wiederverjüngung wirkte und nur jedes Jahr einmal getrunken werden musste sorgte sie sich nicht um dieses Opfer. So bewirkte allein sie, dass die Usurpatrix an die hundert Getreue verlor und sich in einem entscheidenden Zweikampf stellen musste. Bedauerlicherweise hatte sie sich wohl gegen den Blutwirbelzauber abgesichert. Am Ende ließ Nausikaa die Feindin in einer violetten Flammensäule verbrennen, weil sie den „heißen Zorn von Mutter Erde“ beschwor, der auch die Feuerberge weiter südlich und die heißen Wasserquellen im hohen Norden trieb. Damit war ihr Weg zur Macht frei. Die ihr noch treuen Mitschwestern erkannten sie unverzüglich als die wahre Nachfolgerin Sycorax‘ Montagues an und erhoben sie zur höchsten Schwester ihres Ordens.
Um die immer noch auf ihr Vorrecht des Mannes pochenden Zauberer bis zum letzten Moment in Ungewissheit zu halten, wer sie war legte sie sich den Namen Lady Morrigan zu, in Anlehnung an Morrigan, Dairons Tochter. Dank der ihr zugeflossenen Kenntnisse aus dem Nachkommen von Dairons Rex Arborum baute sie ihre Macht aus. Als ihr Gatte ihr auf die Schliche zu kommen drohte bändigte sie ihn mit dem römischen Unterwerfungsfluch. Dann ließ sie sich zur Regina Magarum Maxima, der allerhöchsten Königin der Hexen ausrufen und eroberte die Zaubererwelt Britanniens und Irlands. Gerade als sie auf einem aus vergoldeten Knochen getöteter Feinde gebildeten Thronsessel Platz nehmen wollte wachte Nausikaa Thornapple in ihrem breiten Himmelbett auf. Sie erkannte, dass sie das alles nur geträumt hatte. Um den Traum wahrwerden zu lassen musste sie sich der Prüfung des Richtbaumes stellen und dabei das Blut von Aries oder Draco opfern. Doch da fiel ihr ein, dass es nicht unbedingt das Blut eines geborenen Nachkommens sein musste. Für Zauberer galt das sicher. Aber Hexen konnten doch auch ihr monatlich entfließendes Blut nehmen, in dem, so die Lehre der Hebammenhexen, die mütterlichen Bestandteile eines ungezeugten Kindes enthalten waren. So ging es wohl auch. Ja, und wenn sie dabei an einem Sommersonnenwentag vorsprach mochte die Prüfung für sie zu bestehen sein.
Als sie am folgenden Morgen die Schutzvorkehrungen gegen unerwünschte Eindringlinge entfernte erschien mit leisem Knackenund von blauen Funken umschwirrt ein Pergament mitten im Gemach und sank flatternd zu boden. Offenbar hatte da jemand es sehr eilig gehabt und keine der zuverlässigen Nachrichteneulen versandt, sondern den Zauber „Transportatio inter loca“ verwendet, und zwar mit einer Ortszeitfestlegung. Sie nahm das Pergament und fühlte sofort eine Erwärmung. Auf dem scheinbar leeren Blatt erschien in blutrot leuchtender Schrift:
Ad armas sorores! Wir wissen wo die französische Amtsanmaßerin steckt. Sie will ihren Unterschlupf zur dunklen Festung ausbauen. Wenn wir nicht sofort handeln ist alles wider sie geplante Werk vergebens!
Die Handschrift stammte von Perdita Underwood, die sich wie Nausikaa Thornapple heimliche Hoffnungen auf Sycoraxes Nachfolge gemacht hatte. Als sie dann noch las, wo die Behausung sein sollte und dass die ersten Zauber zur Errichtung einer uneinnehmbaren Burg bereits ausgeführt wurden wusste Nausikaa, dass sie sich beeilen musste, wollte sie ihren Anspruch auf die Führerschaft nicht verlieren. Auch ohne die Prüfung vor dem Richtbaum konnte sie mit Perdita Underwood fertigwerden, dachte sie. Doch jetzt galt es erst einmal, Anthelia zu bezwingen und in die ewigkeit der Nachwelt zu stoßen, bestenfalls ohne die Möglichkeit, dass sie ihren Geist in den Körper eines neugeborenen Mädchens retten konnte.
Ohne groß darauf zu achten, dass ihr Gatte es höchst merkwürdig empfinden würde, dass sie nicht zum Morgenmahl erschien nutzte Nausikaa das Vorrecht, zeitlos aus dem Turm zu verschwinden. Sie kam gerade in dem Augenblick in der Nähe des erwähnten Hauses an, als bereits eine wilde Schlacht im Gange war. Hexen bekämpften Hexen, Sycorax treue Schwestern standen im blutigen Streit mit den Anhängerinnen der Usurpatrix Anthelia. So fand sich auch Nausikaa in einem Kampf mit gleich drei Gegnerinnen wieder. Doch das Wissen aus dem umfangreichen Kenntnisschatz der Black-Familie half ihr, ihre Gegnerinnen zumindest handlungsunfähig zu machen. Die Zahl von Sycoraxes Getreuen überwog bald jene der Feindinnen. Diese zogen sich zurück, wohl in der Hoffnung, dass ihre neue Herrin bereits genug Zeit gefunden hatte, um ihre Undurchdringlichkeitszauber zu wirken. Als Anthelia dann höchst selbst aus dem unscheinbar wirkenden Haus trat erstarrten alle Kämpfenden. „Ich erblicke viele, die Hexenblut vergossen haben, um auszufechten, wem zu folgen ist“, sagte die angebliche Nichte Sardonias aus Frankreich. Nausikaa versuchte, den über sie gekommenen Lähnzauber abzuwerfen. Doch es gelang ihr nicht. Da fiel ihr ein, dass sie bereits in die Falle gegangen war. Sie musste in einen Bannkreis geraten sein, ohne dass ihre Vorkehrungen sie gewarnt hatten. Doch dieser Bann wirkte auch auf die Gefolgshexen dieser Usurpatrix. Dann hörte sie jene laut ausrufen: „Wer in Gedanken bei mir ist bleibe stehen. Wer in Gedanken wider mich anfechtet soll fallen. In nomine sanguinis Fidelum fideles manento stabantes inimicae cadento nunc!!“
Es war grauenvoll. Die Anthelia am nächsten stehenden ihrer Feindinnen erstrahlten in einer blutroten Feuersäule. Es war wie eine unsichtbare Woge, die von Anthelia aus in alle Richtungen rollte und dabei jede in rotem Feuer verbrannte, die in Gedanken gegen die neue Herrin aufbegehrte. Lohnte es noch, sich umzuentscheiden? fragte sich Nausikaa. Da sah sie eine blutrote Lichtwand und fühlte, wie sie frei fiel, hinein in einen tiefschwarzen Schacht. Sie schrie vor Angst. Dann fühlte sie, wie sie gegen etwas weiches drückte, das mehrere Male nachfederte. Sie keuchte schnell und laut. Ihr Herz hämmerte in schnellen Schlägen gegen ihren Brustkorb. Dann öffnete sie ihre Augen und erkannte, dass sie noch lebte. Doch sie erkannte noch was: Sie war nicht Nausikaa Thornapple geborene Black, sondern Narzissa Malfoy, aber ebenfalls eine geborene Black. Sie lag im Ehebett im Elternschlafzimmer des Hauses Malfoy. Neben sich hörte sie ihren Mann Lucius atmen. Sie blickte gegen den über ihr aufgespannten Betthimmel, der bei Licht rubinrot war und jetzt wie ein sternenloser Nachthimmel wirkte. Ja, es war wohl noch dunkel.
Narzissa lag erst einige Minuten ruhig da und überdachte den Traum, den sie geträumt hatte. Sie war Nausikaa gewesen, wohl weil sie sich in den letzten Tagen ausgiebig mit ihr befasst hatte. Sie hatte auch den heftigen Schlag Anthelias gegen ihre Feindinnen nacherlebt. Doch in den Berichten über Nausikaa stand nur, dass sie in einem letztenAnsturm der Anthelia widerstrebenden Schwestern umgekommen war, aber nicht auf welche Weise. Ja, und was hatte sie von diesem Richtbaum geträumt, der Macht und Erkenntnisse bringen sollte, wenn jemand es wagte, sein Blut und das eines unberührten oder ungeborenen Nachkommens zu opfern und dann noch stärker blieb als der Geist in jenem Baum, ein Nachkomme jenes legendären Baumes Rex Arborum, der im verbotenen Wald von Hogwarts gestanden hatte, bis ihn Dumbledore und seine Getreuen mit vereinter Kraft gefällt hatten. Dabei sollte auch die damalige Schülerin Aurora Dawn mitgewirkt haben, die ihren Sohn Draco vor unbeherrscht herumfluchenden Todessern gerettet hatte. Gab es diesen Richtbaum überhaupt, oder war es ein Zaubererweltmythos all jener, die den dunklen Druiden Dairon abgöttisch verehrten, egal ob Hexe oder Zauberer? Dann fiel ihr was ein, warum sie von Nausikaas Aufzeichnungen geträumt hatte. Sie hatte schließlich selbst nach diesem Richtbaum geforscht und den ungefähren Standort dieses Gewächses herausgefunden. Sie würde, wenn Lucius fortgegangen war, eine kleine Dosis der heimlich im Kellerlabor gebrauten Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit trinken, um sich in allen Einzelheiten an den Traum zu erinnern. Wichtig war ihr dabei, die Aufzeichnungen Nausikaas mit ihren eigenen Unterlagen zu vergleichen. Als sie das dachte meinte sie die Stimme eines kleinen Jungen in ihren Gedanken zu hören: „Hör nicht auf die Lügen! Bleib von dem Baum weg!“ Doch die Stimme verebbte unvermittelt wider. War das noch ein Nachhall ihres Traumes, weil es darin ja hieß, das Blut eigener Nachkommen zu opfern? Selbst wenn dies stimmen sollte musste sie wohl darauf vertrauen, dass sie, eine Hexe, mit ihrem Monatsblut ein unbefruchtetes Ei ausschied, das als ungeborenes Kind anerkannt wurde. Also war die Stimme da in ihrem Kopf nicht die Stimme von Draco gewesen, sondern die eines ungezeugten und somit nie auf die Welt gelangenden Kindes. Was sollte es auch? Lucius wollte eh kein Kind mehr von ihr haben. Ihm da neben ihr ging es nur noch um Selbstdarstellung, die Vorführung eines noch immer einträchtig zusammenlebenden Ehepaares, auch wenn die allermeisten wussten, dass sie beide nur noch eine Zweckgemeinschaft bildeten und das Feuer leidenschaftlicher Liebe längst zu Asche niedergebrannt war, ähnlich wie bei Nausikaa und Atropinius Thornapple, dachte Narzissa.
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Andrés Piedraroja hatte sehr darauf geachtet, dass die Zaubererweltzeitungen nichts von seinem Ausflug in die schwarze Pyramide mitbekommen hatten. Unter dem Deckmantel der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe berief er eine Versammlung aus nur fünf Leuten ein. Darunter waren der Leiter der Gesetzesüberwachung, Argo Montebravo, eine Expertin für indigene Heilzauber und Flüche, sowie sein Vermittler an die Gruppe der aztekischstämmigen Hexen und Zauberer und sein alter Freund und zeitlanger Kampfgefährte Lorenzo Puentelargo. Diesen erzählte er, was ihm in der schwarzen Pyramide begegnet und abverlangt worden war. Montebravo blickte verdrossen drein. Die Fachkundige für präkolumbianische Zauberei nickte verhalten, während Puentelargo den Gesetzesüberwachungsleiter vorwurfsvoll ansah. Als Piedraroja seinen Bericht beendete bat Puentelargo ums Wort. Sein alter Kamerad bei den Purificadores, den Jägern dunkler Magier fragte ihn mit sehr tadelndem Ton:
„Was genau hast du alles vergessen, was wir beide häufig durchgestanden haben, mein Freund? Du wusstest genau, dass die schwarze Pyramide mit dunklen, Bedrückung auslösenden Zaubern durchsetzt ist. Auch wusstest du, was nach der Welle dunkler Zauberkräfte alles erwacht ist oder bestärkt wurde. Dann haben wir beide die Unterwerfung unter Ladonnas Feuerrosenzauber erlebt und können uns betrüblicherweise an alles erinnern, was wir während der Zeit angestellt haben.“ Montebravo nickte wild. Doch Puentelargo war noch nicht fertig. „Ist dir nicht im Ansatz eingefallen, Reinigungsartefakte am Körper zu tragen, die mit der Kraft von frischem Wind und nährender Erde dunkle Einflüsse auf Geist und Körper ableiten oder heilen? Dieses Gefängnis muss doch heute wie ein fest verwurzelter Dämon sein, der sich von der Angst und der Verzweiflung seiner Gefangenen ernährt. Ja, und jetzt hängst du weiter an deren Kette, nicht aus Gold, sondern aus Blut, dunkler Erdmagie und womöglich auch ins schädliche verkehrter Sonnenmagie und fragst uns hier, was du jetzt machen kannst oder sollst?““
„Moment, Argo, erst noch mal ich, dann Sie“, wehrte Piedraroja Montebravos Versuch einer Erwiderung ab. Dann sagte er: „Was ein Schutzartefakt angeht, Lorenzo, da habe ich sehr wohl dran gedacht. Aber dann ist mir eingefallen, dass es mir den Weg in die Pyramide versperrt hätte, ja mich vielleicht nicht in die Nähe gelassen hätte, weil entweder seine eigene Magie mich zurückgetrieben hätte oder die nun offenkundige Ausstrahlung der Pyramide gegen dessen Wirkung angekämpft und mich mit physischer Kraft zurückgedrängt hätte. Ja, und was die Welle dunkler Kraft angeht, so haben wir damals genau deshalb daran festgehalten, die schwarze Pyramide weiterzunutzen, zumal die dort postierten Wachen uns versichert haben, dass es keinen Weg gab, dass die dort einsitzenden Gefangenen ausbrechen konnten. Wie zynisch das war weiß ich jetzt besser als mir lieb ist. Doch unter anderem Señor Montebravo hier bestand darauf, die Drohung mit einer Inhaftierung in der Pyramide unbedingt aufrechtzuhalten, damit die in unserem Lande lebenden Schadenszauberer und Unheilshexen nicht meinten, die neue Lage bedenkenlos auszunutzen. Wenigstens das hat ja auch geklappt, bis Ladonna die Nordamerikaner und über die dann auch uns in ihren Bann gezogen hat.“
„Ja, und bevor dein Mitarbeiter Montebravo mich anfährt, was mir einfällt, über eure Sicherheitspolitik zu meckern will ich ihn, dich und mich daran erinnern, dass uns diese veelastämmige Rosenzüchterin eindringlich davor gewarnt hat, irgendeine Hexe neu in die Pyramide zu schicken, weil das unser Tod sein würde. Die wusste garantiert, was da genau angestellt wurde, um die Gefangenen kleinzuhalten. In Europa haben die lange Zeit Dementoren als Gefängniswärter angestellt, weil die Sicherheitsverantwortlichen Leute da auf die deprimierende Kraft dieser Unheimlichen vertraut haben. Die Pyramide dürfte schon vor der dunklen Welle ähnlich auf die Gefangenen gewirkt haben. Ganz sicher hat Ladonna das geahnt, vielleicht sogar gewusst, was die alten Kriegsgottheitspriester in der Pyramide angestellt haben. Wissen wir, ob sie nicht selbst einmal in die Nähe gereist ist, um zu prüfen, was die Azteken so drauf hatten? Ja, und ihr zwei, Andrés und Argo, habt das einfach so weiterlaufen lassen. Was abschreckt schafft Frieden, oder was? Diesen Unsinn glauben die Nomagitos der Gringos schon seitdem sie das innere Feuer der Materie entzündet haben und die sogenannten Atombomben bauen können. So, jetzt darf dein Untergebener, der geschätzte Señor Montebravo was sagen, falls er immer noch will.“
„Frechheit!“ schnaubte Montelargo. „Herr Minister, bevor ich meinen Standpunkt und eine mögliche Vorgehensweise im Bezug auf Ihr Erlebnis und vor allem diesen Ihnen aufgezwungenen Eid erwähne muss ich diesem Besserwisser da doch klarmachen, dass er es war, der auf meinen Rang verzichtet hat, weil ihm das Studium europäischer Zauber wichtiger war als ein verantwortungsvoller Posten. Jetzt also aufzubegehren und zu behaupten, wir hätten schwere Unterlassungsfehler begangen gehört sich also nicht. Insofern muss ich doch bei allem Respekt vor Ihnen, Minister Piedraroja fragen, warum Sie diesen Außenstehenden, der keine Verantwortung übernehmen wollte, zu dieser doch sehr vertraulichen bis geheimen Unterredung hinzugebeten haben.“
„Weil er sich besser als Sie mit dunklen Zaubern auskennt, ja leider auch besser als ich“, seufzte Piedraroja. „Soso, und dann haben Sie ihn nicht auf Grund eines ministerialen Notfallerlasses verpflichtet, sein Wissen für die Sicherheit unseres großartigen Landes einzusetzen?“ erwiderte Montebravo.
„Er wollte das Ansehen Ihrer Familie nicht beschädigen, indem er deren Kandidaten für einen Ministeriumsposten zurückweist“, warf Puentelargo unverhohlen frech ein. „Jetzt reicht’s aber! Rufen Sie diesen Angeber und Streitsucher zur Ordnung oder besser, schicken Sie ihn vor die Tür und am besten mit einem Gedächtniszauber versehen nach Hause! Und falls Sie das aus Ihrer alten Freundschaft heraus nicht vermögen kann ich das erledigen!“ brüllte Montebravo. Lorenzo Puentelargo grinste nun wie ein frecher Schuljunge. Er sah Piedraroja herausfordernd an. Dieser antwortete ruhig:
„Erstens, Argo, ist das hier mein Büro. Also entscheide ich, wer wann mit mir in diesem Raum spricht. Zweitens gilt, dass hier nicht herumgebrüllt wird wie in einer Herde Kampfstiere und wenn, dann nur von mir. Drittens, Lorenzo, muss ich dem Mitarbeiter Montebravo dahingehend rechtgeben, dass es schon sehr anzüglich ist, einen vereidigten Beamten für unfähig zu erklären, ohne dazu berechtigt zu sein und vor allem ohne einen Beweis für seine Behauptung vorzulegen. Ja, und du hast den Mitarbeiter Montebravo gerade für unfähig erklärt, weil du mir unterstellt hast, ich hätte ihn nur wegen der guten Beziehung zu seiner Familie wegen auf seinen Posten berufen. Insofern könnte ich wirklich von meinem erwähnten Hausrecht gebrauch machen und dich vor die Tür setzen lassen. Warum ich es nicht tue, Lorenzo, hat nichts mit unserer langjährigen Freundschaft zu tun, sondern weil ich keinen Schwarm von ministeriumseigenen Fluchexperten um mich herumschwirren lassen will, sondern von den wenigen Leuten, die ich für gut ausgebildet halte im gegenseitigen Respekt beraten werden möchte, wie wir alle, nicht nur ich, aus dieser Lage herauskommen. Denn, Argo, Lorenzo, wenn dieser Bluteid mich wahrhaftig dazu treibt, irgendwelche Hexen und Zauberer zur lebenslänglichen Haft in der schwarzen Pyramide verurteilen zu lassen, dann kann es jeden von Ihrer und deiner Familie treffen, Argo und Lorenzo. Das wurde mir in dem Augenblick bewusst, als ich diese würgende Halskette los wurde und ich aus dem Wirkungsbereich der dunklen Aura heraus war. Also, die dame und die Herren, was für Möglichkeiten bestehen, diesem steinernen Spuk ein Ende zu machen, außer, dass ich mir selbst den Tod gebe?“
„Erst einmal will ich haben, dass dieser Bursche da zwei Eide schwört, den einen, dass er nichts von dem, was hier gerade besprochen wird auf irgendeine Weise weitergibt und zweitens, dass er sich verpflichtet, die nächsten fünf Jahre in meiner Abteilung als Recherchebediensteter für präkolumbianische Zauber zu dienen, damit der da überhaupt weiß, wovon er hier gerade geredet hat und warum wir darauf bestehen mussten, die schwarze Pyramide zu behalten und weiterzunutzen. Es ist ja sowieso sehr fragwürdig, warum Sie, Minister Piedraroja, den Vertretern der Indiostämme zugesagt haben, denen ihre alten Zaubergegenstände und Kultplätze zurückzugeben.“
„Einspruch!“ rief Piedrarojas Verbindungsmann zu den aztekischstämmigen Ureinwohnern. „Zum einen heißt das seit der Sprachregelung zum gegenseitigen Respekt der alten und neuen Einwohner des heutigen Staates Mexiko von 1991 nicht mehr Indio, sondern indigenes Volk oder Angehöriger eines indigenen Volkes. Zum zweiten wurde uns von Ihnen, Minister Piedraroja zugesichert, dass die letzten Auswirkungen der spanischen Kolonialzeit abgeschafft wurden und die Rückgabe in Besitz gebrachter Gegenstände und Kultstätten Teil dieser neuen gegenseitigen Achtung ist. Das wurde nur durch die Unterwerfung unter den Feuerrosenzauber unterdrückt. Drittens, wenn die Nachfahren der aztekischen Zauberpriester die Pyramide zurückerhalten werden sie sie weiträumig gegen jede menschliche Annäherung absichern, allein schon, um nicht selbst der Rache der erzürnten Gottheiten anheimzufallen, der Gottheiten, die nach dem Glauben der Azteken von den Conquistadores in die Verbannung getrieben wurden, weil die sie anbetenden Völker getötet oder zur Anbetung des fremden Gottes aus dem Osten gezwungen wurden. Denn, Señora Ribera, die Herren, die Erben der Zauberpriester, die zum Teil auch mit der Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse und gefährliche Wesen zusammenarbeiten, wissen schon seit Jahrhunderten, welche Macht in dieser Pyramide erweckt wurde. Insofern könnte es Ihnen widerfahren, dass besorgte Anhänger dieser Zauberpriester finden könnten, Sie zu töten, um sie von diesem Bluteid zu entbinden, Minister Piedraroja. Warum sie es noch nicht tun wollen liegt an erwähnter Vereinbarung zur gegenseitigen Achtung.“
„Gut gebrüllt, Löwe“, knurrte Montebravo. Piedraroja sah erst ihn und dann alle anderen streng an. „Wenn wir wissen, wie ich den mir aufgezwungenen Eid umgehen kann, ohne daran zu sterben, werden wir darüber verhandeln, wie genau die Absicherung der Pyramide betrieben werden kann. Noch habe ich wohl einige Tage zeit, bevor die mir auferlegte Frist vorbei ist. Bis dahin muss uns was einfallen.“
„Jetzt auf einmal uns, Andrés. Du hättest uns alle hier vorher fragen sollen, bevor du die obskure Einladung der grauen Bruderschaft angenommen hast“, erwiderte Puentelargo. Darauf sagte die für Heil- und Schutzzauber indigener Völker ausgebildete Beamtin Isabel Ramona Ribera: „Wenn der Kessel schon vor Minuten umgekippt ist lohnt es sich nicht mehr, über den verschütteten Inhalt zu klagen, die Herren. Also, was schlagen Sie vor, Señor Puentelargo?“
„Zaubertiefschlaf für mindestens ein Jahr. In der Zeit lassen wir keinen mehr in die Pyramide rein oder raus“, schlug Puentelargo vor. Montebravo erwiderte: „Jedenfalls können wir uns nicht leisten, sie an irgendwen anderes zu übergeben, von dem oder denen wir nicht sicher sein können, ob die damit nicht bewusst oder unfreiwillig großen Schaden anrichten. Denn ehrlich, ich glaube nicht, dass die heutigen Nachfahren der alten Azteken noch alles wissen, was deren Vorfahren im Namen ihrer Menschenherzenfressenden Götter so getrieben haben. Eher denke ich, dass die sich brennend dafür interessieren, dieses verschüttete Wissen zurückzuerlangen. Was die dann damit anfangen will ich hier in dieser runde nicht weiter ausmalen, weil ich weder die Intelligenz der Anwesenden beleidigen noch deren eigene Vorstellungskraft unterschätzen möchte, vor allem die von den beiden Herren da außerhalb der Amtshierarchie.“
„Zaubertiefschlaf? Ja, aber wenn ich wieder aufwache und ein Jahr um ist, was dann?“ fragte Piedraroja.
„Dann hat sich das mit den Leuten in der Pyramide sicher erledigt, wenn ich dich richtig verstanden habe“, sagte Puentelargo. Señora Ribera erhob Einspruch. „Wenn wir das mit einem Zaubertiefschlaf tun, dann muss dieser solange andauern, wie es noch beeinflusstes Leben in der Pyramide gibt. Erst wenn wir sicher wissen, dass dort kein Leben mehr existiert – und das können wir leider nur durch in bestimmten Abständen durchgeführte Kontrollbesuche, die dann aber die Gefahr bergen, dass die Pyramide die Besucher unterwirft und in sich einschließt – dann erst können wir Sie wieder aufwecken, Minister Piedraroja. Ich halte einen Zaubertiefschlaf deshalb für unangebracht und sinnlos.“
„Und was möchten Sie als Alternative anbieten?“ fragte Puentelargo. Doch Montebravo kam ihm zuvor: „Erstmal widerrufen wir die Rückgabevereinbarung für die Pyramide. Zum zweiten gehen wir auf die grauen Brüder ein und schicken besonders straffällige Leute dort hinein, auch wenn wir wissen, dass sie dort körperlich und geistig zerstört werden. Wir müssen die Ordnung aufrechterhalten. Wenn wir keine annähernd abschreckende Alternative zur schwarzen Pyramide vorhalten können wird unser Land wieder zum Tummelplatz ausländischer oder von fanatischen Ureinwohnern angestachelter Mordmagier und Unheilshexen. Ich schlage also vor, Minister, Sie befolgen den auferlegten Eid, weil Sie ja eh nichts dagegen tun können außer zu sterben, und das wollen Sie ja nicht.“
„Halt, die Kultstätten gehören zurück in die Verantwortung der Nachfahren jener, die sie errichtet und geweiht haben“, protestierte der Verbindungszauberer zu den Ureinwohnern.
„Von wegen geweiht“, lachte Puentelargo. Da traf ihn der Blick von IsabelRibera wie mit zwei Dolchen. Er erstarrte.
„Wenn wir die schwarze Pyramide weiter mit Seelen versorgen, egal ob von wirklich grausamen Verbrechern oder unschuldigen Kindern, dann machen wir uns alle mitschuldig an deren Zerstörung. Doch ich will nicht abstreiten, dass die Versuchung für aztekischstämmige Totenpriester und Kriegszauberer zu groß ist, die Pyramide und ihre Macht eingehend zu erforschen und zu nutzen. Abgesehen davon kennen Sie alle sicher Berichte von Zaubergegenständen, die je mehr Kraft sie von außen zugeführt bekamen um so größere Reichweite und Einfluss hatten. Es kann also durchaus geschehen, dass die in der Pyramide wirkenden Kräfte sich weiter ausbreiten und dadurch noch mehr unschuldige Wesen durchströmen. Das wird dann wie ein Flächenbrand aus unsichtbaren Flammen, der nur auf lebende, fühlende Wesen einwirkt. Am Ende leiden wir alle, ob magisch begabte oder unmagische Menschen, unter den Auswirkungen dieser dunklen Kraft. Ja, und vielleicht besteht auch die Gefahr, dass sie, wenn sie eine bestimmte Stärke überschreitet, explosionsartig in alle Welt ausgreift und dann sämtliche Menschen und andere fühlende Wesen verschlingt, bis die Erde nur noch von totenDingen und Pflanzen bedeckt ist. Daher, Señor Montebravo, sollten wir ernsthaft darauf verzichten, die Pyramide weiter mit Gefangenen zu füllen und auch darauf verzichten, sie in die Hände anderer Leute zu geben, die zwar behaupten, zu wissen, was dort vorgeht, sich aber in Wahrheit eher dafür interessieren, dies herauszufinden und nur deshalb noch nicht dort einzudringen versucht haben, weil die grauen Wächter jeden unbefugten Eindringling gleich als ihren neuen Gefangenen behandeln. Also gilt, was gesagt wurde, möglichst eine Zone um den Wirkungsbereich der Pyramide zu schaffen, in die kein Mensch mehr eindringen darf und diese Bannlinie, sofern sie nicht von der Ausstrahlung der Pyramide abgeschwächt wird, mindestens ein Jahrhundert lang beizubehalten.“
„So, werte Dame, und wohin dann mit den wirklich gefährlichen Verbrechern?“ knurrte Montebravo. „Das was Sie gerade thematisiert haben, Zaubertiefschlaf oder, wie es die US-amerikaner nach der Zwangsherrschaft durch Vita Magica übernommen haben, die vollständige Wiederverjüngung zum Zwecke der Erhaltung der Begabungen der Straffälligen zum Wohle unserer Gesellschaft. Das schreckt ebenso ab wie ein von dunklen Zaubern durchzogenes Gefängnis. Denn wer, der oder die auf Macht ausging, will schon zum hilflosen, unwissenden Säugling zurückverwandelt werden?
„Dann müsste der Minister mir eine Vollmacht zur Übernahme dieser wegen Vita Magica nicht minder fragwürdigen Höchststrafe leisten und dass ab dieser Unterschrift keine neuen Gefangenen in die Pyramide …“ Der Minister dachte schon daran, wie genial diese Ideen waren, als er meinte, in einen bodenlosen Schacht zu stürzen, dessen Wände aus blutroten Flammen bestanden. So ähnlich stellten sich die katholischen Christen die Höllenfahrt vor, dachte er, während er tiefer und tiefer in den lodernden Schacht hinabstürzte. Dann hörte er die Stimme des grauen Wächters, der ihm den Bluteid abgerungen hatte:
„Befolge den Eid. Gib uns neue Gefangene oder leide ewig!“
Als der Minister meinte, in den weißglühenden, brodelnden Kern der Erde selbst hineinzustürzen wachte er wieder auf. Es war nur eine albtraumhafte Vision gewesen, eine Auswirkung jenes Eideszaubers, der ihm auferlegt worden war.
Er lag auf einem Behandlungsbett. Zwei Heiler und Señora Ribera standen um ihn herum. Der ältere der beiden Heiler, womöglich der Stationsleiter selbst, sprach ihn an:
„Minister Piedraroja, Sie befinden sich in der Luiz Marymonte-Station zur Behandlung magischer Körperschädigungen im Raúl-Torreverde-Krankenhaus für magische Krankheiten und Verletzungen. Mein Name ist Alfonso Ribera und ich bin der Stationnsheiler hier. Wie geht es Ihnen?“
„Als hätte ich gerade einen Sturz in die von den Katholiken propagierte Hölle erlebt“, seufzte der Minister. „So ähnlich war das wohl“, sagte der Heiler. „Laut der Augenzeugin hier haben Sie erst einen lauten Schrei ausgestoßen und sind dann vom Stuhl gefallen. Aus ihrem Körper ist viel Schweiß ausgetreten, und die Temperatur stieg auf sehr bedenkliche Höhe. Wenn Señora Ribera sie nicht mit dem Notfallzauber gegen Überhitzung belegt hätte wären Sie sicher an multiplem Organversagen gestorben.“
„Ich denke, dass hätten die nicht zugelassen“, seufzte Piedraroja. „Wer „die“? Möchten Sie damit anzeigen, dass Sie einem Fluch unterliegen?“ fragte Heiler Ribera, der womöglich mit der Heil- und Fluchexpertin verwandt war. Er ging davon aus, dass sie ihren Nachnamensvetter oder echten Anverwandten schon über einiges unterrichtet hatte. Er wagte es also, zu erklären, warum er meinte, für eine bestimmte Zeit in Richtung Erdkern gefallen zu sein.
„Eine Warnung mit körperlichen Auswirkungen, weil Sie Blut geopfert haben und auf Erde und Gold schworen. Gold ist das Metall der Sonne, nicht nur bei den Indigenen, sondern allen magisch begabten Menschen aller Völker. Die Sonne ist der Vater allen Feuers, und der glühende Erdkern, an den zu glauben wir ja auch erst seit zweihundert Jahren gewöhnt sind, bildet den Gegenpol zum Sonnenfeuer, getrennt durch die erhärtete Erdkruste. Oh, moment, ich schweife ab“, stoppte Heiler Ribera seine Darlegung der elementarmagischenTheorie. „Jedenfalls wollten sie offenbar was tun, was gegen den Ihnen abgepressten Eid verstößt. Über den Eid oder besser den Fluch zu sprechen war und ist ihnen offenbar erlaubt. Dagegen zu handeln streng verboten“, attestierte der Heiler. Der Minister konnte ihm nur zustimmen. „Es mag jedoch sein, dass sie, wenn der von diesen dubiosen Wächtern erwähnte Zeitraum endet, dazu getrieben werden, Ihren Teil des Eides zu erfüllen, womöglich ähnlich wie unter einem Unterwerfungsfluch oder wie ein fernlenkbarer Widergänger, bei den Haitianern und den Frankogringos in New Orleans Zombie genannt, neue Seelen für die Pyramide und ihre androiden Symbionten zu beschaffen.“
„Häh?!“ stieß der Minister aus. Der Stationsheiler sah den Minister verwundert an und fragte, ob er sich irre, dass Minister Piedraroja eine umfangreiche Zaubereiakademische Ausbildung genossen habe. „Zauberkunst, Fluchabwehr, aber kein Heilersprech“, grummelte der Minister.
„Heiler Ribera, übrigens mein Vetter, wollte damit andeuten, dass Sie, Minister Piedraroja, dazu getrieben werden könnten, bei Ablauf der verhängten Frist zu einem willenlosen Erfüllungssklaven der grauen Wächter zu werden, der ohne Ansehen von Schuld oder Unschuld Menschen an diese ausliefert. Die grauen Wächter sind Menschen und leben mit der Pyramide in einer Art dunkler Zweckgemeinschaft also Symbiose.“
„Warum vertut er seine wertvolle Zeit dann damit, es so auszudrücken, dass es nur Zunftangehörige verstehen können und es für außenstehende Patienten übersetzt werden muss?“ wollte der Minister wissen. Der jüngere Heiler grinste erheitert, ebenso Isabel Ribera. Der Stationsheiler räusperte sich und sagte dann: „Wie erwähnt wollte ich Ihre akademische Bildung nicht durch viel zu nieveaulose Sprache beleidigen.“
„ich bin Zaubereiminister geworden, weil ich unter anderem gelernt habe, mich für alle verständlich auszudrücken und mich nicht scheue, mit jedem zu mir kommenden Mitglied unserer Gemeinschaft so zu sprechen, wie er oder sie es gewohnt ist. Falls Sie hier andere Richtlinien zum Umgang mit Patienten haben als ich im Ministerium nehme ich das zur Kenntnis, mehr aber nicht. Beim verbleibenden Respekt für Sie und Ihre Kollegen möchte ich fragen, was genau ich nun Ihrer Meinung nach tun soll. Bitte benutzen Sie dabei allgemeinere Ausdrücke! Danke!“
„Da der Auslöser für Ihren Hitzeanfall und der Vision wohl die Überlegung war, etwas zu unterschreiben, was gegen den Ihnen auferlegten Zauber verstößt schlage ich zunächst einmal vor, dass Sie Urlaub nehmen und keine ministeriellen Dokumente unterschreiben, die denen, die Sie verflucht haben zu wider sein könnten. Sie haben im Grunde nur Glück gehabt, dass meine der Zunft entgangene Base zumindest die nötigen Ersthelferinnenzauber beherrscht, um eine drohende Überhitzung zu behandeln. Ob das jetzt weiterhin so bleibt weiß ich nicht. Des weiteren warne ich davor, Sich in Ablehnung des Eides und seiner Auswirkungen eigenhändig das Leben zu nehmen. Solche Flüche können auch beinhalten, dass Ihr Geist dazu verurteilt ist, solange in der stofflichenWelt zu bleiben, bis er alle ihm zu Lebzeiten auferlegten bindenden Übereinkünfte erfüllt hat. Das hat es leider auch schon gegeben, und gerade die indigenen Völker Nord- und Südamerikas kennen genug Flüche, um derartige Befehlstreue bis über den Tod hinaus zu erzwingen. Drittens müssen Sie sich genau überlegen, welche Auswirkungen es hat, wenn Sie den Eid erfüllen. Denn eines dürfte Ihnen auch als Nichtheiler bewusst sein: Sie sind durch diesen magisch bindenden Eid Ihr ganzes Leben an dessen Erfüllung gebunden. Befolgen Sie ihn einmal, heißt es, dass Sie dies immer und immer wieder tun werden. Ich kann Ihnen auch eine vorübergehende Aufnahme in der Station für geistig wirksame Flüche verschreiben. Vielleicht reicht es aus, Sie über den Zeitpunkt hinaus in magischem Tiefschlaf zu halten. Doch garantieren können wir das nicht.“
„So, können Sie das nicht, Heiler Ribera? Aber das mit dem Urlaub ist eine gute Idee. Ich hatte zwar schon einen längeren Zwangsurlaub wegen der Untersuchung nach dem Ende des Feuerrosenzaubers. Aber wenn ich dadurch keinen Schaden anrichten kann wäre es wohl günstiger, Urlaub zu nehmen“, seufzte der Minister.
„Stationsheiler Ribera, sollten wir nicht erst versuchen, ob die Überdauerungstherapie nicht anschlägt?“ fragte der jüngere Heiler, dem Namensschild nach Heiler im Praktikum Aurelio Mauricio Alamedo. Der Minister willigte ein, da er wissen wollte, ob er überhaupt in magischen Tiefschlaf versetzt werden konnte.
Es war, als würde er unter einer Decke aus verschiedenroten Blitzen liegen. Die Blitze bildeten kurzzeitige Netze und Schlangenlinien. Nach einer halben Minute hörten die zwei Heiler mit ihrem Zauber auf. „Wir müssen konstatieren, dass Sie durch einen offenbar auf Ihr Blut abgestimmten Zauber gegen magisch induzierten Tiefschlaf abgeschirmt sind. Ob das eine Folge des mit Blut vollzogenen Eides ist oder an den mir unzureichend bekannten Kräften der schwarzen Pyramide liegt vermag ich nicht zu sagen“, stellte der Stationsheiler fest. „Jedenfalls ist es unmöglich, dass jemand Sie in Zauberschlaf versenkt, ob mit guter oder böser Absicht, mit Ihrem Einverständnis oder ohne.“
„Der Schockzauber?“ fragte HIP Alamedo. „Selbst wenn er wirkt darf er nicht länger als einen vollen Tag in Kraft bleiben, weil die Organe dann aus dem Takt kommen“, schnarrte Heiler Ribera.
„Lenntavita?“ fragte Isabel Ribera. „Interessante Idee. Lentavita!“ rief der Stationsheiler mit auf Piedraroja deutendem Zauberstab.
Es war, als umflösse den Minister ein erst silberner und dann blutroter Lichthof. Dann war es vorbei. Mehr war nicht. Er konnte jetzt aber sehen, dass Ribera sich nicht mehr so bewegte wie vorhin. Er stand erst da wie eine lebende Statue und senkte dann ganz langsam den Zauberstabarm. „Oha, hatten wir auch noch nie“, sagte Isabel Ribera und deutete auf den HIP. „Beheben Sie den Rückpraller bitte, Heiler Alamedo!“ Das tat dieser.
„Interessanter Effekt. Üblicherweise prallt der Zauber nur auf und zersprüht oder wirkt. Aber dass er vollständig auf den Ausführenden, also mich, zurückprallt ist neu, basiert mit gewisser Wahrscheinlichkeit auf den bereits hypotetischen Blutmagieanteil des auferlegten Eides. Können Sie mir bitte für das Protokoll beschreiben, wie genau jene goldene Kette beschaffen war, die Sie zum Schutze vor der seeleneintrübenden Wirkung der Pyramide angelegt haben?“
Der Minister beschrieb die Kette, soweit er sich noch daran erinnern konnte. „Womöglich sind darin magische Symbole der aztekischen Ritualmagie eingewirkt, die auf den Träger einwirken und die Einflüsse der unmittelbaren Umgebung abweisen. Das kann auch heißen, dass Sie bis auf weiteres gegen eine unbekannte Zahl magischer Körperbeeinflussungen oder auch Geistesbeeinflussungen immun sind, da sie dieser Kette ihr Blut geopfert und sich somit ihres Beistandes versichert haben, solange sie den damit einhergehenden Auftrag erfüllen. Aber das möchte ich gerne mit anderen Experten auch für indigene Magie besprechen.“
„Falls ich dem zustimme. Noch habe ich das Recht des Patienten, dass von mir erfragte oder durch Untersuchungen erfahrene Einzelheiten nicht an dritte weitergegeben werden dürfen. Soweit ich weiß ist dies auch Bestandteil Ihrer zehn Heilerdirektiven“, hakte Piedraroja ein. „Wenn der Patient, also im Augenblick Sie, Wert darauf legt, vollständig geheilt zu werden ist es dem behandelnden Heiler zumindest empfohlen, ihn zu bitten, weitere Kollegen in die Ausarbeitung der bestmöglichen Heilbehandlung einzubeziehen. Lehnen Sie es ab, vollständig geheilt zu werden?“ fragte Ribera.
„Verstanden. Nein, ich lehne das nicht ab. Ja, ich bitte darum, vollständig geheilt zu werden, sofern dies überhaupt möglich ist und erteile Ihnen hiermit die Erlaubnis, die dafür in Frage kommenden Fachkollegen in die Ausarbeitung einzubeziehen. Ich bestehe jedoch darauf, dass ich sofern es keine weiteren Anzeichen für eine stationäre Behandlung gibt, das Krankenhaus verlassen darf und bis zur endgültigen Klärung meiner Lage Urlaub nehme.“ Die zwei Heiler nickten, auch Isabel Ribera.
So kam es, dass der Minister zehn Minuten später das Torreverde-Krankenhaus wieder verließ und bei der Personalverwaltung des Ministeriums eine neuerliche Auszeit anmeldete, die erst einmal bis zum 27. Juni dauern sollte. Danach kehrte er auf die Isla de las Lunas Amarillas zurück, wo seine Ehefrau bange fragte, was ihm passiert war. Er erwähnte, dass er sich wohl doch zu viel auf einmal vorgenommen habe und er deshalb eine heilmagische Empfehlung erhalten habe, noch einige Wochen Urlaub zu machen. Er wusste nicht, dass bereits ein Bericht von seinem Hitzeanfall die Grenzen mexikos überquert hatte.
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Die ersten Tage des Juni 2007 vergingen damit, dass die Glenfield-Brooks-Gemeinschaft die beschützenden Steine neu bezauberte, um nicht von außen dringende Zauber hereinzulassen und bei eigenen Zaubern nicht aufgespürt zu werden. Tara, Maura, Lorna und Lunera leiteten das Anwesen weiterhin als Vierergespann, wobei Tara die unumschränkte Sprecherin war.
„Und, wann soll das kleine Walters-McRore-Prinzchen ankommen, Lorna?“ fragte Lunera, als sie die organisatorischen Angelegenheiten besprochen hatten. „Klar, ich rieche wohl schon nach neuem Leben“, grinste Lorna. „Mittwintervollmond dürfte hinkommen, vielleicht ein paar Tage vorher oder danach. Vielleicht bring ich Hanks kleinen Thronfolger in der erhabenen Gestalt zur Welt. Dann wird’s auf jeden Fall ein ganz wildes Wesen, ähnlich wie die Welpen der Garouts.“
„Hoffe das besser nicht, Lorna. Die Garout-Söhne waren dumm und brutal und deshalb nur dazu gut, anderen Angst zu machen. Willst du so ein Kind auf die Welt bringen?“ fragte Lunera. Lorna verzog ihr Gesicht. Tara nickte Lunera zu. „Sie hat leider recht, Lorna. Die Garout-Söhne waren ein glatter Fehlschlag unter dem Mond. Sieh also zu, meinen Neffen oder meine Nichte nicht bei Vollmond zu kriegen.“
„Na, und wann darfst du Petes zweites Baby in den Armen schaukeln , Mauramäuschen“, stichelte Lorna ihre jüngere Schwester.
„Wenn dein erster Großneffe oder die erste Großnichte erwachsen ist, Lorna-Liebchen“, knurrte Maura. Zusehen, wie Lorna schon Kind nummer drei im Bauch trug und Tara von ihrem erwählten auch schon ein Kind auf der Welt hatte gefiel ihr nicht, auch wenn sie mit Petes Sohn Sean-Paul mehr Freude hatte als mit dessen immer noch nörgeligem Vater. Seitdem der wusste, dass Werwölfe gesunde Kinder zeugen konnten hatte er nichts mehr von ihrem Körper wissen wollen und sich immer schön in sein kleines, von Tara genehmigtes Männerboudoir zurückgezogen, wenn zu riechen war, dass Maura fruchtbar war. Tara wollte sich das nur noch bis zum Mittwintervollmond ansehen, wenn sie die nächste große Lebensfeier hatten, was gleichbedeutend war mit einer wilden Liebesorgie in Wolfsgestalt. Dann würde sie ihm wohl befehlen, mit ihrer kleinen Schwester das nächste Kind zu zeugen.
„Traritrara! Die Post ist da!“ plärrte eine magische Stimme wie von einem Gnom oder einem Schlumpf, wie Hank das mal genannt hatte. Also hatte wieder einer von Finos künstlichen Postvögeln den Weg zu ihnen gefunden. „Ah, jetzt werden wir es wohl erfahren, ob dein Kampfgefährte weiter der Anführer ist oder dieser struwelhaarige Rohling León del Fuego das Sagen hat“, meinte Tara zu Lunera.
Der nur von der Person, deren Name in orangeroter Leuchtschrift zu lesen war zu öffnende rote Briefkasten wippte auf seinem Haltepfosten und erzitterte, als die vier ranghöchsten Werwölfinnen von Glenfield Brooks vor ihm auftauchten. Auf der Briefklappe stand der Name LUNERA TINERFEÑO. Lunera nickte Tara zu. „Wir hätten doch wetten sollen, Lady Tara, dass wer immer gewonnen hat mich persönlich antextet.“
„Dann hol raus, was dir wer geschickt hat. Aber lass es mich vor dem Öffnen mit den Fluchbrechern beharken und mit dem Portschlüsselbrecher, auch wenn man von hier nicht weggeportschlüsselt werden kann“, sagte Tara. Lunera nickte. Ihr wurde wieder klar, warum Tara die Anführerin war. Sie war die älteste der drei McRore-Schwestern, und alle drei waren kundige Hexen. Lunera konnte nur Zaubertränke brauen.
Lunera streckte die Hand aus und griff an die große Klappe unterhalb des Briefschlitzes. Es klickte. Es bimmelte. Die Leuchtschrift wurde grün. Dann klappte die Klappe zur Seite. Lunera tastete in den großen Briefkasten hinein, der im Bedarfsfall auch den Inhalt von Reisekoffern schlucken und für den Empfänger oder die Empfängerin verwahren konnte. Doch es war nur ein rechteckiger Briefumschlag, doppelt so groß wie die üblichen in Großbritannien verwendeten. Tara wartete, bis Lunera den Brief herausgefischt hatte. Dann überstrich sie diesen mehrmals mit ihrem Zauberstab und murmelte Bannsprüche und Aufhebungszauber. Doch der Briefumschlag zeigte keine Auffälligkeiten. „Nur ein mit Lykanthropenblut unterschriebenes Pergament, Lunera. Du darfst ihn bedenkenlos öffnen und erst einmal leise lesen. Öhm, falls es was offizielles ist weißt du ja, dass ich den dann vor der Hausgemeinschaft verlesen muss, so die Bestimmungen.“
„Wenn es nicht ausdrücklich persönlich ist“, sagte Lunera leicht vergrätzt. Musste Tara sie immer daran erinnern, dass offizielle Schreiben der Bruderschaft nur von ihr vorgelesen werden durften?
Die Briefkastenklappe klappte mit lautem Klonk wieder zu. Auf der Einwurfklappe erschien jedoch keine neue Schrift.
Lunera trug den Brief in das Zimmer dass sie mit ihrem neuen Gefährten teilte. Der war gerade draußen bei den Helfern, die die druidischen Schutzzauber auffrischten. Als sie den Brief las entstand zwischen ihren Augen eine immer größere Falte. Ihre Stirnadern traten pochend immer deutlicher hervor, und über ihr Gesicht legte sich eine dunkle Röte. Das was sie da las ließ ihr Herz wilder und wilder pochen. Sie fühlte das Kribbeln auf der Haut, dass sie vor Wut gleich in die Wolfsgestalt wechseln mochte. Nur durch konzentriertes Atmen und den Blick in die Junisonne über Glenfield Brooks schaffte sie es, die ungewollte Verwandlung von sich fernzuhalten. Doch ihre Wut kochte wie Wasser im glühenden Kessel. Zu gerne würde sie den Brief zerreißen. Doch sie wusste, dass Tara sie auf jeden Fall fragen würde, was in ihm stand. Es war leider nicht nur persönlich, denn der Brief enthielt eine Schilderung über den Ausgang des Entscheidungskampfes. Es machte sie auch nicht wütend, dass Fino im Kampf getötet worden war. Das war eben das Los dessen, der als Anführer überleben wollte und einen Herausforderer gewähren ließ und sich nicht mit ihm auf eine friedliche Abstimmung einigte. Was sie wütend machte war, was nach dem Kampf verlangt wurde und mit welcher Begründung sie persönlich dazu aufgefordert wurde, den Sieger vor Zeugen anzuerkennen, ja ihm die Füße zu küssen wie eine ganz niedere Dienerin die ihres Königs oder Kaisers. Soweit kam es noch. Doch da stand was, dass sie nicht als nur ärgerlich aus dem Bewusstsein wegwischen konnte. Sie fand sich zwischen ihrer Pflicht, Tara den Brief zum allgemeinen Vorlesen zu übergeben und dem Wunsch, diese Unverschämtheit zu zerreißen und in tausend Fetzen im Klosett hinunterzuspülen. Ja, und dann erkannte sie noch, dass ihre Wut, die schon fast zu loderndem Hass entflammte, aus Angst entstanden war, nicht um sich selbst. Der Briefschreiber hatte verdammt genau gewusst, wo er Lunera packen konnte, falls stimmte, was er androhte. Er? Sie musste es mit Tara klären, ob die auch vermutete, was Lunera gerade durch den vor Wut pochenden Schädel ging. Sie klatschte den Brief von einer Hand in die andere. Dann atmete sie noch einmal durch und brachte das Stück Pergament zu Tara, die bereits im großen Ballsaal des Gutshauses war, der als Versammlungssaal und auch als Festsaal genutzt wurde.
„Ah, doch was offizielles, Lunera?“ fragte Tara. „Zum einen ja, zum anderen eine reine Unverschämtheit, die ich nicht als reine Respektlosigkeit abtun kann. Lies bitte selbst und sag mir, ob du den so öffentlich verlesen kannst?“
„Tara las den Brief einmal und dann noch einmal. Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Dann las sie ihn noch einmal halblaut, dass Lunera mithören konnte:
„An die sich verbergenden Schwestern in England, vor allem die Witwe unseres großen Gründers Espinado!
Ich bin León del Fuego. Ich habe den Kampf um die Nachfolge gegen euren ehemaligen Gönner Fino nach den Regeln der sieben Gebote gewonnen. Deshalb bin ich nun der oberste Bruder der Mondgeweihten. Sicher, du, Lunera, hast sicher damit gerechnet, dass Fino mich mit einem seiner Tricks überrumpeln kann. Doch diesmal hat er sich selbst über- und mich unterschätzt. Jetzt treibt sein Körper in den Fluten des Amazonas. keine Angst, die kleinen Fresserfische tun dem nichts, weil die kein starkes Wolfsblut vertragen und auch kein Fleisch, dass da mal von durchströmt wurde.
Nun, wo ich nach Fug und Recht der Mondgemeinschaft die Schlüssel Espinados erhalten habe muss ich feststellen, dass mir drei davon offenbar die Gefolgschaft verweigern, weil ich sie nicht in die dafür vorgesehenen Schlösser stecken kann, ohne dass die mir regelrecht die Finger wegbrennen wollen. Sommer, Herbst und Winter sind also für mich gerade nicht aufzuschließen. So geht das natürlich nicht. Ich weiß jetzt auch warum. Die Schlüssel sind nicht ganz frei gewesen, weil du sie damals Fino übergeben hast, ohne dass sein und dein Blut dafür fließen mussten. Offenbar empfand dein verstorbener Gatte und Schutzherr es nicht als statthaft, die Schlüssel einfach ohne Kampf weiterzugeben. Sicher, vor mai nächsten Jahres darf kein neuer Kampf stattfinden. Aber das muss auch nicht sein, wenn du im Namen der Bruderschaft folgendes befolgst:
Begib dich mit allen erwachsenen Bewohnern deiner neuen Heimstatt zu mir auf die Hacienda Fortaleza Luna Ascendienda! Tritt vor mich hin und begrüße mich mit den Worten: „Gruß dir, oberster Bruder, siegreicher Führer der ehrenwerten Mondbruderschaft! Dann knie vor mir nieder und küsse mir den rechten Fuß zweimal und den linken einmal und warte, bis ich dir erlaube, wieder aufzustehen. Dann werden alle Schlüssel mir gehorchen. Doch mit der Anerkennung meines Sieges wirst du dich in die neue Rolle einer Dienerin fügen und alles tun, was ich dir befehle. Du magst finden, dass dies weit unter deiner Würde ist und dass ich dich nicht dazu zwingen kann. Da bist du im Irrtum. Ich wusste das selbst erst, als ich den Sekretär von Bruder Fino, möge seine Seele im Lichte des Mondes baden, aufschließen konnte. Wusstest du, dass dein schlanker Weggefährte seinen Sohn und deine Tochter in den Nächten vor und nach dem ersten Vollmond ihres eigenen Lebens mit einem besonderen Schutzzauber belegt hat, dass sie nicht mit magischer oder körperlicher Gewalt angegriffen und getötet werden können? Solange sie sich immer näher als vierfache Rufweite sind kann ihnen niemand etwas antun. Diesen Zauber kannte ich bisher nicht, muss ein alter Zauber aus dem Morgenland oder vielleicht dem legendären Atlantis gewesen sein. Doch wie jeder große Zauber hat dieser besondere Schutzbann einen Preis. Fino hat offenbar gedacht, dass keiner das je herausfinden wird, dieser Dummkopf. Der Preis lautet: Wenn die beiden mit gemeinsamem Schutzzauber nicht näher als vierfache Rufweite beieinander sind und eines davon keine leiblichen Eltern mehr hat, so vergeht der Schutzbann und wird zur immer stärkeren Schwächung, je mehr vollmonde die Kinder danach erleben. Das heißt so viel wie, dass wenn die zwei nicht ständig in vierfacher Rufweite zusammensind sterben beide innerhalb von fünf Monaten. Wie genau hat Fino nicht beschrieben, weil ihm das wohl auch nicht so wichtig war. Er hat nur erwähnt, dass er sicherstellen muss, dass er sehr verängstigt war, als Alejandros Mutter in den Tod ging. jetzt magst du sagen, dass er dir das nie erzählt hat. Natürlich nicht, weil er dich nie für wirklich gleichrangig angesehen hat. Du warst nur die Bettwärmerin und mögliche Brutmutter für den großen Gründer Espinado, keine wirkliche Zauberin. Warum sollte er dir das erzählen?
Ja, und jetzt noch was, dass dir garantiert nicht gefällt, Lunerita mia. Stirbt das elternlose Kind vor dem Ablauf der Gnadenfrist, ohne seinen magischen Kraftpartner wiederzusehen und die Schutzwirkung wieder zu verstärken, so stirbt in dem Moment auch das zweite Kind, auch wenn es nicht Blutsverwandt ist. Jaha, da hat der gute Fino offenbar zu sehr darauf gehofft, dass du immer brav mit deiner kleinen Lykomeda in seiner Nähe bleibst, als Vorzeigedame, dass er immer noch die Gunst des großen Gründers sicher hat. Jetzt ist auch klar, warum er dich nicht zum Nachfolgekampf herausgefordert hat, Mädelchen. Er hätte bei deinem Tod auch das Leben seines Sohnes gefährdet und für das von diesem Elektrorechnerbändiger ausgebrütete Balg mitsorgen müssen, damit sein Sohn nicht stirbt. Ja, und hättest du ihn getötet, ohne dass er dir vorher erzählt, welchen fragwürdigen Schutz er auf sein und dein Kind gelegt hat, dann hättest du seinen Sohn gefährdet, wenn du ihn verstoßen hättest oder hättest ihn in deine Obhut genommen, um ihn gegen die Interessen seines Vaters zu erziehen. Jetzt ist auch klar, warum er Alejandro bei sich behalten wollte und warum er zuließ, dass du Lykomeda mitnimmst. Irgendwann, wenn ihm deine Aufsässigkeit zu viel geworden wäre, hätte er dir das geschrieben, dass Lykomeda stirbt, wenn er stirbt und Alejandro den Schutz beider Eltern endgültig verloren hat.
jetzt, wo ich das weiß überlege ich mir sehr, ob ich Alejandro nicht schön weit weg bringe und so vor dir und allen anderen verstecke, dass keiner ihm helfen kann. Dann wird deine kleine Lykomeda langsam aber sicher dahinwelken wie eine Blume in der heißen Sommersonne. Doch was nützt mir das? Ich brauche zur pechschwarzen Mondfinsternis noch einmal alle vier Zeitschlüssel, um Espinados ganzes Erbe und alles, was Fino und wen er noch so ins Vertrauen zog in den entsprechenden Zauberkerkern verstaut hat. Alejandro mag dir genauso egal sein wie mir, auch wenn er der Sohn deiner geliebten Schutzbefohlenen Nina ist. Aber ich gehe doch ganz stark davon aus, dass du es nicht über dein Mutterherz bringen wirst, die kleine Lykomeda dahinwelken und verdorren zu sehen, ohne was dagegen tun zu können, außer ihr den Gnadenstoß zu geben vielleicht. Also hast du nur eine Möglichkeit. Du kommst mit der Kratzbürste Tara, ihren beiden Schwestern und wer sonst noch in eurer Gemeinschaft wichtig ist und bezeugst vor denen und meinen Getreuen durch oben erwähnte Demutshandlung deine Unterwerfung unter mein Wort und meine Macht. Ihr habt bis zur Nacht vor Vollmond im August zeit. Bis dahin werde ich wohl von allen, die meinen Sieg ehrlich begrüßen die erwähnte Anerkennung erhalten haben. Bist du bis dahin nicht bei mir und hast mich als neuen Herren anerkannt gebe ich dem kleinen, elternlosen Alejandro den Gnadenstoß, damit er nicht so lange leiden muss. Vielleicht fällt deine Kleine dann einfach tot um oder sie verwest innerhalb von Minuten oder verbrennt in einem magischen Feuer zu Asche, vielleicht jenes blaue Schmelzfeuer, das lebendes Fleisch und Blut frisst. Das willst du ganz sicher nicht! Komm also gefälligst noch vor dem Vollmond im August auf die Hacienda und unterwirf dich mir, damit deine kleine Tochter am leben bleiben darf und ich alle vier Schlüssel der Zeitverliese benutzen kann!
Ach ja, und wenn die goldäugigen Schwestern, die genauso schönes feuerrotes Haar wie ich haben diesen Brief lesen sollten und dir abzuraten wagen weißt du wenigstens, dass du denen auch nicht mehr wichtig bist und sie kein Problem damit haben, Lykomeda sterben zu sehen. Ja, vielleicht bringen sie sie sogar um, um mir das Unterpfand zu entreißen, dass ich gegen dich in Händen halte, Lunerita. Dann wird es mir eine unbändige Freude sein, euch von dieser geheimen Hacienda in England zu ehrlosen und rechtlosen Mondschattenkriechern zu erklären, die von jedem treuen Bruder und jeder gehorsamen Schwester auf Sicht getötet werden können, sobald ihr euch in deren Revier verirren solltet.
So spreche ich, der oberste der Mondbrüder, Leon del Fuego, rechtmäßiger Nachfolger des großen Gründers Cortoreja Espinado.“
Tara senkte den Brief und sah Lunera an. Diese wusste gerade nicht, was sie denken und sagen sollte. Dass Fino vieles gemacht hatte, ohne ihr zu erklären, wie genau wusste sie. Doch das hätte er ihr doch eigentlich erzählen müssen, dass er was mit den Kindern gezaubert hatte. Hätte er das? Leider stimmte es, dass Fino sie immer nur deshalb geachtet hatte, weil sie den Trank brauen konnte und weil sie Espinados getreue Gefährtin und Nachfolgerin gewesen war. Ja, und solange sie die sieben Schlüssel hatte, von denen der Frühlingsmondschlüssel gleich nach einem Kampf die Geheimkommode des amtierenden Anführers aufschließen konnte, solange musste er sie auch anerkennen. Konnte es also auch sein, dass er die beiden Kinder bezaubert hatte, um sich ihr gegenüber ein Druckmittel zu sichern, dass sie ja immer bei ihm blieb?
Dann kam sie wieder auf das, was ihr beim Selbstlesen aufgefallen war und was nun, wo Tara den Brief halblaut vorgelesen hatte noch stärker bei ihr nachwirkte. Der Schreibstil des Briefes passte nicht zu diesem rothaarigen Rüpel. Der konnte vielleicht lesen und schreiben. Aber sein Wortschatz war so unterentwickelt, dass der niemals so hochtrabende Formulierungen und poetische Gleichnisse wie das mit der welkenden Blume benutzt hätte. Der hätte sicher was geschrieben wie: „Tja, Lunerita. Dein Fino hat dir ein gemeines Ding verpasst. Wenn sein Kind stirbt geht deins auch tot. Also mach, dass ich den kleinen nicht selbst umbringe!“ Ja, so ungefähr hätte León formuliert. Hatte da vielleicht wer anderes den Text vorgesprochen oder ihm eine Vorlage geschrieben, die er nur mit seiner Hand abzuschreiben brauchte? Wem traute sie das zu? Besser, wem traute er zu, dass er keinen peinlichen Murks abschrieb und sich damit selbst zur Lachnummer machte?
„Wie gut kanntest du León?“ fragte Lunera Tara. „Gut genug um zu wissen, dass ich von dem nichts wissen will und schlecht genug, dass ich nicht weiß, was der demnächst alles anstellt, wenn der sich schon derartig über unschuldige Kinder auslässt. – Achso, nein, ich werde Lykomeda nicht umbringen und auch nicht zulassen, dass jemand anderes das tut. Ich werde keine Kinder opfern, nur um diesem Großmaul einen Grund zum Triumph zu geben.
„Das freut mich sehr zu hören, Schwester Tara. Doch was machen wir, falls stimmt, was er schreibt, wenn das überhaupt sein eigener Text ist.“
„Ach, das meinst du mit deiner Frage von eben, wie gut ich ihn kenne. Stimmt, vom Wortschatz her ist das hier das Schreiben eines gebildeten Menschen. Das hat mich auch gerade gewundert, dass der viel besser schreiben als sprechen kann. Gut, viele von uns schreiben wohlformulierter als sie frei sprechen. Aber zwischen dessen Wortschatz und dem Brief hier liegen ein Neumond und eine Sommersonne. Du denkst, das ist nicht sein Text? Wäre nicht das erste mal, dass eine Schreibkraft ihrem Chef einen Entwurf für einen Brief gibt, den er an einen anderen Chef oder eine andere Chefin schicken will. Hmm, ist da nicht dieser kleine Dicke, den Leóns Schwiegercousin Bohnenstange in Buenos Aires rekrutiert hat?“
„Der ist kein Zauberer und würde so also nicht wissen, wie heftig der formulieren muss, um selbst mich Kratzbürste zu zähmen, zumindest das zu denken“, knurrte Lunera. „Aber Leóns Süße, die mit dem süßen kleinen Mund, die ist eine sehr kundige Hexe, die Zauber aus der alten und neuen Welt kennt. León hat sicher auch nie was vom alten Atlantis gehört, über das sich die Zauberergelehrten ja schon lange streiten, ob es das überhaupt mal gegeben hat“, sagte Lunera.
„Es gibt etliche Hinweise, dass es mindestens ein starkes magisches Reich in der grauen Vorzeit gegeben hat, in dem die magischen Menschen gottgleiche Kräfte hatten und wo mächtige Gegenstände entstanden sind“, sagte Tara. „Wir hatten es doch schon häufig von dieser Spinnenhexe, die uns auch immer mal wieder beharkt hat, als du noch die Anführerin warst. Die hat ein magisches Schwert, das angeblich oder wahrhaftig aus dem Erbe dieses alten Reiches stammt. Ja, und León hat da sicher nie was von gehört, dieser Präriehund.“
„Schwester Tara, du sprichst von unserem höchst offiziellen neuen Anführer“, erwiderte Lunera mit vor Ironie überlaufendem Tadel. „Solange ich dem nicht die Füße küsse habe ich den eben nicht anerkannt und werde den auch nicht anerkennen, Lunera. Ja, und was die Drohung angeht, so kennen Lorna, Maura und ich einen Zauber, der besonders auf Blutsbande und Wechselwirkungen auf verschiedene magisch durchtränkte Wesen wirken. Ich brauche dafür nur dich als Medium. Dann kann ich rausfinden, ob in deiner Kleinen wirklich so eine magische Zeitbombe tickt, die in mehreren Monaten losgeht oder schon vorher ausgelöst werden kann. Nur die Frage, ob Fino dir echt mal was nicht erzählt hat, was mit euren Kindern ist? Ich meine, der war so schlau der dünne Bursche, dass der garantiert nichts angestellt hätte, was seinen eigenen Sohn gefährdet hätte, ob aus direkter Nähe oder beliebiger Entfernung. Abgesehen davon sind Lykomeda und Alejandro weder halbe noch ganze Geschwister. Ich glaube, jemand auf dieser Mondaufgangshacienda in Sombreronien hält uns ausgebildete Hexen für total naiv. Ich prüfe das mit Lorna und Maura und dir nach, ob an der kleinen Medi was unschönes dranhängt. Falls ja, dann können wir das dadurch abschwächen, dass wir sie im Perithanasia-Schlaf quasi auf der Schwelle zum Tod schlafen lassen. Das blockiert dann alle durch ihren Blutkreislauf in Schwung gehaltenen Zauber beziehungsweise verzögert die auf einen Wert, dass für den Schlafenden in hundert Jahren erst ein Jahr vergeht. Das ist genug Zeit, um ein Gegenmittel zu finden oder uns den kleinen Alejandro zu holen, damit der und sie friedlich weiter aufwachsen können. Ja, und falls der rote Löwe und seine Angetraute bluffen, also behaupten, was in der Hand zu haben, aber in wirklichkeit gar nichts in der Hand haben, dann fällt uns sicher was ein, um denen das nächste Mondscheinpicknick zu versauen“, erwiderte Tara nun sehr, sehr entschlossen klingend. Lunera erkannte, dass auch sie sich in ihrer Ehre gekränkt fühlte und dass sie das weder León del Fuego noch seiner Briefeflüsterin durchgehen lassen würde. Sie atmete auf, weil ihr klar wurde, dass Fino sie niemals so hintergangen hätte und dabei sein eigen Fleisch und Blut gefährdet hätte. Das Fino tot war musste sie akzeptieren. León hätte sonst keinen Brief an sie schicken können.
Tara verlas mit Luneras Erlaubnis vor allen anderen die Zeilen, die sich auf den neuen Anführer und seine Bedingung für die Anerkenntnis bezogen und las auch die Drohung, dass eine Zuwiederhandlung seiner Aufforderung sie alle zu Geächteten machen würde. Wie zu erwarten stand löste das laute Proteste aus, ob sie alle dann nur noch in den Grenzen von Glenfield Brooks weiterleben durften.
„Es steht jedem hier frei, auf die Hacienda Fortaleza Luna Ascendienda zu reisen und sich León del Fuego zu Füßen zu werfen“, sagte Tara. „Ich rate jedoch dazu, erst einmal uns vier Leitwölfinnen auskundschaften zu lassen, welche Bedingungen an dieser Unterwerfungszeremonie dranhängen. Abgesehen davon gebe ich diesem Burschen, der zum neuen Anführer geworden ist gerade mal ein Jahr Zeit, bis ihn wer anderes herausfordert, der von der Intelligenz und Stärke her überlegen ist. Dieser Bursche hat sich im Grunde ein Jahr Zeit geliehen. Soll er damit glücklich werden.“ Wieder setzte ein zwischen Verstörtheit und Verärgerung schwingendes Raunen ein. Dann durfte Lunera sprechen. „Leute, in dem Brief stehen auch klare, sehr verletzende Zeielen gegen mich persönlich, weil ich Finos beste Mitstreiterin war und er jetzt meint, mich demütigen zu dürfen wie er will. Genau deshalb stimme ich unserer Anführerin zu, dass wir erst einmal herausfinden, was er genau mit uns vorhat, außer dass er wohl eine Liste zu beißender Zauberer und Hexen anlegt, um sich in der Welt besser aufzustellen.“
„Ja, und wenn der uns echt zu vogelfreien erklärt, rücken dann irgendwelche Killerkommandos aus?“ wollte Pete wissen. Darauf meinte sein Vetter Hank: „Ganz sicher nicht. Das würde ja Personal binden. Abgesehen davon können wir uns ja locker hier einbuddeln und uns wie Igel und Bären im Winterschlaf einkuscheln, bis dieser Typ selbst vom Thron geschubst wird. Der will haben, dass wir vor dem kuschen und dem die Füße küssen, wo wir nicht mal wissen, ob der sich die vorher wäscht.“
„Örrgs!“ machte Pete. Tara übernahm wieder das Wort und wiederholte ihre Ansage, wie es erst einmal weiterging. Dem stimmten alle zu. Dann wurde gegessen.
In der Nacht, im Licht des nicht ganz vollen Mondes, vollführten die drei McRore-Schwestern zusammen mit Lunera und Lykomeda einen rituellen Tanz, bei dem sie den von Tara erwähnten Zauber wirkten. Hierbei kam ihnen zu gute, dass sie alle dasselbe Geschlecht hatten und die vier Erwachsenen bereits Mutter geworden waren. Es war ein Zauber, der die Kraft aus Mond, Erde und Wasser bezog und stammte aus der Zeit des Überganges vom reinen Ritualzauber zum von Zauberstäben kanalisierten Direktwirkungszauber. Jedenfalls wussten sie danach, woran sie waren, und das machte sie froh, auch die kleine, reine Lykomeda.
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König Pangianaandaruthan der vierte sah immer noch überragend anziehend aus, dachte der vor seinem Thron aus nachtfarbenem Holz kniende Gefolgsmann, der wegen seiner Findigkeit Angorkaharian, Beweglichkeit des Geistes genannt wurde. Der hochgewachsene Herrscher trug das mitternachtsblaue Gewand mit den vier goldenen Verzierungen, die die vier Pfeiler der Mitternacht darstellten: Unabhängigkeit vom Licht, Überlegenheit, Verborgenheit und Grenzenlosigkeit. Auf dem Kopf mit dem bis zu den Schultern herabfallenden Feuerbergkristallfarbenen Haar ritt der aus der Haut eines schwarzen Feuerbläsers gemachte Reif mit den drei mal zwölf schwarzen Kristallkugeln, die jede für sich aus einer anderen bergigen Gegend der Weltkugel herbeigeschafft und geformt worden waren. Die Augen des Herrschers strahlten im Licht der unter der Decke schwebenden Lichter wie die Meeresoberfläche bei Mittagslicht aus mehr als tausend Längen Abstand. Pangianaandaruthan hatte in seinem dreihundert Sonnenkreisen zählenden Leben zehn willige Frauen besessen, die zusammen sechzig Kinder von ihm bekommen hatten. Daher wurde der Herrscher, dessen Königsname Erhabener König des abwesenden Lichtes bedeutete, auch als Niresjiarmirian, Vater der sechzig, bezeichnet, doch nur, wenn er nicht in der Nähe weilte. Denn eigentlich war es für einen König der Mitternächtigen verpönt, die Wonnen der Fruchtbarkeit zu genießen und immer wieder neues Leben hervorzubringen. Denn das wahre Ziel der Mitternächtigen war ja das Ende allen ungeordneten Daseins, und das Leben an sich barg so viele wege der Unberechenbarkeit in sich.
„Ich grüße dich, Angorkaharian, höchst gelehriger Schüler des einstigen Heerführers Uboriaikurian, wacher Beschreiter des vom Licht gemiedenen Weges. Es erfreut meine Seele, dass du zu jenen machtvollen Streitern unserer Bestimmung gehörst, die meinen Ruf gehört haben“, sprach der herrschende König der Mitternächtigen zu dem vor seinem Thron knienden.
„O großmächtiger Beherrscher der vom Licht gemiedenen Wege, siegreiche Klinge der wahren Herrschaft, Stimme der längsten Nacht am Ende der Welt, Gebieter über Leben und Tod der Menschen, höchster Diener der alles endenden Nacht, ein treuer Diener der alles endenden Nacht tritt vor dich hin“, erwiderte Angorkaharian den Gruß auf die gebotene Weise.
„Du bist der vierte und somit letzte Diener der alles endenden Nacht, der meinen Ruf der Macht vernehmen konnte. Somit kann ich verheißen, dass in der längsten Nacht des gerade beschriebenen Zeitenkreises die Entscheidung fallen soll, wer mir auf den Stuhl des höchsten Dieners nachfolgen soll. Da ich ein Gebieter über euch alle wurde bleibt mir das Tor zur Halle des gläsernen Rates verschlossen. Aber ich denke, dass meine allererste Nachwuchserbringerin, die Herrin der tödlichen Schattenkräuter, auch ohne mich dort weiterbestehen kann, zumal ja ihre Mutterschwesterntöchter Kaliamadra und Iaighedona dort schon weilen. Doch gebietet die längste Nacht, dass ihr höchster Diener nach sieben Achteln seines natürlichen Lebens den Tod zu sich ruft. Doch vorher muss er wissen, wer ihm nachfolgt. Du bist also einer der vier, die in zwei Kämpfen um dieses erhabene Amt fechten werdet. wer siegt wird mein Nachfolger sein. Wer unterliegt nimmt die Ehre mit in die ewige Dunkelheit, dass er uns bis zum letzten Atemzug gedient hat. Da du den Ruf vernommen hast bist du bestimmt, diese beiden Kämpfe zu führen, Angorkaharian. Widersetzt du dich der Bestimmung, so werde ich dich gleich hier mit der Klinge aus mitternächtigem Erz in die lichtlose Nachwelt befördern, wo deine Seele jedoch zerrinnen wird. Also, wie entscheidest du dich?““
„Ich wähle die Bestimmung und werde um den Platz auf dem Stuhl des höchsten Dieners der alles endenden Nacht streiten, mein Gebieter“, erwiderte Angorkaharian. „Darf ich wissen, wer die drei anderen sind, wider die ich anzutreten habe?“
„Diese Frage ist vermessen. Denn die Antwort gebührt dir nicht, Angorkaharian“, erwiderte der Träger der nächtigen Kopfbedeckung und deutete auf die auf der Mitternachtsseite des Herrscherstuhles hängende Hülle aus schwarzer Feuerbläserhaut, in der die aus reinem Feuerbergkristall bestehende Klinge des Herrschers steckte. Angorkaharian verstand und bat für seinen Fürwitz um Verzeihung. „Die alles endende Nacht wird entscheiden, ob sie deinen Fürwitz verzeiht oder nicht“, sagte der König. „In zwanzig Nächten, wenn der Vater Himmelsfeuer sich vollständig zum neuen Beilager mit der alles Leben gebärenden und ewig fruchtbaren Mutter zusammenfindet, wird deren die Nächte bewachende Tochter, unsere sogenannte Himmelsschwester, ihr helles Gesicht mit dem Schleier des Blutes bedecken. Dies ist seit Zeiten der wahrhaftige Zeitpunkt für den Kampf der Nachfolge. Stell dich dann im Raum des Anwärters aus Abendlichtrichtung im Worak Iailuunoori ein und erwarte den Ruf zum Zweikampf. Dann und nur dann wirst du erfahren, wider wen du antreten sollst.“
„Ich höre und gehorche, o mein Gebieter, höchster Diener der alles endenden Nacht“, erwiderte Angorkaharian und erwartete, von seinem ranghöchsten Wegbegleiter fortgeschickt zu werden.
„So bezeuge durch dein Blut, dass du mein Gebot vernommen hast!“ befahl der Herrscher. Angorkaharian machte die Geste der Bejahung. Er sah, wie der Gebieter eine kleine, mit Pech geschwärzte Glasflasche aus der in Mitternachtsrichtung ligenden Armlehne des Herrscherstuhles nahm, sie entkorkte und dem Knienden hinhielt. Dieser griff unter seinen mitternachtsblauen Ordensumhang und ergriff den jedem Diener der alles endenden Nacht anvertrauten Blutdolch. Er zog ihn frei. Die rote Klinge am schwarzen Griff schimmerte im Schein der schwebenden Lichter. Mit einem schnellen Schnitt in seine gerade der Mitternachtsrichtung zugewandten Hand öffnete er seine Haut und ließ das ihm entströmende Blut in die bereitgehaltene Flasche hineintropfen. Was danebenging wurde vom Boden selbst wie von einem durstigen Schwamm verschluckt. Erst als die Flasche so voll war, dass nur noch der Korken darin Platz finden konnte zog der Gebieter das Gefäß zurück und verkorkte es wieder. „So werde ich dein Blut der Schale der Bestimmung übergeben, die auswählen wird, gegen wen dein erster Kampf geführt werden soll. Somit entsende ich dich unversehrt an Leib und Seele, auf dass du stark und kundig zum Entscheidungskampfe antreten magst.“
Mit diesen Worten fühlte Angorkaharian, wie die sich selbst zugefügte Verletzung verheilte. Der letzte Tropfen Blut aus der Wunde fiel zwischen seine Beine und verschwand im dunklen glatten Steinboden. Angorkaharian erhob sich und ging ohne weiteres Wort hinaus. Denn wenn der Herrscher wen verabschiedete, so galt dies als das letzte bei der Anhörung zulässige Wort.
Angorkaharian verließ den gleichseitig viereckigen Saal der Anhörung durch die Tür in Abendrichtung, durch die er gemäß seinem eigenen Weg aus der Heimatgegend hereingekommen war. Hier würde er also zum Zeitpunkt der blutverschleierten Himmelsschwester wieder sein und warten, bis er gerufen wurde, um in der tiefsten Halle innerhalb der Grundmauern des Worak Iailuunoori den hoffentlich ersten von zwei Kämpfen zu bestreiten. Hierbei, so wusste der Anwärter, waren alle Kenntnisse erlaubt, um den Gegner oder die Gegnerin in den Tod zu befördern. zehn mal zehn andere Dienerinnen und Diener der alles endenden Nacht würden auf den Rängen über der Kampffläche zusehen.
„Ich werde die Kämpfe gewinnen und der neue Herrscher der Mitternachtsgetreuen sein. Denn nur ich vermag es, wider die verhasste Lichtfolgerherrscherin zu bestehen, um die alles endende Nacht in die Welt zu rufen. Widerwärtiges, von Lebensverehrung vergiftetes Weib“, dachte Angorkaharian, während er die vielen sich windenden Treppen nach oben stieg, bis er den über der Erdoberfläche liegenden Fuß des Turmes der längsten Nacht erreichte. Er dachte daran, dass er dann auch erfahren würde, was in der Spitze des Turmes wirkte, um das nachtschwarze Bauwerk in den Mantel des Hasses und der Körperschwächung einzuhüllen. Nur wer eine ausdrückliche Einladung des Königs oder seiner Aufgabenverteiler im Turm erhielt konnte für zwei Zwölfteltage in diesen Schutz hinein- und unversehrt wieder hinausgelangen.
„Ich werde obsiegen, unwichtig wen mir die alles endende Nacht gegenüberstellt“, dachte der Anwärter auf die Königswürde. Doch so ganz sicher fühlte er sich nicht. Es gab in der Geschichte seines Volkes und vor allem der Mitternachtsfolger genug Beispiele, wo ein sicherer Sieger durch einen überraschenden Kunsttgriff des Gegners niedergeworfen wurde. Vor allem empfand er eine verhasste Angst, wenn er daran dachte, dass er gegen eine Magd der alles endenden Nacht anzutreten hatte. Diese widerwärtigen Geschöpfe verbanden die Fruchtbarkeit und das Verlangen, verwelkendes Leben zurückzunehmen der Erde mit der Gnadenlosigkeit der längsten Nacht. Er dachte daran, dass seine Muttermutter die mit Abstand schlimmste dieser dunklen Mägde war. Konnte es sein, dass sie ihn auch noch im Kampf um die Königswürde herausfordern mochte? Falls ja, dann war er sich seines Sieges nicht so sicher. Es sei denn, seine neueste, heimliche Erfindung erfüllte ihren Zweck, die starke Wehr der gefräßigen Schatten, die in einem den ganzen Körper umschließenden Panzer aus Mitternachtseisen wirkte und alle den Tod herbeiführenden Gewalten verschlang oder auf das Wesen zurückwarf, das diese Gewalten anwendete. Er war froh, noch einige Nächte Zeit zu haben, um die letzten Feinheiten seines Schutzes auszufeilen und seinen Körper zu üben, sich darin zu bewegen.
Als er außerhalb der von rotblauen Lichtentladungen durchzuckten, dunkelblauen Nebelwand um den schwarzen Turm der längsten Nacht herausgetreten war konnte er den kurzen Weg gehen, um aus Golaritan, der Stadt in der Mitte des großen Landes, in seine eigene, von starken Schutzbannen umhüllte Behausung zurückzukehren. Sollte er sich heute noch einmal eine Gespielin nehmen, um jede angestaute Lust auszuleben, damit sein Kopf frei von solchen körperlichen Begehrlichkeiten war? Nicht heute. Erst wollte er die Rüstung der Schatten auf Tauglichkeit prüfen.
Er durchquerte einen Gang, in dem nur seine Augen sehen konnten, was dort war. Er öffnete eine nur auf seinen Körper und eine Folge stumm ausgesprochener Zugangswörter zu öffnende Tür und betrat seine Werkstatt.
Auf einer runden Erhebung stand ein Gebilde aus Wachs, dass dem Bewohner dieses Hauses nachempfunden war. Es war von Kopf bis Fuß in eine völlig lichtschluckende Panzerung eingehüllt. Der Kopf wurde von einem Helm mit erhobener Schutzklappe geschützt. Eigentlich gehörten diese Körperpanzer eher zu den Folgern von Erde und Feuer, wenn sie aus verstärkten Muschelschalen bestanden auch zu den Folgern des Wassers. Jene, die sich für die Vertreter der allerhöchsten Kräfte hielten schworen auf Schilde aus reiner Kraft wie den Mondschild der Luftt- und Mondvertrauten, den Mantel der gleißenden Sonne oder den Mantel der lähmenden Entschlossenheit, was die Lichtfolger auch als Mantel des achtbaren Friedens bezeichneten. Doch Frieden, so hatte er gelernt, war nur der erholsame Schlaf des Krieges. Je länger er dauerte, desto wütender und kraftvoller hielt der Krieg danach Ernte. Daher taten die Mitternachtsfolger alles, um den Krieg nicht zu lange schlafen zu lassen und schürten ihn mit seinen Lieblingsgaben, Neid, Angst und Hass. Denn auch die Mitternachtsfolger wussten, dass wenn sie von der Erde verschlungen wurden, würde diese noch ewig neues Leben hervorbringen und erst der Tod von Vater Himmelsfeuer würde die alles endende Nacht herbeiführen. Das war sicher viel zu spät.
„So werde ich noch die Verteilung der Machtzeichen prüfen, ob der Panzer vollständig umschließt. Ich bin gespannt, was der alte Massenvater sagt, wenn ich derartig gewappnet zum Kampf antrete. Verbieten darf er es mir nicht, weil alle Kenntnisse und Künste erlaubt sind, also auch die Kunst des Schmiedens“, dachte Angorkaharian verächtlich und befingerte die Schließen der von ihm in zwanzig Nächten geschmiedeten Rüstung. Er dachte noch daran, dass er dafür siebenhundert Menschenseelen, alles Unbegüterte, getötet hatte, um genug vom Unlichtkristall zu ernten, um diesen mit Eisen und mehrfach mit Blutvergießen gewonnenen Silber zu verschmelzen. Er hatte lernen müssen, dass das so erzeugte Mitternachtsmetall nur solange schmiedbar blieb, solange er die rotenFlammen der hungrigen Glut im Schmiedeofen am brennen hielt. Sobald das Metall die Dunkelheit eines fensterlosen Raumes oder die der Nacht berührte härtete es unzerstörbar aus. Also galt es, die nötigen Kraftzeichen vorher an die dafür nötigen Stellen zu bringen und sicherzustellen, dass die beweglichen Teile weiterhin beweglich bleiben würden.
Angorkaharian, die Beweglichkeit des Geistes, dachte daran, wieviele Teile Unlichtkristallstaub, wieviel Eisen und wie viel durch Raub und Mord gewonnenes Silber er zusammenbringen musste, um das lichtschluckende Mitternachtseisen zu erschaffen. Er dachte auch daran, dass das zehnmal stärkere Mitternachtsmetall nur mit einem Fünftel selbstgeförderten Himmelsbergerzes erschaffen werden konnte. Wenn er König sein würde wollte er sich einen Vorrat davon zulegen. Doch jetzt galt erst, dass er die Rüstung prüfte und im Zweifel noch eine zweite Rüstung schmiedete, um die verbliebenen Fehler auszuräumen.
Tatsächlich stellte sich heraus, dass die Rüstung an sich unzerstörbar war, jedoch der sie bei geschlossenem Gesichtsschutz umfließende Schattendunst bei jeder Bewegung zerfloss. Also stimmte da was nicht in der Anbringung der Kraftzeichen. Erst nach drei Zwölfteltagen wusste er, wo er die nötigen Zeichen eingravieren musste. Dann begann er mit der Herstellung einer weiteren Rüstung.
Die Schmiedewerkstatt lag im unsteten roten Schein des hungrigen Feuers, das nur brannte, wenn es immer wieder mit kleinen, lebenden Tieren wie Mäusen, Ratten, Spinnen oder Kerbtieren gefüttert wurde. Nach und nach entstanden neue, rot glühende Platten. Nur die Handhüllen des dunklen Schmiedes bewahrten ihn davor, sich an dem glühenden Metall zu verbrennen. Er schmiedete die festen Stiefel, die beweglichen Beinschinen, den festen Unterleibsschutz und den starken Bauch- und Brustpanzer und den Rückenpanzer. Dann das Halsgelenk, in das der Helm eingesetzt werden konte, dann den Helm mit dem verschließbaren Gesichtsschutz mit den beiden Sehschlitzen. Er beachtete nicht die Zeit, die er dafür brauchte. Er gravierte mit einem aus den Resten des Ausgangsmaterials geformten Stichel und einem Hammer die Kraftzeichen für schlingende Dunkelheit, Lebensraub und gefrorenes Dunkel an die betreffenden Stellen. Als die Rüstung dann vollendet war und der schwitzende Schmiedemeister seine Werkzeuge fortlegte besah er sich sein Werk.
Noch glühte die Rüstung im dunklen Rot des sie erhitzenden Feuers. Jetzt musste er sie mit den Sprüchen der erhabenen Kraft und den dabei erbrachten Gedanken belegen, um sie einsatzbereit zu machen. Er opferte Blut von sich und sprach die Formeln, die zu den eingravierten Kraftzeichen gehörten, sodass diese immer wieder weißblau aufglühten und Blitze durch die Rüstungsteile schickten, um die Macht auf die gesamte Wehr zu verteilen. Dann war er fertig und löschte das auf kleiner Flamme gehaltene Feuer ganz aus. Die Rüstung kühlte jetzt ab. Er löschte auch das Licht in der Schmiedewerkstatt und verließ diese. Jetzt konnte die Rüstung die nötige Dunkelheit in sich aufnehmen, um schier unzerstörbar zu werden.
Als er nach wie im Fluge vergangenen Tagen und Nächten die letzten Übungen damit beendete und sicher war, dass er sich ohne Anstrengung schnell und zielbestimmt bewegen konnte übte er noch die ihm am besten erscheinenden Kampfzauber und Schildaufhebungszauber ein. Die Worte des schnellen Todes wollte er nur benutzen, sobald er diese vom Gegner oder der Gegnerin hörte.
Die Rüstung unter dem blauen Ordensgewand versteckt betrat er in der Nacht der vom blutigen Schleier verhüllten Himmelsschwester den Warteraum in Abendrichtung. Gleich würde der Herrscher der Mitternachtsfolger ihn zum Kampf rufen. Doch mochte es sein, dass erst jene beiden Gegner gegeneinander antraten, von denen er einen im hoffentlich zweiten und letzten Kampf antreffen sollte.
Er lauschte. Er hörte, wie durch die schwere Tür die Stimme des Herrschers drang und hörte auch, dass er zwei ansprach. Doch er nannte keine Namen. Erst als die beiden in Anwesenheit des Herrschers und der von ihm ausgewählten Zeugen kämpften hörte er, dass eine Magd der alles endenden Nacht dabei war. War das die einzige von den dreien?
Die Geräusche der aufeinander prallenden Zauber erklangen ein Zwölftel eines Zwölfteltages lang. Dann erklang das Klangerz des errungenen Sieges. Die Zuschauer jubelten oder seufzten, je danach, wer dem Sieger den Sieg gönnte oder enttäuscht war, dass der andere unterlag. „Du, warte in deinem Raum. Ihr da, bringt die entseelte Hülle hinaus zur Verbrennungsstätte“, hörte er Pangianaandaruthans Anweisungen. „So war es gleich soweit. Dann würde er um die Ehre kämpfen, der höchste Diener der alles endenden Nacht zu sein. Er vertraute auf seine Schattenrüstung.
„Nachfolgeanwärter im Raum des Abendlichtes, tritt heraus und stelle dich deinem ersten Gegner“, klang die Stimme des Herrschers unvermittelt aus denWänden. Angorkaharian sah, wie die Tür aufschwang und den Weg freigab. Mit seinem gläsernen Kraftausrichter in Form eines Stabes trat er in den blutrot erleuchteten Saal ein.
Der Nachfolgeanwärter hatte keine Augen für die auf den Rängen sitzenden Zuschauer. Er sah nur den Herrscher, der auf halber Höhe des Saales in seinem schwarzen Herrschersessel saß, von einer grünen Schale umschlossen. Dann sah er, dass aus der Tür in Mittagsrichtung ein kleiner Mann in mitternachtsblauen Gewändern heraustrat. Angorkaharian atmete auf. Es war kein Weibsstück, und schon gar nicht eines aus dem Gefolge seiner Muttermutter. Es war Runurandarian, jemand, dem unterstellt wurde, seine Mutter sei eine wegen einer Laune der großen Mutter entstandene Frau mit kleinem Wuchs. Das Gesicht des Gegners wirkte wie eines der Pelzmännchen, die in den unberührten Wäldern wohnten. Das war also sein Gegner, dachte Angorkaharian und war sich sicher, dass sein Gegner denselben Gedanken hatte.
Keiner im Saal machte ein Gerede um Angorkaharians besondere Kleidung. Womöglich dachten viele, dass diese schwarze Metallkleidung ihn eher behindern als ihm nützen würde. Da würden sie gleich aber anders denken, dachte Angorkaharian.
„Betretet den Kampfplatz. Wenn das Klangerz des Kampfes ertönt streitet mit allem was ihr könnt um den Sieg. Der, der stehend und am leben bleibt siegt“, sprach der Herrscher. Er vergab keine Zeit mit einer großen Vorstellung.
Die beiden Gegner traten in das rot glühende Feld aus vier gleichlangen Linien. In dem Augenblick, wo er über die Linie trat schloss er mit der freien Hand den Gesichtsschutz. Leise Klickend rasteten die Verschlüsse ein. Jetzt mochten alle sehen, dass seinen Körper ein dunst aus nachtschwarzer Kraft umfloss.
Unverzüglich begann der Kampf. Der Gegner des Gepanzerten schien sich in zehn Ebenbilder zu verwandeln, die alle zugleich auf ihn losgehen wollten. Doch neun von zehn auf Lichtstrahlen reitenden Kampfzaubern waren dann doch nur Täuschung. Der eine, der echt war prallte laut scheppernd ab und zersprühte laut prasselnd. Angorkaharian rief „Katarash!“ – Weiche Trug. Die zehn gleichzeitigen Gegner verschmolzen in einem Lichtblitz zu einem einzigen. Jetzt wusste er, auf wen er zielen sollte. Doch als er einen Schlag der gnadenlosen Pein austeilte sah er, wie der andere blitzschnell zur Seite sprang. Pong! Der Fluch Angorkaaharians verpuffte an der unsichtbaren Sperrwand des abgesteckten Kampfplatzes. niemand rief oder sagte etwas. Denn wer die Kämpfenden antrieb oder mit Schmähungen überschüttete durfte vom Herrscher mit Zauberkraft oder der schwarzen Klinge der alles endenden Nacht getötet werden. Das waren die Regeln des Nachfolgekampfes.
Angorkaharian erkannte, dass der andere auf Täuschung und blitzartiges Ausweichen setzte. Er versuchte ihn mit Fangflüchen zu bändigen, schickte verschiedenfarbige Feuerbälle aus oder glühende Dunstwolken, die auf den Geist des Gegners wirken sollten. Immerhin musste er keine eigenen Verteidigungszauber rufen, weil die Rüstung wahrlich alles ableitete und zurückprellte. So konnte er sogar doppelt so viele Angriffszauber wirken als sein Gegner, der jedoch offenbar von einem besonderen Beweglichkeitszauber erfüllt war. Dann sandte der Gegner einen tiefschwarzen Speer aus, der bei ungeschützten Zielen den Verlust von Körperkraft und Körperwärme bewirkte. Der Speer der Winternacht, wie er auch genannt wurde, prallte laut krachend von Angorkahaarian ab und schnellte wie eine wütende Schlange in Richtung seines Gegners. Keinen Herzschlag später wurde er am Kopf getroffen und fiel zu boden. Angorkahaarian setzte nach, indem er selbst den Speer der Winternacht beschwor und diesen in die nun gut anzielbare Brust seines Widerstreiters hineinjagte. Dieser zuckte noch einmal. Dann blieb er reglos liegen.
Die Begrenzungslinien des Kampfplatzes glühten nicht mehr. Das war das Zeichen, dass einer der Kämpfer tatsächlich tot war.
„Der Kampf ist entschieden!“ rief der Herrscher. Das Klangerz des Sieges erscholl. Jetzt durften die Zuschauer Laute von sich geben. Doch niemand dort auf den Aussichtsrängen sagte etwas.
„So kehre in den Warteraum des Abendlichtes zurück. Diener, schafft die entseelte Hülle des Besiegten hinaus zur Verbrennungsstätte!“ befahl der Herrscher.
Nach einigen Dutzend Herzschlägen des Wartens wurde Angorkaharian und der Sieger des ersten Kampfes in den Saal zurückgerufen. Angorkaharian atmete auf. Es war nicht die Magd der alles endenden Nacht, gegen die er antreten musste. Ihm zum Kampf stellte sich Oguriaiborithar, der Herr der Feuerbläser, der von seinem Vater her die mächtigen Anrufungen des heißen Elementes erlernt hatte. Doch Angorkaharian lächelte ihn nur an, bevor er wieder über die nun wieder glühende Linie des abgegrenzten Kampffeldes trat und seinen Gesichtsschutz schloss.
Der Kampf dauerte gerade vier Herzschläge. Angorkaharian schickte gleich den Speer der Winternacht los. Doch der prallte auf einen bläulich flirrenden Schild, wohl ein Uneiszauber. Dann flog Angorkaharian ein blutroter, lodernder Feuerball entgegen. Laut krachend prallte dieser auf den Schwarzen Dunstschleier um den Gepanzerten. Mit einem ohrenbetäubenden Knall, gefolgt von einem lauten Fauchen, zerbarst der Feuerball zu einer blutroten Flammenwolke, die den Gegner Angorkaharians einhüllte, durch den blauen Schild drang und ihn dann in blutrotem Feuer verbrennen ließ, bis nur noch sein hellrot glühendes, für zwei Herzschläge noch aufrecht stehendes Knochengerüst zu sehen war. Dann klapperten die vonKleidung, Fleisch und Blut befreiten Knochen zu Boden. Ihre Glut erlosch. Stille trat ein.
Die roten Grenzlinien des Kampfplatzes erloschen. Der Sieg war vollendet. Der Sieger hieß Angorkaharian.
„Getreue und wackere Gefärhten auf dem Weg zur alles endenden Nacht, seht euren neuen obersten Sprecher, die neue Stimme der alles endenden Nacht, Klinge der längsten Nacht, Gebieter über Leben und Tod aller Menschen!“ rief Pangianaandaruthan. Jetzt jubelten alle Zuschauer, wohl eher Pflichtgemäß als aus eigener Überzeugung.
„Tritt vor mich hin, mein Nachfolger!“ befahl der noch lebende Herrscher. Angorkaharian gehorchte, nachdem er seinen Helm wieder geöffnet hatte. „Wohl ein treffliches Stück machtvoller Schmiedekunst, dass du für diese beiden Kämpfe angefertigt hast, Bruder“, sagte der Herrscher. „Vermagst du die Kopfbedeckung abzunehmen?“ Angorkaharian bestätigte es und löste die Verbindungen des Helmes zum restlichen Panzer. Er klappte den Helm zurück. „So knie zum letzten mal in deinem langen Leben nieder, Angorkaaharian!“ befahl der Herrscher. Der Gepanzerte gehorchte. Leise scheppernd trafen seine gepanzerten Beine den Boden. Hoffentlich konnte er gleich wieder aufstehen!
„Ich, Pangianaandaruthan, vierter dieses Namens, erkläre dich, Angorkaharian aus den Grasländern des Abendlichtlandes, zu meinem von der alles endenden Nacht bestimmten Nachfolger in allen Ämtern und Gebräuchen, allen Rechten und Pflichten. Empfange die Zierde unserer Herrschaft und erweise dich ihr immer als würdiger Träger!“
Mit diesen Worten nahm Pangianaandaruthan den schwarzen Lederreif mit den schwarzen Kristallkugeln von seinem Haupt und setzte ihn seinem Nachfolger auf. Dieser spürte, wie die besondere Kopfbedeckung sich seiner Kopfform anglich und fühlte kurz mehrere Stiche in seine Kopfhaut. Der Zierrat nahm sein Blut in sich auf. Erkannte der nachtschwarze Reif ihn als seinen neuen Herren an, dann konnte niemand ihm diesen vom Kopf reißen, wenn er ihn nicht selbst ablegte. Erkannte der Reif ihn nicht an, würde er den Unwürdigen das Schädelinnere ausbrennen. In diesem Fall würde der Vorgänger wieder zum Herrscher. Doch dann musste der jede Mittwinternacht gegen zwei andere Kämpfen, um weiter herrschen zu dürfen. So war es der Brauch.
Doch der Reif erwärmte sich nur, kribbelte ein wenig und beruhigte sich dann. Wieder erscholl Jubel im Saal. Offenbar hatten die auf dem Reif befestigten Zierkugeln geglüht und damit den Herrscher bestätigt. Zumindest hatte Angorkaharian das von seinem Vatervater so erzählt bekommen, der einem Nachfolgekampf beigewohnt hatte.
„Ich, Pangianaandaruthan, ein treuer Diener der alles endenden Nacht, knie vor dir, mein Herrscher!“ sagte der gerade abgedankte Herrscher und sank selbst auf die Knie. Angorkaharian stand wieder auf. „Mit welchem ehrwürdigen Namen dürfen wir dich von heute bis zum Ende deiner Herrschaft ansprechen?“ fragte der nun kniende, während andere Diener dem neuen Herrscher eine seinem Rang gerechte mitternachtsblaue Gewandung über die schwarze Rüstung zogen.
„Ihr dort alle, Diener und Mägde der alles endenden Nacht, hört meinen neuen Namen und nennt ihn in der gebührenden Achtung!“ rief Angorkaharian. „So wähle ich den Macht und Ehrfurcht gebietenden Namen Iaxathan, Herr der Nacht“, sprach der neue Herr der Mitternächtigen. Erst wurde es wieder still. Dann setzte leises Tuscheln ein. Aus dem Tuscheln wurde ein missbilligendes Murmeln. Der neue Herrscher blickte nach oben und sah in sehr verdrossene Gesichter. „Möchtest du diesen Namen wirklich führen, Herr über Leben und Tod?“ fragte Pangianaandaruthan über das verdrossene Murmeln hinweg. „Ja, ich werde diesen Namen führen. Ich bin Iaxathan, höchster Diener der alles endenden Nacht, Herr über Leben und Tod!“ rief der neue Herrscher. Dabei sah er alle dort oben an, als suche er sich aus, wer von ihnen gleich sterben sollte. Stille trat wieder ein. Der, der vorhin noch Angorkaharian geheißen hatte, wusste, welche Unverfrorenheit er mit seiner Namenswahl begangen hatte. Denn „Herr der Nacht“ durfte sich keiner Nennen, weil jeder hier ein Diener eben dieser einen alles endenden Nacht war. Doch wenn der Herrscher seinen Namen wählte und verkündete, dann musste sein Volk ihn anerkennen, bis zum Ende der Herrschaft. Das sagte nun auch Pangianaandaruthan laut genug, dass es alle hören konnten. „So bitte ich dich, Iaxathan, Her über Leben und Tod, Stimme der alles endenden Nacht, dass ich mein körperliches Dasein auf dieser Welt beenden und in die Gefilde der alles endenden Dunkelheit hinübergehen darf“, sagte er noch. „Es ist dir gewährt, Bruder“, sagte Iaxathan.
Vor allen Zuschauern zog der ehemalige Herrscher den Blutdolch, das Zeichen seiner Bruderschaft, zielte damit auf seinen Bauch und vollführte einen tödlichen Schnitt durch die wichtigsten Adern. Der Dolch erglühte hell, während der nun dahinscheidende Vorgänger Iaxathans mit verkrampftem Gesicht zu Boden fiel. Er gab keinen Laut des Schmerzes von sich. Ja, kurz vor dem allerletzten Atemzug legte sich ein erleichtertes Lächeln auf das Gesicht des abgedankten Herrschers. Sein Werk war getan.
„Seht Iaxathan den ersten, unseren neuen Herrscher!“ rief einer der wohl als Leiter der feierlichen Handlungen eingeschworen war.
iaxathan setzte sich auf den nun freien Herrscherstuhl und ergriff den Griff der schwarzen Klinge der Nacht. Dieser erbebte kurz. Doch dann hatte das Schwert seinen neuen Herren anerkannt.
Als er befahl, die entseelte Hülle seines Vorgängers zur Verbrennungsstätte zu tragen meinte er, in einen blutrot leuchtenden Schacht zu stürzen. Dabei fühlte er etwas wild an seinem Bauch pochen. Dann dehnte sich der kreiselnde Strudel zu einer weiten, rot glühenden Kugelhalle aus, aus der ein dünner, gleichmäßig pochender blauer Strahl zu ihm verlief und ihn da selbst im blauen Licht erleuchten machte. Iaxathans eben noch erfreuter, ja triumphierender Geist stürzte in eine Woge aus Enttäuschung, Wut, Angst und Selbstverachtung. Er hatte das alles gerade eben nicht erlebt, sondern nur erinnert. Doch an diesem Ort waren Erinnerungen gleichbedeutend mit Verrat an der eigenen Sache. „Ich danke dir, Giriainaansirian, dass du mir ohne Anwendung von Schmerzen alles offenbart hast, was ich brauche, um die von dir erfundenen Schattenrüstungen nachschmieden zu lassen“, hörte er eine überlegen klingende Frauenstimme um sich herum. Da dachte er auch, dass schon einmal jemand ihm das Geheimnis der Schattenrüstungen abgerungen hatte, dieser sterbliche, Vengor, den er als seinen neuen Knecht halten wollte. Doch die, die ihn jetzt überrumpelt hatte war wesentlich schlimmer als dieser armselige Machtsucher Wallenkron. Er wusste, dass er eines seiner größten Erfolgsgeheimnisse ausgeplaudert hatte. Er wusste auch, dass dieses ihn in sich gefangenhaltende Ungetüm ihm weitere Geheimnisse entlocken konnte. Wieso hatte er das nicht gemerkt, dass sie ihm einen solchen verräterischen Traum geschickt hatte? Doch für Selbstvorwürfe war es zu spät. Denn der, der früher Iaxathan geheißen und der größte Fluch seiner Zeit und Vorbild unzähliger Dämonenfürsten gewesen war, verfiel wieder in den tiefen Schlaf des unbedarften Ungeborenen.
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Am vierten Juni bekam Narzissa einen Brief von Draco. Er schrieb, dass er besorgt sei, dass sich seine Schwiegerverwandtschaft mit „Leuten in Texas“ auf eine Blutfehde einlassen mochten, weil es Streit zwischen Astorias Großvater väterlicherseits und Leuten von dort gegeben hatte und „der alte Alan“ dabei gestorben sei. Mehr wollte Draco dazu nicht schreiben.
Narzissa las ihrem Mann am Abend den Brief vor, weil sie fand, dass er das wissen sollte. Lucius musste erst grinsen. Doch dann machte er ein sehr ernstes Gesicht:
„Draco und du wisst, dass ich die Greengrasses nicht sonderlich mag und ich ihm diese Ehe nur deshalb habe durchgehen lassen, weil ich da wusste, dass es eine Hexe aus einem über zwanzig Generationen reinblütigen Zaubererstammbaum ist. Aber wenn sich der alte Goldkrämer Alan Greengrass echt mit wem in Amerika herumgeschlagen hat und dessen Kronprinz Auric jetzt findet, auf Blutrache auszugehen schreib unserem eigensinnig gewordenen Sprössling, dass der sich auf gar keinen Fall auf sowas einlassen soll. Ja, und du darfst ihn gerne von mir grüßen, dass alles, was er und ich uns gegenseitig zu sagen hatten und weshalb ich ihm die Tür weisen musste für nichts und wieder nichts war, wenn er meint, sich da hineinziehen zu lassen, nur weil er mit der jungen Greengrass ein Kind gezeugt hat.“
„Einen Sohn, Lucius. Einen Sohn, in dessen Adern auch dein Blut fließt, Lucius“, wagte seine Frau es, ihn zu belehren. Lucius eher blasses Gesicht färrbte sich rot. „Ja, einen kleinen Greengrass, der die Erbanlagen dieses elenden Feiglings Alan Greengrass in sich trägt.“
„Er heißt Scorpius Malfoy, Lucius. Er trägt deinen Namen“, beharrte Narzissa darauf, dass Dracos Kind ihr und Lucius‘ Enkel war.
„Der Kerl hat sich schon immer wie ein glitschiger Flubberwurm durch alles und aus allem heraus gewunden. Dass … dass jener, dem wir zwei mal gefolgt waren, ihn dennoch als seinen treuen Vasallen und Schatzmeister behalten hat liegt nur daran, dass er jemanden mit einem Gespür für heimlich erworbenes Gold gebraucht und ihn deshalb aus allen direkten Kämpfen herausgehalten hat. Genau deshalb konnte der Kerl auch vor dem Gamot den armen, mittellosen Mitläufer geben, der von ihm erpresst wurde.“
„So wie wir auch, Lucius. Ja, wir beide dachten damals, dass es für die Zaubererwelt richtig sei, wenn die alten Tugenden und die Reinheit des Blutes wieder eingehalten würden. Aber am Ende hat jener, den du damals abgöttisch verehrt hast, uns auch nur tyrannisiert, uns zu Sklaven im eigenen Haus degradiert, uns mit dem Leben des jeweils anderen erpresst. Was du an Alan und dessen Familie verabscheust ist, dass er nicht gezwungen wurde, sein Gold vorzuzeigen und dass er auch nicht für erwiesene Taten Abbitte zu leisten hatte. Dabei solltest du froh sein, dass uns der Gamot geglaubt hat, dass auch wir am Ende nur Opfer jenes Tyrannen, der noch dazu kein vollwertig reinblütiger Zauberer war, geworden sind und dass wir mitgeholfen haben, ihn aus der Welt zu schaffen und dass du deshalb noch frei herumlaufen und Herr in deinem eigenen Haus sein darfst“, hielt Narzissa ihrem Mann entgegen. Dessen Wutröte wurde erst noch stärker. Er erbebte förmlich vor Zorn. Doch dann erkannte er, dass sie zur dreigeschwänzten Gorgone und allen Basilisken doch recht hatte. Ja, was er an Alan Greengrass wirklich auszusetzen hatte war, dass der einfach geschickter war, seine Beteiligung an Todesserunternehmungen zu verbergen und niemand aufstand, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Lucius Malfoy atmete mehrmals ein und aus und nickte. Mehr tat er nicht, um auf die Vorhaltung seiner Frau zu antworten. Er fragte mit einer gewissen Verbitterung:
„Durfte oder wollte Draco uns nicht schreiben, was genau den alten Greengrass aus dem Leben gestoßen hat. Ich meine, das ist doch nicht viel, was er da geschrieben hat.“ Narzissa blickte noch einmal auf Dracos Brief. Dann sagte sie: „Er erwähnte, dass es um einen Entfernten Verwandten und dessen Freunde oder Mitstreiter ging. Mehr sei nicht wichtig. Ob er dabei war oder es von Astoria oder ihrem Vater gehört hat steht da nicht.“
„Schreib dem, dass der sich aus allem raushalten soll, was die Greengrasses nun anstellen. Ja, und auch wenn ich dieses Mädchen Astoria für ebenso verschlagen halte wie ihren Großvater soll der mit ihr und dem Braten, den er gezeugt hat untertauchen, falls es eine echte Blutfehde gibt.“
„Braten? Das ist mein und auch dein Enkelsohn, Lucius Malfoy“, wiederholte Narzissa verdrossen. „Auch wenn du bisher nichts von ihm wissen willst ist es dein Nachfahre, ob dir das passt oder nicht“, legte sie nach und rief damit die Zornesröte zurück in Lucius‘ Gesicht. Mit einem unüberhörbar bedrohlichen Unterton fragte er: „Wer hat gerade eben noch behauptet, ich dürfe weiterhin der Herr in meinem Haus sein? So eine Unverschämtheit muss ich mir von der, die Jahre lang mein Gold und mein Ansehen genossen hat und die froh sein sollte, dass sie ihr Erbgut mit einem würdigen Zauberer teilen durfte nicht gefallen lassen. Ich habe Draco die Tür gewiesen, weil der so aufmüpfig wurde und meinte, alle Aufmerksamkeit und väterliche Sorgfalt mit Undank zu beantworten. Bring mich nicht darauf, dich auch für immer aus dem Haus zu jagen. Denn anders als deine blutschänderische Schwester Andromeda findest du sicher kein neues Zuhause mehr.“
„Es geht mir nicht darum, dir was vorzuwerfen oder gar gegen dich aufzubegehren, Lucius“, sagte Narzissa leise und scheinbar eingeschüchtert. „Es geht mir nur darum, dass es unserem gemeinsamen Sohn weiter gut ergeht, auch wenn er es gewagt hat, dich zu kritisieren und sich gegen dich zu stellen, weil du seiner Meinung nach nicht besser darauf achten konntest, dass wir vor ihm, den wir über ein Jahr bei uns im Haus beherbergt haben, geschützt sind. Sicher, er hat dir vorgeworfen, du hättest ihn dazu angestiftet, auch bei den Todessern mitzumachen. Das war sehr undankbar und aufsässig. Dennoch bleibt Draco dein und mein Sohn, und jedes Kind, das er gezeugt hat oder noch zeugen wird sollte uns interessieren, auch wenn es darum geht, ob es irgendwelche Ansprüche erhebt oder nicht erhebt. Ja, und Scorpius hat bisher keinen Grund, irgendwelche Ansprüche zu erheben und stellt somit keine Belastung oder gar Bedrohung für dich oder mich dar. Also beruhige dich bitte!“
„Tja, falls Alans Sohn Auric bei dieser Blutfehde ebenfalls draufgeht braucht der Kleine ja auch nicht mehr zu uns zu kriechen. Denn dann kann der alles abschöpfen, was der alte Greengrass im Laufe seines langen Lebens an Gold zusammengerafft und in geheimen Verstecken untergebracht hat“, feixte Lucius Malfoy. Seine Frau hielt es nun für schlauer, nichts darauf zu antworten. Doch heimlich dachte sie, dass sie was dagegen tun musste, diesem mit sich selbst haderndem Mann ausgeliefert zu bleiben. Denn leider hatte er recht, dass sie nirgendwo mehr unterkommen mochte, sollte er sie verstoßen. Dann dachte sie daran, dass Bella sich sowas nie hätte bieten lassen. Sicher, die hatte sich ihm, der ihr Leben an den Rand des Abgrundes getrieben hatte, vollständig hingegeben und Rodolphus Lestrange nur geheiratet, weil er es ihr befohlen hatte. Doch sie hätte sich von dem sicher nicht vor die Tür setzen lassen. Sollte sie, die letzte wahrhaft der alten Tradition verbundene Nachfahrin der Blacks, sich derartig behandeln lassen? Dabei dachte sie mal wieder an jenen intensiven Traum, Nausikaa Thornapple gewesen zu sein. Doch das war nur ein Traum, oder nicht?
„Soll ich Draco von dir grüßen, wenn ich seinen Brief beantworte?“ fragte Narzissa Malfoy ihren Mann. „Nein, bloß nicht. Schreib ihm, was ich gerade gesagt habe, aber so, als wenn du das meinst und es nicht von mir kommt. Es sei denn, du möchtest ihm auch schildern, dass ich jetzt erst recht davon ausgehe, dass er keinerlei Ansprüche mehr an uns hat, wo seine Schwiegerverwandtschaft ja wohl jetzt richtig viel Gold erbt. Aber ich denke, die, die er geheiratet hat weiß das und er damit auch.“
„Wie du meinst, Lucius“, erwiderte Narzissa.
Die Auseinandersetzung hatte Narzissa und Lucius derartig aufgewühlt, dass er mal wieder vorzog, in seinem Studierzimmer zu nächtigen. Das kam der ebenso aufgewühlten Narzissa ganz recht. Denn sie wusste jetzt, dass Lucius sie sofort aus dem Haus jagen würde, wenn sie es noch einmal wagen sollte, ihn mit den Angelegenheiten Dracos und Scorpius‘ zu behelligen.
So lag sie einmal mehr allein im großen Himmelbett im Elternschlafzimmer des Hauses Malfoy. Sie brauchte einige Zeit, um in den Schlaf zu finden.
Im Traum fand sie sich mehrere Jahre zurückversetzt mit ihrer da noch höchst lebendigen Schwester Bellatrix vor Snapes verstecktem Haus in Spinner’s End stehen. Beide wollten ihn dazu bringen, Draco bei der Ausführung seines Auftrages zu helfen, von dem nur Bellatrix wusste, worin dieser bestand. Doch Severus Snape war noch nicht da. Das einzige was Narzissa sah war eine dicke Ratte, die auf der Fensterbank neben der Tür hockte und mit ihren winzigen Augen ins Freie glotzte. „Wurmschwanz, wir sind’s! Mach die Tür auf!“ rief Bellatrix der fetten Ratte zu. Doch diese erschrak und sprang dann vom Fensterbrett herunter. Sie huschte unter eines der Möbelstücke und blieb dort. „Wurmschwanz! Mach sofort diese Tür auf! Wir sind’s, Bella und Narzissa“, schrillte Bellatrix sehr ungehalten. Fast hätte sie wohl noch gerufen, dass sie im Auftrag des dunklen Lords kämen. Doch das hätte Wurmschwanz oder Snape nachprüfen und als Ausrede entlarven können, wusste Narzissa. Daher nickte sie ihrer Schwester zu. „Gut, wir verschwinden noch einmal“, flüsterte Bellatrix unter der Kapuze ihres Umhanges hervor.
Beide disapparierten und trafen sich im Boudoir von Bellatrix wieder, um die nächsten Minuten oder Stunden aufzufüllen. Sie sprachen über das, was der dunkle Lord wohl demnächst suchen würde, nachdem es ihm leider misslang, die ihn betreffende Prophezeiung zu erbeuten. Dabei kam Narzissa auf jenen Richtbaum irgendwo in Wales. Ihre Schwester erschrak, als sie davon hörte. Doch als Narzissa sie fragte, was sie daran so erschreckte sagte die sonst so überlegen auftretende Bellatrix: „Wenn der dunkle Lord den Baum für sich haben will wird er scheitern, weil er kein aus eigenem Leib entstandenes Kind hat. Wer den Baum sonst zu finden wagt kann von dem verschlungen werden.“
„Vor allem könnte der Standort bei den missliebigen Schwestern bekannt sein, die den dunklen Lord ablehnen“, meinte Narzissa. Bellatrix wirkte darob sehr eingeschüchtert. Doch weil ihr klar wurde, dass Narzissa das mitbekam riss sie sich zusammen und sagte forsch: „Auch deren letzter Tag wird bald kommen, wenn der dunkle Lord der Herr aller magischen Wesen Britanniens ist. Ja, auch deren Tag wird kommen.“
„Aber wenn er uns wirklich danach suchen lässt, Bella?“ fragte Narzissa ihre Schwester. „Dann wohl eher dich, weil du die einzige bist, die schon ein eigenes Kind bekommen hat“, erwiderte Bellatrix mit harscher Betonung. Doch Narzissa vermeinte einen Hauch von Beklemmung in den Augen ihrer Schwester zu erkennen. Dann sagte diese: „Ja, und auch wenn dieser Muggelfreund Dumbledore unseren Stammsitz hat verschwinden lassen, dieser elende Bastard, so könnten im alten Turm der Thornapples noch Aufzeichnungen liegen, die Nausikaa Thornapple angefertigt hat. Die Thornapples wussten, wo der Baum steht.“
„Ja, nur dass die Thornapples uns ausdrücklich den Zutritt zu dem Turm verweigert haben, Bella. Die wollen mit ihrem alten Erbe nichts mehr zu schaffen haben, seitdem sie schon in fünfter Generation Heilzauberer und -hexen hervorgebracht haben“, sagte Narzissa. „Ja, weshalb die garantiert keinen Blutbrand- oder Verdorrungsfluch auf ihren Turm gelegt haben“, knurrte Bellatrix. Doch Narzissa wusste, dass ihre Schwester wusste, dass der Thornapple-Turm mit einem ähnlich wirksamen Zauber wie dem legendären Sanctuafugium-Zauber umgeben war, und auch dass die Thornapples nichttödliche Aussperr- und Abweisungszauber kannten, die auf Träger bestimmter Blutlinien einwirkten, um jede Begehrlichkeit zu vereiteln.
„Sprechen wir nicht mehr von Dairons Richtbaum“, knurrte Bellatrix. „Was weißt du von den Unlichtkristallen?“ Narzissa fragte, was damit gemeint war. Da sagte Bellatrix: „Gut, dann betrifft es dich auch nicht, wenn du nichts davon erfahren hast.“
Narzissa musste jedoch an den Richtbaum denken und dass der jemandem, der sich ihm in einer magischen Prüfung auslieferte Macht und Wissen verschaffen konnte, sozusagen ein dunkler Bruder des von den Juden und Christen verehrten Gott gepflanzte Baum der Erkenntnis. Sie dachte daran, dass nicht erst bei den Druiden Bäume als Träger magischer Kräfte verehrt wurden und die Nordleute meinten, die Erde sei eine von neun Welten, die einen viele viele Meilen hohen Eschenbaum umgaben.
Bella grinste, als ein kleiner Kristall auf ihrem Tisch zu leuchten begann. „Ah, Sir Severus geruht, in seine Residenz zurückzukehren. Gut, du gehst zu erst und apparierst nicht direkt vor der Tür, sondern an dieser Gluckerrinne, die sich Fluss nennt. Ich folge dir in zehn Atemzügen nach.“
Narzissa apparierte an der erwähnten Stelle und sah dort einen herumsuchenden Rotfuchs, der gerade die Uferböschung hinabschlich und wohl eine leere, aber für das Raubtier verheißungsvoll riechende Papiertüte zu beschleichen. Sie beachtete den Fuchs nicht und wandte sich dem Haus von Severus zu. Als sie einige Schritte ging hörte sie ihre Schwester apparieren. Diese rief ihr zu, zu warten. Narzissa wandt sich um und sah, wie Bella den Fuchs mit dem Todesfluch niederstreckte. Hatte die den für einen Spion gehalten? Jedenfalls war es keiner, wie sich herausstellte. Denn verwandelte Zauberer und Hexen wurden nach dem Tod wieder zu menschen, so wie es bei den widerwärtigen Werwölfen üblich war, vor denen selbst sie, eine abgebrühte Anhängerin des dunklen Lords, eine gehörige Angst hatte, auch deshalb, weil sie fürchtete, dass ihr Liebling Draco eines Tages von so einem Biest gebissen werden mochte.
„Komm, wir gehen zu Severus“, zischte Bellatrix ihrer Schwester zu.
Doch als sie sich Spinner’s End näherten kam ein so dichter Nebel auf, dass Narzissa weder das Haus noch ihre Schwester sehen konnte. Auch der Boden war gerade nicht zu sehen. Deshalb trat sie ins Leere und fiel laut schreiend in die Tiefe. Doch sie prallte nicht auf den Boden eines tiefen Abgrundes, sondern landete in jenem großen Himmelbett, in dem sie gerade mal wieder ganz alleine schlief. Sofort fiel ihr der Ausflug zu Snape ein, um ihn dazu zu bringen, Draco beizustehen. Doch die beiden waren unabhängig voneinander dort appariert, weil Bella noch Instruktionen vom Dunklen Lord erwartet hatte und sie, Narzissa, noch hatte abwarten müssen, bis Lucius mit den alten Kameraden alleine in seinem Studierzimmer verschwand und einen Klangkerkerzauber aufgebaut hatte. Denn der hatte nicht mitbekommen dürfen, dass sie mit Bella zu Snape wollte. Deshalb hatten die zwei nicht über den Richtbaum geredet. Ja, und warum hätte Bellatrix bei dessen Erwähnung auch so zusammenfahren sollen? Die einzige Erklärung war, dass sie selbst sich in den letzten Tagen ja mit jenem Baum beschäftigt hatte und dass Bellatrix einen unbändigen, aus blanker Angst geborenen Hass gegen die als missliebige Schwestern bezeichneten Hexen gehegt hatte. Ja, und ihr fiel ein, dass Anthelia damals wohl davon erfahren haben mochte, dass Nausikaa den Standort des Baumes gefunden hatte. Denn Nausikaas Zaubertrankflasche war mit einem kristallisierten Flammengefrierzauber belegt, der selbst im Feuerodem eines schwedischen Kurzschnäuzlers wirksam blieb. Zumindest hatte Nausikaa das in ihren eigenen Aufzeichnungen erwähnt.
Dank der kurzen Sitzung mit Bicranius‘ Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit konnte sich Narzissa sofort an jede Einzelheit der Abschriften und Nausikaas eigener Kommentare erinnern. Allerdings musste sie auch bedenken, dass es ein Traum gewesen war und dass Nausikaa diese Aufzeichnungen nicht angefertigt hatte, sondern es ein wie auch immer geäußertes Wunschdenken Narzissas war.
Sie drehte sich noch einmal herum und schlief wieder ein. Nun träumte sie, dass Lucius sie verdächtigte, mit den dunklen Schwestern zu paktieren und sie deshalb töten wollte. Als der schon „!Avada“ rief sah sie einen grünen Nebel zwischen ihr und ihm. Dann meinte sie, in einem unendlichen, bodenlosen Raum aus blattgrünem Dunst zu schweben und hörte Bellatrixes Stimme: „Finde mein Erbe, Schwester. Finde den Sohn des Königs der Bäume und vertraue dich ihm an, wie ich einst, als ich Rodolphus geheiratet habe. Nutze die Kenntnisse der Ahnin. Sie sind in meinem Geist und damit nun auch in deinem Geist enthalten. Nutze die Kenntnisse!“ Während Bellas Stimme wie aus allen Richtungen zugleich auf sie einflüsterte meinte Narzissa wie in weiter Ferne die Stimme eines kleinen Jungen zu hören: „Vertraue ihr nicht. Es ist eine Täuschung! Es ist …“ Dann wachte sie mit klopfendem Herzen und schweißgebadet auf.
„Was soll das mit dem Baum?“ fragte sie sich selbst unhörbar. „Wieso kam sie nun wieder darauf? Dann fielen ihr die aus dem Traum von Nausikaa überlieferten Aufzeichnungen ein. Was, wenn der Baum wirklich noch stand? Was, wenn Bellatrix sich ihm anvertraut hatte? Aber das konnte nicht sein, weil sie ja sonst diese dicke Haushaltshexe Molly Weasley mit einem Fingerschnippen pulverisiert hätte, geschweige denn die Granger, die verträumte Lovegood-Prinzessin und Ginny Weasley. Oder hatte sie mit denen nur gespielt und sich schlicht weg verzockt? Möglich war das? Vielleicht hatte Bella auch ein Doppelspiel mit dem dunklen Lord getrieben und war in Wirklichkeit eine der missliebigen Schwestern gewesen, dazu auserwählt, in den Reihen der Todesser zu spionieren und die eine Gelegenheit zu erhalten, den dunklen Lord zu töten. Tja, nur dass sie bei dem in Ungnade gefallen war, dachte Narzissa mit einer gewissen Verachtung. Hatte sie deshalb nicht zeigen dürfen, was sie wirklich konnte, um den dunklen Lord nicht zum vollendeten Todfeind zu bekommen? Auch das war möglich. Ja, und ebenso mochte es möglich sein, dass Bellatrix ihren Tod überstanden hatte und nun als Geist zu ihr sprechen konnte. Sie wusste, dass es Geister gab, die sich nicht in der Wachwelt eines Menschen zeigten, sondern zu denen, mit denen sie durch Blutsbande oder Seelenschicksal verbunden waren in den Träumen sprechen konnten. Ja, die ganzen Träume kamen von ihr, Bellatrix. Die hatte Nausikaas Erbschaft angetreten, ohne dass alle anderen was davon mitbekommen hatten, vor allem nicht der dunkle Lord. Ja, und womöglich hatte sie erst im gewaltsamen Tod ihres Körpers die wahre Macht des Baumes erlangt. Auch sowas sollte es geben, hatte Narzissa gelesen und nach Dumbledores Tod nicht ganz ausgeschlossen. Dann kamen die Träume von Bellatrix. Wollte diese, dass sie, Narzissa, sie beerbte? Natürlich wollte sie das. Denn Andromeda war durch die blutschänderische Vereinigung mit dem muggelstämmigen Ted Tonks und das Säugen von Lupins halblykanthropischen Sohn unrein geworden. Doch warum sollte sie, Narzissa, Dairons dunkles Erbe antreten? Da fiel ihr wieder ein, dass Lucius ihr gegenüber nicht mehr so warmherzig und großzügig war. Traute er ihr nicht? Das konnte dazu führen, dass er sie wirklich irgendwann loswerden wollte. Gut, töten würde er sie nicht so einfach. Das würde ja dem dümmsten Auroren auffallen. Aber wenn er ihrer doch überdrüssig wurde, was dann? „Finde den Baum!“ hörte sie die im grünen Dunst klingende Aufforderung ihrer toten Schwester. Doch wer war die Jungenstimme, die ihr davon abraten wollte? Die Antwort war einfach: Der Junge war ein nie geborener Sohn von Bellatrix und Rodolphus, geopfert für den Baum, um von diesem die Macht und Erkenntnis Dairons zu erhalten. Das dieser Junge nicht damit einverstanden war verstand sich. Womöglich klagte seine Seele nun, wo seine Mutter körperlich tot war und er somit seinen Wert verloren hatte. Oder es war Bellatrixes in ihm gebündeltes schlechtes Gewissen, dass ihr davon abraten wollte, denselben Irrweg zu beschreiten den sie gewählt hatte. Doch als sie das dachte sah sie wieder Lucius mit auf sie deutendem Zauberstab vor sich stehen. Soweit durfte sie es nicht kommen lassen.
Wenn der Tag der Sommersonnenwende kam wollte sie es wissen. Denn wo der Baum stand hatte sie ja aus Nausikaas Aufzeichnungen. Sie war sich nun sicher, dass Bellatrix diese gefunden und verwertet hatte. Sie wollte Bellatrixes geheimes Erbe antreten, für die Ehre der alten und immer reinen Familie Black.
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Luca Bonetti war stolz, einer der besten Rüstungsschmiede Italiens zu sein. Er trat immer wieder auf Mittelaltermärkten auf, wo er dem staunenden Volk zeigte, wie schwer und zugleich kunstvoll es war, selbst einfachste Gebrauchsrüstungen des Hoch- und Spätmittelalters zu schmieden. Selbst seine jeweiligen Standnachbarn, alles vorzügliche Waffenschmiede, bewunderten das Geschick des Meisters, der in seinem Alltagsleben Baggerfahrer bei einer Tiefbaufirma war.
In zehn Tagen hatte Bonetti seinen nächsten großen Einsatz. Da sollte er auf einem Mittelalterfest mit Ritterturnier und Gauklern seine Schmiedekunst vorführen, und zwar in einer kleinen Stadt bei New York City. Die Kosten für die Reise, das Material und den Transport übernahm ein US-amerikanischer Multimillionär, der ein ausgesprochener Fan der Ritterzeit war und der sich dafür in den Bergen westlich von Big Apple eine eigene Burg hatte bauen lassen, keine aus einem anderen Land herübergeholte, sondern original geplant und mit den Mitteln von damals errichtet. Vielleicht konnte Bonetti sich diese Burg einmal ansehen und noch vielleichter einige Aufträge für die Dekoration der Burg an Land ziehen. Er war wenigstens stolz, dass sein Englisch gut genug war.
Bonetti prüfte gerade die Werkzeuge und Ambosse, die er übermorgen verladen lassen wollte, um sie mit einem Frachtflugzeug nach New York zu schaffen. Da schnarrte die von ihm eigenhändig verlegte elektrische Klingel. Jemand war an seiner Haustür.
Vor der Tür warteten ein Mann und eine Frau in eleganter Kleidung und fragten ihn, ob er Luca Bonetti sei, der Meister der Rüstungsschmiede. Er grinste und fragte zurück: „Nennt man mich so? Könnte hinkommen, Signori.“
„Sagen wir, das Internet ist sehr des Lobes über Ihre Arbeiten. Sie haben schon die berühmtesten Ritter der Gegenwart in schimmernde Rüstungen gehüllt“, sagte die Frau vor der Tür und blickte ihn aufmunternd an. Doch sie lächelte nicht. Das kam ihm komisch vor. „Ich bin übrigens Giovanna Mantovani, Mitarbeiterin von Ribaldo Brunetti aus Neapel. Der Signore rechts von mir heißt Sean Mulligan und stammt aus der Gegend von Killarney, Irland.“
„Brunetti? Der Name sagt mir doch was. Ja, der hat das Turnier zum letzten Jubiläum der Herren von Neapel ausrichten lassen und drei Rüstungern bei mir bestellt.“
„Genau der ist das“, sagte die Frau und nickte ihrem Begleiter zu. Sie sagte diesem auf Englisch, dass sich Bonetti noch an den Auftrag erinnern könne. Der Mann sagte in eindeutig irischem Akzent: „O, dann sind wir hier ja wirklich goldrichtig, Giovanna. Wird meinen Boss sicher freuen, falls der Handel klappt.“
„Was für ein Handel?“ fragte Bonetti auf Englisch.
„Signore Mulligans Dienstherr will die besten Schmiede weltweit einladen, für ihn eine komplette Burgausstattung und zwanzig Rüstungen irischer und britischer Adeliger zu schmieden. Er hat neunzehn Kollegen von Ihnen beauftrag, nach Killarney zu kommen, wo er seine eigene kleine Burg hat. Die zehn, die vor seinen Augen die besten Rüstungen anfertigen sollen den Auftrag bekommen. Die zehn anderen erhalten eine Reise- und Arbeitsentlohnung von 25000 Euro oder den Gegenwert in Pfund, Dollar oder der Landeswährung des betreffenden. Wenn Sie den Auftrag erhalten winken noch mal satte 1,5 Millionen Euro plus 10000 Euro für jede von seinem Fachmann für exzellent befundene Rüstung.“
„Öhm, von wie vielen Ritterrüstungen sprechen wir und wie viel Zeit muss ich dafür veranschlagen. Ich meine, ich habe meinen Urlaub erst in neun Tagen und dann für gerade mal zwei Wochen und habe ein Flugticket in die Staaten, das wer anderes für mich bezahlt hat, Signora.“
„Signorina“, korrigierte die Frau den verblüfft und verunsichert zugleich dreinschauenden Schmied. „Was die Reisekosten angeht, so übernimmt Signore Mulligans Dienstherr alles und kann sogar die bereits bezahlte Flugreise ausgleichen. Ja, und was den Urlaub angeht, so melden Sie sich einfach Krank, fahren mit uns in einem diskreten Wagen zum Flughafen und reisen mit unserem Privatjet nach Irland. Als Bürger der EU dürfen Sie ja dort mit Ihrem Personalausweis herumlaufen.“
„Öhm, so einfach geht das nicht. Zum einen ist mein Boss sehr empfindlich, was Krankmeldungen vor oder unmittelbar nach eingereichten Urlaubstagen angeht. Der hat schon drei Kollegen gefeuert, weil die meinten, so ihren Urlaub verlängern zu können und dann dummerweise beim Feiern in Rom erwischt wurden, statt krank im Bett zu liegen. Zum anderen hat der Signore, der mir den Ausflug in die Staaten spendiert hat einen Vertrag mit mir gemacht, dass ich für die zwei Wochen da bin, die er bezahlt hat.“
„Aha, Sie arbeiten im Urlaub für wen anderes?“ fragte Mulligan. „Also ist das für Sie doch nicht so neu.“
„Der Vertrag bezieht sich auf die Flugreise und die Mithilfe bei einer Festlichkeit“, sagte Bonetti, der merkte, dass er sich da gerade gut verplappert hatte.
„Ach ja, die langen Nächte der alten Rittersleute in Little Waters bei New York City“, wusste es Mulligan und nickte seiner Begleiterin zu. Bonetti fand, dass er das hier draußen besser nicht weiter ausdiskutieren sollte. Er bat die beiden Besucher in sein bescheidenes Wohnhaus. „Verzeihen Sie mir bitte die Unordnung, Signorina, aber meine Haushaltshilfe kommt erst übermorgen“, sagte Bonetti. „Sieht bei mir häufig auch so aus“, sagte die Frau, die sich als Mitarbeiterin des Ritterzeitfans Brunetti ausgab.
Im Wohnzimmer ging es dann darum, dass er mit „guten Bekannten über dem großen Teich“ seit Monaten abgestimmt hatte, bei diesem Mittelaltermarkt aufzutreten, rein aus Hobbygründen. Doch seine beiden Besucher kauften ihm das nicht mehr ab. Er hatte mit dem Vertrag schon klargestellt, dass es da um Geld und eine Gegenleistung ging, also Arbeit in der Urlaubszeit. Das war auch in Italien illegal, selbst wenn nicht jeder Boss das grundweg ablehnte. Aber wehe dem, dem das Finanzamt draufkam. Im Grunde hatte er sich damit schon erpressbar gemacht. Nachher konnten die ihm abverlangen, für diesen ominösen irischen Ritterfan zu arbeiten, ohne dass er die anderthalb Millionen Euros erhielt.
„Also, krankmelden kann ich mich nicht, Signori. Ich weiß nämlich nicht, ob ich bei diesem Wettkampf der Rüstungsschmiede unter die erhofften zehn komme. Dazu weiß ich nicht, wen Ihr Boss alles eingeladen hat. Selbst wenn ich das schaffe und den Auftrag kriege ist das nur ein Honorar, aber keine Festanstellung. Oder habe ich mich da gerade verhört?“
„Nun, nachdem, was ich bei Signore Brunetti gesehen habe und was von Ihrer Arbeit im Internet gelandet ist bin ich sehr zuversichtlich, dass Sie unter die ersten fünf kommen, Signore Bonetti“, schmierte Signorina Mantovani ihm Honig um den Mund. „Ich kann mir sogar vorstellen, dass er Ihrem Boss eine Ablösesumme zahlt wie für einen hoffnungsvollen Fußballspieler, um Sie dauerhaft für sich und seinen Club der Mittelalterfreunde arbeiten zu lassen.“
„Stimmt, oft ist der Unterschied zwischen bettelarm und berühmt doch nur, wer wen rechtzeitig entdeckt und fördert“, sagte Mulligan. „Ja, und eine gewisse Berühmtheit haben Sie ja schon errungen“, stand Mulligan seiner Begleiterin im Komplimenteverteilen nicht nach.
„Hmm, vielleicht geht da was“, sagte Bonetti. „Mein Boss braucht im Moment keinen Baggerfahrer. Ich soll nur in Bereitschaft sein, weil in drei Monaten eine Baustelle bei Genua geplant ist und er kucken will, wer da alles hingeht. Wäre es sehr frech, zu verlangen, dass Ihr Boss den Arbeitslohn, den ich für die nächsten Tage bekäme an meine Firma überweist, damit die mich ziehen lassen?“
„Das müssen Sie Ihren Boss fragen, ob der nicht Lust hat, zwei Weihnachtsgratifikationen schon im Mai zu kriegen“, meinte Mulligan und nannte dann den Namen des ominösen Bosses.
Bonetti telefonierte mit seinem Vorgesetzten und erklärte ihm, dass jemand meinte, für ein Dutzend handgeschmiedeter Ritterrüstungen an die 200.000 Euro zu bezahlen, wenn er dafür schon übermorgen an den Zielort reisen dürfte. Dann ging das Gefeilsche los, bis Bonettis Chef einwilligte, sofern Bonetti sicherstellte, dass sein dreifaches Wochengehalt plus das bewilligte Urlaubsgeld morgen auf dem zweiten Firmenkonto landete. Bonetti stimmte zu und beendete das Gespräch. „Dann melden Sie sich morgen bei mir persönlich krank, und ich halte den Deckel drauf“, sagte Bonettis Chef.
Nach diesem konspirativen Telefonat gingen der eigentlich nur in der Freizeit schmiedende und seine Besucher die Reise durch. Mulligans Boss, von dem Bonetti bis dahin nie was gehört hatte, erklärte am Telefon, dass er die erwünschte „Urlaubszahlung“ leisten würde. Dann erwähnte Mulligan noch, dass sein Boss sich mit Bonettis Reiseveranstalter aus den Staaten auch noch einig werden würde.
Als die beiden fort waren dachte Bonetti, dass sowas doch nur im Traum passieren konnte. Er wusste nicht, dass er mithelfen sollte, einen Albtraum für die Menschheit mitzugestalten.
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Sie hing zwischen den Stühlen. Vor dem schmiedeeisernen Tor zum Grundstück stand Draco mit einer blauen Aktentasche unter dem linken Arm und einer blütenweißen Fahne in der rechten Hand. Doch jenseits des Tores stand sein Vater Lucius mit halb erhobenem Zauberstab. „Dad, was immer du meinst, von mir zu halten, das sollten wir klären, weil es auch dich was angeht“, sagte Draco im ruhigen Tonfall. Narzissa, die auf Geheiß ihres Mannes am Portal des Hauses wartete verfolgte die Begegnung von Vater und Sohn mit großer Unruhe.
„Ich wüsste nicht, was wir beide noch zu regeln haben, Draco. Denkst du, ich vergesse mal eben, dass du mir in meinem Haus Rückgratlosigkeit unterstellt hast, kaum dass du aus Durmstrang zurück warst? Nein, das kann und will ich nicht vergessen, undankbarer Bengel. Und was soll das mit der weißen Fahne? Meinst du echt, ich hätte derlei nötig?“
„Wie du sagtest, es ist dein Grundstück und ich möchte es in Frieden betreten“, erwiderte Draco. „Abgesehen davon müsste es dich durchaus interessieren, was mein Schwiegervater herausgefunden hat und das wir Malfoys heftigen Ärger kriegen können, sollte das bei den falschen Leuten bekannt werden. Deshalb möchte ich das mit dir und Mum in deinem Studierzimmer bereden, das ja ein Klangkerker ist.“
„Was hat Alans Sohn mir zu sagen, Draco?“ fragte Lucius Malfoy.
„Ich finde wirklich, dass das nicht unter freiem Himmel gesagt werden sollte, Dad. Habe ich alles hier in der Tasche, die diebstahlsicher ist. Aber wenn es dich nicht betrifft, was dein Großvater Anaximander mit Astorias Großvater Alan ausgeheckt hat respektiere ich dein Hausrecht und verschwinde wieder. Ich wollte das nur klären, wo mein Schwiegervater heute losgezogen ist, um die Umstände am Tod seines Vaters zu klären.“
„Gut, du kannst die Fahne runternehmen und reinkommen“, knurrte Lucius Malfoy verdrossen und ließ das Tor aufschwingen. Narzissa atmete auf, als Vater und Sohn Malfoy mit fortgesteckten Zauberstäben das Haus betraten. „Nur er und ich“, schnarrte Lucius, als Narzissa Anstalten machte, ihnen ins Studierzimmer zu folgen. So blieb sie vor der Tür. Hören konnte sie nun nichts mehr, weil das Zimmer ein Dauerklangkerker war. Doch sie sah auch nicht ein, in ihr eigenes Zimmer zu gehen, als wenn nichts gewesen wäre. So zeichnete sie sich einen bequemen Stuhl und ließ sich darauf nieder.
Während sie wartete dachte sie daran, wie sie selbst ihre Reise zum Richtbaum tarnen wollte. In fünf Tagen war Mittsommer, der längste Tag des Jahres. Sie brauchte einen Anlass, länger als einen Tag fortzusein. Denn sie wusste nicht, wie viel Zeit die Prüfung am Richtbaum beanspruchte. Am Ende musste sie mehr als eine Woche dort zubringen, weil Bäume nun einmal nicht in Minuten und Stunden zählten, sondern in Tagen und Monaten. Da fiel ihr ein, dass sie ja ihre Cousine zweiten Grades in Murrawonga, einem Zaubererdorf an der Australischen Ostküste besuchen könnte. Von der hatte sie zwar seit dem Verschwinden der Shadelake-Geschwister nichts mehr gehört. Doch das hatte sie damit begründet, dass alle, die den beiden zugetan waren untertauchen mussten und der dunkle Lord es nicht geschafft hatte, bis nach Australien vorzudringen, weil der Phönixorden und die Suche nach dem legendären Elderstab ihn zu sehr beansprucht hatten. Ja, sie könnte zu Oresta reisen. Das war die Lösung. Sie musste nur den passenden Vorwand schaffen.
Als Lucius und Draco wieder aus dem Zimmer kamen wirkten beide sehr angespannt aber nicht so, als hätten sie sich gegenseitig verprügelt oder mit Zauberflüchen drangsaliert. „Dieser alte glitschige Lurch“, knurrte Lucius. „Ich hätte es wissen sollen, dass der alles mitgeschrieben hat. Also gut, Draco, wir reisen zu deinem Schwiegervater und kriegen raus, was an der Sache dran ist.“
„Ich habe gehofft, dass du mir zumindest in dieser Sache zustimmen wirst, Dad“, sagte Draco verhalten. „Hoaky, meinen Reisekoffer mit Wäsche für mindestens zwei Tage packen!“ Bellte Lucius und eilte noch einmal ins Studierzimmer. Bevor Draco ihm nachfolgte schlug er diesem beinahe die Tür vor die Nase und verriegelte sie von innen. So wendete sich der Sohn an die Mutter. „Mum, Rias Dad will heute noch weg, den Tod seines Vaters klären. Falls Dad und ich den nicht mehr antreffen oder der sein Haus in den Belagerungszustand versetzt hat müssen er und ich ihm nachreisen. Aurics Vater hat ein geheimes Testament hinterlassen, das nicht in die Finger des Ministeriums geraten darf. Falls das was darauf steht stimmt müssen Dad und ich das mit ihm regeln, bevor Auric womöglich trollheftigen Krach mit den Texanern kriegt. Mehr möchte ich jetzt nicht sagen“, sagte er halblaut und flüsterte ihr nur zu: „Falls wir in zwei Tagen nichts hören lassen sage Astoria „“Drachendonner“. Dann erfährst du, was sie weiß.“
Gerade noch rechtzeitig zog sich Draco zurück, bevor sein Vater ebenfalls mit einer Aktentasche das Zimmer verließ. „Wir sind weg, wenn dieser alte Elf mein Zeug nicht durcheinandergepackt hat“, schnaubte Lucius und eilte die Treppe zum Elternschlafzimmer hinauf.
Nur fünf Minuten später waren die beiden fort. Hoaky meldete seiner im Haus verbliebenen Meisterin, dass die beiden die Feuerblitzbesen genommen hatten, da Draco ja einen Apparier- und Disapparierbann auferlegt bekommen hatte.
„Hmm, danke für die Meldung, Hoaky. Falls du nichts in der Küche zu tun hast darfst du dich zurückziehen“, sagte Narzissa. Der Elf verneigte sich vor seiner Meisterin und verschwand mit lautem Plopp.
Narzissa grinste. Wenn die zwei hinter Auric Greengrass herreisen mussten hatte sie genug zeit, ihre eigene Reise zu planen und durchzuführen. Sie nutzte die Zeit und suchte handschriftliche Briefe ihrer Verwandten Oresta heraus. Sie musste grinsen, als sie daran dachte, wie sie in der vierten Klasse den Scriptocopia-Zauber erlernt hatte, der die Handschrift eines anderen imitieren konnte und so den Anschein erweckte, jemand habe etwas geschrieben, was er oder sie doch nicht geschrieben hatte. Der wahr eigentlich dazu gut, um bereits erfolgreich eingereichte Hausaufgaben so zu verändern, dass jemand anderes sie geschrieben hatte, um diese dann als die eigenen einzureichen. So konnte sie nach drei gelesenen Briefen von Oresta einen Einladungsbrief von ihr anfertigen, dass sie die Wintersonnenwende in Australien erleben durfte, die für europäische Hexen und Zauberer eine besondere Wirkung hatte, da die südlichen Sternbilder im Zusammenspiel mit der längsten Nacht des australischen Jahres zu besonderen Hexenzaubern befähigten. Das Oresta sich sehr für astronomische Dinge und astrale Zauber begeisterte wusste Lucius. Er würde den Brief und Narzissas schriftliche Mitteilung, darauf zu reagieren finden, wenn er wiederkam, ob sie dann schon wieder da war oder nicht.
Nachdem sie ihre persönlichen Reisevorbereitungen getroffen hatte genoss sie das Abendessen. Allerdings hoffte sie, dass Draco nichts zustieß. Sie hatte ihm klargemacht, dass er sich auf keine magische Schlacht mehr einlassen sollte, nachdem ihn das Schicksal die Schlacht von Hogwarts hatte überleben lassen. Doch was immer er Lucius mitgeteilt hatte, es mochte dazu führen, dass er sich nicht daran halten konnte.
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Für Irland war das Wetter ziemlich angenehm. Die Sonne schien, und es war relativ windstill.
Bonetti war wie vereinbart mit einem echten Privatjet nach Beaufort in Irland geflogen und von da mit einem echten Rolls Royce mit verspiegelten Fenstern abgeholt und zu einem zweifach ummauerten Grundstück mit einer nachgebauten oder von irgendwo hierhergeschafften Ritterburg gebracht worden. Der Burgherr, der sich Raymond O’Casy nannte, begrüßte den Gast aus Italien und führte ihn in seinem Reich herum. Dabei lernte er sieben der zwanzig einbestellten Schmiede kennen. O’Casy machte wirklich den Eindruck eines im Geld schwimmenden Neureichen, der meinte, sich nun alle Träume erfüllen zu können. Jedenfalls bot die Burg mehrere Luxusunterbringungen. Aber wer wollte konnte auch das Mittelaltergefühl mit altem Himmelbett, kleinem Kamin, Wasserschüssel und Nachttopf unter dem Bett erleben und natürlich mit echten Bienenwachskerzen.
Es gab fünf Schmieden auf dem Gelände. Dass sie unter der Erde lagen und nach oben hin schallisoliert waren störte Bonetti nicht, als er erfuhr, dass die Werkräume mit einer guten Belüftung und dito Feuerbekämpfungsanlage ausgestattet waren. Das war aber auch das einzig moderne an diesen Werkstätten. Alles andere war traditionell, wie Schmiede vor 800 Jahren gearbeitet hatten.
Am Abend versammelte O’Casy alle zwanzig Kandidaten im Rittersaal, der Burg, in dem zumindest schon einige auf mittelalterlich alt gemachte Gemälde hingen. Er begrüßte die Angereisten und sicherte ihnen zu, dass sie alles zur Verfügung bekamen, solange sie ihrem Ruf gerecht wurden und wie die Schmiede der Ritterzeit arbeiteten. Doch weil O’Casy ja genau solche Schmiede ausgewählt hatte, die es öffentlich vorgeführt hatten, dass sie so schmieden konnten, bestand ja keine Schwierigkeit. „Ansonsten dürfen Sie nach Ihrer eigenen Vorgehensweise arbeiten, Gentlemen. Am Ende gilt der Grundsatz vom Mathematikunterricht: Wenn das ergebnis stimmt ist der Weg dahin unwichtig“, scherzte O’Casy. Darauf meinte ein Mitbewerber namens Karl Hackenschläger: „Na ja, aber es ist dem Lehrer schon wichtig, ob der Schüler mit Papier und Bleistift, Taschenrechner oder Großcomputer die Aufgaben löst, wenn er ihn bewerten will, oder?“
„Deshalb legen wir ja die Grundlage fest, dass Sie mit Kohle, Blasebalg und eigener Körperkraft arbeiten“, erwiderte O’Casy.
„Gut, damit kann ich leben“, meinte ein untersetzter Mensch aus Texas, den sie wohl damit geködert hatten, dass er nach seiner Heimreise nicht nur eine Menge Geld im Koffer hatte sondern mit O’Casys dortigen Kontakten weitere Dollars einstreichen konnte, wenn er die Killarney-Probe bestand.
O’Casys Köchin, Mrs. Broady, verkündete dann noch, dass sie und „ihre Mädchen“ von den verschiedenen Herkunftsländern der Gäste inspiriert jeden Tag Essen aus einem der Länder kochen würden. Heute sei erst einmal die irische Küche dran. „Besser als Hamburger“, meinte ein Deutscher Wettbewerber.
„Ey, wir können auch richtig gutes Zeug“, sagte der untersetzte Texaner.
„Dann langen Sie gut zu, Gentlemen. Ab morgen früh wird’s ernst. Jeder von ihnen muss eine Gebrauchs- und eine Turnierrüstung schmieden. Die von meinem Experten bewerteten zehn besten Rüstungen kommen weiter.“
Als Bonetti in dem für ihn vorbereiteten Zimmer im Bett lag – er hatte sich nicht auf die volle Mittelalterpackung eingelassen -, musste er doch darüber nachdenken, worauf er sich da eingelassen hatte. Das Grundstück war vollständig von der Außenwelt abgeschirmt. Sie alle hier waren Junggesellen oder auch Singles. Sie alle hatten auf die eine oder andere abenteuerliche Weise drei volle Wochen Urlaub bekommen, wurden also nicht vermisst. Dazu kam noch, dass alle, die hier hingeschafft worden waren nicht jünger als dreißig Jahre alt waren und dass es in der Umgebung kein Mobilfunknetz gab. Nur in O’Casys gut abgeriegeltem Wohntrakt sollte es sowas wie Telefon und Internet geben. Ja, und dann waren abends um neun alle Tore verschlossen worden. Das alles machte den Eindruck, in einem Gefängnis zu sein oder in einem Bunker. Der Begriff Arbeitslager mochte auch passen, nur dass mit nur zwanzig Schmieden nicht so viel produziert werden konnte. Bonetti überlegte jetzt, ob er nicht darauf ausgehen sollte, lieber die Abfindung zu kriegen und vorzeitig wieder von hier wegzukommen als es auf den Millionenauftrag anzulegen. Doch sein Vorgesetzter hielt schon die Hand auf. Zehn Prozent von 200.000 Euros wollte der noch haben. Gut, das der dem nichts von den anderthalb Millionen erzählt hatte. Doch war es so sicher, dass er die dann auch bekam, wenn er zu den zehn besten gehörte? Dann dachte er, dass er weder geheimnisvolle Militärtechnik baute noch irgendwelche Staatsgeheimnisse mit sich herumtrug. Aber das mit dem möglicherweise vorenthaltenen Honorar piesackte ihn. Am Ende bekam er auch keine Unkostenpauschale. Dann hatte er seinen ganzen Urlaub für einen Ausflug in ein abgeschottetes Feriencamp ohne großen Erlebniswert verballert. Langsam wurde ihm klar, was sein Vorgesetzter Rico und er für leichtfertige Trottel waren. Das Ereignis in Little Waters war weltweit berühmt und für seriös befunden worden. Das hier war irgendwie fragwürdig. Dann dachte er, dass er jetzt sowieso nicht mehr aussteigen konnte. Wenn er es schaffte, unter die ersten zehn zu kommen würde es sich zeigen, ob man ihn hier abzockte oder echt vor lauter im Raum herumfliegenden Geld nicht mehr wusste, wie viel davon aus dem Fenster geworfen werden konnte. Wie war das, für die die unten vor dem Fenster stehen lohnt es sich immer, wenn jemand sein Geld aus dem Fenster hinauswirft.
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Der Juni war zur Hälfte vorbei, als es bei Andrés Piedraroja mit den dunklen Träumen losging. Mal erlebte er sich, wie er durch einen völlig dunklen Urwald lief und meinte, etwas oder jemand sei hinter ihm her. Doch immer dann, wenn er den Mut aufbrachte, sich umzusehen war da nur eine dichte grüne Wand, in der es nur verdächtig raschelte. Es endete meistens damit, dass er vor eine senkrechte Steinwand geriet und dachte, etwas kröche aus dem Boden hintr ihm. Wenn er sich dann umblickte sah er mit Schrecken, dass der Weg fort war. Statt seiner war da nur noch ein breiter, tiefschwarzer Abgrund, der sich immer näher auf ihn zuschob. Wenn er dann die Wand wieder ansah erkannte er darin versteinerte Gesichter, deren Augen von einer inneren Glut zum leuchten gebracht wurden und hörte einen tief klingenden Männerchor brummen: „Befolge den Eid, Andrés! Befolge den Eid und bring uns neue Gefangene!“ Davon wachte er dann auf und fand sich mit klopfendem Herzen und schweißverklebtem Nachtzeug. Seine Frau Margarita Elena fragte ihn nach dem dritten solchen Albtraum, was er für Probleme habe. Er erwiderte, dass er eine Sache zu erledigen habe, über die er nichts sagen dürfe und hoffe, dass es möglich sei, sie zu erledigen.
In der Nacht zum 15. Juni fand er sich im Traum in einer scheinbar verlassenen Stadt wieder, die so aussah wie eine alte Aztekensiedlung, die er als junger Beamter einmal besucht hatte. Bleischwere Stille lag über den leeren Straßen und Häusern. Die gerade untergehende Sonne tauchte alles in ein tiefrotes Leuchten, wie in flammenlosem Feuer brennend. Er überlegte, ob er rufen sollte. Doch dann fiel ihm ein, dass es hier nicht angebracht war, laut zu werden.
Als er eine aus Bambushalmen und geflochtenen Lianen gebildete Brücke über einen ausgetrockneten Fluss betrat begann die Brücke zu schwingen. Er musste sich anstrengen, sein Gleichgewicht zu halten. Ein unerklärlicher Drang trieb ihn, nicht zurückzuweichen, sondern die sich wie eine Schlange windende Hängebrücke zu überqueren. Mitten darauf hörte er ein leises Plätschern. Als er es wagte nach unten zu sehen bemerkte er, dass sich das ausgetrocknet erschienene Flussbett wieder füllte. Doch es war kein Wasser, das da floss, sondern Blut. Rötliche Dampfschwaden stiegen von der Unbehagen erregenden Flüssigkeit auf. Dann leuchteten die Dunstschwaden auf. Rote Leuchtblasen schwebten nun auf ihn zu. Er meinte neben dem dahinplätschernden Blutfluss Stimmen zu hören. Dann sah er, dass sich aus den roten Leuchtblasen schwebende Körper formten, leuchtende Geister, die begannen um ihn herumzutanzen. Gleichzeitig ächzte die Hängebrücke mehr und mehr, als nähme er immer mehr an Gewicht zu. Er bangte, dass die ihn umschwebenden Geister, die eindeutig aus dem unter ihm dahinströmenden Blut aufstiegen, ihn zum Absturz bringen wollten. „Befolge den Eid!“ zischte ihm eine sehr schroffe Stimme von rechts ins Ohr. Gleichzeitig meinte er, von mehreren dünnen, roten Fangarmen umschlungen zu werden, die anfingen an ihm zu zerren. Er kämpfte sich Schritt für schritt weiter voran. Dabei kippte die Brücke mal nach links und mal nach rechts. „Befolge den Eid oder wir bekommen dein Fleisch, dein Blut, deine Seele“, raunte ihm eine merkwürdig aus dem Nichts heranschwebende Stimme ins linke Ohr. Er erkannte, dass dort ein besonders großer, leuchtender Geist schwebte, der mit seinen vier Armen wedelte.
„Hör auf den Schwur deines Blutes oder gib Fleisch und Blut für das Haus der Pein und Angst!“ erscholl nun der Ruf aus Dutzenden von Mündern. Da brach die Brücke unter ihm weg. Mit einem lauten Schrei stürzte er in die Tiefe. Das Rauschen des fließenden Blutes wurde zum Tosen. Dann hörte er nur noch sein wild pochendes Herz und das in seinen Ohren rauschende Blut. Er war wieder wach.
„Ich lass mich von euch nicht fertigmachen“, dachte Andrés Piedraroja. Seine Frau schlief gerade tief und fest. Er stand auf und schlich sich in die Küche. Dort hockte Pincho, der Hauself der Piedrarojas in einem Zwischending aus Tragekorb und Hocker. Als der beurlaubte Zaubereiminister durch die Tür kam schrak das kleine Wesen auf und kiekste: „Was befiehlt Minister Piedraroja?“
„Ich möchte Träumguttee, Pincho. Ich habe morgen noch einiges zu tun und muss ruhig durchschlafen.“
Als er sich von dem Elfen den wohltuenden, aus mehreren Zauberkräutern zusammengestellten Aufguss hgeben ließ fühlte er sich schon etwas besser. Die Wärme des Gebräus stärkte seine Zuversicht. Als er wieder im Bett lag und schlief hatte er keinen erinnerungswürdigen Traum mehr.
Als er am nächsten Tag dem residenten Heiler der Insel seine Träume schilderte sagte dieser: „Damit ist leider erwiesen, dass der Ihnen abverlangte Bluteid sich nicht einfach so auskurieren lässt wie ein Schnupfen. Die Kollegen im Raúl-Torreverde-Krankenhaus haben bisher noch keine Lösung für Ihr Problem gefunden. Aber gut zu wissen, dass der Träumguttee noch anschlägt. Daher empfehle ich Ihnen, den vor jeder Bettruhe einzunehmen. Vielleicht werden die höllengleichen Visionen dann in wohltuende Erlebnisse umgewandelt. Aber bei uralten Flüchen aus der Zeit, wo noch Schamanen und Heilstänzer den Ton in Mexiko angaben ist das nicht so sicher vorherzusagen, ob in Europa bewährte Heilmittel dagegen helfen oder nicht“, sagte Heiler Horatio Buenamano.
„Jedenfalls muss ich nicht groß fragen, was diese Träume zu bedeuten haben“, grummelte Andrés Piedraroja. Dann ließ er sich die Empfehlung für den Kräuterladen aufschreiben, wo er Nachschub für neue Tassen Träumguttee bekommen konnte.
als er dann unmittelbar vor dem Schlafengehen eine weitere Tasse davon trank fühlte er sich sofort frei und beruhigt. Doch dann träumte er davon, dass er auf einem großen Volksfest war und er ausschließlich mit Frauen in Rot tanzen konnte, während die zum Fest aufspielenden Mariachis immer wieder fröhlich erscheinende Lieder sangen, die jedoch im Kehrreim die Aufforderung hatten: „Herr Minister hör aufs Wort
bring verdorbenes Volk zum Ort.“
Dann trat ihm eine der in Rot gekleideten Tänzerinnen noch voll in den Bauch. Von dem Schmerz schrak er auf und fühlte immer noch ein schmerzhaftes Ziepen im Bauchraum. Dann kam ein ihm von vielen wilden Festen bekanntes Übelkeitsgefühl. Er schnellte aus dem Bett, fischte nach dem darunter stehenden Nachttopf und übergab sich darin. Irgendwas hatte seinen Magen zum revoltieren gebracht. Er fürchtete, dass seine Frau davon wach wurde. Doch sie schlief weiter. Er schaffte es, den unangenehmen Inhalt des Nachtgeschirrs ordentlich in das luxuriöse Wasserclosett zu entsorgen und den Topf unter heißem Wasser auszuspülen. Dann kehrte er damit zurück, wohl wissend, dass der Träumguttee nicht mehr wirkte.
Wieder träumte er von ihn treibenden Blutgeistern, nur dass er nicht mehr in einer Geisterstadt war, sondern auf einem Meer aus Blut in einem großen Einbaum dahintrieb. Immer wieder schlugen Blitze aus dunkelroten Wolken ins Meer und erzeugten einen feurigen Schwarm weiterer Blutgeister. Immer mehr von denen riefen ihm zu: „Befolge den Eid, Andrés! Bring neue Gefangene in das Haus der Buße und Pein!“
Als er vom Kentern des Einbaums aufwachte erschreckte er seine Frau. Diese grummelte, dass er Träumguttee trinken solle, wenn er andauernd so wilde Träume hatte. „Gegen wilde Träume habe ich nichts. Aber dieser Traum gerade war nur übel“, grummelte er. „Dann erzähl mir endlich, warum du sowas träumst. Hast du dich mit einem alten Aztekenzauberer angelegt oder mit einer Macumbapriesterin? Vielleicht hast du irgendwem mal ein Haar überlassen und der oder die macht Voodoo mit dir. Find das raus!“
„Ich bin dabei, und nein, es ist kein Voodoo, Maggy. Es ist ein alter Aztekenzauber, den ich loswerden muss. Keine Angst, es betrifft nur mich.“
„Das glaubst du aber, dass mich das schon interessiert, was dich umtreibt, seitdem du aus diesem Feuerrosenzauber freigekommen bist“, grummelte Margarita Elena Piedraroja.
Als er nach dem Frühstück in seinem kleinen Studierzimmer saß klopfte etwas ans Fenster. Er fragte leise: „Freund oder Feind?“ „Nur ein Postvogel!“ kam die Antwort aus allen Richtungen zugleich. Er öffnete das Fenster und ließ einen bunten Tropenvogel herein, wie er in den Regenwäldern Südamerikas vorkam. Wer hatte denn so einen Prachtvogel abgerichtet? Als er dem Vogel ein kleines, längliches Päckchen vom Rücken gebunden hatte flötete der Vogel eine wunderschöne Melodie, wie sie ein brasilianischer Uirapuru nicht schöner aufführen konnte. Dann flog der Vogel davon. „Eine Hybridenzüchtung“, dachte Piedraroja. Nach den neuen Kreuzungsgesetzen war sowas verboten. Aber wenn dieser Postvogel vorher geschlüpft war durfte der noch bis zum natürlichen Lebensende herumfliegen. Dabei war fraglich, wielange so eine magische Kreuzung lebte. Wenn in dem Vogel Anteile eines Großpapageienvogels steckten konnte der über neunzig Jahre alt werden. Sollte jemand so vermessen gewesen sein, den mit einem Phönix zu kreuzen, auch wenn der Vogel nicht danach aussah, konnte der sich womöglich selbstverjüngen und so quasi ewig leben.
Spannender als der bunte, flötende Postvogel war jedoch, wer ihm das Päckchen geschickt hatte. Denn auf dem seidigzarten Einwickelpapier prangte eine smaragdgrüne Hand mit gespreizten Fingern auf sonnengelbem Vollkreis. Er kannte dieses Zeichen. Er hatte es zuerst nach der leidigen Angelegenheit mit der Blutfehde zwischen den Fuentevivas und Torrealtas zu sehen bekommen und dabei erfahren, dass ein wohl aus Zauberern indigener Völker bestehender Geheimbund, der sich „La Mano Ayudante“, die helfende Hand nannte, zu Gunsten des Friedens in Mexiko und wohl auch anderen Ländern eingegriffen hatte. Was wollte „die helfende Hand“ von ihm? Oder vielleicht auch, was bot sie ihm an? Doch dann kam die Frage auf, zu welchem Preis sie das anbot.
In dem Päckchen befand sich eine durchsichtige Phiole mit einer blattgrünen Flüssigkeit. Doch das Gefäß war mit einem festen Stopfen aus einer Art blauem Leder und Wachs verschlossen. Als er die Phiole aus dem Päckchen freizog segelte ein zusammengefalteter Pergamentzettel zu Boden. Er hob ihn auf und las in offenbar mit Stempelfarbe gedruckten Großbuchstaben:
ANDRÈS PIEDRAROJA!
DIE GRAUE BRUDERSCHAFT WILL UM IHR EIGENES KÜMMERLICHES ÜBERLEBEN WILLEN DIE MACHT DES DUNKLEN, GIERIGEN GEISTES BEWAHREN, DER IN DER PYRAMIDE VON PEIN, ANGST UND BUßE WOHNT. DESHALB HABEN SIE DIR DEN EID VON BLUT, GOLD UND ERDE ABGERUNGEN, IHNEN NEUE SEELEN ZU OPFERN. SIE WERDEN SICH NICHT MIT VON EUCH ABGEURTEILTEN ZUFRIEDENGEBEN. DU MUSST DEN GEFRÄßIGEN GEIST DES DUNKLEN HAUSES AUS DEINEM BLUT VERTREIBEN. DAHER SENDEN WIR DIR EINE AUSREICHENE MENGE DES TRANKES DES BEFREITEN UND ERFREUTEN BLUTES, DER DEN SEGEN DER KUKAMAMA IN SICH TRÄGT. DOCH WILLST DU DIESE GABE GENIEßEN, SO MUSST DU DREI NÄCHTE HINTEREINANDER MIT DER DIR ANGETRAUTEN FRAU MINDESTENS EINMAL ZUR HÖCHSTEN LIEBESWONNE GELANGEN, WEIL KUKAMAMA DIE HERRIN VON LIEBE UND FRUCHTBARKEIT IST. NUR WENN DU IHR ZUSAMMEN MIT DEINER FRAU DREI NÄCHTE LANG HULDIGST WIRD SIE DICH VON DEM BLUTEID DER SCHWARZEN PYRAMIDE LÖSEN. ERST WENN DU DIE BEDINGUNG ERFÜLLT HAST KANNST DU DIE PHIOLE ÖFFNEN UND DEN TRANK DES BEFREITEN UND ERFREUTEN BLUTES TRINKEN. DU DARFST ABER NIEMANDEM SAGEN, DAS WIR DIR DIESE HILFE BOTEN. ES IST AN DIR; SIE ANZUNEHMEN ODER DICH GANZ DEM GIERIGEN GEIST VON PEIN UND BLUTVERGIEßEN AUSZULIEFERN. DOCH NOCH IST ZEIT! ENTSCHEIDE WEISE UND ERKENNE, WAS ZUM FRIEDEN DEINES VOLKES UND UNSERER VÖLKER NÖTIG IST! ENTSCHEIDEST DU DICH FÜR KUKAMAMAS SEGEN, SO DARFST DU AUCH WEITERHIN ALS HERR DEINES FREIEN WILLENS LEBEN.
Statt eines Absenders prangte eine auf ein Achtel verkleinerte Kopie der grünen Hand mit gespreizten Fingern am rechten unteren Rand der Mitteilung.
Piedraroja überlegte. Kukamama? Von der Göttin hatte er gehört. Sie kam im Pantheon der Inkavölker vor. Ein umtriebiges Frauenzimmer sollte das gewesen sein, bis sie von aufgebrachten Liebhabern in Stücke gerissen wurde. Ihr war die in den letzten vier Jahrzehnten zu dunkler Berühmtheit gewordene Cocapflanze geweiht, die früher nur bei rituellen Andachten gekaut werden durfte und das auch nur von Männern, die es geschafft hatten, eine Frau zur höchsten geschlechtlichen Wonne zu bringen, sich bei der Gelegenheit hoffentlich auch. Er hatte das für reine Mythologie gehalten, bis er lernen musste, was die indigenen Zauberer aus ihren Göttersagen an wirksamen Zaubern erstellen konnten. Da war es nicht mehr wichtig, ob es eine Göttin oder einen Gott gab, sondern dass die dieser Gottheit nachgesagte Kraft wirkte. Er fühlte es doch gerade, dass die alten Azteken gemeine Zauber ersonnen hatten, zu langwierig, um damit gegen Cortez und die anderen Conquistadores zu bestehen, aber mächtig genug, um nachhaltige Wirkung zu zeigen.
Er wusste, dass er diesen Brief nicht auf Stimme und Aussehen des Absenders prüfen konnte. Denn mit Hilfsmitteln gedruckte Texte gaben bei der Erscheinungsformprüfung nur ein graues, waberndes Bild, bestenfalls ein buntes Muster aus, während der Stimmenprüfzauber ein misstönendes Fauchen und Knattern hervorrief. Sollte er sich derartig um Geheimhaltung bemühten Leuten anvertrauen? Woher wussten die denn, was ihm zugestoßen war. Wer von denen, die er eingeweiht hatte, hatte denn da den Mund nicht halten können oder gemeint, wem einen Brief zu schreiben? Sollte er das nachprüfen lassen? Doch er erkannte, dass er damit wertvolle Zeit vergab. La Mano Ayudante fürchtete, dass die schwarze Pyramide ihre dunkle Kraft ausdehnen würde? Sowas ähnliches hatte Isabel Ribera auch geargwöhnt. Hing die mit diesem geheimen Bund zusammen, von dem das Ministerium zu gerne wissen wollte, wer ihm angehörte? Doch das konnte er später immer noch klären. Die Frage war doch, ob er der Nachricht und dem kleinen Geschenk trauen konnte.
Eigentlich müsste er die Phiole in ein Labor bringen und untersuchen lassen. Doch wenn das Glas unzerbrechlich gezaubert war und der Lederkorken aus Seeschlangenhaut bestand und so bezaubert war, das Gefäß solange zu verschließen, bis die festgelegte Bedingung erfüllt war, dann konnte er es nicht vorher herausfinden. Abgesehen davon bestand auch die Gefahr, dass die Zaubertrankbrauer oder Heiler den Inhalt gleich einbehielten. Dann war die Chance vertan, von diesem widerlichen Bluteid freizukommen. Wenn er daran dachte fühlte er, wie es in ihm wallte und dann sein Kreislauf schwächer wurde. Er merkte, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. In drei Tagen würde wohl der Patriarch der Fuentevivas verurteilt. Wenn die Richter auf mindestens zehn Jahre Haft erkannten galt es, dass er in die schwarze Pyramide musste. Das gleiche galt natürlich für lebenslängliche Haft. Wenn Piedraroja diese Inhaftierung ablehnte verstieß er gegen diesen Bluteid. Also musste er sich entscheiden. Nein! Noch einmal wollte er keine mordende Marionette mehr sein, ob bei vollem Bewusstsein oder in tiefer Trance gefangen.
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Weiter südlich von der Isla de las Lunas Amarillas bimmelte eine kleine Glocke in einem Glaskasten. „Ah, Aquaquani hat die Nachricht überbracht. Dann bin ich doch mal gespannt, was er damit macht“, dachte die mächtige Person, die sowohl europäische wie aus den Inkavölkern stammende Zauber beherrschte. Sie wandte sich einem bunten Wandteppich zu und berührte ihn mit dem rechten Zeigefinger an einer bestimmten Stelle. Der Teppich änderte seine Darstellung. Waren vorher noch fröhlich feiernde Männer und Frauen in einer Stadt zwischen hohen Bergen zu sehen gewesen prangte da nun das Gesicht einer sehr alten Frau mit schneeweißem Haar. „Ah, meine ehrgeizigste Schülerin“, klang die vom Alter angerauhte Stimme der abgebildeten aus dem Wandteppich.
„Der Träger des weißen Hutes hat die Gabe erhalten, große Meisterin“, sprach die mächtige Hexe auf Quechua. „Jetzt liegt es an ihm, ob er sich darauf einlässt oder nicht.“
„Wenn er es nicht tut werden die entarteten Diener siegen und dem gierigen Geist ihrer Heimstatt noch viele hundert Seelen opfern dürfen“, sprach die uralte Frau, die von den Gesichtszügen eine reinblütig südamerikanische Ureinwohnerin war.
„Was soll ich dann tun, große Lehrmeisterin?“ fragte die Besitzerin des Wandteppichs. „Eine Armee von treuen Dienern aufstellen, die das Heer der Seelensucher von deinem Land fernhält“, erwiderte das Gesicht der alten Frau. „So sei es, meine große Lehrmeisterin“, erwiderte die Besitzerin des Teppichs. Dann verabschiedeten sie sich, wobei die jüngere sich vor der Älteren verbeugte. Dann flossen die Farben auf dem Teppich durcheinander und bildeten die Szene mit den feiernden Ureinwohnern, die wohl zu Ehren Intis, Pachamamas oder Kukamamas tanzten.
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Er hatte Margarita Elena gesagt, dass er Erfolg gehabt hatte. Was immer ihm die bösen Träume beschert hatte konnte ausgetrieben werden. Dafür, so meinte er zu ihr, fühle er sich wie zwanzig Jahre jünger. Als sie meinte, das glaube sie ihm nicht bewies er es ihr am Abend. Das gefiel ihr so gut, dass sie es noch einmal wissen wollte und dann wahrhaftig überzeugt war, dass er sie immer noch wie am ersten Tag liebte, nicht nur mit der Seele, sondern auch mit dem Leibe.
Zumindest war er danach so erschöpft, dass er sich an keinen Traum erinnern konnte. Daher schaffte er es, die Nacht durchzuschlafen.
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Der Morgen brach an. Es war der Morgen nach der dritten Nacht. Er hatte es wahrhaftig geschafft, seine Frau in drei Nächten mindestens einmal leidenschaftlich zu lieben. Er hoffte, dass sie dabei wenigstens einmal pro Nacht ihre höchste Wonne erlebt hatte. Das herauszufinden war nun seine Aufgabe.
In seinem abgeschlossenen Studierzimmer nahm er die Phiole aus dem körperspeicherbezauberten Aktenschrank heraus und hielt sie ins Licht. Dann drehte er an dem Korken. Ja, der bewegte sich. Er zog daran. Mit leisem Plopp löste der lederne Verschluss sich aus dem Flaschenhals. Ein betörender Duft von unbekannten Kräuteressenzen breitete sich aus. Das war eher ein Parfüm statt ein Trank, dachte Piedraroja. Doch dann überwand er auch die letzte Hemmung. Er setzte die kleine Flasche an. Sie fühlte sich handwarm an. Dann stürzte er den Inhalt bis zum allerletzten Tropfen in sich hinein, als wäre dies der erste Schluck nach einer Woche Durst. Er schaffte es noch, die Phiole auf den Schreibtisch zu stellen, da überkam es ihn.
Es war ein so herrliches Gefühl von Erleichterung und Anregung, wie er es selbst als junger Mann bei keinem vollzogenen Liebesakt erlebt hatte. Dann fühlte er, wie sich etwas in seinem Bauch rührte. Nein, er konnte unmöglich schwanger sein. Das sich bewegende Etwas stieß gegen seine Bauchdecke, bis es schmerzte. Doch dann überwog wieder die unbeschreibliche Erleichterung. Er fühlte, wie sein Blut prickelte. Dabei hörte er eine überirdisch schön klingende Frauenstimme singen. Er erkannte nur, dass es Quechua sein musste, die Sprache der Inkastämme. Er meinte auch noch eine aufbegehrende und dann verzweifelt wimmernde Männerstimme zu hören, die „Nein, folge dem Eid. Nein! Befolge ….“ Dann wurde die singende Frauenstimme lauter, aber nicht unangenehm. Er meinte, in einer großen,, randvoll mit heißem, von unten her mit warmer Luft durchsprudelten Badewanne zu liegen. Dann sah er eine Erscheinung, eine junge, rein indigene Frau, fast noch ein Mädchen, die sich vor ihm bewegte und tanzte. Dabei kam sie ihm immer wieder nahe, dass er von ihr berührt wurde. Er meinte, jede Berührung wie einen erregenden Schauer zu erleben. Dann hörte er die junge Frau seinen Namen singen. Er streckte seine Hände aus und ergriff die der jungen Frau. Zusammen schwebten sie durch jenes wohlig warme, sprudelnde Element, bis die andere zu singen aufhörte. Der letzte Ton hallte einige Sekunden lang in seinem Bewusstsein nach. Dann endete die gesamte beglückende Vision. Keuchend fand sich Andrés Piedraroja auf dem Boden wieder. Er musste nach dem Schlucken dieses Glückstrankes vom Stuhl gekippt sein. Doch ihm tat nichts weh. Auch fühlte er sich unendlich befreit. Er wusste jetzt, dass er den tückischen Erfüllungsfluch losgeworden war. Die grauen Wächter würden keine neue Seele zum quälen mehr bekommen. Ja, als er das dachte fühlte er keine Reue und erlebte auch keine Höllenvision mehr. Sollte es tatsächlich sein, dass die Kraft ehrlicher, körperlicher und seelischer Liebe den Aztekenfluch ausgetrieben hatte? Er wollte es glauben. Bald würde er es auch wissen. „Ab dem ersten Juli wird die Pyramide mit Locorefusus-Zaubern und Zutrittssperrzaubern umgeben. Dann wird da keiner mehr reinkommen. Ja, und die nächsten Verurteilten sollen wiederverjüngt werden, wie die Gringos das machen“, beschloss Piedraroja. „Gleich morgen würde er seinen Urlaub beenden und es im Ministerium verfügen und der Öffentlichkeit beibringen. Dann wussten die grauen Brüder das auch. Wenn die nicht aus ihrer Pyramide freikamen konnten sie ihm nichts mehr antun. Er würde allen anderen sagen, sich nicht auf die von der kargen Steppe bezeichneten Wirkungszone der bösen Kraft der schwarzen Pyramide zu wagen, nicht bei Tag und erst recht nicht bei Nacht.
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Das Bauwerk erbebte kurz. Ein wie schmerzhaftes Stöhnen klingender Laut durchdrang alle seine Gänge und Räume. Drei Männer in Grau, die goldene Ketten trugen erstarrten in ihrer Bewegung. Die Ketten glommen kurz blutrot. Dann war alles vorüber.
„Prüf nach, Bruder, ob wir angegriffen wurden“, sagte einer zum anderen. Doch die Prüfung ergab, dass niemand sie bedrängte. Doch als genauer nachgeforscht wurde, ob es ein natürliches Beben oder eine Erschütterung des Bauwerkes an sich war erfuhren alle hier lebenden, dass es wohl gelungen war, den unbrechbaren Eid von Blut und Gold zu entkräften. Sie erfuhren jedoch nicht genau wie. Die erfragte Antwort lautete nur: „Die wahre Macht des Lebens überwog die Macht des blutgebundenen Gehorsams.“
„Er konnte sich losreißen? Wie konnte der das?“ fragte einer der Brüder in Grau seine anderen Brüder. „Du hast die Antwort gehört, Bruder. Mehr wird uns der Kern der waltenden Kraft nicht preisgeben.“
„Ja, aber wenn wir keine neuen Gefangenen bekommen …“
„Wird der Geist des Hauses uns zürnen oder mit uns zusammen verhungern“, antwortete ein anderer der grauen Brüder. „Und wir können nicht hinaus, um uns neue Seelen zu holen“, sagte ein anderer der hier wohnenden. „Nein, auch weil der Geist des Hauses nur verdorbene Seelen will, die mindestens einen Menschen getötet haben. Es bleibt uns nur, abzuwarten und zu hoffen, dass uns der Geist des Hauses nicht für unser Versagen strafen wird.“
„Er wird uns strafen. Er wird uns verschlingen“, argwöhnte der letzte der hier wohnenden Brüder. „Sollen wir die Schwestern wecken und ihnen sagen, dass wir wohl alle sterben müssen?“ fragte der zweitjüngste hier. „Nein, lasst sie schlafen. Wenn es unser Schicksal sein soll, unsere Seelen dem Geist des Hauses zu opfern, dann sollen sie davon nichts spüren, wenn er auch ihre Leben in sich hineinschlingt“, bestimmte der älteste von ihnen. Alle anderen stimmten zu. Sie wollten noch ausharren, weiterhin ihre Rundgänge machen und dann erleben, was die Zukunft brachte, wenn die ersten der bald sterbenden ihren letzten Atemzug getan haben würden. Mehr blieb ihnen nicht.
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Da sie den Anschein erwecken musste, eine Überseereise angetreten zu haben schiffte sich Narzissa Malfoy am Vortag zur Sommersonnenwende im geheimen Hafen von England ein. Allerdings hatte sie keine Passage nach Australien gebucht, sondern nur nach Frankreich. Von dort aus würde sie mit ihrem eigenen Besen wieder zurück nach Großbritannien fliegen und in Wales den verwunschenen Hain aufsuchen.
Die Etappe nach Frankreich gelang mühelos. Sie erzählte dem Ausreisebeauftragten des britischen und dem Einreisebeauftragten des französischen Zaubereiministeriums, dass sie im Auftrag ihres gerade mit anderen Dingen befassten Sohnes nach Geschichten über dessen französischen Familienzweig nachforschen wollte. So erhielt sie eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf volle Tage.
von Südfrankreich aus reiste sie auf ihrem eigenen Besen, natürlich auch einem Feuerblitz, über das Landesinnere hinweg, an Paris vorbei. Sie unterdrückte das Verlangen, die imposante Stadt an der Seine zu besuchen, auch weil sie nicht riskieren durfte, von anderen Ministeriumszauberern angesprochen zu werden. Sie suchte sich einen von den Muggeln nicht übervölkerten Weg in Richtung Calais und machte dort eine Stunde Pause, um die Kräfte ihres Besens aufzufrischen. Dann raste sie im hohen Tempo über den englischen Kanal hinweg und überflog die Kreidefelsen von Dover. Von dort bog sie in Richtung Wales ab und suchte jenes in den Aufzeichnungen erwähnte Tal, in dem der Hain der dunklen Druiden sein sollte.
Es war am späten Nachmittag. Doch die Sonne würde noch vier volle Stunden über dem Horizont stehen, als Narzissa Malfoy zwischen zwei grauen zerklüfteten Felswänden dahinglitt. Die Felsen schoben sich immer enger zusammen. Vereinzelt ragten hausgroße Überhänge viele Meter über den Weg. Doch Narzissa überflog die Felsen einfach. Dann sah sie einen silbernen Bachlauf, der zwischen immer dichter zusammenstehenden Laubbäumen verschwand. Da hatte Narzissa ein Gefühl, als riefe sie jemand zu sich hin, eine leise, geschlechtslose Stimme. „Ja, du bist auf dem rechten Weg zu mir. Komm weiter!“ wisperte die Stimme. Sie war sich sicher, dass sie nicht durch die Luft klang sondern direkt zwischen ihren Ohren flüsterte, reine Gedankenübertragung, Mentiloquismus. Den hatte sie damals von ihrer Mutter erlernt und mit Bellatrix immer mal wieder praktiziert. Also war es ihre Stimme, die Stimme ihrer vom Körper gelösten Seele, die sie zu sich rief.
„Nein, bleib weg. Das ist eine gemeine Falle“, klang nun eine andere, jungenhafte Stimme in ihrem Kopf. Doch die erste Stimme wurde nun lauter. „Höre nicht auf die Stimme der verlorenen Jugend. Komm zu mir, Erbin des Blutes! Komm zu mir!“ War das wirklich Bellas Stimme? Narzissa war sich darüber nicht sicher. Doch die sie lockende Stimme drang so tief in ihr Bewusstsein ein, dass sie ihr nicht widerstehen konnte. Auch wenn sie immer wieder die sie warnende Jungenstimme hörte überwog doch die lockende Stimme, die sie als Erbin des Blutes ansprach. Ja, sie war Bellas Erbin, die Erbin eines großen Vermächtnisses. Sie wollte es antreten und dann besonnener und aufmerksamer als ihre Schwester verwenden. Vor allem aber wollte sie stark sein, stark und kundig, um bereit zu sein, sich und Draco zu verteidigen.
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Drei Tage hatte es gedauert, bis Lucius Malfoy und sein Sohn in einem texanischen Saloon mit Namen „Zum zitternden Bodenroller“ auf Auric Greengrass traf. Der war mit seinen Brüdern Beryllius und Clyde und deren erwachsenen Söhnen Brian, Chester, Caliban und Duncan auf dem Weg, die Mörder von Alan Greengrass zur Rechenschaft zu ziehen. „Ach, kommst du doch noch, Lucius malfoy. Das ist aber sehr aufmerksam von dir“, grüßte Auric Greengrass den Schwiegervater seiner erstgeborenen Tochter.
„Der Inhalt dieser Aktentasche da hat mich dazu veranlasst, dem nachzugehen, was dein alter Herr von meinem Großvater angeblich oder wahrhaftig bekommen hat. Draco meinte, du wolltest mit mir verhandeln, was du für die Aufbewahrung bekommen kannst. Die angebliche vierhundert durinischen Goldräder, die mein Großvater von den Zwergen erhielt, weil er im Auftrag Grindelwalds ein Stillhalteabkommen mit den nordischen Zwergenkönigen vereinbart hat, denen keine Felsentrolle auf die Buden rücken zu lassen klingen wie ein Muggelmärchen. Ja, und dass mein Großvater ganze vier Millionen Galleonen in ganzen Goldbarren gehortet haben soll, ohne dass die Kobolde was davon mitbekommen haben sieht dem zwar ähnlich, ist aber leicht nachzuprüfen, weil ich als Erbe der Familie die gesicherten Dokumente habe, um das nachzuprüfen. Vor allem die Nummer mit den vier angeblichen Blutbriefen, die beweisen sollen, dass ich an der Aktion im französischen Hótel des Étoiles teilgenommen haben soll stinkt nach einer ganz großen Erpressung. Draco hier hat mir die Kopien der Briefe gezeigt und auch das angebliche Schreiben des dunklen Lords, in dem er mit meiner Leistung zufrieden war. Leute, das mit dem Sternenhaus wurde vom britischen Ministerium zu den nicht aus eigenen Motiven verübten Taten gezählt, weil der dunkle Lord mich damals schon mit dem Leben meiner Frau und dieses undankbaren Stücks Fleisch da erpresst hat, das aus Narzissas Unterleib herausgequetscht wurde.“ Draco bemühte sich, die ihm geltende Beleidigung mit der nötigen Selbstbeherrschung abzuwettern. Auric meinte dazu: „Die Briefe sind echt, und du nicht mehr so gelenkiger Aal weißt das auch, weil du sonst nicht so gezielt darauf angebissen hättest wie der Hai auf einen an der Angel hängenden Dorsch. Hast du sonst so schlauer Bursche denn echt gedacht, die Briefe wären auf nimmer Wiedersehen verschwunden, nachdem der dunkle Lord zum ersten mal über den Potterjungen gestürzt ist? Ja, du hast deinem Vater geraten, die Briefe an meinen Vater weiterzureichen, weil der weiterhin der Schatzmeister der Bruderschaft war. Tja, und jetzt habe ich alles aufgeladen bekommen, was er in den finsteren Verliesen außerhalb von Gringotts gehortet hat.“
„Ja, und wenn du nicht von den Texas-Brüdern Horntip erledigt wirst sollen auch Crabbe, Goyle, Runcorn und Yaxley mit dir unterhandeln?“ fragte Lucius Malfoy. Draco sah seinen Vater so an, als wolle er ihm eine unangenehme Frage stellen. Doch er hielt sich noch zurück.
„Stimmt, von denen habe ich auch noch Briefe. Aber die kriegen sicher keinen Urlaub von Arthur Weasley, um ihre geschäftlichen Angelegenheiten zu klären. Du darfst noch frei herumlaufen. Aber vielleicht möchtest du ja für sie bürgen, damit ich sie nicht irgendwann anschreiben muss, falls mir vorzeitig das Gold ausgeht“, sagte Auric Greengrass.
„Draco, jetzt weißt du endlich, in welche verdorbene Sippschaft du hineingeheiratet hast“, knurrte Lucius Malfoy.
„Stimmt das echt mit dem Sternenhaus, Dad. Da sind auch Verwandte von Pensy und Millicent bei umgekommen“, wandte sich Draco an seinen Vater. Dieser verzog das Gesicht und sagte nichts.
„Dein Vater war jung und suchte den Ruhm. Er wollte dem dunklen Lord beweisen, dass er ein sehr eifriger Helfer war“, feixte Auric Greengrass. „Aber ich sehe auch keinen Sinn darin, dich länger mit diesem Kram zu behelligen, zumal meine Brüder und ich ja hier in den gerade einzelnen Staaten was zu erledigen haben. Du überschreibst mir dreihundert der vierhundert Goldräder, weil du die sowieso nur im Norden Europas einwechseln kannst, und für hundert Goldräder kriegst du einen der Originalbriefe mit Blutsiegel und deiner mit eigenem Blut geschriebenen Unterschrift. Über die Goldbarren können wir ja später reden, wenn ich die Sache mit den Mördern meines Vaters aus der Welt geschafft habe.“
„Ich soll dir dreihundert fiktive Goldräder für drei gefälschte Briefe überlassen, Auric Greengrass? Dein Vater würde dich für diesen dreisten Streich zehn Minuten lang mit dem Kopf nach unten in einem Sack voller Goldsand verbuddeln“, knurrte Lucius. Da holte Auric einen Umschlag mit einem blutrot glimmenden Siegel hervor und hielt ihn Lucius Entgegen. Der wollte danach greifen. Doch zwei Zauberstäbe zielten auf seine Brust. Das Siegel erstrahlte hellorange, als Lucius seine Hand danach auszustrecken versuchte. Er merkte, wie ein Hauch von Hitze durch seinen Arm jagte. Da begriff er, dass das Siegel mit seinem Blut getränkt und auf sein Blut geprägt war. „Soviel zu den gefälschten Briefen, Lucius Malfoy. Das ist übrigens der, in dem du dich verpflichtet hast, möglichst viele hochrangige Zauberer zu verfluchen und bestenfalls einen oder zwei von denen zu töten, um das Zeichen des dunklen Lords zu setzen“, sagte Auric und ließ den Brief wieder in seiner Tasche verschwinden.
„Vater, ist es echt wahr, dass du da mitgemacht hast?“ fragte Draco nun sehr beunruhigt.
„Den und die anderen beiden kaufe ich dir ab, du Halsabschneider. Und dann sollen dich und deine dreisten Brüder die Horntip-Jungs über der texanischen Wüste verstreuen“, knurrte Lucius malfoy. „Und du da, Bursche, geh zurück zu dieser Ausgeburt dieses Erpressers da und komm mir nie wieder unter die Augen, ob mit oder ohne weiße Flagge“, zischte er Draco zugewandt. Draco nickte. „Halt stop, das sollte der Junge noch mitbekommen, wo es auch um sein Erbe und das seines eigenen Sohnes geht“, hielt Auric Draco zurück, bevor er die verschlossene Tür erreichte. Draco sah seinen Schwiegervater an und sagte: „Auric, wenn du dich echt mit den Horntip-Brüdern und ihrer Bruderschaft anlegst hast du nichts von einem Handel mit meinem Vater. Blutrache macht nichts ungeschehen, sondern kostet eben nur Blut.“
„Ohoho, wie kommt denn einer, den der alte Hut nach Slytherin zugeteilt hat auf diese Hufflepuff-Weisheit. Also von meiner Tochter hast du sowas garantiert nicht gehört“, grummelte Auric. Lucius meinte dazu: „Blutrache ist was für Dummköpfe, die mit ihrem Leben nichts anderes mehr anzufangen wissen. Das wusste schon Robur Flint, einer der bekanntesten Ritter der Reinheit, Auric Greengrass. Du kennst sein Porträt. Es hängt immer noch im Treppenhaus für Jungen im Slytherinkerker, gleich neben dem von Adolphus Greengrass, deinem Ururgroßvater.“
„Ui, jetzt werden wir philosophisch“, spöttelte Beryllius Greengrass. Auric gebot seinem mittleren Bruder zu schweigen, um die Verhandlung hier zu Ende zu bringen. Dann sagte er Lucius Malfoy zugewandt: „Ich kann dir beweisen, dass dein Großvater mit meinem Vater das Ding mit den Goldrädern durchgezogen hat und dass da echt vierhundert von denen in einem geheimen Stollen liegen, der nur von einem Greengrass-Erben betreten werden kann. Also, hundert für jeden Brief?“
„Halsabschneider. Du weißt genau, dass sowas eben nur bei Zwergen im Norden eingelöst werden kann. Also habe ich nichts davon, sofern es diese gibt. Also klären wir das, dass dreihundert dieser in jener Höhle liegenden Goldräder und nur diese als Bezahlung gelten, nichts mit Gegenwert oder Ersatzleistung und sowas.“
„Versteht sich von selbst“, tat Auric Greengrass beschwichtigend. Draco dachte daran, dass die Greengrass-Familie gute Bekannte in Norwegen und Schweden hatte, wo statt der Kobolde die Zwerge das Goldverwahrungs- und Münzmonopol hatten. Das sagte er auch seinem Vater. Dieser grummelte, dass ihm das längst bekannt war.
So wurde ein magisch bindender Vertrag geschlossen, der die Bedingungen des Tauschhandels beinhaltete. Als Lucius und Draco den Vertrag genau durchgelesen und keinen Hinterhalt darin gefunden hatten unterschrieb Lucius mit einer mit eigenem Blut getränkten Feder. Dafür erhielt er drei Umschläge, die bei seiner Berührung hell aufleuchteten.
„Es ist immer wieder sehr erfreulich, mit intelligenten Leuten Geschäfte zu machen“, musste Auric einen Spruch loslassen, der Lucius fast zur Weißglut gebracht hätte. „Wie ich das als intelligenter Mensch sehe habt ihr Gauner sowieso nicht mehr als einen Tag Zeit, um alles Gold auszugeben, dass ihr gerade von mir einkassiert habt. Wenn es echt der alte Joss Horntip und seine Söhne waren und auch noch andere Zauberstabhelden aus Texas, dann bedauere ich die Geier, weil sie nichts mehr von euch finden können, was sie fressen können. Auf nimmer Wiedersehen, ihr Halunken!“ knurrte Lucius. Dann sah er Draco an und sagte ihm: „Was soll ich Ihrer Mutter noch bestellen, Mr. Malfoy?“ fragte er. „Das sie meine Eulenpostanschrift kennt, falls sie daran interessiert ist, wie es ihrem Enkelsohn geht“, sagte Draco unvermittelt trocken. Dass sein Vater ihm indirekt Beteiligung an dieser schon echt erpresserischen Unterhandlung unterstellte hatte er befürchten müssen. Auch hatte er erkannt, auf was sein Vater sich da alles eingelassen hatte.
„Gut, ich gehe zuerst. Der da soll erst dann aus diesem Laden verschwinden, wenn ich schon eine Minute in der Luft bin und dann zusehen, wie er alleine wieder nach England kommt. Die Rückreise bezahle ich wenigstens nicht für ihn mit“, knurrte Lucius Malfoy und verließ das Hinterzimmer. Draco wusste, dass er es nicht darauf anlegen sollte, seinem Vater hinterherzulaufen. Spätestens draußen im freien Flug könnte der ihm glatt aus lauter Wut einen Fluch überbraten. Also blieb er bei den Greengrasses. So bekam er mit, wie unter wilden Protesten des Schankwirtes drei bärtige Zauberer in sandfarbenen Lederjacken das Hinterzimmer betraten. Draco erkannte sie von den Bildern, die Auric Greengrass aus der goldenen Spieluhr abgezeichnet hatte, um die Schuldigen am Tod seines Vaters zu identifizieren. Es waren Joss Horntip und seine beiden erwachsenen Söhne. Unvermittelt wurde ihm ganz anders.
„Howdy, Jungs. Ist hier ein Auric Greengrass?“ fragte der ältere in einem sehr gewöhnungsbedürftigen Englisch.
„Ah, der wackere Joss Horntip erweist uns die Ehre“, erwiderte Auric und stellte sich und seine Brüder vor. „Und der Milchbart da, wer ist das?“ fragte Joss und deutete auf Draco.
„Mein Schwiegersohn“, sagte Auric. „Gut, Schwiegersöhnchen. Geh raus und lass dir von Roger oder Maura einen Schluck Longhornmilch geben oder geh zurück zu Momma, bevor’s dunkel wird. Das hier ist was für Männer“, tönte Horntip.
„Sage bis übermorgen zu ria, sie soll gut auf den Vogel aufpassen. Am besten machst du jetzt, was der Präriemann da wünscht.“
„Gut, Schwiegervater“, sagte Draco. Ihm war echt nicht danach, wider in eine Zauberschlacht reinzugeraten. Früher, wo er ein grüner Junge war hatte er öfter Streit gesucht. Doch da hatte er sich auch immer hinter seinen beiden trolldummen Nachläufern Crabbe und Goyle verstecken können, wenn es zu brenzlig wurde. Also tat er diesem unrasierten Barbaren den Gefallen und spielte den leicht einzuschüchternden Milchbubi und verließ das Hinterzimmer. Als die Tür zufiel meinte die untersetzte Schankwirtin: „Dich haben sie wenigstens noch rausgelassen. Mit den drei Hornspitzen legt sich besser keiner an, der was im Kopf hat. Dein Dad ist vor dem Haus disappariert, ohne zu sagen, was du machen sollst.“
„Hat er mir schon gesagt, Madam“, sagte Draco, der es wegsteckte, für einen halbfertigen Jungen gehalten zu werden. Was wusste die dicke Schankfrau denn schon, was er alles miterlebt hatte? „Oha, sag das ja nicht wenn mein Mann in der Nähe ist. Der mag es nicht, wenn ich wegen meiner gut genährten Figur heruntergemacht werde. Dann wird er sehr schnell sehr ruppig“, flüsterte die füllige Hexe dem Gast aus Übersee zu. Draco sah sie verdutzt an. Er hätte vielleicht doch okklumentieren sollen. Er wusste von Blades und Cobbley, dass in der französischen Schule Beauxbatons eine Lehrerin herumlief, die gedachte Wörter hören konnte wie gesprochene wörter. Auch hatte er mal davon gehört, dass eine Naturlegilimentorin für Grindelwald gearbeitet hatte. Deshalb wandte er die von seiner verstorbenen Tante Bella erlernte Technik an, mit der er sogar Meister Snape aus seinem Geist ausgesperrt hatte. Dass es wirkte sah er daran, dass die Wirtin vergnügt grinste. Draco fragte nur, ob sein Vater für ihn und sich die Zeche bezahlt hatte. „Er hat nur für sein Lagerfeuerrauchbier bezahlt, weil er meinte, du seist groß genug, deine Drinks selbst zu bezahlen und er hätte gerade mehr Gold ausgegeben als er für die Reise geplant hatte.“
„Hat er wohl, obwohl ich ihn sogar noch gewarnt habe, dass die Reise teuer wird. Aber sei es drum, was bekommen Sie?“ fragte Draco und sah auf die geschlossene Tür, als könne die jeden Moment explodieren. „In eurer Landeswährung ist das eine Sickel.“
„Kein Problem“, sagte Draco und gab ihr eine silbermünze und drei Bronzemünzen für die Bedienung. Er sah wo sein Flugbesen in der Halterung hing und gab auch für dessen Aufbewahrung zehn Knuts her. Dabei sah er wieder auf die verschlossene Hinterzimmertür. „Wenn da drinnen jemand jemanden tötet bleibt die Tür solange zu, bis die Rothüte hier sind“, sagte die füllige Schankwirtin und sah ihrem Mann zu, der hinter der langen, angekratzten Theke stand und ähnlich bärtige Männer bediente wie die Horntips.
„Gut, ich habe hier alles erledigt, was ich erledigen sollte. Bye, Madam“, sagte Draco und verließ den Saloon. Mit dem unguten Gefühl, seiner Frau erzählen zu müssen, dass ihr Vater wohl von den Mördern seines Vaters auch noch umgebracht worden war flog er schnell davon, wobei er bereits plante, von New Orleans aus abzureisen und nicht von New York aus wie sein Vater. Er hatte erfahren, dass es in New Orleans auch einen geheimen Hafen für die Überseeschnellsegler gab.
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Da stand er, ein wahrhaft königlicher Vertreter der Eichen, hoch aufragend, ein Stamm so breit, das fünf Erwachsene Menschen ihn nicht umfassen konnten, mit einer Krone die weit über den Wipfeln der anderen hier aufragenden Eichen ausgriff. Der Baum stand im vollen Laub. Doch etwas störte diese urwüchsige Naturpracht: Wo sonst in Waldbäumen Vögel und allerlei Kerbttiere umherwuselten war auf diesem Baum und denen in seiner unmittelbaren Umgebung kein einziger Vogel zu sehen oder zu hören. Noch was war anders. Von diesem majestätischen Baum ging eine unsichtbare, jedoch überdeutlich spürbare Ausstrahlung aus, die Unheil aber auch Überlegenheit vermittelte. Womöglich mieden die Waldtiere ihn deshalb, damit ihm bloß nichts zustieß.
Sie stand vor dem Baum und blickte in den turmhoch über ihr aufragenden Wipfel hinauf. Sie spürte, dass es jener Baum war, zu dem sie wollte. Ja, seine Ausstrahlung war wie ein unhörbarer, unwiderstehlicher Lockruf. Doch gleichzeitig meinte sie, eine sie zurückscheuchende Stimme in ihrem Kopf zu hören, sich dem Baum nicht zu nähern. Erst als sie anstalten machte, sich aus dem Schatten seines Blattwerks zu entfernen verstummte jene warnende, ja zurückweisende Stimme. Statt dessen meinte sie die Stimme eines erwachsenen Mannes in mittleren Jahren zu hören, einen mit raumfüllender Baritonstimme. „Ah, Erbin des dahingeschiedenen Blutes. Sehr schön, dass du den Weg zu mir gefunden hast. Ich bin erfreut, dass du gesund und stark bist, dich meiner Größe würdig zu erweisen, sofern du bereit bist, dich mir mit Fleisch, Blut und Seele anzuvertrauen.“
„Wie soll ich dich nennen?“ fragte die goldhaarige Frau, die in einer Mischung aus Verzückung und Furcht vor dem hölzernen Riesen stand. „Nenne mich den großen grünen Herren über Leben und Tod“, erwiderte die nur in ihrem Geist hallende Baritonstimme. Dann forderte sie von der Frau aus Fleisch und Blut: „Lege alles ab, was nicht an dir gewachsen ist und berühre mich mit deinem Fleisch, um mich zu fühlen und um von mir verspürt zu werden!“
Narzissa Malfoy stutzte erst. Doch dann erinnerte sie sich an Berichte über Naturrituale früherer Zauberer und vor allem Hexen, bei denen die völlige Nacktheit ein wichtiger Bestandteil war. So blickte sich Narzissa Malfoy bangend um, ob ihr jemand zusehen mochte. „Niemand ist in der Nähe, der dich so erkennen wird wie ich“, bekundete die geistige Stimme des Baumes. Wieder meinte Narzissa eine Jungenstimme in ihrem Kopf zu hören: „Mach, dass du wegkommst, du dummes Weib. Der will dich reinlegen!“ drang die Stimme in ihr Bewusstsein. Darauf antwortete die Baritonstimme: „Es liegt an dir, zaudern oder wagen, vollbringen oder verzichten. Die Wahl ist deine!“
Der Baum erbebte, als wenn unter seinen Wurzeln die Erde erzitterte. Narzissa fühlte, dass die von ihm ausstrahlende Kraft erst nachließ und dann um so stärker in sie einströmte. Das gab den Ausschlag. Sie zielte mit dem Zauberstab auf sich selbst und rief „Nudato!“ Innerhalb von nur einer Sekunde stand sie vollständig entkleidet vor dem Baum. Ihre Kleidung und Schuhe lagen fein säuberlich gefaltet fünf Meter von ihr entfernt. „Leg auch den hölzernen Ausrichter deiner Kraft nieder. Ganz wie du selbst gewachsen bist sollst du mich berühren“, dröhnte die Baritonstimme in ihrem Geist. Täuschte sie sich, oder meinte sie eine gewisse Wollust aus dieser Stimme herauszuhören? Oder war es gar ihre eigene Lust, mit diesem urtümlichen Boten einer alten Magie in Berührung zu kommen? Ja, auch sie fühlte eine gewisse, doch noch nicht vergessene Erregung, als sie den Baum ansah. Es war wie damals in der Hochzeitsnacht, als sie ihr Brautkleid abgelegt hatte und sich dem damals sehr strammen, überlegen lächelnden Burschen darbot. Ja, damals hatte trotz der zweckmäßigkeit ihrer Heirat auch ein gewisses Verlangen in ihr gebrannt, jenes, das nun wieder aufloderte wie ein Feuer aus glühender Asche, sobald ein trockenes Holzscheit darauf abgelegt wurde.
Sie ging auf ihren blanken Füßen auf angenehm warmer und weicher Erde auf den Baum zu, der von so vielen gefürchtet wurde, weil ihm so viele Menschen als Opfer dargebracht worden waren. Auch sie, das wusste sie, würde ihm ihr Blut geben. Zwar mochte es noch zwei Wochen dauern, bis sie ihm auch ihr Monatsblut darbringen konnte. Doch wenn sie den Vertrag mit ihm hatte war das nur noch ein reiner formaler Akt, dachte sie.
Der Baum erbebte. Narzissa meinte in seinen Zweigen zwei widerstreitende Stimmen zu hören. Doch weil zugleich ein warmer Mittsommerwind aufkam dachte sie, dass der die Zweige zum rauschen brachte.
Als sie nur noch einen Meter entfernt war meinte sie, auf einer leicht zitternden, sich sacht hebenden und senkenden Unterlage zu stehen. Dann streckte sie ihre Handflächen nach vorne. Ihre Fingerspitzen berührten die schroffe Rinde. Sogleich durchströmte sie ein selten gefühltes Verlangen, sich hier und jetzt an diesen festen, starken Körper zu drücken, sich an ihm zu reiben, eins mit ihm zu werden. Hatte Bellatrix das auch gespürt, als sie hier war? Dieser vorerst letzte Gedanke an ihre verstorbene Schwester wurde vom aufschießenden Feuer des leiblichen Verlangens überwältigt. Sie warf sich mit einem begehrenden Aufschrei gegen den Stamm, mit ausgebreiteten Armen, ihrem Gesicht, ihrem ganzen vorderen Körper und mit ihren Beinen. Sie presste sich gegen die schroffe Unterlage, doch empfand dabei noch mehr leidenschaftliche Erregung. Sie versuchte, sich in den festen Stamm hineinzudrücken, wollte wahrhaftig ganz und gar mit ihm verschmelzen. Da fühlte sie, wie etwas festes in ihren Schoß eindrang und die Vereinigung vollendete. Sie gab sich dieser steigenden Wonne mehr und mehr hin, fühlte sogar Hitzewallungen, die von jenem Baum ausgingen. Dann meinte sie, einen lauten, wütenden Aufschrei zu hören, den Aufschrei eines Jungen: „Du willfähriges Weib. Du dummes Stück. Jetzt muss ich in dirr … Neeiiin!“ Doch sie konnte sich nicht lösen. Der Baum und sie blieben in dieser unnatürlichen Vereinigung. Sie fühlte, wie etwas starkes pulsierendes in ihren Unterleib hinüberfloss, ihn merklich erwärmte und sie in größter Wonne erbeben ließ, während die verärgerte Stimme des Jungen immer leiser und leiser wurde. Dann war der absonderliche Akt vorbei. Narzissa keuchte vor überstandener anstrengung. Langsam lösten sich ihre Arme und Beine. Sie bemerkte, dass sie sich an der schroffen Rinde Schürfwunden zugezogen hatte. Doch auf dem Stamm war kein Blut zu sehen. Das Gefühl, etwas habe in ihrem Körper gesteckt war ebenso verklungen. Dann hörte sie die triumphierende Baritonstimme:
„So hast du, die Erbin der toten Kriegerin, das mir aufgezwungene Fleisch und Blut in Glück und Hingabe zu dir genommen. So reife es nun so aus, wie es die Art eurer kurzlebigen Daseinsform ist, das Kind der toten Kriegerin, die mir von der im zweiten Leibe begegneten Blutpaktgefährtin aufgezwungene Leibesfrucht deiner eigenen Schwester.“
„Nein, das kann nicht sein“, erwiderte Narzissa Malfoy. Sie betastete ihren von kleinen Wunden übersäten Körper und befühlte ihren Unterleib, der ihr gerade eben noch einmal die größte Wonne einer Hexe bereitet hatte. Dann fühlte sie ein sanftes Pulsieren unterhalb ihres Bauchnabels und vermeinte, aus den Tiefen ihres eigenen Körpers eine verärgerte Stimme zu hören: „Ja, du dumme Kuh. Ich werde dein neues Kalb. Du warst doch so seltendumm, dich auf seine Verheißungen einzulassen. Er hat nur nach einer wie dir gesucht, um mich loszuwerden, weil ich dabei war, ihn zu besiegen. Jetzt muss ich als völlig wehrloses Menschenkind aufwachsen und kann nicht der König der grünen Kinder werden. Erwarte bloß nicht, dass ich mich bedanke. Das ist wohl das letzte, was du von mir hörst, bevor mich die Decke der völligen Unwissenheit umschnürt. Doch eines Tages werde ich mich wieder erinnern, Richtbaum Dairons. Dann wird meine Zeit kommen, dich zu fällen.“ Die Stimme wurde immer leiser und leiser, bis sie ganz verstummte. Narzissa fühlte nur, dass sie ein wenig schwerer war. Doch das war sicher nur Einbildung. Dann hörte sie erneut die Stimme des Richtbaumes:
„Du gabst mir von deinem Blut und deiner Wonne und erhieltest dafür ein neues Leben und das Erbe deiner Schwester. So bedecke deinen wohltuenden, starken Körper mit den toten Stoffen, die ihr kurzlebigen benötigt und kehre dahin zurück, wo du hergekommen bist. Doch hüte dich davor, das von mir erhaltene Geschenk zurückzuweisen und verheiße ihm, sobald es ans Licht zurückgekehrt ist, dass er und du in den nächsten zehn mal zehn Sommern mehr als zehn mal zehn Tausendschritt von mir fern bleiben sollt. Erkenne ich dich oder ihn näher als diese Entfernung, oder tötest du, was ich dir gerade anvertraute vor dem ersten Atemzug, so sollt ihr beide aus euren Leibern treten und als vereinter Hauch in mein Dasein einströmen und dort auf ewig mein sein. Hast du dies verstanden, so befolge meine Anweisung, Narzissa, Schwester der Bellatrix.“
„Wieso hast du mir Bellatrixes Kind zugesteckt. Wer zwang es ihr ab und warum? Bitte erkläre mir das noch“, flehte Narzissa am Rande eines Weinkrampfes.
„Sie wurde von jener zu mir gebracht, die ihr zweites Leben führte, weil sie mit Hilfe meines großen Meisters Dairon ihren ersten Tod überwandt. Sie brachte deine Schwester zu mir, weil sie sie ihrem Willen unterwerfen wollte. Dabei vollzog sie etwas, was die Reifungszeit verkürzte und entrang ihr diesen Knaben, den nun du unter deinem schlagenden Herzen trägst. Ihn brachte sie als Opfer dar, um deine Schwester gefügig zu stimmen, niemandem zu verraten, dass sie ihr, Anthelia, zum Gehorsam verdingt war, sobald sie nach ihr verlangen würde. Ich nahm den Knaben zu mir, um ihn zu behüten. Doch nach dem Tode deiner Schwester begann er, sein eigenes Sein zu entfalten. Als dann noch eine starke Kraft der Macht und Ungnade durch Luft und Erde eilte entfachte sie erst recht den Willen dieses mir anvertrauten Knabens. So wollte und musste ich ihn von mir stoßen. Doch ging dies nur auf die umgekehrte Weise, wie ich ihn zu mir nahm. Doch Bellatrix, die Kriegerin, lebte nicht mehr. So musste eine ihr im Blute gleiche Trägerin gefunden werden, die ihn übernehmen konnte. Du bist die Auserwählte. Du wirst ihn tragen und aus dir heraus ans Licht zurückbringen, nähren und unterweisen, mich zu achten und mir nicht näher zu kommen als zehn mal zehn Tausendschritte. So bedecke nun deinen Körper und entferne dich!“
„Und was ist, wenn ich das nicht tue und diese Hinterhältigkeit hier und jetzt rückgängig mache, sofern es überhaupt stimmt, dass du mir Bellatrixes ungeborenes Kind in den Leib getrieben hast?“ begehrte Narzissa auf. „Du hast Zeit, bis die Sonne unter den Rand von Himmel und Erde versinkt. Bist du dann noch hier oder hast bis ddahin seinen Leib aus dir entfernt werdet ihr beide zu einer einzigen, mir unterlegenen Seele verschmolzen und von mir aufgesogen wie das Wasser von meinen Wurzeln und das Sonnenlicht von meinen Blättern. Von dir wird dann nichts übrigbleiben. Denn dein Fleisch wird zu meinen Wurzeln schmelzen und von diesen dankbar aufgesogen werden. So triff deine Wahl, leben oder vergehen. Sterben oder bestehen!“
„Du mieses Stück Treibholz“, knurrte Narzissa dem Baum zu. Dann fiel ihr noch was ein: „Wiso konnte eine zweimal leben? war es wahrhaftig Anthelia? Wieso hast du nicht sie als Opfer vertilgt?“
„Für wahr, ich wollte dies, als sie damals zu mir kam und den Kampf um Macht und Wissen mit mir auskämpfte. Ich nahm sie mit Leib und Seele in mich auf, bereitete ihr aus den eigenen Erlebnissen die größten Schrecken und verlockte sie mit ihren wildesten Begierden, ganz und gar eins mit mir zu sein und zu bleiben. Doch sie widerstrebte mir, ja kannte und benutzte die Fertigkeiten jener, die einst meinen Urvater pflanzten, aus dessen erhabener Linie ich als einziger verblieb. Sie wehrte sich, drängte die ihr aufgedrängten Träume und Schrecknisse zurück, bis sie begann, meinen Leib als ihren zu fühlen, ihn zu lenken und mein eigenes Sein in sich aufzunehmen, ohne ihren Leib dafür aufzugeben. Sie war kurz davor, mich zu verschlingen, trotz der ihr zugefügten Pein und Freuden. So erfüllte ich den Zweck meines Daseins und erfüllte sie mit aller Macht und aller Kenntnis, die mir von meinen Schöpfern übergeben worden waren. Sie sog begierig auf, was ich ihr bot. Es war mir eine Pein, ihren unversehrten Leib wieder freizugeben. Doch danach fühlte ich mich auch befreit. Doch nun war sie meine Meisterin. Ich erfuhr, dass sie das Wissen um mich und über die mich leitenden Worte und Bilder von einer Gegenspielerin hatte, die Nausikaa geheißen hatte und all ihr Wissen von mir in einer unbrennbaren Glasflasche aufbewahrt hatte. Anthelia kannte damals schon die gedanklichen Grundbausteine des Zaubers, der Getreue von Feinden scheidet, sobald sie in einen mit dem Blut von Getreuen gezeichneten und gegen den Sonnenlauf abgeschrittenem Kreis eintraten. Daher wusste ich auch, wie sie Nausikaa und ihre Getreuen niederwerfen konnte. Ich wähnte sie erst tot, weil ich das Vergehen ihrer ständigen Schwingungen in mir nicht mehr fühlte. Doch die Künste meines lange Zeit vorausgegangenen Herrn und Meisters halfen ihr, einen neuen Leib zu finden, in dem sie atmen und wirken konnte. Als ich sie wieder spürte gehorchte ich dem geschlossenen Bund von damals, ihr zu dienen und half ihr, sich deine Schwester Untertan zu machen und deren ungereiften Knaben als Unterpfand in mir zu verwahren. Er ist nun dir anvertraut. Ist dein Wissensdurst nun ausreichend gestillt, dass du deine Wahl treffen magst, Menschenfrau?!“
„Dann ist es wahrhaftig Anthelia, die wiedergekehrt ist. Wo finde ich sie?“
„Da ich ihr Diener bin wird ihr Aufenthaltsort mein Geheimnis bleiben. Ja, und wenn du wagen solltest, sie zu töten, um den Bund mit ihr zu lösen, so sei dir gesagt, dass du dadurch nicht von der dir auferlegten Verpflichtung entbunden wirst. Also, wie lautet deine Wahl nun?“
„Ich darf sie nicht töten? Aber was ist, wenn sie mich tötet?“ fragte Narzissa mit gewisser Beklemmung. „Dann werden du und der nun in dir neu wachsende Knabe, sofern er bis dahin nicht aus deinem Leib entschlüpft ist, zu einer Seele ohne Geschlecht und Ziel werden und unmittelbar zu mir zurückkehren. Stirbst du durch die Hand meiner Vertragsgefährtin Anthelia, so verweht deine Seele wie die deiner Schwester Bellatrix in allen Winden, und der von dir ans Licht zurückgebrachte Knabe wird ohne seine Mutter weiterleben. Versucht er meine Vertragsgefährtin zu töten wird es ihm körperliche Schmerzen bereiten. Tötet sie ihn, so kehrt seine Seele zu mir zurück, aber geschwächt von der Erfahrung der Kurzlebigkeit und wird von mir endgültig vertilgt. Wie lautet deine Wahl?“
„Ich erkenne, dass ich das geschehene nicht ändern kann, ohne endgültig zu verlieren“, sagte Narzissa tief betrübt. So werde ich den Preis für meine Einfalt und Gier bezahlen, wie es deine Schöpfer verlangen. Ich kehre zurück an meinen Wohnort und werde zusehen, dir in den nächsten zehn mal zehn Jahren nicht näher als zehn mal zehn Meilen zu kommen. Doch sei dir gewiss, dass ich dem, den du mir da in den Bauch getrieben hast darauf vorbereite, nach Ablauf dieser Zeit dein Ende herbeizuführen, wenn nicht in eigener Person, aber wenigstens aus seinem Willen heraus. Hundert Jahre sind für sowas wie dich keine lange Zeit. Zähle also schon mal die Jahre, die dir noch bleiben“, knurrte sie noch. Dann sprang sie auf und wechselte in weniger als einer Sekunde in ihre mitgebrachten Kleider, die nun natürlich leicht mit Walderde und losen Blättern besudelt waren. Dann saß sie auf ihrem Besen auf und flog davon, um vor Sonnenuntergang die 100-Meilen-Grenze zu überschreiten.
Als sie aus dem Wald heraus war und durch das Felsental flog lauschte sie immer wieder in sich hinein. Doch sie hörte nichts als ihr eigenes Herz. Sie spürte auch noch nichts davon, dass sie zum zweiten mal im Leben schwanger war. Wann würde sie spüren, ob ihr wahrhaftig ein Kind in den Schoß gelegt worden war? Sie bangte, ob es ihr möglich war, dieses ungewollte, widernatürlich empfangene Kind überhaupt anzunehmen, ihm eine erst nährende und dann auch behütende Mutter zu sein. Vor allem, wie wollte sie es Lucius beibringen, dass sie ohne ihn ein Kind empfangen hatte? Ja, hätte sie die Prüfung des Baumes bestanden und dessen Macht und Kenntnisse gewonnen hätte sie keine Angst vor Lucius Malfoy. Denn dann hätte sie ihn jederzeit unter ihren Willen zwingen können, vielleicht auch ohne den Imperius-Fluch. Dann fiel ihr der Trick ein, wie eine andere Hexe es damals angestellt hatte, ihrem Mann das in ihr wachsende Kind als das seine zu verkaufen, auch wenn sie beide bis dahin nicht das Bett geteilt hatten. Ja, so musste es gehen. Es galt nur, den gewissen Argwohn ihres Mannes zu schwächen, um das zu tun, was sie tun musste, wollte sie nicht von ihm verstoßen oder gar getötet werden. Der Gedanke, dann als willenlose Sklavin im Stamm eines jahrhundertealten Eichenbaumes eingesperrt zu bleiben ängstigte sie. Sie musste Lucius dazu bringen, Bellatrixes Kind als sein Kind anzuerkennen. Sie musste dafür das von Bellatrix abgerungene Menschenkind als ihr Kind anerkennen. Leicht würde das nicht. Aber wie hatte sie erkannt, das war der Preis für ihre Neugier und Machtgier. Im Grunde durfte sie doch froh sein, noch ein größtenteils eigenständiges Leben führen zu dürfen. Längst nicht jeder oder jedem, welcher sich dem Richtbaum zum Entscheidungskampf stellte, hatte dieses Glück. Im Grunde gab es neben ihr nur die eine, jene Wiederkehrerin, von der viele Hexen mit Andacht oder Angst sprachen und schrieben. Doch hieß es nicht auch, dass sie beim Kampf mit dem entarteten Vampir Volakin gestorben war? Aber der Baum hatte nicht erwähnt, dass sie tot war, ja hatte eindeutig erklärt, dass sie noch lebte. Also galt es für sie auch, ihr nicht zu begegnen, schon gar nicht, wenn sie wirklich Bellatrixes ausgelagertes Kind in sich trug.
Als sie sicher war, den Rückweg im Appariersprung zu schaffen landete sie und besann sich auf ihr Haus. Sie schaffte es, sich die Eingangshalle vorzustellen und drehte sich in den Transit. Unangefochten erschien sie dort, wo sie sein wollte. Sie stellte fest, dass Lucius noch nicht von seiner Reise zurückgekehrt war. Sie rannte ins Badezimmer, warf alle Kleider von sich und spritzte sich mit warmem Wasser ab, als könne sie allen Schmutz von sich abspülen, den sie aufgesammelt haben mochte. Die bereits verkrusteten Wunden wurden gereinigt. Mit dem Episkye-Zauber heilte sie die leichten Wunden wieder. Dann, als sie sicher war, ihre körperlichen Verletzungen behoben zu haben, überkam sie der lange zurückgehaltene Weinkrampf. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, bis ihre Augen wie kleine Feuer brannten und sie keine Träne mehr vergießen konnte. Dann erst zog sie sich mit frischer Kleidung in ihr eigenes Zimmer zurück. Ab heute fing für sie ein neues Leben an, das Leben einer gedemütigten Frau, die meinte, dass alle vorangegangenen Demütigungen unbedeutend waren. Ab heute musste sie neu planen, wie und für was sie lebte. Rache an jenem Richtbaum? Ja, die hatte sie diesem geschworen. Doch vor den nächsten hundert Jahren konnte sie es nicht wagen. Vielleicht starb sie schon vor der Zeit. Dann sollte es er richten, der sie völlig zurecht eine dumme Kuh und Närrin genannt hatte, bevor sein Geist eingeschlafen war und wohl erst im Laufe des körperlichenWachstums wieder aufwachen mochte. Wer weiß, vielleicht würde er ihr eines Tages doch noch dankbar sein, dass sie ihm ein freies Leben geschenkt hatte. Doch im Moment war er für sie nur eine neue, noch nicht spürbare Belastung.
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Es war zwei Tage nach Sonnenwendtag, als Lucius alleine zurückkehrte. Er war sichtlich verärgert und wollte erst kein Wort mit seiner Frau wechseln. Er sah sie sogar einmal so an, als habe sie seinen Verdruss herbeigeführt. Erst als er sich in einem seiner geheimen Räume mit irgendwas beschäftigt hatte und zurückkehrte sagte er: „Ich soll dich von dem grüßen, den du vor siebenundzwanzig Jahren ausgebrütet hast. Wenn du wissen willst, wie es dem von ihm gezeugten Balg geht hast du seine Eulenpostadresse.“
„Möchtest du mir verraten, was passiert ist, Lucius?“ fragte sie behutsam.
„Er hat mich drei goldgierigen Erpressern ausgeliefert. Das ist passiert. Diese Bande, deren Ausgeburt er zur Mutter seines Kindes gemacht hat, hat alte Goldvorräte von meinem Großvater wiedergefunden und hat mich damit erpresst, dass ich dem Gamot ja nicht alles verraten habe, was ich an Gold habe und dass da noch einige Geschichten aus meiner Zeit für den Dunklen Lord aufgewärmt werden könnten, auf die der Gamot nicht eingegangen ist. Um deiner und meiner Freiheit willen habe ich diesen Erpressern gegeben, was sie verlangt haben, dreihundert durinische Goldräder. Hoffentlich sind sie selbst daran erstickt, wenn die Horntips sie nicht in der texanischen Steppe verbuddelt haben.“
„Die Horntips? Der alte Joss Horntip, Bruder von Jarrel Horntip? Oh, da sollte sich der gute Auric Greengrass besser nicht mit anlegen“, sagte Narzissa, froh, einen genialen Vorwand zu haben, von ihren eigenen Sorgen abzulenken. „Habe ich dem auch gesagt. Aber wenn er meint, sich mit dem und seinen Ablegern duellieren zu müssen, bitte“, erwiderte Lucius. „Wichtig für mich ist nur, dass der, der früher all mein Stolz und unsere Hoffnung war endgültig gestorben ist, auch wenn er meint, noch zu leben. Wer für diese Erpresser lebt, ja denen sogar noch Nachkommen verschafft, hat in diesem Haus nichts mehr verloren. Das soll dir gesagt sein. Ich habe das Haus nun endgültig darauf eingestimmt, ihn in hundert Schritt Umkreis abzuweisen, ja beim Versuch, durch die Schutzzauber zu dringen zu töten. Falls du für diesen Fehlschlag meines Lebens noch was empfindest schreib ihm das, dass er wie ein Kanonenschlag zerplatzen wird, sobald er für eine Sekunde vollständig über meinem Grundstück erscheint.“
„Ich verstehe deine Wut. Ja, und ich werde ihm schreiben, dass er bis auf unbestimmte Zeit nicht mehr hierherkommen soll. Aber wenn ihr euch irgendwo begegnet?“
„Wo denn? Da wo ich bin arbeitet er nicht. Und der Laden, in dem er gnädigerweise unterkam, übrigens auf meine Vermittlung hin, den werde ich bis zum 30. Februar 2222 nicht mehr betreten. Oder meintest du, dass wir uns im Zaubereiministerium über den Weg laufen könnten?“
„Dort oder in der Winkelgasse bei Flourish & Blotts zum Beispiel“, erwähnte Narzissa. „Dann sollte er mich bloß nicht ansprechen. Und was das von dieser Erpressertochter ausgebrütete Kind angeht, so bekommt das von unserem Gold kein Stäubchen zum Unterhalt. Dessen Großvater und Großonkel haben genug für sein ganzes Leben aus mir herausgemolken wie aus einer überprallen Milchkuh. Ende der Bekanntgabe.“
„Verstanden. Möchtest du was essen oder trinken?“ fragte seine Frau scheinbar unterwürfig. Lucius bekundete, dass er Hunger und Durst habe. So nutzte sie die Gelegenheit, mit ihm zu Abend zu essen. Danach verlangte er einen Schluck Feuerwhisky. Narzissa ließ diesen von Hoaky herbeischaffen. Als Lucius das sehr gehaltvolle Getränk wie Quellwasser in sich hineinschluckte musste sie sich sehr zusammenreißen, ihn weder zum Maßhalten aufzufordern noch überlegen dreinzuschauen. Sie hatte darauf gehofft, dass er den Feuerwhisky trank. Kurz vorher hatte sie diesen mit einer kleinen Dosis Traumwasser versetzt, einem starken, traumtoleranten Schlaftrank, der pro Tropfen eine volle Stunde Schlaf herbeiführte. Dabei beschleunigte der Trank den Abbau des Alkohols im Blut. Das war für ihr Vorhaben wichtig.
Es dauerte dann nur noch eine halbe Stunde, bis Lucius so müde war, dass er sich hinlegen musste. Seine Frau half ihm noch aus seiner Kleidung. Da fiel er auch schon in einen tiefen Schlaf. Narzissa sah ihn an, den Mann, den sie damals auf Anraten ihrer Familie geheiratet hatte. Den Mann, der seit der Geburt des gemeinsamen Sohnes Draco kein Verlangen mehr hatte, mit ihr körperliche Liebe zu erleben. Jetzt lag er da vor ihr, nackt, wehrlos, verfügbar. Sie könnte auch versuchen, wahrhaftig mit ihm eins zu werden. Doch wusste sie nicht, ob er in diesem zustand seine Saat an sie übergeben konnte. Außerdem musste er sich später daran erinnern, dass er nach seinem gescheiterten Ausflug in die Staaten darauf bestanden hatte, seine Frustration an ihr abzureagieren. Auf jeden Fall sollte er in Erinnerung behalten, dass sie beide in einvernehmlicher Leidenschaft zusammengekommen waren. Als sie das alles klar vor ihrem inneren Auge und Ohr hatte holte sie ihren Zauberstab hervor und flüsterte: „Obleviate!“
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Die Arbeitsgeräusche emsiger Schmiede waren die Musik dieses Ortes. Zwanzig starke Männer aus zwölf Ländern schufteten in der Gluthitze der Schmiedefeuer und konnten mit hochwertigem Stahl, Silberblech und sogar auswalzbaren Goldrohlingen arbeiten. Wichtig war nur, dass sie dem Materialbeschaffer eine durchgeplante Zeichnung vorlegten, wie die Endergebnisse aussehen sollten.
Weil die Arbeit so anstrengend war beließen es die zwanzig Schmiede in der abgeschotteten Ritterburg irgendwo bei Killarney in Irland bei den aller nötigsten Unterhaltungen. Luiz, ein südspanischer Waffen- und Rüstungsschmied, hatte einmal zu laut darüber nachgedacht, was er mit anderthalb Millionen Euros anstellen konnte. Das hatten seine Wettbewerber nicht gutgefunden und ihm klargemacht, dass er im Moment nur einer von zwanzig war und nicht einer der oberen zehn und dass sie alle hier hofften, den ausgelobten Jackpot zu kriegen. So ging die erste Runde, die Anfertigung von Gebrauchsrüstungen weiter.
Mehrere Tage zogen ins Land. Luca Bonetti hatte seine den Vorgaben entsprechende Vollrüstung fertig und polierte sie noch. Lederriemen bekamen sie von woanders her. Womöglich lief bei O’Casy noch ein Wettbewerb in der Herstellung hochwertiger Lederwaren. Bonetti arbeitete die Rimen so ein, dass sie unter zwei verriegelbaren Klappen verschwanden. Denn wer wusste, wo die Halterimen waren konnte mit einem Schwert locker den halben Brustpanzer loshauen. Ebenso hatte er für den Helm einige Kniffe ausgetüftelt, die von außen nicht zu sehen waren aber seinen Kollegen im echten Mittelalter noch nicht bekannt gewesen sein konnten. Er bekam mit, wie sich Buck, der gutgenährte Texaner, mit Roman, einem schlachsigen, nur an den Armen sehr gut ausgestatteten Bulgaren über angebliche Erfindungen des Mittelalters wie den Keuschheitsgürtel und die eiserne Jungfrau hatten. Da konnte sich Luca Bonetti auch gut einschalten, der sich im Rahmen seiner Schmiedeausbildung damit beschäftigt hatte, was an Präzisionsarbeit nötig war, um einen verschließbaren, an den richtigen Stellen ausgeschnittenen Keuschheitsgürtel zu schmieden. Er warf ein, dass damals wohl nur der alte Vulcanus oder die nordischen Zwerge sowas hätten hinkriegen können. Sein griechischer Mitbewerber Giorgios fragte, ob er nicht eher Hephaistos meinte. Er erwiderte: „Meine Urahnen waren alte Römer. Die haben den Schmiedegott Vulcanus genannt.“ Das konnte Giorgios nicht widerlegen.
Die Gebrauchsrüstungen wurden fertig. Am Ende durften die Schmiede jedes Einzelteil mit ihrem Namen oder einem von ihnen vorher angemeldeten Zeichen signieren. Bonetti hatte seine Rüstung mit einem aufrechten Bären gekennzeichnet, das einstige Markenzeichen seiner Urgroßeltern.
Die Rüstungen wurden in einer Stahlkammer weggesperrt, damit niemand mehr am Ergebnis herumpfuschen konnte. Gemäß der Absprache mit O’Casy bekamen alle einen freien Tag, die es geschafft hatten, in der angesetzten Zeit fertig zu werden. Wer da noch nicht fertig war musste eben fertig werden. Das gab einigen Unmut. Aber O’Casy verwies darauf, dass sie alle hier doch gut in der Zeit waren.
Den freien Tag verbrachte Bonetti mit Signora Mantovani in Dublin. Dabei fiel ihm auf, dass sie das Trinity College, sowie weitere naturwissenschaftliche Einrichtungen weiträumig umfuhren. Ja, und offenbar hatte Giovanna Mantovani Angst, in einen Bach oder den Liffey-Fluss zu fallen, weil sie nie näher als zwanzig Meter an eines der Gewässer heranging. Wenn Mulligan sie mit einem der hauseigenen Wagen, die nicht so protzig waren wweiterfuhr merkte er schon, dass die beiden diesen Ausflug nicht wirklich genossen. Als er die für ihn abgestellte Reiseführerin fragte wurden die Fensterscheiben unvermittelt pechschwarz. Bonetti wollte seine Überraschung ausrufen, da erwischte ihn der Blick der hellen Augen Mantovanis, während Mulligan trotz dunkler Windschutzscheibe noch klar sehen konnte, wo der Weg verlief. Bonetti fühlte eine völlig fremde Kraft in ihn einströmen und hörte dann Mantovanis irgendwie überirdische Stimme säuseln: „Du musst dir um nichts Sorgen machen. Alles ist völlig in Ordnung. Nichts von dem, was du erlebst ist für dich gefährlich. Nimm alles hin, wie es kommt und ängstige dich nicht!“
Er sah noch, wie Mantovani sich dunkle Kontaktlinsen in die Augen setzte. Dann wurden die Fenster wieder völlig durchsichtig. Doch Luca Bonetti kümmerte das alles nicht. Es war ja alles in Ordnung.
Nicht nur ihm mochte dieses merkwürdige Erlebnis widerfahren sein. Denn als sie alle am Abend von ihrem Tagesausflug zurückkehrten wirkten die neunzehn anderen Rüstungsschmiede so als wandelten sie in einem angenehmen Traum.
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Irgendwo tief unten im Atlantik verfolgte eine Wesenheit, die für die meisten Menschen unmöglich existieren konnte ihr Projekt „Schattenrüstung“. Nachdem sie es geschafft hatte, den in ihr gefangenen Geist Iaxathans durch einen gezielten Gedanken an dessen größten Erfolg den Kampf um die Königswürde von Atlantis oder Altaxarroi in sein körperloses Bewusstsein zurückzurufen und so erfuhr, wie die Schattenrüstungen gemacht wurden hatte sie mehrere ehemalige Hexen aus Südamerika, die zu ihren neuen Töchtern gehörten, nach Irland versetzt, wo sie die zu ihnen geschickten Schmiede beaufsichtigen und die Herstellung der Schattenrüstungen betreuen sollten. Sie hatte mal wieder festgestellt, wie viele Leute sich mit der bloßen Aussicht auf eine Menge Geld zu merkwürdigen Abenteuern treiben ließen und sogar ihr bis dahin wohlsortiertes Leben riskierten, ohne zu wissen, ob sie das versprochene Honorar bekamen. Laut Giriainaansirian dauerte es mit der richtigen Technik nur zwei Tage, weil es im Vergleich zu gewöhnlichem Stahl leichter war, das im blutroten Feuer des verzehrenden Lebens erhitzte Material in die gewünschten Formen zu schmieden. Gut, das Feuer mussten dann die magisch begabten Nachttöchter in Gang halten. Dafür hatten diese bereits das Grundstück mit Unaufspürbarkeitszaubern versehen, weil das Anwesen ja ein guter Rückzugsort sein konnte. Fünfzig Rüstungen konnten die Schmiede mit dem Vorrat an Unlichtkristall herstellen, den Nyctodora bisher beschafft hatte. Kamen in der entscheidenden Phase noch mehr Kristalle dazu konnten es eben auch mehr Rüstungen werden. Jedenfalls wollte sie die ausgewählten Schmiede für ein volles Jahr beschäftigen. Was deren Abwesenheit anging würden ihre von Nyctodora ausgewählten Unterhändler das mit den arbeitgebern klären. Was die Freunde der zwanzig anging, so konnten die zwischendurch mit ihnen telefonieren. Der magische Blick der sie beaufsichtigenden Gefolgsleute würde denen sugerrieren, dass alles in Ordnung war und sie viel unternahmen, aber eben mehr oder weniger abgeschirmt lebten wie Schüler eines Eliteinternates. Wichtig war, dass ihre neuen Schmiedeknechte nicht eher vermisst wurden, als dass die neuen Rüstungen im Einsatz waren.
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Piedraroja verfolgte wie wohl viele Zaubereiminister des amerikanischenDoppelkontinentes mit, wer die Präsidentschaft des neu begründeten MAKUSAs gewann. Als er am Abend des 4. Juli erfuhr, dass es aller Voraussicht nach Godiva Cartridge sein würde berief er für den nächsten Tag eine Sitzung aller Abteilungsleiter des mexikanischen Zaubereiministeriums ein. Zudem konnte er bei der Gelegenheit auch mit den Vertretern der indigenen Volksgruppen abklären, dass die schwarze Pyramide nicht mehr betreten werden würde. Seine Leute hatten bereits die entsprechenden Ankergegenstände fertig und würden sie gleich am nächsten Tag rund um die Wirkungszone der von der Pyramide ausgehenden Ausstrahlung aufstellen. Er konnte nur hoffen, dass die für Flugbesen, Apparatoren und Portschlüssel undurchdringliche Absperrglocke dann auch mehr als ein volles Jahr durchhalten würde. Auch hoffte er, dass die Nachkommen aztekischer Zauberer und Hexen mit seinem Beschluss, dieses von dunkler Magie erfüllte Bauwerk vom Rest der Welt abzuschirmen anerkennen würden. Denn außer der schwarzen Pyramide gab es ja noch andere Kultstätten und zertifiziert bezauberte Gegenstände, die zur Disposition standen.
„Wann wirst du dich mit der neuen MAKUSA-Präsidentin treffen, Andi?“ fragte seine Frau ihn abends, als er nach einem verlängerten Arbeitstag in das gemeinsame Haus auf der Isla de las Lunas Amarillas zurückkehrte. „Ich denke, wir warten noch die feierliche Konstitution des neuen MAKUSAs ab, bevor ich irgendwelche Einladungen ausspreche oder annehme. Aber gratuliert haben der Kollege aus der internationalen Zusammenarbeit und ich der neuen Präsidentin schon. Mich besorgt jedoch, dass durch die Umtriebe von Fuenteviva und Torrealta eine gewisse Antipathie gegen Mexiko entstanden ist. Offenbar wird in Texas und Kalifornien herumgereicht, dass wir diese Regionen wiederhaben wollen, als wenn wir mit einer riesengroßen Streitmacht in die USA einmarschieren und uns deren Land holen könnten.“
„Ja, von Mariachis vorantrompetete, mit Piñatas und Tabascosoße schießende Zauberer mit rabenschwarzen Ponchos und feuerroten Sombreros“, trieb seine Frau, die gebürtige US-Amerikanerin war, die absurde Vorstellung auf die Spitze. Doch dann wurde sie ernst. „Die Nomaj-Gringos aus dem konservativen Lager in den USA propagieren, dass wir mit Hilfe legaler und illegaler Einwanderer von uns und von weiter südlich, die durch unser Land in deren Land reisen, deren Kultur und Wirtschaftssystem kaputtmachen. Da wundert mich nicht, dass es gerade bei den Texanern und Südkaliforniern Leute gibt, die die Paranoia schüren, wir wollten uns ehemalige Gebiete zurückholen. Hmm, das solltest du aber vor der ersten Sitzung des neuen MAKUSAs klären, dass nach dem Ende der Dreizackföderation wieder die Abkommen von 1850 gelten, demnach die Zaubereiadministrationen Mexikos und der USA die von den Nichtmagiern gezogene Landesgrenze akzeptieren.“
„Hmm, du magst recht haben. Am Ende gehen die noch davon aus, eine Rechtslücke auszunutzen, die es nicht gibt und einen Grenzkonflikt vom Zaun brechen, weil die Fuentevivas versucht haben, Grundstücke in Texas aufzukaufen. Gut, morgen ist eine Konferenz der Abteilungsleiter. Da bringe ich das auch zur Sprache.“.
„Ja, und bei der Gelegenheit kläre mit denen auch, wer die sogenannte helfende Hand ist, Andi. Kuck mich jetzt nicht so verdattert an, weil ich das nicht wissen darf!“ erwiderte Margarita Elena. „Ich habe auch meine Beziehungen und weiß daher, dass diese neue Gruppierung sehr mächtig sein soll. Aber weil keiner weiß, wer genau dazugehört und vor allem, worauf die hinaus will solltet ihr das klären, ob ihr weiterhin von denen Hilfe haben wollt oder nicht besser alles ablehnt, was sie noch anbieten. Oder hast du schon das Preisschild gesehen?“
„Welches Preisschild? Noch haben die keines ausgehangen. Aber gut, wenn du es von wem auch immer schon mitbekommen hast: Wir vermuten, dass es eine Landesübergreifende Vereinigung von indigenen Zauberern und Hexen ist, die sich aus den einstigen Hochkulturen Amerikas gebildet hat, also die Nachfahren der Inkas, Azteken, Tolteken und Mayas. Durch das ganze Hin und Her von uns Eurostämmigen wegen Nordamerikaföderation, Regionalisierung und Gebietsstreitigkeiten fühlen die sich jetzt offenbar berechtigt, alte Ansprüche neu einzufordern. Wir suchen schon danach, wer genau hinter La Mano Ayudante steckt. Aber bisher können die ihre Mitglieder gut vor uns verbergen.“
„Du sagtest grenzübergreifend und Inkas, also auch Leute aus Peru, Bolivien und anderen Ländern. Das solltet ihr aber bald klären, dass Mexiko ein eigenständiges Hoheitsgebiet ist und nicht von Außenstehenden beeinflusst werden darf“, sprach Margarita Elena. Ihr Mann hatte es auf der Zunge zu sagen, dass sie als gebürtige US-Amerikanerin da ja erst recht nichts zu sagen durfte, was Beeinflussungsversuche von Auswärtigen anging. Da hauchte sie ihm zu: „Das mit der Pyramide und wie du dich davon freigemacht hast habe ich auch mitbekommen. Nicht, dass mir das nicht sehr gefallen hätte, mal wieder unser altes Feuer anzufachen. Aber wenn die Idee dazu nicht von dir alleine war fühle ich mich schon ein wenig – benutzt, Andrés Piedraroja.“ Er schluckte. Verdammt, er hatte das doch niemandem auf die Nase gebunden, dass er diese Phiole bekommen hatte. legilimentierte sie ihn womöglich, ohne dass ihm das auffiel? Doch was sollte er dazu sagen, ohne dass es abfällig oder hohl rüberkam? Da sagte sie: „Wenn du das nicht so empfindest, du hättest mich nur benutzt oder seist von wem auch immer wieder einmal fremdgesteuert worden beweise es mir heute Nacht.“ Das hatte er jetzt überhaupt nicht erwartet. Da konnte er sich jetzt auch nicht herausreden. Sie wollte ihn immer noch, obwohl sie dachte, er habe sie im Auftrag von wem auch immer beschlafen. Jetzt wollte sie ihn für sich, wohl um zu wissen, ob es einen Unterschied machte. Dann musste er ihr zeigen, dass es keinen Unterschied machte, jetzt, wo er sich körperlich auch wieder wohlfühlte. Vielleicht war es aber auch die Magie des Trankes, die noch in ihm nachwirkte und ihn für sie anziehender machte als vor der Einnahme des fremden Gebräus. Dennoch ging er auf ihre unverhohlene Forderung ein.
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Lucius hatte sich in den folgenden Tagen rar gemacht. Als ihm klar wurde, dass er sich hatte hinreißen lassen, mit seiner Frau noch einmal zwischen den seidigen Laken zu tanzen hing er zwischen Unmut und eigentümlicher Selbstbewunderung fest.
Mittlerweile hatte Narzissa von Draco erfahren, dass es wohl zu einem friedlichen Ende gekommen war. Auric Greengrass war wohl auf Anraten mehrerer Bekannter der Horntips darauf eingegangen, sich den Tod seines Vaters mit einer großzügigen Entschädigung in Form nordamerikanischer Zaubertrankzutaten und Gold im Wert von einer Million Galleonen vergüten zu lassen. Die Horntips hatten im Gegenzug das Versprechen erhalten, dass sie von niemandem aus der Greengrass-Sippe wegen des Totschlages an Alan Greengrass belangt werden würden. Blutgold hatte Narzissa das genannt. Doch innerlich war sie froh, dass Draco und sein Sohn vor einer Blutfehde bewahrt worden waren.
So verfolgten die beiden Eheleute die Berichte über die Neukonstituierung des MAKUSA und auch, dass vorher Umstürzler verhaftet worden waren, unter denen auch die Horntips waren. Als Narzissa sicher wusste, dass die Begegnung mit dem Richtbaum in Wales tatsächlich die vorhergesagten Folgen hatte begab sie sich zu jener Heilerin, die damals auch Draco auf die Welt geholfen hatte. Diese brauchte nur einen Prüfzauber um sicher zu sein. „Mrs. Malfoy, ich hoffe Ihnen und Ihrem Mann gute Nachrichten zu verkünden. Sie sind in der fünften oder sechsten Woche schwanger.“
Als sie Lucius davon erzählte überkam ihn erst eine gewisse Wut, aber nicht auf sie, sondern auf sich, weil er sich hatte hinreißen lassen, mit ihr zu schlafen, ohne ein Verhütungsmittel benutzt zu haben. Dann meinte er: „Das ist also der Preis meiner Dummheit. Noch einmal neun Monate zusehen, wie du immer runder wirst, die dabei aufkommenden Launen und Ängste aushalten und dann hoffen, dass alles gut geht. Andererseits sollten wir stolz sein, dass wir auch ohne diese Pfuscher von Vita Magica neue Kinder hinkriegen können. Ich hoffe nur, dass wer immer da jetzt in dir wächst dankbarer und einsichtiger sein wird als dieser Bengel, dem wir einen Gutteil unseres Lebens und Vermögens geopfert haben.“
„Ich würde das nicht als Dummheit sehen, sondern als eine neue Gelegenheit, unseren Zusammenhalt zu beweisen, Lucius. Ja, und wer da immer jetzt in mir heranwächst mag ein wesentlich besseres Leben führen als wir beide oder Draco.“
„Dem sagst du erst einmal nichts von seinem Glück, noch ein kleines Geschwisterchen zu kriegen“, bestand Lucius darauf, den unerwarteten und ungeplanten Familienzuwachs geheimzuhalten. Narzissa erkannte, dass es besser war, ihm da zu gehorchen. Ja, den Preis für Dummheit musste jemand bezahlen. Doch das war nicht er, sondern sie. Doch genau das durfte Lucius nicht wissen.
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Luca freute sich. Er hatte es unter die fünf besten Rüstungsschmiede der traditionellen Fertigung geschafft. Der Experte für Rüstungen, dessen Namen er meinte schon mal gehört oder gelesen zu haben, hatte seine beiden Prüfungsarbeiten als zweitbeste bewertet. Vor ihm war nur Buck Simpson, der Texaner.
Luca hatte auch keinerlei Bedenken mehr, ob er das Honorar verdiente oder nicht. Denn Giovanna, mit der er jeden Abend nach dem Tagewerk eine Runde durch den zum Anwesen gehörenden Park drehte, versicherte ihm, dass er bereits übermorgen einen Vorschuss von 100.000 Euros auf ein Liechtensteiner Konto überwiesen bekäme, von dem er es nach der Heimreise in kleinen, unauffälligen Dosen abholen könne, wenn er es brauchte.
Dann hatte O’Casy sich bei den Verlierern bedankt und ihnen in Aussicht gestellt, seine Verbindungen spielen zu lassen, dass sie für andere Mittelalterfreunde aus seinem Bekanntenkreis ebenso lukrativ arbeiten konnten.
Was die zehn Gewinner nicht mitbekamen war, dass die zehn angeblichen Verlierer erklärt bekamen, dass sie die zehn Gewinner waren und nun in den beiden größeren Schmieden arbeiten konnten, die nicht ganz zufällig gut von den Wohnquartieren der zehn anderen fortlagen. So meinte wohl jeder hier, er gehöre zu den obersten zehn traditionellen Rüstungsschmieden.
Das kurz nach der Auswahl zwanzig mehr oder weniger junge Frauen auf das Anwesen zogen erachteten die Junggesellen als eine Art lebende Honorierung ihrer Arbeit. Tatsächlich meinten viele in den Nächten von jenen zugänglichen Frauenzimmern besucht zu werden. Auch Luca ging am Morgen nach jedem Tag davon aus, mit Giovanna oder Sheryl eine kurzweilige, wenn auch nicht all zu wilde Nacht verbracht zu haben. Dass dies alles einsuggerierte Träume waren und nicht die Männer diejenigen waren, die ihr Verlangen zügeln mussten bekamen die zwanzig sorgfältig voneinander getrennt untergebrachten Schmiede nicht mit.
als sie dann damit betraut wurden, aus Silber, Eisen und einem zu feinem schwarzen Pulver zerriebenen Material eine völlig neuwertige Legierung herzustellen hielt Luca das für eine weitere Marotte ihres Gastgebers. Offenbar hatte der einen Weg gefunden, täuschendecht aussehende Rüstungen aus einer nur ein Viertel so schweren Legierung zu kriegen.
Als Luca sah, wie eine der neu dazugekommenen Frauen ein besonders rotes Feuer entzündete und alle zehn Minuten eine ängstlich quiekende Maus oder mehrere panisch umherkrabbelnde Spinnen hineinwarf hatte er erst gestutzt. Doch dann hatte ihn die Dame, die Sandy genannt werden wollte angesehen und gemurmelt: „Besonders heiße Kohlen. Das sieht aus wie lebende Tiere, ist aber nur ein Nebeneffekt der Verbrennung.“ Ab da hatte nicht nur er geglaubt, dass die Unbekannten besondere Kohlenstücke ins Feuer warfen, die beim Verbrennen eben nicht zischten und knisterten, sondern wie kurz vor dem Platzen stehende Grillwürste piepten.
Wie die Zeit verging merkte er auch nicht mehr. Er arbeitete in einer besonderen Trance, die ihn Hunger, Durst und Zeit vergessen ließ. Er hatte nur noch die Arbeit und das Lächeln der zwei für ihn abgestellten Damen im Kopf.
Aus dem Rest der nach genauer Vorgabe erstellten Mineral-Metalllegierung stellte er kleinere Präzisionswerkzeuge wie Feilen, Stichel und Hämmerchen her, mit denen er die scheinbar von ihm erfundenen Rüstungen mit geheimnisvollen Symbolen verzierte. Einmal dachte er an seine lange zurückliegende Jungenzeit, wo er wie viele in seiner Generation das Rollenspiel mit Papier, Bleistift und Würfelbecher geliebt hatte. Da waren magische Waffen und Rüstungen mit geheimnisvoller Schrift oder Runen vorgekommen. Ja, warum sollte er nicht mal solche angeblichen Zauberrüstungen bauen. Dafür gab es auf der Erde sicher einen Markt, vor allem, wenn diese Rüstungen nur ein Viertel so schwer waren wie die mittelalterlichen Originale.
Er hatte damit gerechnet, dass das eingewirkte Silber die Rüstungen grau glänzen ließ. Um so erstaunter war er, als die Einzelteile nach dem Abkühlen so schwarz anliefen, als wenn jemand sie mit Pech bestrichen hatte. Ach was! Pech war gegen dieses Schwarz noch mittelgrau, dachte er. Was mit seiner ersten Rüstung passierte interessierte ihn nicht. Ihm genügte, dass er sie genau so hinbekommen hatte, wie er sie vorgezeichnet hatte. Dann überkam ihn der Ehrgeiz, diese Art von Rüstung noch besser hinzukriegen. Wenn er und die anderen Genug Material bekamen wollte er wenigstens zehn Stück alleine anfertigen.
Er und seine zeitweiligen Kollegen mussten förmlich dazu genötigt werden, auch mal was zu essen und zu trinken. Dabei konnten sie aber gut auf Alkohol verzichten. Selbst Buck, der nach jedem Tag in der Schmiede einen großen Schluck Bier genossen hatte, kam mit purem Leitungswasser aus.
Zwischendurch ging es für die Mannschaft O’Casys in Zweier- oder Dreierausflügen hinaus ins Land, wo sie dann gleich die Gelegenheit nutzten, ihren Freunden und Verwandten per Mobiltelefon durchzugeben, dass sie ihren Urlaub genossen oder dass ihre Arbeitgeber sie für Folgeaufträge auf Reisen geschickt hatten, genau das, von dem sie ihren angeblichen Alleinunterhalterinnen erzählt hatten, dass sie damit nicht auffallen würden.
Weitere schwarze Rüstungen wurden fertiggestellt und nach der Begutachtung mitgenommen. Luca freute sich, dass er es noch besser hinbekommen hatte als beim ersten mal, wo er mit dem Material noch nicht so vertraut war.
Hätte Luca klar denken können, so wäre ihm wohl aufgefallen, dass auch alle anderen vier, die mit ihm in derselben Schmiede arbeiteten, solche tiefschwarzen Rüstungen machten. Vielleicht wäre ihm da auch aufgefallen, dass die Damen, wenn sie lächelten, ungewöhnlich lange Eckzähne hatten. Was das bedeutete hätte er, der Rollenspielbegeisterte, sofort gewusst. Doch die Damen hielten ihn und alle anderen mit ihren hypnotischen Blicken unter Kontrolle. Kein befremdlicher Gedanke wollte aufkommen, kein Misstrauen erwachen, keine Angst regte sich. Luca und die anderen waren wie Marionetten, die nach den sanften Bewegungen einer unsichtbaren Puppenspielerin tanzten, sangen und mit den Händen wackelten. Er und seine Mitbewohner bekamen auch nicht mit, dass gleich nach der Fertigstellung einer Rüstung merkwürdige Laute darüber ausgestoßen wurden.
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„Ein wenig eng!“ gedankengrummelte Redtooth, einer von Gooriaimirias nicht mit Unlichtkristallstaub imprägnierten Kämpfern. „Ui, was macht die jetzt, große Mutter der Nacht?“
„Sie hat dich gehört und passt sich deinem kraftvollen Körper an“, hörte er die Stimme seiner Herrin wieder. Dann sollte er noch das Visier schließen. In dem Augenblick fühlte er die unbändige dunkle Kraft, die durch die Vollrüstung jagte. Er meinte, damit eins zu werden, eine schier unstillbare Gier nach Leben zu fühlen. Zugleich sah er um sich herum einen schwarzen Dunstschleier, der alle ihn umgebenden Farben in ein schmutziges Grau verwandelte.
„Öffne noch einmal dein Visier, Ritter Redtooth!“ befahl die erwachte Göttin. Redtooth grinste hinter dem heruntergeklappten und verriegelten Gesichtsschutz. Er entriegelte ihn und klappte ihn wieder hoch. In dem Augenblick hörten die anregenden, die Gier nach menschlichem Leben befördernden Kraftströme auf zu fließen. Er fühlte sich irgendwie hilflos und schwach. Da ergriffen ihn die nachtschwarzen Spiralarme jenes Schattenstrudels, mit dem die Göttin ihre Gefolgsleute von einem Ort zum anderen befördern konnte. Er raste durch einen Tunnel und an einer rot leuchtenden Erscheinung vorbei, die wie eine risenhafte nackte Frau mit leicht vorgewölbtem Unterbauch aussah. Dann jagte er durch den zweiten Teil es Tunnels, bis er auf einem Felsplateau herauskam, wo es gerade dunkle Nacht war. „Visier schließen!“ kam der Befehl. Er klappte es so schnell er konnte herunter. Wieder durchflutete ihn jene unbändige Kraft und das verlangen, jemanden auszusaugen. ER fühlte sich sehr stark. „Visier öffnen!“ kam der Befehl durch die Flut aus Überlegenheit und Jagdfieber. Er wollte erst nicht gehorchen. „Visier auf, sofort!“ dröhnte nun die Stimme seiner Herrin in seinem Kopf. Er klappte das Visier wieder hoch. Die schwarzen Dunstschleier und das anregende Gefühl, ein überlegener Krieger zu sein vergingen wieder. Dafür fing ihn wieder ein Schattenstrudel ein und schleuderte ihn durch jenen dunklen Tunnel jenseits von Raum und Zeit vorbei an der in der Mitte wachenden Erscheinung der erwachten Göttin und zurück in sein Ankleidezimmer.
„An alle neuen Krieger meines Ordens. Wenn ich euch an euren vorbestimmten Ort bringen will, so verlange ich, dass ihr kurz vor der Abreise euren Gesichtsschutz öffnet, weil ich euch an mir vorbeikommen sehen will. Gleich nach der Ankunft müsst ihr den aber schließen, damit die volle Schutzkraft eurer Rüstungen wirksam wird. Kein Zauber kann euch dann berühren. Keine körperliche Gewalt, auch kein Feuer, ja auch nicht die verwünschte Sonne, kann euch dann noch etwas anhaben, wenn ihr die ganze Kraft der Rüstung nutzt. Das einzige, was ihr dann nicht könnt ist zubeißen. Damit ihr von mir befördert werdet und damit ihr an euren Zielorten auch eure kraftvollen Zähne benutzen könnt übt ihr, die schon eine Rüstung tragen das Öffnen und Schließen des Visieres, so oft, bis es so schnell geht, dass zwischen Öffnen und Abreise und Ankunft und Einsatz nur ein einziger Herzschlag vergeht. Ist das verstanden?“
Redtooth und wohl auch die ersten anderen Rüstungsträger bejahten es.
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Gooriaimiria hatte sich sehr beherrschen müssen, ihren neuen Ordenskriegern nicht zu verraten, dass diese mit geschlossenen Visieren nicht von ihr transportiert werden konnten. Die Macht der neuen Rüstungen hielt auch die Umschlingung des Schattenstrudels ab. Doch als sie erkannte, dass wenn sie nicht durch die Zauberabwehr der Rüstung kam, auch sonst niemand sie durchdringen konnte war sie doch sehr zufrieden und bedankte sich ganz leise bei dem in ihr eingeschlossenen Geist des Erfinders, auch wenn dieser wieder tief und fest schlief. „Bald wird Nocturnia neu erstehen, wie dieses dem Feuer verhaftete, widerwärtig piepsende Federvieh“, dachte Gooriaimiria. Zehn Rüstungen waren fertig. Die nächsten zehn würden in nur zwei Nächten verfügbar sein. Dann konnte sie ihre neuen Krieger auf ihre ersten Einsätze schicken. Alle die sich in Sicherheit wiegten, weil diese widerwärtigen Blutaufheizerkristalle über ihren Türen hingen würden sehr bald begreifen, dass sie einem Trugschluss aufgesessen waren. Gegen alles gab es irgendwann ein Mittel. Eben nur, dass ihr neues Mittel uralt war und nur aus den Tiefen der Vergangenheit hervorgeholt werden musste. Bald konnte sie alle die einsammeln, die sie brauchte, um ein neues, auch mit gewöhnlichem Nachtkinderblut erzeugtes Vampyrogenese-Agens zu erzeugen.
Wenn sie die ersten 28 Rüstungen zur Verfügung hatte war es ihr sogar möglich, diese 28 Panzerkrieger zugleich fernzuüberwachen, um einen zeitlich abgestimmten Angriff auf 28 Ziele weltweit auszuführen. Die Zeit arbeitete gerade für sie.
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Die Morgensonne ergoss goldenes Licht in das Büro von LI-Direktor Elysius Davidson. Die schwarze Wanduhr neben der Tür zeigte halb zehn vormittags Ortszeit Louisiana. Die darunter angebrachte, sich selbst auf den gegenwärtigen Tag umstellende Kalendertafel zeigte eine Gruppe Cajun-Musiker und darüber in Sonnengelb das Datum: 25.07.2007.
„Termine ab zehn Uhr!“ rief Davidson dem Wandkalender zu. Die darauf sichtbare Musikgruppe spielte mit Fidel, Akkordeon und Gitarre einen Tusch. Dann verschwand sie übergangslos und machte einer in 30-Minuten-Abständen eingeteilten Tabelle platz. Rechts neben der Uhrzeit standen die Namen der zum Termin erscheinenden, rechts daneben das Gesprächsthema. Als Davidson las, dass er um zehn Uhr mit Berthold Deepwater, dem Leiter der Projektgruppe „Ansteckende Körperflüche“ über die neuesten Zahlen amtlich registrierter und vom Institut selbst ermittelter Vampire und Werwölfe sprechen wollte und das Thema in Tiefrot geschrieben stand war sich Davidson sicher, dass das Gespräch länger als zwei halbe Stunden dauern mochte. „Tagesbericht zur Entwicklung in der nichtmagischen Welt von Martha Merryweather auf ein Uhr nachmittags verlegen!“ befahl Davidson. Denn zum einen war das Thema „Tagesbericht aus der nichtmagischen Welt“ in sattem Grün ausgewiesen, also nicht alarmierend, zum anderen war die 13-Uhr-Reihe noch frei. Erst ab 14:30 Uhr sollte er wieder frei verfügbar sein. Denn da stand in orangerot: „Regioadmin Bellebouche in Baton Rouge – Vorletztes Vorbereitungsgespräch Übergang zu neuer Zaubereiverwaltung MAKUSA“
Noch wollte Davidson keinen amtlichen Zauberer und keine dito Hexe in sein eigenes Büro hineinlassen. Erst sollte es magisch bindend abgesichert sein, dass das Laveau-Institut ab dem 15. August 2007 eigenständig bleiben durfte und die wegen Ladonnas Zwangsherrschaft für tot erklärten Hexen und Zauberer eine Generalamnestie bekamen, weil sie ja sonst wegen Vortäuschung falscher Tatsachen und Missbrauch der Magie hätten angeklagt werden können. Erst dann durften Jeff Bristol, Brenda Brightgate und alle die, die auf teilweise spektakuläre Weise ihren Tod in der nichtmagischen Welt vorgetäuscht hatten wieder für lebendig erklärt werden. Doch das ging eben erst, wenn die Exekutivbehörde des MAKUSAs die völlige Straffreiheit garantierte. Ja, und es sollte auch geklärt werden, dass das LI wieder unionsweit handeln durfte. Hierfür sollte Regionaladministrator Bellebouche schönes Wetter machen.
„Standardkalender!“ befahl Davidson. Die Tabelle mit den Terminen verschwand und machte der fidelen Musikgruppe platz, die einen absteigenden C-Dur-Dreiklang spielten.
Um zehn Uhr klopfte es an der Tür. Davidson rief: „Mr. Deepwater, bitte eintreten!“ Herein kam ein Mann Mitte vierzig, der kurzgeschnittenes dunkelbraunes Haar, graue Augen und einen braunen Schnurrbart besaß. Er trug einen blau-grün geschuppten Aktenkoffer an einer silbernen Kette am linken Handgelenk.
„Guten Morgen, Direktor Davidson“, grüßte der Eintretende den Zauberer im dunkelblauen Chefsessel. Davidson erwiderte den Gruß und deutete auf den bequemsten Besucherstuhl ihm gegenüber. Der Mann mit der angeketteten Aktentasche nickte bestätigend und schloss die Tür von innen. Als er saß sagte Davidson zu ihm: „Ich hoffe, der Inhalt Ihrer Tasche zieht sie nicht all zu sehr herunter, weder körperlich noch seelisch.“
„Ich habe den Termin mit Ihnen auf die dringlichkeitsstufe Rot eingeordnet, weil ich feststellen muss, dass sich durch die Regionaladministrationen in der Staatenunion eine immer größere Schere zwischen amtlicher Zahlen und unseren eigenen Erhebungen ergibt, Sir. Näheres werde ich Ihnen sogleich genau darlegen“, erwiderte Deepwater. Er fingerte einen kleinen Silberschlüssel aus einer seiner Taschen und hielt ihn kurz in die Mitte des Raumes. Der Schlüssel glühte kurz golden. Dann war er wieder so wie vorher. Deepwater schloss nun ein winziges Schloss an der Handschelle an seinem Handgelenk auf. Für einen winzigen Moment flackerte es silber-blau um ihn. Dann war die Erscheinung wieder fort, dafür aber die Handschelle offen.
Aus der nun auf dem Schreibtisch abgelegten Aktentasche holte Deepwater mehrere Pergamentblätter heraus. Er verlas erst die amtliche Zahl von registrierten Werwölfen im Staat Louisiana und die Zahlen der bereits in die Siedlung Pacific Moon umgesiedelten Lykanthropen. Dann las er die mit dem Wort „Voraussichtlich“ gekennzeichneten Zahlen aus allen anderen Bundesstaaten. Danach legte Deepwater eine Liste neben die der offiziellen Registrierungen und kommentierte sie mit: „Diese Vergleichsliste zeigt, dass es allein in Louisiana zwanzig nicht amtlich registrierte Lykanthropen mehr gibt als vor zwei Monaten noch. Überhaupt deuten die Vergleichszahlen darauf hin, dass es vor allem in den Staaten südlich der Mason-Dixon-Linie mehr unregistrierte Werwölfe gibt als nördlich davon, ja und dass die Staaten an der Grenzlinie zu Mexiko die größten Unterschiede zwischen amtlich registrierten und unregistrierten Werwölfen aufweisen. Bei den Vampiren ist es ja umgekehrt, dass die registrierten Vampire weniger werden, aber keine ortbaren unregistrierten Vampire aufzufinden waren, zumindest nicht mit den bisherigen Mitteln. Der Kollege Hammersmith arbeitet ja an einer verbesserung der VBR-Kristalle, um sie auch als langstreckenortungsverfahren selbst bei Vampiren mit Ortungsschutz zu nutzen. Aber er hat nicht erwähnt, ab wann diese Methode allgemein verfügbar ist.“
„Was auch daran liegt, dass die Heilerzunft eigene VBR-Kristalle herstellt und somit die Grundstoffspender nicht mehr uns allein zur Verfügung stehen“, grummelte Davidson. Er ärgerte sich immer noch, dass Mia Silverlake ihn und die anderen Sektionsleiter dazu getrieben hatte, auf Eileithyia Greensporns Forderung einzugehen.
„Wie dem auch sei, Sir, ich lese aus dieser Entwicklung, dass zum einen die Mondbrüder wieder mehr Mitglieder haben, weil ja seit Ladonnas Übergriffen Vita Magica keine ihrer blauen Todesstrahler mehr eingesetzt haben und dass bei den Vampiren offenbar eine sehr erfolgreiche Anwerbung freier Vampire für die in jeder Hinsicht obskure Sekte der selbsternannten Göttin aller Nachtkinder im Gange ist, Sir. Von denen wissen wir ja, dass sie Unortbarkeitsartefakte am Körper tragen können.“
„Haben Sie Kopien der auf Louisiana allein bezogenen Zahlen dabei, Mr. Deepwater?“ wollte Davidson wissen. Deepwater nickte und nahm die gewünschten Pergamente aus seiner Aktentasche.
„Ich gestattete Ihnen ja auch, mit unseren Mitstreitern in Mexiko zu korrespondieren, welche Entwicklungen diese sehen. Bestätigen die Mitglieder von der Sociedad contra herencias tenebrosas y bestias peligrosas Ihre Annahme, dass vom Süden her neue Lykanthropen bei uns einwandern?“
„Das ist eine heikle Frage, Sir. Unsere kongenialen Verbündeten in Mexiko bekommen wegen der Familienstreitigkeiten in den Provinzen keine verlässlichen Angaben mehr. Sie können nur mit den von uns überlassenen Lykanthroskopen nach Werwölfen suchen, dürfen diese aber nicht ansprechen, ob sie registriert oder unregistriert sind. Außerdem läuft seit der Rehabilitation von Andrés Piedraroja und seinen Mitarbeitern eine Unterhandlung, alte Kultstätten und Kultgegenstände an die indigenen Bewohner Mexikos zurückzugeben. Das mit der schwarzen Pyramide, dem so genannten Haus der Pein und der Buße, hat die Kollegin Martínez ja bei der Vollversammlung am ersten Junimontag erwähnt.“
„Ja, das ist mir noch sehr gut in Erinnerung, auch was der Korrespondenzpartner der Kollegin Martínez darüber erwähnt hat. Schon sehr beunruhigend.“
„Ja, aber nicht unser Zuständigkeitsbereich, solange keiner von südlich des Rio Grande unsere Mithilfe erbittet“, sprach Deepwater etwas aus, dass Davidson längst bekannt war. Daher nickte der Direktor nur verdrossen. Er dachte an die letzte Aussage der als Geist überdauernden Voodoo-Königin Marie Laveau, dass die Vermächtnisse alter und neuer Schrecken aus Morgen- und Mittagsrichtung dunkle Schatten warfen. Wen und was sie ganz genau damit meinte wollte die mächtige Geisterfrau nicht erklären.
„Gut, wo ich den mit Ihnen vereinbarten Termin um eine halbe Stunde länger ausgedehnt habe ist genug Zeit, von unserem wackeren Waffen- und Rüstungswart genaueres zu erfahren, wie wir die Zahl von Werwölfen und Vampiren genauer ermitteln können. Gegebenenfalls korrespondiere ich dann noch einmal selbst mit meinem quasi Amtskollegen von der Sociedad, falls wir ihm was anzubieten vermögen, um seine eigenen Nachforschungen voranzutreiben, auch ohne Segen oder gar Mithilfe des mexikanischen Zaubereiministeriums“, legte Davidson seine eigene Planung für die unmittelbare Zukunft fest. Dann rief er nach Quinn Hammersmith und bat um einen Bericht zur versprochenen Ortbarkeitsstudie für Vampire und Werwölfe.
Zwei Minuten später traf Quinn Hammersmith persönlich im Büro des Direktors ein. Er brachte drei Gerätschaften mit, die der Direktor noch nicht kannte. Er begrüßte erst den Direktor und dann den Kollegen Deepwater und fragte ihn, ob die Mondfridensbezauberung der Handschelle noch ausreichend stark sei. „Ich lasse die Tasche jede Nacht mit klarer Mondphase unter meiner Mondscheinkuppel liegen, wie Sie es empfohlen haben, Kollege Hammersmith“, sagte Deepwater.
„Was sind das für neue Instrumente, die Sie uns da mitgebracht haben, Kollege Hammersmith?“ fragte Davidson.
„Gleich auf den Punkt“, sagte Hammerscmith. Dann zeigte er auf das erste Gerät, das aus einer Art goldenem Kelch auf einer Windrose und einer im Kelch ruhenden goldenen Kugel bestand, in die Hieroglyphen eingeritzt waren, die Davidson als Zeichen für den altägyptischen Sonnengott Ra, sowie die Zeichen für Licht, Wärme und Leben erkannte. Das Zeichen für Leben, das Anch, prangte auch auf der Windrose am Fuß des goldenen Kelches. „Das hier ist ein Sonnenfeindfinder. Dank an die Kollegen, die sich mit altägyptischen Zaubern auskennen und die über ihre eigenen Kontakte ins Reich am Nil genug Zusatzwissen für uns klargemacht haben. Der Sonnenfeindfinder ist eine Kombination aus Spickoskop, Vampyroskop und Malediktometer, wobei hier die magischen Aspekte auf alles gebündelt sind, das sich von Dunkelheit ernährt oder eine natürliche Sonnenlichtunverträglichkeit besitzt. Damit können wir Nachtschatten, Dementoren und Vampire orten, wenn sie in den Erfassungsbereich des Gerätes geraten. Die Entfernung liegt bei 222 Kilometer, also dem Doppelten Abstand zweier Breitengrade und dem doppelten Durchschnittsabstand zweier Längengrade. Mehr geht im Moment nicht, weil die Wechselwirkung aus Sonnenmagie und Erdmagie keine größere Reichweite hergibt, zumindest noch nicht. Vielleicht geht in einer nicht bestimmbaren Zukunft eine Verbesserung, wenn ich von wo auch immer mehr Wissen über alte Sonnenmagie und alte Erdmagie zur Verfügung bekommen sollte“, sagte Hammersmith. „Achso, die Funktionsweise: Wie erwähnt basiert dieses Gerät auf Spickoskop, Vampyroskop und Malediktometer in schwingender Wechselwirkung zwischen Sonne und Erde, wobei es am stärksten ist, wenn die Sonne am tiefsten steht und in einen Aufladezustand geht, wenn die Sonne im Zenit steht.“
„Und das Gerät funktioniert wie es soll?“ fragte Deepwater. „Ich zeig doch keine halbfertigen Sachen, Kollege Deepwater“, sagte Hammersmith leicht entrüstet klingend. Davidson fragte, was es denn tat, wenn keine Sonnenfeinde, sondern der Sonne verbundene Wesen wie Goldpanzerameisen, Lichterfeen und die legendären Sonnenkinder aus der Vorzeit in den Wirkungsbereich gerieten. „Gut, was die Sonnenkinder angeht kann ich da nichts genaues sagen, Sir. Doch in der Nähe von Goldpanzerameisen zeigt das Gerät genau in die entgegengesetzte Richtung, also bei Goldpanzerameisen im Süden zeigt es nach Norden. Bei lichterfeen zeigt es wahrhaftig neunzig Grad mehr in Sonnenlaufrichtung als die Richtung der Lichterfee, also Lichterfee im Osten, Sonnenfeindfinder zeigt nach Süden, Lichterfee im Westen, Sonnenfeindfinder zeigt nach Norden. Warum das so ist konnten wir bisher nicht herausfinden. Auch kann eine Sonnenlichtmauer in der Richtung, in der sich ein Sonnenfeind aufhält dessen Erfassung vereiteln. Da sollten wir hoffen, dass vampirisierte Zauberer, die von ihrer angeblichen Göttin getrieben werden, keinen Sonnenwall zaubern. Nachtschatten können den ja sowieso nicht.“
„Ja, aber andere Hexen und Zauberer können den, Sie Witzbold“, knurrte Deepwater. Davidson räusperte sich und wies Deepwater zurecht, dass er hier in diesem Büro nur dann kommentieren durfte, wenn er ausdrücklich darum gebeten wurde.
Als Davidson dann nach dem zweiten ihm noch unbekannten Gegenstand fragte deutete Hammersmith auf eine Vorrichtung, die wie eine kleine, von blaugrau glitzernden Mineraleinschlüssen überzogene Silberkugel in einem kugelförmigen Drahtnetz aussah, das an seinen Knoten mit Mondsymbolen verziert war. „Das ist ein Mondfriedensrufer, Direktor Davidson und Kollege Deepwater. Der kann in der Nähe von Lykanthropen deren Aggression auf ein Viertel absenken, ja selbst bei Vollmond eine Rückverwandlung in menschliche Gestalt herbeiführen, solange er von genug Mondlicht bestrahlt wird. Ja, und das Gerät kann mit bereits wirksamen Mondfriedenszaubern zusammenwirken und dabei eine drei- bis fünffache Reichweite wie ohne Mondfriedenszauber erzielen. Kann sein, dass die gute Eileithyia Greensporn dieses Gerät auch für ihre Zunft einfordern möchte, wenn wir der das auf die Nase binden, dass wir sowas schönes haben. Allerdings könnten die Heiler davon abrücken, wenn sie erfahren, dass für die Zentralkugel Occamysilber und ein Zehntelliter Lykanthropenblut benötigt wird. Daher kann meine Abteilung nur bis zu zehn Stück pro Jahr herstellen, da Occamysilber bekanntermaßen sehr schwer zu kriegen ist und für den, der es beschafft eine lebenslange Gefahr birgt, von der darum gebrachten Occamyhenne gesucht und gefunden zu werden. An Blut von Lykanthropen kommen wir nur, solange wir den Mitgliedern des Sonderkommandos Quentin Bullhorn genug Mondsteinsilberwaffen bereitstellen.“
„Na ja, nachdem, was sie über die Grundlagen für Ihr Lykantrhoskop offenbart haben, Kollege Hammersmith, sind wir ja doch einiges an Skrupellosigkeit von Ihrer Abteilung gewohnt“, bemerkte Davidson dazu. Doch Hammersmith nahm es nicht als Tadel, sondern als Kompliment und lächelte.
Ohne dazu aufgefordert zu werden zeigte er auf die dritte Vorrichtung, die wie ein Fernrohr für Wichtel auf einer 3-Achsen-Montierung über einer weiteren silbernen Windrose aussah. „Mit dem Gerät, dem VBRR, also Vampirblutresonanzrektifizierer, kann ich die sonst in alle Raumrichtungen wirkende Wechselkraft eines VBR-Kristalls in eine vorbestimmte Richtung bündeln und damit bis zur tausendfachen Reichweite nach frei in Körpern fließendem Vampirblut suchen. Die Neuerung besteht dabei darin, dass die VBR-Strahlung nicht gleichmäßig ausgesendet wird, sondern für eine Zehntelsekunde pro Sekunde, was die Empfindung für davon getroffene Vampire auf ein Hundertstel absenkt. Das heißt, dass es möglich ist, einen Vampir damit zu orten, ohne dass der Betroffene sofort spürt, dass er mit VBR-Strahlung bestrichen wird. Von den Geräten kann ich wegen der üblichen VBR-Kristalle in den nächsten Wochen höchstens zwanzig anfertigen. Wir sollten bis dahin einen Plan ausarbeiten, wie damit möglichst engmaschig überwacht werden kann, wo Vampire sind, egal ob sie für das Vampyroskop erfassbar sind oder nicht“, erwähnte Hammersmith.
„Bis wann sind diese Geräte in der erwähnten Stückzahl verfügbar und bis wann kann die Stückzahl vergrößert werden?“ wollte Davidson wissen.
„Wie erwähnt habe ich in spätestens vier Wochen zwanzig davon einsatzklar. Da ich ja dafür erst übliche VBR-Kristalle herstellen muss, sowie zur Ausrichtung der Strahlen glattgeschliffene Blutrubine benötige hängt es vom Kollegen Greenbug ab, wie viele Blutrubine er für uns einkaufen kann. Ach ja, wenn wir die Silberrohre nicht gleich von den Kobolden machen lassen wollen – was ich gut verstehen kann- benötigen wir auch für die Ausrichtungsrohre und die Empfängerspirale Occamysilber und … öhm, Haare von möglichst reinblütigen Veelas. Veelastämmige verkaufen nicht gerne ihre Haare, und wenn sie es tun wird es superteuer oder fordert Gegenleistungen, die wir unter Umständen nicht erbringen können oder erbringen wollen.“
„Veelahaare? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, Mr. Hammersmith“, knurrte Davidson. „Gut, die Schweifhaare von entarteten Einhörnern sind noch seltener und werden von ihren Trägern noch rigoroser verteidigt als Veelahaare“, erwiderte Hammersmith. „Dunkeleinhörner, die in ihrer Jugend mit knochenmehl und Menschenblut gefüttert wurden?“ erschrak Deepwater.
Er wusste, dass es böswillige Zauberer und Hexen gab, die herausgefunden hatten, dass neugeborene Einhornfohlen zu nachtschwarzen Abarten umgewandelt werden konnten, wenn sie nach der Muttermilch mit Menschenblut und Knochenmehl gedüngtes Gras zu fressen bekamen. Doch weil diese Tierwesen ungleich aggressiver waren und sich nach dem Abwurf des ersten nachtschwarzen Hornes nicht mehr bändigen ließen galten sie seit 1771 als unerlaubte Züchtungen der Gefahrenstufe XXXXX, deren Zucht und / oder Haltung mit lebenslanger Haft bestraft wurde, falls die Züchter überhaupt solange lebten. Dunkle Einhörner durften mit dem Todesfluch getötet werden, sofern jemand schnell genug war, ein auf ihn oder sie losgehendes Exemplar anzuzielen und die zwei verbotenen Worte zu rufen. Außerdem verbreitete ein gewaltsam sterbendes Dunkeleinhorn im Sterben eine schwarze Giftwolke, die ähnlich wie das silberne Blut der reinen Einhörner einen Fluch übertrug, in dem fall den, dass jeder, der es einatmete innerhalb von einer Minute zum lebenden, pechschwarzen Skelett verweste, aber erst starb, wenn es für mehr als eine Stunde dem natürlichen Sonnenlicht ausgesetzt wurde. Allerdings besaßen diese verfluchten Gerippe einen sehr großen Überlebenstrieb und die zehnfache Kraft lebender Menschen. Auch deshalb traute sich niemand wirklich, ein entartetes Einhorn zu halten oder gar zu töten.
„Ich sehe ein, dass die besten Waffen leider ihren Preis haben, Mr. Hammersmith. Da Sie offenbar genug Haare von Veelastämmigen bekommen haben stellen Sie so viele dieser VBR-Ausrichter her, wie Sie vom Material her erzeugen können! Zumindest könnten wir damit einen gewissen Eindruck auf die in den Staaten auftauchenden Vampire machen“, sagte Davidson.
„In Ordnung, Sir. Öhm, vielleicht besteht die Möglichkeit, über die in Europa lebenden Veelas an besonders hochqualitatives Material zu gelangen. Hmm, aber da könnte mein Einwand von den für uns unannehmbaren Gegenleistungen greifen“, grummelte Hammersmith. Das sahen Davidson und Deepwater ein.
Als die Unterredung damit endete, dass Deepwater und Hammersmith sich darüber abstimmen wollten, wie die neuen Aufspürartefakte möglichst sinnvoll über die USA verteilt werden konnten war es bereits halb zwölf. Davidson nutzte die halbe Stunde bis zur Mittagspause, um einen Brief an den Sprecher der mexikanischen Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse und gefährliche Tierwesen zu schreiben, dass dieser ihm möglichst bald mitteilen konnte, ob es in Mexiko möglich war, die genaue Zahl von Werwölfen und Vampiren zu bestimmen. Denn sie alle mussten davon ausgehen, dass sich die Mondbruderschaft verstärkte, um bald zum Vergeltungsfeldzug gegen die „Eingestaltler“ aufzubrechen. Auch wollten die sicher genug Leute haben, um gegen die wenigen verbliebenen Anhänger der Vampirgötzin anzutreten.
Nach der Mittagspause erfuhr Davidson von Martha Merryweather, dass es derzeit keine neuen Übergriffe von Werwölfen und Vampiren in der Welt gab. Vorfälle, die in der nichtmagischen Welt aufkamen wurden zuverlässig von den ministeriumseigenen Katastrophenbereinigern und Vergissmichs behandelt. Dann erwähnte sie jedoch was, dass sie als „beachtenswert“ bezeichnete.
„Meine Nachrichtenbündelungs- und Ereignisschätzungsanwendung hat Berichte von über längere Zeiträume verreisten Menschen als „Beachtenswert“ ausgegeben. Es handelt sich dabei um zwanzig Personen, die drei Gemeinsamkeiten haben: Sie sind alleinstehend, männlichen Geschlechts und im Internet bekannte Schmiede mittelalterlicher Gebrauchs- und Turnierrüstungen. Drei von ihnen sollten ursprünglich zu einem Mittelalterfest in Littel Waters bei New York City antreten, haben sich jedoch offenbar umentschieden. Seitdem gelten sie alle als beurlaubt und mit unbekanntem Ziel verreist.“
„Rüstungsschmiede? Wie viele noch einmal, bitte?“ fragte Davidson. Martha Merryweather wiederholte die Zahl und legte ein Stück Papier auf den Tisch, auf dem die Angaben über die Schmiede standen.
„Und Ihr magieloses Vorhersageprogramm stuft diese Meldungen als beachtenswert ein. Kann es nicht sein, dass jemand irgendwo einen Großauftrag für Ritterrüstungen erteilt hat und deshalb die ihm aus diesem Internet bekanntesten und wohl auch mit mehr als drei Wertungssternen empfohlenen Schmiede an einem Ort zusammenbringen wollte. Schließlich gibt es ja in fast allem Wettbewerbe. Ich kann mir gut vorstellen, dass es auch Wettbewerbe im Waffen- und Rüstungsschmieden gibt“, sagte der Direktor des LIs.
„Ja, eben, und das fehlt eben. Denn wenn es um einen Großauftrag ginge hätte sich der Einzelmensch oder die Firma doch ganz offen an die zwanzig wenden können. Ein Wettbewerb würde längst im Internet thematisiert, so wie diese unsäglichen Voyeurssendungen über im Urwald ausgesetzter Ex-Berühmtheiten, kameraüberwachte Wohncontainer oder Junggesellen, die sich zehn oder zwanzig heiratswillige Frauen ins Haus einladen, um sich aus denen die eine auszusuchen, die ihn kriegen soll. Vielleicht machen die auch mal irgendwann eine Serie über die besten Gärtner, Schreiner oder eben Schmiede. Aber bisher habe ich sowas nicht gefunden“, sagte Martha. „Das Programm stuft diese Nachrichtenkorrelation deshalb als beachtenswert ein, weil es darauf eingestellt ist, nach Ereignissen zu suchen, die mit Gegenständen zu tun haben, die nicht elektrisch, elektronisch und / oder mit Verbrennungsantrieben arbeiten, weil die ja größtenteils für Hexen und Zauberer uninteressant bis unbrauchbar sind. Rüstungen hingegen könnten für Zauberer interessant sein, wenn diese aus einer magisch nutzbaren Metalllegierung gemacht werden, also etwas mit Silber- oder Goldanteilen, sofern da nicht auch magisch nutzbare Edelsteine verarbeitet werden sollen. Nach der Abhandlung über die Nutzbarkeit von Edelsteinen von Gemma Hareth, die mein Sohn mir nach seinem Schulabschluss überließ, könnten solche Schmiede eben auch Smaragde oder Rubine in Rüstungen einbauen, die mit bestimmten Zaubern belegt werden können. Deshalb wurde die Zusammenfassung als beachtenswert eingestuft.“
„Ja, aber es gibt doch in der magischen Welt genug Schmiede für alles, eben genau für die von Ihnen erwähnten Zwecke“, erwiderte Davidson. „Ja, und da könnte es nicht nur beachtenswert, sondern bedenkenswert werden, Sir. Denn falls jemand Schmiede an einem Ort zusammenbringt, um etwas in gewisser Stückzahl zu schmieden, wovon die magische Welt nichts erfahren darf, dann könnte es für uns wichtig bis überlebenswichtig werden, zu wissen, wer es ist, was er oder sie geschmiedet haben möchte und wann die Einzelperson oder Gruppe die geforderten Endprodukte hat. Ich möchte nicht paranoid herüberkommen, Sir. Aber wir haben ja in der Welt genug Gruppierungen, die ein Interesse daran haben, nicht nur in der magischen Welt an Macht zu gewinnen. Außerdem erinnere ich an die Sache mit den entführten Sprengstoffchemikern kurz vor dem elften September 2001, die wohl von Hagen Wallenkron und seinen Anhängern verschleppt wurden, um wohl Bomben für Anschläge mit möglichst vielen Toten zu bauen.“
„Autsch! Die wurden nach dem Anschlag auf das Welthandelszentrum, dem Sie und Ihr Mann ja um fünf Minuten entgangen sind nicht mehr benötigt“, seufzte Davidson. „Ja, und genau deshalb wollte und musste ich Ihnen diese Mitteilung und ihre Herleitung präsentieren, Sir. Am Ende ist wieder jemand unterwegs, der die Welt angreifen will, seien es die dunklen Hexen und Zauberer, die Lykanthropen oder die Vampire dieser selbsternannten Göttin. Öhm, Vita Magica schließe ich aus, ebenso die Töchter des Abgrundes, die für meine Familie so einschneidend waren.“
„Moment, diese Schmiede sind noch nicht in ihre Heimat zurückgekehrt? Werden sie vermisst?“ fragte Davidson. „Laut den mir und damit dem Programm zugänglichen Quellen ist der Aufenthaltsort der zwanzig Schmiede zwar unbekannt, weil als geheim bezeichnet, sie stehen aber offenbar noch in Telefonkontakt mit ihren Freunden und Verwandten. Ja, noch eine mir jetzt erst auffallende Gemeinsamkeit: Die fraglichen Schmiede hatten alle bezahlte Berufe, die nichts mit Schmiedekunst zu tun haben und konnten sich offenbar kurzfristig eine große Zahl von Urlaubstagen heraushandeln, ohne dass ihre Vorgesetzten sich darüber aufregten. Sie werden also nicht vermisst im polizeilichen Sinn.“
„Gut, verfolgen Sie diese Entwicklung weiter. Sollte einer der Schmiede wieder auftauchen und einen Bericht ins Internet stellen teilen Sie mir das bitte mit. Öhm, aus den USA sind es drei. Dann setzen Sie bitte die Kollegen Brightgate und Bristol darauf an, das weiterzuverfolgen!“ Martha Merryweather bestätigte das.
Nach dem Gespräch dachte Davidson darüber nach, was jemand aus der Zaubererwelt mit zwanzig Rüstungsschmieden anfangen konnte. Selbst wenn Rüstungen bezaubert werden konnten waren sie für Zauberer und Hexen doch eher hinderlich als hilfreich. Ja, und die Lykanthropen hatten längst ein Mittel gegen Mondsteinsilbergeschosse und konnten sich zudem in Lagern der Polizei und der Streitkräfte mit gepanzerten Schutzanzügen versorgen. Die brauchten doch keine Ritterrüstungen mehr. Doch Marthas Erläuterung ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Es gab genug Gruppen, die es darauf absahen, die Welt nach ihren Vorstellungen umzubauen. Sie vom LI sollten da zumindest auf der Hut bleiben, um am Ende nicht eingestehen zu müssen, etwas früh genug gewusst und dann nichts dagegen unternommen zu haben. Doch was genau es war wussten sie eben noch nicht.
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Viele waren in den Sommerferien. Damit das Zaubereiministerium weiterhin handlungsfähig blieb hatten die Abteilungsleiter entscheiden müssen, wer über den Sommer weiterarbeitete und wer in den Urlaub gehen konnte. Durch den gescheiterten Umsturzversuch der Gruppierung Sanguis Purus fehlten hier und da erfahrene Mitarbeiter.
Da Julius Latierre sich bereiterklärt hatte, über die Tage im August bei seinen Kindern zu bleiben, während Béatrice an einer Heilerkonferenz in Greifenberg teilnehmen wollte und Millie in Einsatzbereitschaft war, um möglichst gleich nach Abpfiff von den Spielen der Quidditchweltmeisterschaft berichten zu können hatte auch er sich bei Nathalie Grandchapeau gemeldet, obwohl er als Chef seiner eigenen kleinen Behörde durchaus die Urlaubseinteilung vornehmen konnte.
Üblicherweise fand zwischen dem 24. und dem 27. Juli das Schachturnier von Millemerveilles statt. Doch wegen der in Indien angelaufenen Weltmeisterschaft fiel es auch dieses Jahr aus. Millie hatte dazu gemeint, dass es auch langweilig werden würde, wenn jedes Jahr einer aus der Latierre-Familie gewann. Abgesehen davon regte sich unter den hier geborenen langsam ein gewisser Unmut, weil seit Martha Merryweather und Ursulines langem Finalspiel niemand aus der Dorfgemeinschaft selbst das Finale erreichte. Eleonore Delamontagne hatte Millie aufgefordert, in ihrer Kolumne aus Millemerveilles zu erwähnen, dass ihr einige ältere Herren vorwarfen, sie habe damals durch die Einladung der Latierres zugelassen, dass das Turnier nur noch „eine einzige Latierre-Schau“ geworden sei. Sie wollte unbedingt klarstellen, dass das Schachturnier keine reine Dorfeinwohnerangelegenheit sei und sich einige ungehaltene Nachbarinnen und Nachbarn daran erinnern möchten, dass es im 19. Jahrhundert zwanzig Jahre hintereinander ein nicht in Millemerveilles wohnhafter Teilnehmer war, der den goldenen Zaubererhut erspielt hatte. Außerdem habe Blanche Faucons Großmutter Claudine Rocher selbst achtmal in Folge das Turnier gewonnen, und diese hatte auch nicht in Millemerveilles gewohnt, sondern sei von hoonorigen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft eingeladen worden. Sie zitierte noch einmal die Regeln, denen nach die vier mit kleinen Zaubererhüten ausgezeichneten Turnierteilnehmerinnen und -teilnehmer beim nächsten Turnier anzutreten hätten.
„Wir haben offenbar keine Sorgen mehr“, meinte Julius zu Millie. „Denen ist ein Schachturnier wichtiger als der trügerische Frieden da draußen im Land.“
Beim Sommerball am 28. Juli durfte Julius erstmalig als Sprecher eines Tisches auftreten. Julius wertete das als nachträgliches Geschenk von Roseanne Lumière zu seinem 25. Geburtstag. Er durfte mit seiner Frau, sowie den Ehepaaren Lagrange, Dumas und Jeannes Schwiegereltern am selben Tisch sitzen.
„Und, noch mehr vom grandiosen Sieg von Bruno und seinen Leuten mitbekommen als das, was in eurem Extrablatt drinsteht, Millie?“ fragte Belenus Chevallier. Julius‘ Frau antwortete:
„Außer, dass die Mexikaner sich bei ihren Funktionären und deren Leiter der Spiele- und Sportabteilung beschwert haben, dass sie auf ihren fünf Jahre alten Besen offenbar nicht mehr so schnell fliegen können und vor allem die Flughöhe nicht mehr so schnell ändern können, wie auch dass ihnen das indische Zaubereiministerium ihre geflügelten Schlangen als Maskottchen untersagt hat, weil es befürchtet, dass ein gewisser Garuda verärgert werden könnte, wer immer das ist. Ich kann das aber nicht in die nächste Ausgabe bringen, weil es keine für die Öffentlichkeit bestimmten Äußerungen waren. Also pssst!“.
„Garuda ist das geflügelte Reittier des indischen Fruchtbarkeitsgottes Wishnu. Er gilt als Todfeind aller Schlangen und schlangenartigen Wesen“, erläuterte Sandrines Mutter. „Achso, und da haben die Inder Angst, dass dieser Göttervogel angeschwirrt kommt und gegen die von den Aztekennachfahren der Mexikaner als Götterschlangen verehrten Maskottchen kämpft“, schloss Millie aus Genevièves Erklärung. Julius hütete sich vor einer Antwort. Denn mit magischen Riesenvögeln, die Schlangenwesen bekämpften hatte er schließlich mehr als genug Erfahrung.
„Wie dem auch sei, Geneviève und Millie, die Mexikaner dürfen ihre Sombrerohüte wieder einpacken und nach Hause fliegen“, freute sich Brunos Vater. Er hoffte, dass er als direkter Angehöriger eines Spielers zum Halbfinale und Finale reisen konnte, falls Frankreich bis dahin durchhielt.
Am Ende des Abends gingen die Eheleute Latierre mit den silbernen Tanzschuhen nach Hause. Camille und Florymont hatten es mal wieder geschafft, die goldenen Tanzschuhe zu gewinnen.
Am Tag nach dem Sommerball fand Julius gleich drei Briefe in seinem Büropostfach. Einer stammte von Pygmalion Delacour, einer von Fleur Weasley und einer von Gabrielle Marceau. Alle drei Briefe enthielten dieselbe Neuigkeit, wenn auch unterschiedlich geschrieben. Pygmalions Brief war in Beamtensprache verfasst und sollte wohl sowas wie ein offizielles Schreiben sein, dass Julius zu den Akten nehmen durfte.
Sehr geehrter Kollege Julius Latierre, höchst wahrscheinlich wurde Ihnen seitens meiner direkten Vorgesetzten, Madame Barbara Latierre, Mittteilung gemacht, dass meine Ehefrau und ich uns zwischen dem 23.07. und dem 12.08.2007 in genehmigtem Urlaub befinden.
In Befolgung einer vor sechs Monaten an unsere Adresse ergangenen Einladung halten wir uns derzeitig innerhalb des Zuständigkeitsbereiches des britischen Ministeriums für Zauberei auf. Somit wurden wir unmittelbar am derzeitigen Aufenthaltsort von folgendem Umstand in Kenntnis gesetzt:
Meine Tochtr Fleur Weasley geb. Delacour lässt mitteilen, dass sie nun sichere Kenntnis besitzt, dass die Geburt ihres zweiten Kindes zwischen dem 04.09. und 18.09. erfolgen wird. Auch wenn die Geburt als solche auf dem Hoheitsgebiet des britischen Ministeriums für Magie stattfinden wird hielt ich es für angemessen, Ihnen als amtlichen Vertreter für alle Angelegenheiten, die das friedliche Verhältnis zwischen Veelas und Menschen betrifft über diesen Sachverhalt Mitteilung zu machen. Dies erfolgt durch dieses Schreiben.
Meine angetraute Ehefrau so wie meine Tochter Fleur trugen die Bitte an mich heran, Ihnen ihren Gruß zu übermitteln und sie bei dieser Gelegenheit nachträglich zur Vollendung Ihres fünfundzwanzigsten Lebensjahres zu beglückwünschen. Ich komme dieser Bitte sehr gerne nach und schließe mich den zu übermittelnden Glückwünschen an. Des weiteren wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie weiterhin einen erbaulichen Sommer und verbleibe
mit hochachtungsvollen Grüßen
Pygmalion Delacour
Gabrielles Brief lautete:
Sehr geehrter Monsieur Latierre,
Da ich nicht weiß, ob der Brief von meinem Vater schneller bei Ihnen ankommt als der von mir läuft gerade eine Wette zwischen meiner älteren Schwester und mir, wer von uns dreien Sie zuerst erreicht.
Dass meine Schwester Fleur gerade das zweite Kind trägt wissen Sie ja schon. jetzt hat sie aber von ihrer betreuenden Hebamme erfahren, dass es wohl irgendwann zwischen dem vierten und dem achtzehnten September geboren wird. Da ich ja jetzt selbst weiß, wie heftig das ist, Mutter zu werden kann ich ihr da noch besser nachfühlen, was sie jetzt vor sich hat. Ich denke mal, dass mein Vater, der ja immer noch ein Kollege von Ihnen ist, selbst was dazu schreiben will und das wohl im Ministeriumsamtsfranzösisch mitteilen wird. Aber falls es nicht zu frech von mir und meinem Mann ist, sowas zu erbitten frage ich, ob Sie uns mitteilen, wessen Brief zuerst bei Ihnen angekommen ist.
Mit freundlichen Grüßen
Gabrielle Marceau, geb. Delacour
p. s. vielleicht bin ich auch wieder schwanger. Aber das kann erst in drei Wochen geklärt werden.
Fleur schrieb dass sie ihn im Namen ihres Mannes grüßen wollte und jetzt wisse, wann ihr zweites Kind zur Welt kommen würde. Sie erwähnte auch die Wette, die sie mit Gabrielle laufen hatte.
Ich hätte meine kleine Schwester nicht so erfreut ansingen sollen. So fürchte ich für meinen Vater, dass Gabrielles Brief schneller bei Ihnen ankommt als seiner oder meiner. Da er Ihnen das wohl nicht mitteilen wird möchte ich Ihnen sozusagen als ersten offiziellen Vertreter des Ministeriums mitteilen, dass er sicher sehr enttäuscht sein wird, dass mein zweites Kind ebenfalls eine Tochter sein wird. Zumindest konnte dies trotz meines großmütterlichen Erbes mit einem Einblickspiegel erkannt werden. Gut, mein werter Schwiegervater hat ja schon zwei Enkelsöhne. Vielleicht frustriert das meinen Herrn Vater gerade. Ich freue mich auf jeden Fall auf die Kleine. Mein Mann käbbelt sich noch mit meiner Mutter, ob sie einen rein englischen oder wieder einen französischen Vornamen bekommt. Dazu sage ich nur, dass auch in England die Tradition gilt, dass die Mutter einer Tochter den Namen aussucht, den sie gleich nach der Geburt nennt. Also habe ich in der Sache das letzte Wort, und die beiden müssen damit leben. Gut, dass wird die kleine Ballerina in meinem immer umfangreicheren Schoß sicher auch tun müssen, wenn sie ihre warme, wenn auch immer engere Herberge verlassen hat.
Julius schaffte es noch bis zur üblichen 10-Uhr-Morgen-Konferenz in der Behörde für friedliche Koexistenz auf jeden Brief zu antworten. Gabrielle schrieb er, dass er ihren Brief zusammen mit dem ihres Vaters und den Fleurs zusammen erhalten habe. Somit sei er nun vollständig unterrichtet. An Fleur schrieb er, dass er hoffe, dass Victoires kleine Schwester auch sicher auf die Welt finden würde. An Monsieur Delacour schrieb er ein amtliches Dankesschreiben und machte ihm die Mitteilung, dass er seinen Brief als offizielle Bestätigung zusammen mit dem zeitgleich erhaltenen Brief seiner Töchter zu den Akten nehmen würde, auch wenn das britische Ministerium für Magie für alles nach der Geburt des Kindes anfallende zuständig bleiben würde.
Um zehn Uhr traf er sich dann mit Nathalie und Belle Grandchapeau und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Büros für friedliche Koexistenz. Sie besprachen die Außendiensteinsätze, an denen wegen drei Kollegen im Urlaub auch Julius teilnehmen sollte. Einigen alleinstehenden und somit alleinreisenden Zauberern und Hexen entfiel es immer wieder, dass sie auch an einem Urlaubsort im Ausland dem Zaubereiverbot vor nichtmagischen Zeugen unterlagen. Abgesehen davon verdichteten sich die Hinweise, dass die Sekte um die Vampirgöttin, die sich Mutter aller Nachtkinder nannte, denSchock ihrer schweren Niederlage gegen die Nachtschatten der nicht minder gefährlichen Kaiserin Stella Nigra der einzigen überwand und nach neuen Wegen suchte, ihren Irrglauben zu verbreiten.
„Gut, das betrifft eigentlich eher die Abteilung von Madame Latierre, Barbara und da genau den Leiter der Behörde zur Erfassung und Überwachung von Vampiren, Monsieur Charlier. Aber da die Anhänger dieser höchst gefährlichen Entität auch in der nichtmagischen Welt ihr Unwesen treiben besteht doch die signifikante Wahrscheinlichkeit, dass deren Vorhaben oder Untaten die Zaubereigeheimhaltung bedrohen und somit von allen die nichtmagische Welt beobachtenden Behörden überwacht werden muss. Dies sage nicht ich, sondern Ministerin Ventvit. Diese hat auch unabhängig von üblichen Bitten um Amtshilfe festgelegt, dass auch diese Behörde mit ihren Überwachungsmöglichkeiten darauf achtet, ob es verdächtige Aktivitäten gibt, zumindest was den Zuständigkeitsbereich des französischen Zaubereiministeriums betrifft. Wir sind natürlich gehalten, alle von uns erworbenen Kenntnisse an Monsieur Charliers Behörde weiterzuleiten. Die Ministerin wird sich dazu noch einmal in einer Abteilungsleiterkonferenz äußern, bei der auch Monsieur Charlier anwesend sein wirdd“, verkündete Nathalie Grandchapeau.
„Das wird Monsieur Charlier nicht gefallen, dass wir auch in die Vampirüberwachung eingespannt werden“, bemerkte Primula Arno dazu. Julius hätte seiner Schwiegertante dafür fast zugenickt. Doch er beherrschte sich.
„Ihm steht es frei, um seine Versetzung oder gar vorzeitige Pensionierung zu bitten, falls ihm die Arbeitsbedingungen nicht gefallen“, sagte Nathalie Grandchapeau sehr streng klingend. Die Botschaft kam bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an. Auch sie konnten um ihre Versetzung oder vorzeitige Pensionierung bitten, wenn sie mit ihrer Tätigkeit oder den anfallenden Aufgaben unzufrieden oder überfordert waren.
„Bei allem Respekt vor Ihnen, Madame Grandchapeau und auch vor dem Kollegen Latierre, aber dann sollten wir zumindest vermeiden, dass Monsieur Latierre andauernd mit Monsieur Charlier zu tun bekommt“, wandte Rose Devereaux ein, die gleich nach der Konferenz auf ein französisches Kreuzfahrtschiff überwechseln sollte, da sich dort ein alleinreisender Zauberer mit unrühmlicher Aktenkundigkeit aufhielt.
„Natürlich werte ich Ihren Einwand nicht als Abwertung, Kollegin Deveraux“, sicherte Julius seiner Kollegin zu. „Ich gebe Ihnen sogar recht. Das Arbeitsverhältnis zwischen Monsieur Charlier und unserer Behörde ist wegen der Vampirblutresonanzkristallzuteilung aus den USA immer noch sehr angespannt.“
„Falls Sie dies gestatten übernehme ich dann die Botengänge zu Charliers Büro“, sagte Primula Arno spontan. Nathalie sah die Tochter einer reinrassigen Zwergin erst etwas verstimmt an. Doch dann lauschte sie in sich hinein und nickte ihr dann zu. „Auch wenn ich die gewisse Besorgnis hege, dass Monsieur Charlier auch Sie als unsere Botschafterin nicht sonderlich hoch wertschätzen mag danke ich für Ihre Einsatzbereitschaft und genehmige Ihren Vorschlag, Mademoiselle Arno“, sagte Nathalie höchst offiziell.
Nach der Konferenz kehrte Julius in sein eigenes Büro zurück, wo er bis zur Mittagspause weiter Post bearbeitete. Nach der Mittagspause trat er seinen üblichen Dienst im Computerraum der Behörde für friedliche Koexistenz an. Doch an diesem Nachmittag bekamen sie nichts herein, dass einen Außendiensteinsatz gefordert hätte. Auch in den vereinigten Staaten tat sich gerade nichts neues. Alle dort erwarteten die offizielle Wiedereinsetzung des magischen Kongresses der USA am 15. August.
Da Julius die letzte Einschätzung des Geburtstermins von Fleurs zweitem Kind zu einer Angelegenheit der Vertraulichkeitsstufe C4 erklärt hatte konnte er seinen beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen erzählen, wann Fleurs zweite Tochter auf der Welt erwartet wurde.
„Bei Kindern von Menschen und Veelas gilt der übliche Geburtszeitraum von vierzehn Tagen nicht, Julius. Wenn die Mutter eine Veelastämmige ist trägt sie ihr Kind mehr als die üblichen vierzig Wochen aus. Es können aber auch genau diese vierzig Wochen sein, wenn es das zweite oder dritte Kind ist“, sagte Béatrice. Julius erinnerte sich, sowas ähnliches schon wegen Euphrosynes Kind gehört zu haben. Deshalb nickte er nur.
„Und Tante Pri will freiwillig dem alten Charlier weiterleiten, was ihr so im Bezug auf diese schlafende Göttin mitkriegt?“ wollte Millie von Julius wissen. Dieser bejahte es. Offenbar hatte Primula Arno es ihrem Bruder Albericus weitergemeldet, der dann Millie angetextet hatte, dass sich eine Importfranzösin mit einem Importfranzosen über Vampire in Paris oder an der Côte d’azzur auseinandersetzen sollte. „Öhm, dass das eine S2-Angelegenheit ist hat Nathalie aber nach der Besprechung erzählt, falls das nicht sogar auf S3 oder höher hochgestuft wird“, mahnte Julius an. Doch weil er selbst sowohl Millie als auch Béatrice im Schutze von Klangkerkerzaubern oder per Mentiloquismus schon heftigere Geheimsachen weitergereicht hatte wunderte er sich nicht, dass beide grinsten. Dann hörte er Béatrices Gedankenstimme: „Wahrscheinlich hat sie es ihm so mitgeteilt.“ Millie nickte, als habe sie die Nachricht erhalten und schere sich nicht um die Mannieren des Mentiloquismus. Da begriff Julius, dass es wieder soweit war, dass Béatrice mit ihnen beiden zugleich und jeder von ihnen mit ihr und dem anderen zugleich mentiloquieren konnte. Das kannte er schon von Millies Schwangerschaft mit Flavine und Phylla und der von Ashtaria beauftragten Schwangerschaft von Béatrice mit dem kleinen Félix.
„Och, sind wir wieder soweit“, schickte Julius an Millie los und hörte gleich darauf ihre und dann auch Béatrices Gedankenstimme mit „Offensichtlich“ antworten.
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Es fühlte sich für sie an, als wenn jemand von innenund dann von außen gegen ihren Körper drückte. Sie blickte sich um. Ihre kristallische Reifekammer pulsierte in einem helleren Licht. Dann merkte sie, wie sich die runde Innenwand stärker zusammenzog und gegen sie drückte. Da wusste sie, es war so weit.
Als ihr Oberkopf den Eingang des kristallinen Gebärmutterhalses berührte war ihr, als zöge eine schwache Kraft an ihr und sauge sie Puls für Puls immer tiefer dort hinein. Gleichzeitig fühlte sie einen Druck gegen ihre Füße und meinte, ein dumpfes, regelmäßig lauter und leiser werdendes Grummeln zu hören. Es ging los!
Während sie in den immer engeren Durchgang hineingeschoben wurde stiegen in ihrem Geist verschüttete Erinnerungen an die Oberfläche. Da waren erst die Erinnerungen Birgit Hinrichsens und Ute Richters. Diese begannen mit lauten dumpfen Schreien und einer ähnlichen Enge wie sie sie nun empfand. Sie erinnerte sich an die Geburten ihrer lebenden Urquellen. Dabei erfasste sie, dass Birgit Hinrichsen längere Zeit im Geburtskanal festgesteckt hatte, bis jemand ihren Kopf von außen mit einer fest ansitzenden Saugglocke zu fassen bekam und entschlossen zog, um sie aus dem offenbar erschöpften Mutterleib herauszuzerren. Angst und Verzweiflung waren Birgits erste Gedanken ihres kurz vor dem rechtlichen Beginn stehenden Lebens. Sie hatte versucht, sich festzuklammern, bis jemand von außen ihrer Mutter auf den Bauch klopfte, um die Gebärmutter zu neuen Regungen zu zwingen. Dann war ihr Kopf an der Luft. Ihr Körper folgte nach mehreren weiteren Zugbewegungen und den hörbaren Kommandos an Frau Lotte Hinrichsen, noch einmal zu pressen. Dann endlich war es überstanden.
Jetzt waren es Ute Richters Erinnerungen an die eigene Geburt, die die Kaiserin der wahren Nachtkinder nacherlebte. Sie hatte keine Schwierigkeiten, auf die Welt zu kommen. Ab da wechselten die Erinnerungen oder durchdrangen einander, so dass Birgute Hinrichter nicht mehr wusste, ob Birgit im Kindergarten von anderen Mädchen wegen ihrer Herkunft schikaniert wurde oder ob es Ute war, die in der Vorschule mehrere Prügeleien mit Jungen angezettelt hatte. Über die Schulzeit der beiden erinnerte die gerade selbst aus sich heraus geboren werdende sich an Pöbeleien, weil Birgit sich als Streberin hervortat und an dumme Anbandelungsversuche von Jungen, weil Ute bereits mit zwölf so auf körperliche Sachen ausging wie eine fünfzehnjährige. Sie fühlte den Schmerz und die Angst nach, als Birgit Hinrichsen mit fünfzehn von drei Jungen vergewaltigt worden war und erlebte die tiefe Verzweiflung nach, als deren Anwälte es so hinstellen wollten, als habe sie, Birgit Hinrichsen, diesen Akt gewünscht. Dagegen konnte sich Ute schon sehr früh ihrer eigenen Haut erwehren und hatte ihren ersten Geschlechtsverkehr mit sechzehn Jahren mit Timo Ludwig, auch Tilu genannt. Die beglückende Erinnerung an dieses voll und ganz einvernehmliche erste Mal wurden da jedoch schon überlagert von den späteren Erinnerungen daran, dass Tilu entgegen dem Rat seiner Eltern zur Bundeswehr gegangen war und 2002 mit seiner Einheit in Afghanistan in einem Hinterhalt der Taliban gefallen war. Ja, der war stark, intelligent und war ein geborener Sexgott gewesen, dachte jene, die gerade neu geboren wurde. Dann erlebte sie Birgit Hinrichsen und ihren aufreibenden Kampf um Anerkennung in der Universität und die beinahe zweite Vergewaltigung, als ein Dozent meinte, sich seine Unterstützung „was kosten“ zu lassen. Den hatte sie dann heftig zusammengeschlagen. Das hatte ihr fast die Immatrikulation und einen Gerichtsprozess wegen Körperverletzung eingebracht. Doch ihr Anwalt, der ihr auch damals schon geholfen hatte, verstand es auch hier, Zeuginnen und Zeugen beizubringen, die Birgits Verhalten erklären konnten. Der betreffende Dozent, dessen Namen sie mit Hass und Verachtung verknüpfte, ein sehr umtriebiger, womöglich sexsüchtiger Kerl war, der sich die Unterstützung für junge Studentinnen häufig mit körperlichen Zuwendungen erkauft hatte. Durch Birgit Hinrichs entschlossene Gegenwehr und die Taktik ihres Anwaltes Dr. Hagedorn wurde sie mit einer richterlichen Ermahnung, nur noch in unmittelbaren Gefahrensituationen Gewalt anzuwenden vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen und ihr Verhalten als putative Notwehr wegen eines drohenden Angriffes auf ihren Leib und ihre Ehre gewertet. Der umtriebige Dozent war danach von der Bildfläche verschwunden, bis sie, Birgute Hinrichter, ihn von einem ihrer Nachgeborenen hatte aufstöbern lassen und ihn dazu gezwungen hatte, ihr zweihundertster Sohn zu werden. Mochte es ihn noch geben, dem sie einen neuen Namen verliehen hatte?
So ging es erst weiter durch die Leben von Birgit und Ute, zwischen der nie wieder was von Sex wissen wollender Birgit und der sich der körperlichen Liebe gerne hingebenden Ute. Sie erinnerte sich, dass Ute zweimal abgetrieben hatte und dass sie sehr wütend gewesen war, dass Tilu, der erste Mann in ihrem Leben, mit Susi Knesebeck vor den Altar getreten war, bevor er mit dem Bund in den Krieg gegen den Terror gezogen war. Sie dachte Utes Frage nach, ob sie sich nicht von Tilu hätte schwängern lassen sollen, um ihn ganz für sich zu haben. Als sie dann vier Monate nach der Hochzeit von Timo Ludwig erfuhr, dass seine Susi da schon im dritten Monat schwanger war hatte sich Ute Richter tatsächlich geärgert, dass sie es nicht so hingedreht hatte. Doch das wäre wohl auf die Dauer nicht gut gegangen, weil Tilu meinte, allen bedürftigen Frauen zu gehören und sie auch keine Kostverächterin war. Traurig war sie jedoch gewesen, als am 10. Juni 2002 die Meldung von Timos Tod kam. Danach ging es für Birgit und Ute nur noch um die Reise in das Atlasgebirge. Es erfolgte die schmerzvolle Erinnerung an die Entkörperung von Birgit und Ute und die nicht minder schmerzvolle Verschmelzung der Beiden, gefolgt von einem Rausch aus Glücksgefühl und Machtbewusstsein, als die Tortur der Seelenverschmelzung überstanden war. Gleichzeitig empfand sie Morgauses Geburt und erlebte zugleich die letzten fünf Monate im Leib der selbsternannten Mutter allen Lebens Lahilliota, als Thurainilla entstanden war. Sie erlebte die Kindheit Morgauses mit ihrer ebenso zauberbegabten Schwester Morgana mit und bekam mit, wie Thurainilla unter der Geburt einen Teil ihrer schon vor der Geburt weit entwickelten Seele an die Dunkelheit verlor, bis auf eine winzige Verbindung. Thurainilla war auf Grund eines von Lahilliota gewirkten Rituals dazu verdammt worden, die hälfte ihrer Kraft an die sie umgebende Dunkelheit abzutreten. Riutillia wurde das von ihr abgespaltene Seelenbruchstück genannt, als es, laut Lahilliota, nach Thurainillas körperlicher Geburt dem Schoß jener Erzdunkelhexe wie eine nachtschwarze Dunstfontäne entfuhr. Beide haderten damit, dass sie gespalten waren und somit nicht die vollständige Macht erhalten hatten. Sie erfuhren dann noch, dass Lahilliota während des Empfängnisrituals für Thurainilla einen Ritualpunkt doppelt ausgeführt hatte und dadurch statt der einen Seele zwei Seelen in einem Körper erzeugt hatte. Doch weil diese Tochter der Dunkelheit verbunden werden sollte löste sich eben die eine Seele aus dem Körper, solange dieser in der Dunkelheit des Mutterschoßes steckte. Der ihnen durch Lahilliotas Gesänge eingepflanzte, bedingungslose Gehorsam gegenüber ihrer Mutter zwang Thurainilla und damit die an sie gebundene Riutillia, keine Verachtung oder Hass gegenüber Lahilliota zu empfinden. Immerhin, so erkannte die nun mit Kopf und Schultern durch einen engen, nicht von sich aus nachgebenden Kanal gezwengte Birgute, konnte Lahilliota Fehler machen. Sie war also nicht allmächtig, wie sie es ihren Töchtern eingeimpft hatte.
Im Wechselspiel mit Morgauses Aufwachsen und ersten Erfahrungen als dunkler Hexe und Frau vollzog sich das Aufwachsen von Thurainilla, wie diese ihren eigenen Lebenskrug erhielt und wie sie aus von der Mutter geerbten Schriften erfuhr, wie sie durch leidenschaftlichen Sex die Lebenskraft ihrer Liebhaber in sich aufsaugen und für sich nutzen konnte. Warum Thurainilla körperlich asiatisch aussah lag wohl daran, dass Lahilliota beim Empfängnisritual mehrere junge, ostasiatische Mädchen getötet hatte, um mit deren freigesetzter Lebenskraft die vaterlose Zeugung zu vollziehen. Jedenfalls erfuhr sie noch, wie Morgause mit Morgana um den jungen König Arthus gebuhlt hatte, der tatsächlich deren gemeinsamer unehelicher Halbbruder war und dass Morgana ihn wirklich dazu verführen konnte, mit ihm das Lager zu teilen, während Morgause sich aus Verbitterung in die Sümpfe Nordbritanniens zurückzog und deren uneingeschränkte Königin wurde. Sie bekam auch mit, wie Morgause einen großen, silbernen Kessel schmieden ließ, den sie mit verschiedenen dunklen Zaubern belegte und ihn mit sich verband, dass nur sie ihn nutzen konnte und dass er ihre Seele nach ihrem Tod in sich aufnehmen sollte. Morgause war die einzige, deren körperlichen Tod sie miterlebte, während sie mitbekam, wie Thurainilla und Riutillia aus langem Schlaf erweckt wurden und sich den jungen Aldous Crowne gefügig machten.
Nun bekam sie noch mit, welche Zauber Morgause alles erlernt hatte und wie Thurainilla und ihre Schwestern um die körperliche und geistige Beschaffenheit ihrer Mutter hatten kämpfen müssen. Der Name der Tochter der alles endenden Zeit versetzte ihr ein gewisses Unbehagen. Doch als sie sich daran erinnerte, dass jene von einer künstlich erzeugten Nachbildung einer vaterlosen Tochter entmachtet und gebannt worden war erheiterte es sie. Sie fühlte, wie Thurainillas ganzes Wissen um ihre Schwestern und um die Kinder Ashtarias zur Verfügung stand. So wusste sie auch, dass ein junger Zauberer Namens Julius Latierre von einer wirklich starken Erscheinungsform namens Ashtaria zu ihrem jüngsten Sohn gemacht worden war und als Erbe eines verwaisten Machtsymbols von ihr den Kreis von sieben Zeichenträgern vervollständigt hatte. Dadurch, so Thurainillas Erinnerungen, war die wegen der dunklen Zauberkraftwoge in der Gestalt einer roten Riesenameisenkönigin gefangene Mutter teilweise wieder freigekommen. Sie sollte nun, so hatte sie selbst verkündet, alle zwei Monate zwischen ihrer wiedergewonnenen Menschengestalt und jener der durch die Tränen der Ewigkeit erhaltenen Ameisengestalt wechseln, nicht alle Zeit Herrin ihrer selbst aber auch nicht als ewige Gefangene ihrer eigenen Dummheit. Das alles galt es sicher zu bedenken, schätzte Birgute, während sie weiter und weiter aus dem kristallienen Mutterschoß hinausgezwengt wurde. Dann erfolgte die schmerzhafte Vereinigung von Birgute und Riutillia und Morgause. Dass sie deshalb auch Thurainilla zu einem Teil von sich gemacht hatte war nur Folgerichtig.
Wieder und wieder durchlebte sie die schmerzvollen Erinnerungen der fünf in sich vereinten Erinnerungsquellen, während sie weiter und weiter nach draußen gepresst wurde. Zwischendurch meinte sie, sich selbst stöhnen und aufschreien zu hören. Doch das mochte im wilden Wirbel der sie durcheilenden Erinnerungen geschehen.
Mit einem letzten Ruck wurden ihre Beine nach draußen gestoßen. Sie fühlte, wie sie durch einen von dunstigen Gestalten erfüllten Raum raste und gegen die eine und die andere Gestalt prallte. Dabei gerieten diese dunstigen Gebilde in Bewegung und wurden zu klar begrenzt ausgeformten Erscheinungen, aberhundert zusammenstehenden Wesen. Dann sah sie das, worin sie eine ihr noch unbekannte Zeit lang eingeschlossen gewesen war. Ihr Anker in dieser Welt, der von Vengor aus zwei Versklavungskristallen erschaffene Uterus, leuchtete in hellem Rotgold und pulsierte. Das aus magischem Kristall geformte Fortpflanzungsorgan war genauso groß wie sie selbst. Ihren eigenen Körper durchliefen kurze, nur in Form schmerzvoller Erinnerungen peinigende Wellen. Dabei merkte sie, dass sie offenbar wuchs. Denn die nun in eigene Bewegung geratenen Gestalten wurden kleiner und kleiner. „Heil dir, Mutter und Kaiserin. Sei gegrüßt, die du die Dunkelheit der Nacht erblickst und sie nach deinem Willen lenkst!“ rief eine Frauenstimme. Viele andere wiederholten diese Huldigung im Chor. Birgute achtete erst einmal nicht darauf. Sie besann sich ausschließlich darauf, dass sie weiterwuchs. Die sie umgebende Dunkelheit, ja und wohl auch die von den hier versammelten ausgehende dunkle Ausstrahlung nährten sie und ließen sie immer schneller wachsen. Als sie sah, dass sie mindestens dreimal so groß wie die hier dicht an dicht gedrängten Gestalten war fühlte sie, wie der immer noch frei auf dem Boden ruhende Kristalluterus auf sie zuschwebte. Sie spreizte ihre nun rotgolden schimmernden Beine und drehte sich so, dass das zu ihr gehörende Stück fester Materie zielsicher dort hingelangte, wo es hingehörte. Mit einer Mischung aus Erbeben und Glücksrausch fühlte sie, wie ihr rein fleischloser Leib und der kristalline Uterus zusammengefügt wurden. Mit einem kurzen letzten Pulsieren wuchs sie dann noch um eine beachtliche Länge weiter, so dass die sie nun umdrängenden nur noch ein Viertel so groß wie sie selbst waren. Sie fühlte die Kraft, die in ihr steckte. Alle Schmerzen und Selbstvorwürfe waren vergangen. Sie war wieder vollständig. Sie war wieder da, Birgute Hinrichter, Kaiserin Stella Nigra die einzige, Herrin aller wahren Nachtkinder!
„Seid alle bedankt, meine Kinder und treuen Untertanen, dass ihr auf mich gewartet habt“, waren die ersten Worte, die sie aussprach. „Ich weiß, so wie es war war es nicht von mir beabsichtigt. Doch danken wir meiner Eingebung, dass ich genug eigene Kraft ausgelagert habe, um nicht aus dieser Welt gerissen zu werden. Ich danke euch, dass ihr da seid. Wer kann mir berichten, was nach meiner unfreiwilligen Selbstempfängnis geschah?“
Ganor Reeko, einer ihrer ersten aus dem Leib eines sterblichen jungen Mannes empfangenen Söhne, berichtete ihr nun. Remurra Nika, eine der Töchter, die sie unbedingt haben wollte, ergänzte, dass es gelungen sei, die sieben Tempel der Blutgötzin zu vernichten und mindestens eintausend ihrer Gefolgsleute zu töten. Birgute hörte das gerne. Doch dann sagte sie mit Ernst: „Einer der kleineren soll hinausgehen und die Tageszeit erkunden. Wir müssen wissen, welchen Tag die Menschen schreiben, wenn sie denn noch schreiben können.“
„Glaubst du, wir sind viele hundert Jahre hier gewesen?“ wollte Ganor Reeko wissen. „Es ist jedenfalls möglich“, antwortete seine wiedergeborene Herrin. „Am Ende haben diese Idioten sich selbst in einem Atomkrieg ausgelöscht, oder sie haben im Namen des Wohlstand und Geltung verheißenden Wirtschaftswachstums alle Warnungen vor einer menschengemachten Erderwärmung überhört und zugelassen, dass ihre ganze Art von der Erde selbst ausgelöscht wurde. Das gilt es zu erfahren. Also, Kundschafter, findet es heraus!“
mehrere Dutzend Kundschafter flimmerten und verschwanden geräuschlos. Jetzt konnte Birgute sehen, dass Wände und Boden von dickem Eis bedeckt waren. Da sie alle kein Gefühl für Hitze oder Kälte hatten störte das keinen hier.
Zwei Kundschafter erschienen und flackerten heftig. Sie waren wohl um ein Viertel kleiner geworden und strahlten Angst und Leid aus. „Vor dem Berg steht die Sonne am höchsten, Kaiserin und Mutter“, brachte einer der geschwächt wiedergekehrten mit im Takt seines Flackerns lauter und leiser klingender Stimme aus.
„Dann hättet ihr dort nicht erscheinen können“, grummelte Remurra Nika. Doch bevor ihrer aller Herrin was darauf antworten konnte tauchten nach und nach die anderen Kundschafter auf. Zwei wirkten ebenfalls ein wenig geschrumpft. Doch alle anderen kehrten in voller Größe und Stärke zurück. Birgute befahl nun jedem einzelnen zu berichten, was er oder sie herausgefunden hatte.
„Die Menschen gibt es noch. Wir haben heute den neunundzwanzigsten Juli des Jahres 2007 international anerkannter Zeitrechnung“, meldete der erste befragte.
„Dann dauerte meine Rückkehr in die Welt wahrhaftig neun Monate“, stellte Birgute erheitert fest. „Ich hoffe aber, dass jener so mächtige Uterus, den ich wieder in meinem eigenen Körper trage, seine frühere Leistungskraft beibehalten hat und ich euch demnächst viele neue Brüder und Schwestern gebären kann, um jene zu ersetzen, die von den Blutsaugern und den Zauberern ausgelöscht wurden. Eigentlich müsste ich herausfinden, wie viele von euch von diesen Zauberstabschwingern aus der Welt gestoßen wurden, um sie wie angekündigt dafür zahlen zu lassen. Doch mir ist zunächst wichtiger, dass wir unsere eigene Rangstellung zurückgewinnen und ausbauen. „Sucht nun gezielt nach den verbleibenden Blutsaugern! Findet heraus, wie viele es von denen noch gibt! Im Bedarfsfall überwältigt einen der Zauberstabschwinger und nehmt seinen oder ihren Schatten als Unterpfand. Ich will wissen, wie durchschlagend meine letzte Anweisung war und was die Zauberstabschwinger über uns und über andere Feinde der Blutsauger wissen. Hütet euch jedoch vor jenen Leuten, die von einer starken, zurückweisenden Ausstrahlung umflossen werden! Es können mächtige Feinde sein, die aus einer bestimmten Blutlinie stammen. Sie werdet ihr wohl nicht übernehmen können.“
„Wie sollen wir die Feinde erkennen und wie sollen wir die Feinde der Blutsauger erkennen und dir O Kaiserin unterwerfen?“ wollte Ganor Reeko wissen. Daraufhin strahlte Birgute eine alle verbliebenen Kinder erreichende Gedankenbotschaft aus: „Ich, eure Kaiserin und Mutter, bin wiedererwacht! Eilt alle in die große Audienzhöhle, um meine Worte und Anweisungen zu empfangen!“
Nur wenige Minuten vergingen, da drängten sich noch mehr Untertanen und aus den Seelen getöteter Menschen von ihr neu ausgereifter Nachtkinder. Sie nahm die pflichtgemäße Begrüßung zur Kenntnis, wartete ab, bis jeder sich kurz bei ihr zurückgemeldet hatte. Dann gebot sie allen, zuzuhören.
Indem sie allen befahl, einander bei den für diese selbst festen Hände zu fassen stellte sie einen vollständigen Verbund aus mit ihr verbundenen Getreuen her. Dann übermittelte sie aus Thurainillas Wissen die Empfindungsarten für die Ausstrahlungen der Kinder Ashtarias, der Töchter Lahilliotas und von Wesen, die bei Tag Menschen waren und im Lichte des Vollmondes zu Wölfen wurden. Da Thurainilla und ihre Schwestern diese „Mondverfluchten“ oder „Pelzwechsler“ nicht als ihre übliche Nahrung nehmen konnten galt für die vaterlosen Töchter, dass sie sich von jenen fernzuhalten hatten, sofern sie sie nicht gezielt töten wollten. „Sucht gezielt nach jenen sogenannten Werwölfen oder Lykanthropen! Sie sind vom Mondlicht abhängig. Das heißt, ihr könnt im Licht des Mondes erspüren, wenn sie damit wechselwirken, weil ihr alle wahre Kinder der Nacht seid“, belehrte Birgute ihre zum Lernblock zusammengekommenen Untertanen. „Je stärker der Mond scheint, um so deutlicher müsstet ihr die besonderen Farben, Töne oder Seelenschwingungen verspüren. Ich will, dass ihr welche zu Schattenlosen macht. Es interessiert mich, wie deren Abhängigkeit vom Mondlicht bestehen bleibt. Vielleicht können wir uns diese Geschöpfe sogar nutzbar machen, um nicht nur die Blutsauger und anderen Werwölfe, sondern auch die vaterlosen Töchter und die Zauberstabträger zu unterwerfen.“
„Was tun wir, wenn wir Hunger bekommen?“ wollte einer der afrikanischen Untertanen wissen. Er spielte darauf an, dass sie ja auch die Lebenskraft aus magisch unveränderten Wirbeltieren saugen konnten, weil diese fühlende Wesen mit einem gewissen Anteil eigener Intelligenz waren und somit als „Notration“ oder „Ersatznahrung“ herhalten konnten. So teilte Birgute Hinrichter alias Kaiserin Stella Nigra ihren Untertanen mit: „Wenn ihr Hunger habt geht in die von Menschen unberührten Gebiete und fangt euch da die wilden Tiere!, je größer desto nahrhafter für euch. Geht nur zu den Menschen hin, deren Wille und Wissen uns wichtig ist, um sie durch die Schattenpfändung zu unterwerfen! Bedenkt immer, dass wir nur von Feinden umzingelt sind, solange wir unsere Art nicht über die ganze Welt verbreitet haben. Erst dann wird die Zeit der friedlichen Nächte anbrechen. So, hinaus mit denen, die groß genug sind, ihre eigene Form beliebig zu ändern und im Gefahrenfall in einem Augenblick an einen anderen Ort zu springen, wo es dunkel ist.“
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Das wachhabende Paar der Sonnenkinder im Worak Ashtaril betrat den Raum mit dem wieder frei und voll einsatzfähigen Pendel, das die Bündelung von dunklen Kräften anzeigte. Seit Monaten hatte das Pendel sich ruhig beim Schwingen im Kreis über die gleichmittigen Kreise und die durch sie führenden Verbindungslinien bewegt. Doch nun strebte es immer wieder dem Erdteil zu, den die jetztzeitigen Menschen Afrika nannten. Doch das Pendel konnte nicht genau anzeigen, wo in Afrika die Bündelung dunkler Kräfte zu finden war. Offenbar lag die Stelle unter einem starken Ortungsschutz. Nur die daraus hinausreichende Streuung dunkler Kräfte zeigte ungefähr, wo die bösen Kräfte sich verdichteten. Die ermittelte Region war jedoch zu groß, um einen Erkundungstrupp der Sonnenkinder dort hinzuschicken.
„War in Afrika nicht auch vor einem Mond eine solche Regung“, fragte Yanukamiria ihren Gefährten Dargandurmirian.
„Stimmt, für eine Nacht. Ogandurmiria und ihre Mutter haben erzählt, dass irgendwo in Afrika ein Hort einer mächtigen Nachttochter sein soll, deren Nachtodform als Königin regieren soll. Doch wo genau das ist haben wir bisher nicht herausgefunden. Es kann also sein, dass diese Königin die Gunst ausnutzt, dass Gooriaimiria derzeit kein großes Gefolge mehr hat und auch keine eigenenTempel und Festungen mehr besitzt“, sagte Dargandurmirian. Dann fiel ihm etwas anderes ein. „Du, meine geliebte Angetraute, es kann auch sein, dass die rastlosen, mit Dunkelheit erfüllten Seelen wieder aufgewacht sind, nachdem ihre Herrin und Meisterin beim Kampf mit dem Körperdieb aus der dunklen Grabstätte verschwand oder erlosch. Es kann also auch sein, dass sie sich neu ausrichten und abstimmen, wie es mit ihnen weitergehen soll.“
„Um so wichtiger wäre es, zu wissen, wo genau sie sind. Eine zur sofortigen Freisetzung aller Kraft angeregte Sonnenlichtsammelkugel könnte ihnen die längst fällige Erlösung bringen“, sagte Yanukamiria, was Feuerhütende Mutter hieß.
„Jedenfalls ist es wichtig genug, unseren Brüdern und Schwestern auf der Insel davon zu berichten“, stellte Dargandurmirian fest, was Tageslicht begrüßender Vater hieß.
So prägten sie sich die immer wieder Afrika zuwendende Pendelbewegung ein und beeilten sich, den Raum der Fernverständigung zu betreten. Von dort aus nahmen Sie Verbindung mit Faidaria, ihrer ältesten und somit ersten Volksangehörigen auf.
„So sollten wir davon ausgehen, dass die Zeit der Ruhe und der Vorbereitungen vorbei ist und es demnächst wieder Überfälle der einen oder anderen dunklen Widersacher geben wird“, schickte Faidaria zurück. „Versucht weiter herauszubekommen, wo der Quell der dunklen Kräfte auf dem Erdteil Afrika zu finden ist. Vielleicht, so unser großer Vater Himmelsfeuer und dessen duldsame und fruchtbare Gefährtin, die ewig Fruchtbare Urmutter es fügen, können wir das Erblühen neuer Untaten noch verhindern. Wir müssen jedoch weiterhin auf der Hut sein, nicht von den jetztzeitigen Begüterten gesehen zu werden, wenn wir zu großen Taten schreiten.“
„Dies ist wohl geboten“, schickte Dargandurmirian zurück. „So bleibt weiter wachsam und meldet jede neue Regung des Pendels!“ befahl Faidaria. Die beiden Sonnenkinder im machtvollen Sonnenturm mitten in der Mojavewüste bestätigten es.
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In der Halle des gläsernen Rats, wo die verdienten Meisterinnen und Meistr der hohen Künste des alten Reiches die Ehre und den Vorzug hatten, die Zeiten in körperloser Überdauerung mitzuerleben, sprach Kaliamadra zu ihrer Zwillingsschwester Iaighedona: „O Schwesterchen, das wird doch noch ein interessantes Jahr, nachdem sich auch Gooriaimiria langsam wieder regt ist die in ihren eigenen Schoß hineingesogene Verschmelzung aus zwei armen und drei entschlossenen Seelen wieder frei. Ja, und sicher werden die beiden drallen Schwestern der Nacht einiges nachholen wollen.“
„Dann hast du es noch nicht mitbekommen, dass Gooriaimiria offenbar den in ihr eingeschlossenen Iaxathan dazu gezwungen hat, ihr die genaue Herstellung der Schattenrüstungen zu verraten, nachdem sie doch so enttäuscht war, dass die alle beherrschende Stimme nicht von ihr verwendet werden kann?“ fragte Iaighedona zurück.
„Oh, doch, natürlich. Auch wenn es selbst für uns schwer ist, in die Gedanken des im Mitternachtsstein eingeschlossenen Verbundes namens Gooriaimiria hineinzulauschen, weil es da vor Gedanken brummt und summt, so habe ich doch die vorherrschenden Gedanken mitbekommen und mich sehr gefreut, Iaxathan leiden zu hören“, erwiderte Kaliamadra mit unüberhörbarer Wonne.
„Ja, dann braucht sie nur noch genug Helfer, um die Schattenrüstungen zu schmieden“, sagte Iaighedona. Kaliamadra erwiderte darauf: „Deshalb hat sie sich über ihre langsam immer unbeherrschbarer werdende Helferin Eleni alias Nyctodora zwanzig Rüstungsschmiede gefügig gemacht, die die aus Affghanistan herbeigeschafften Unlichtkristalle verarbeiten dürfen. Ich bin schon sehr gespannt, ob die Blutschlürfer diese Rüstungen überhaupt anziehen können, oder ob die darin eingewirkten Kristalle das verhindern oder den Blutsaugern ihrerseits das Leben aussaugen. Schließlich wollte Iaxathan diese Rüstungen ja nur für getreue Menschensöhne haben.“,
„Ja, bis dann das passiert ist, was ihm die Freude an seinem Werk vergellt hat“, meinte Kaliamadra. „Aber warten wir ab und vor allem beobachten wir erst einmal die aus sich selbst wiedergeborene, selbsternannte oberste Herrscherin aller wahren Nachtkinder. Da sie so viele interessante Seelen in sich vereint hat kommen da ganz sicher noch sehr abwechslungsreiche Einfälle heraus.“ Ihre Schwester konnte dem nur zustimmen.
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Sie war ungeduldig. Nachdem sie aus mehr oder weniger eigenem Verschulden neun Monate vergeben hatte wollte sie alles versäumte in nur wenigen Nächten aufholen.
Es gelang jedenfalls, an Orten, wo Nacht war, aber eine gewisse Beleuchtung vorherrschte Zauberstabschwinger anzulocken und sie vorübergehend zu übernehmen. So erfuhr die Kaiserin der Nachtschatten, dass sich auch die Anhänger der selbsternannten Göttin aller Vampire nicht mehr geregt hatten. Also war ihr Vergeltungsschlag gegen diese Feindesmacht sehr durchschlagend gewesen. Womöglich war jene falsche Gottheit von ihren treuen Unterschatten dazu verdammt worden, in ihrem Ankergefäß, dem Mitternachtsdiamanten, auszuharren, weil ihr alle Gefolgsleute auf einmal abhanden gekommen waren. Dennoch wollte und musste sie darauf gefasst sein, dass sie mit ihr erneut zu tun bekommen würde.
Die zum Wissenserwerb schattengepfändeten Zauberer wurden nach der intensiven Befragung wieder freigegeben. Zwar hatten sie nun eine Gedächtnislücke von mehr als einer Stunde und sicher auch Schmerzen, weil die Schattenpfändung ein sehr auszehrender Akt für lebende Menschen war. Doch selbst wenn jemand ihr Gedächtnis überprüfte würde er oder sie nichts mehr darin finden, was den Verdacht auf die Wiedergeborene lenkte. Noch wollte diese die Menschenwelt im Unklaren lassen, dass sie wieder da war. Erst wenn sie ihre eigenen Pläne weitestgehend in die Tat gesetzt hatte wollte sie ihre Fänger und Vollstrecker aussenden, um den Verlust an Untertanen zu vergelten.
„Sucht nach den Pelzwechslern. Ich habe da eine Idee, wie ich sie für unsere Sache einsetzen kann“, sprach Birgute zu ihren Kundschaftern und legte fest, dass sie solche suchte, zu denen sie selbst vollständig bei Dunkelheit hinüberwechseln konnte. Dafür setzte sie all die Kundschafter ein, die sich bis auf Stecknadelkopfgröße zusammenziehen konnten. Die waren zwar nicht so mächtig wie jene, die schon mehr als vier Menschenleben in sich hineingeschlungen hatten. Doch sie sollten ja nur auskundschaften.
Birgutes Geduld wurde jedoch auf eine harte Probe gestellt. Sollte es denn wirklich so sein, dass sie erst bei Vollmond fündig wurde?
Als sie dann von einem Kundschafter erfuhr, wo sie die gewünschten Zielobjekte finden konnte freute sie sich sehr. Das war doch sehr gut, weil nicht all zu fern von ihr.
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Für die Eingestaltler war es der Abend des 31. Juli im Jahre 2007. Doch das kümmerte sie nicht. Denn sie zählten in Mondzuständen. Denn sie waren von dessen Licht abhängig. Es bestärkte sie, machte sie aber auch unbeherrscht und wild. Früher hatte es sie gefreut, so wild und stark zu sein. Doch dann hatte ihr Vater und Clanoberster Verbindung mit Gleichgearteten aufgenommen, die die vom Mond verliehene Macht vergrößern konnten, so dass sie auch in seinem vollen Licht überlegt und gezielt handeln konnten. Doch das war jenen, die diese zusätzliche Macht boten noch nicht genug. Daher hatte ihr Vater und Clanführer befohlen, dass sie ihren Auftrag bis zur Nacht vor dem zweiten Sommervollmond erfüllen sollten.
Die beiden Brüder Nightcoat und Nightface streiften in Menschengestalt durch Marrakesch. Sie hatten was davon gehört, dass es in Marokko oder Ägypten alte Schriften geben sollte, die über die ganze Macht der Mondgeweihten berichteten. Den alten Legenden nach stammten die ersten Lykanthropen aus Nordafrika, wo es auch Löwenmenschen geben sollte. Es hieß auch, dass sie damals von einem wolfsgestaltigen Dämon gezeugt worden sein sollten, der dem nordisch-germanischen Fenriswolf entsprechen mochte, an dessen Urvaterschaft die Werwölfe in Skandinavien glaubten und den der englische Wolfsbruder Fenrir Greyback als seinen Vorfahren angegeben hatte, wohl um zu imponieren.
Die zwei Brüder besaßen namensgebendes nachtschwarzes Haar und dunkelblaue, fast schwarze Augen und galten bei den Mondbrüdern als geniale Fährtensucher und Kundschafter. Dem Trug noch Rechnung, dass sie mehrere afrikanische Sprachen und das ägyptisch eingefärbte Arabisch sprechen konnten, ohne als Europäer aufzufallen. Um ihr Äußeres entsprechend zu tarnen hatten sie sich Selbstbräunercreme ins Gesicht und auf jede freiliegende Hautpartie geschmiert. Die innerhalb von einer Stunde entstandene mittelbraune Hauttönung blieb nun einen Monat lang erhalten und konnte nicht mit gewöhnlicher Seife abgewaschen werden, sondern verging nur, wenn sie in eine von wenig Sonne beschinene Gegend verreisten oder sich nur nachts ins freie trauten wie ihre langzähnigen Erzfeinde. Auch nach deren Spuren suchten die zwei, die bei Vollmond zu pechschwarzen, überlebensgroßen Wölfen werden konnten. Laut ihrer eigenen Familienlegende gehörten die Brüder zu einer Sippe, deren Ureltern beide in einer Mittwinternacht bei Vollmond entstanden waren und dadurch eine besondere Beziehung zur Nacht und dem Mond hatten. Daher führten sie mit Stolz den Familiennamen Winterborn. Außer den beiden Brüdern gab es noch einen, der im neuen Hauptquartier auf ihre Nachrichten wartete, zwei Vettern und drei Basen, die jedoch in anderen Teilen der Welt auf Kundschaft geschickt worden waren.
Daa hinten ist der Durchschlupf ins Zaubererweltviertel, Morty“, mentiloquierte Nightcoat. „Ja, und wenn uns dieser windige Schlangenflüsterer da nichts vom grasgrünen Vollmond erzählt hat soll da einer wohnen, der das große Buch des Mondes hat, ohne dass der weiß, wozu es gut ist, Myron“, gedankenantwortete Nightface. Er horchte in sich hinein. Die Dosis des LNT würde ihm und seinem Bruder noch bis zum kommenden August die Macht geben, willentlich die Gestalt zu ändern oder sich gegen die Kraft des Vollmondes zu stemmen.
Sie bogen in eine schlecht erleuchtete Gasse ein und schnupperten wie Hunde, die einer interessanten Duftspur folgten. Dann sahen sie den vor Müll überquellenden Container. Für die Fliegen, die sich sonst darum tummelten war es schon zu spät am Tag. Aber für die bereits im Container kriechenden Maden war die Nacht ihre Zeit, sich immer dicker zu fressen, um irgendwann selbst um Misthaufen und Köpfe herumzusurren. „Haben die echt gedacht, die könnten uns damit abschrecken“, gedankenknurrte Nightcoat und beugte sich zu dem Container hinunter. „Ja, alle anderen Lykos, nur nicht die ganz harten wie uns, Brüderchen“, gedankenantwortete Nightface. „Ah, da ist ja die rostige Stelle, von der der Schlangenbändiger geredet hat.“
„Ja, und falls der uns verarscht hat kommen da gleich mehrere Giftschlangen rausgeschossen und beißen uns. So’n Schlangensprecher ist immer mit sehr viel Vorsicht zu genießen“, mahnte Nightcoat. Er wusste nicht, dass etwas viel gefährlicheres als eine Giftschlange auf sie beide lauerte.
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Mitch, auch genannt Nightpaw, hielt die Stellung im neuen Hauptquartier der Mondbruderschaft. Er trug eine der berühmten Geschwisterketten, die durch geschlechtsgleiche Geschwister so eingestimmt werden konnten, dass sie nicht nur fühlbar machten, wenn es einem wie weit auch immer entfernten Geschwister gut oder schlecht ging, sondern auch das Mentiloquieren um den Faktor zwölf verstärken konnte. Nightpaw hielt damit Verbindung zu seinen beiden Brüdern, obwohl hier in Mexiko gerade heller Tag herrschte und bei denen bereits später Abend. Gerade hatte ihm Nightcoat mitgeteilt, dass sie das rostige Schloss gefunden hatten, um ins Zaubererviertel von Marrakesch zu gelangen. Da hörte er Nightfaces angstvollen Gedankenruf: „Mondfinsternis! Es wird auf einmal völlig dunkel und … Aaarrg!“ Im nächsten Moment meinte Nightpaw, eine pechschwarze Riesenkugel rase auf ihn zu. Dann meinte er, von einem eiskalten Riesenhammer am Kopf getroffen zu werden. Ob er die Schreie seiner Brüder hörte oder selber schrie vermochte er nicht zu sagen. Jedenfalls stürzte er in ein eiskaltes, völlig lichtloses Nichts hinein. Wie aus weiter Ferne meinte er zwei ängstliche Stimmen zu hören und dann eine Frauenstimme, die etwas auf Englisch rief: „Komm zu mir! Wachs in mir!“ Dann verlor er endgültig die Besinnung.
Als er bibbernd und zitternd wieder zu sich kam fand er sich in dicke Wolldecken eingewickelt und fühlte einen Gummischlauch in seinem Mund, der offenbar bis in seine Luftröhre hineinreichte. Dann öffnete er seine Augen und sah über sich eine rötlich leuchtende Kugel, die eine Menge Wärme ausstrahlte und sein Gesicht erhitzte. Er konnte einen Schatten auf seiner linken Seite sehen und erschrak erst. Dann hörte er Madrugadiñas Stimme beruhigend auf Spanisch sagen: „Ruhig, mein Junge. Wir haben dich soweit wieder hinbekommen. Irgendwas hat wie mit einer verdammt dünnen, kräftigen Lanze durch die Sonnenschutzzauber gestoßen und dich getroffen. Deine Geschwisterkette ist in viele hundert eiskalte Einzelteile zersprungen, und du warst so kalt wie ein Schluck Bergquellwasser. Da haben Manosana und ich dich schnell in Blutwärmedecken gewickelt, um dich direkt von innen her wieder aufzuwärmen. Danke dem mit dem Mondlicht vereinten Bruder Fino, dass der uns diese Wärmekugeln besorgt hat, die bei Unterkühlungen benutzt werden. Aber das mit dem die Sonnenschilde Intis durchstoßenden Zauber macht uns echt mehr Sorgen als du. Kannst und willst du uns erzählen, was dir passiert ist?“ Nightpaw dache daran, was ihm widerfahren war und berichtete alles. Als er den sich wiederholenden Befehl „Komm zu mir! Wachs in mir!“ wortgetreu aussprach zuckte Madrugadiña zusammen. Als er sie mentiloquistisch fragte, was ihr so Angst einjagte sagte sie mit körperlicher Stimme: „Das war sie, diese Schattenkönigin. Die hat deine Brüder erwischt. Die sehen wir nie wieder.“ Nightpaw versuchte, sich aus den leicht pulsierenden Decken zu winden. Doch es gelang ihm nicht. Erst als Manosana, die hauseigene Heilerin des Hauptquartieres, die Genehmigung gab, die körpererwärmenden Maßnahmen zu beenden konnte er wieder sprechen. Er fragte, woher Madrugadiña diesen Ausspruch kannte und was sie meinte, dass sie seine Brüder nicht mehr wiedersehen würden.
„Bestenfalls sehen wir die nie wieder“, berichtigte sich Madrugadiña. „Unsere Spione in Deutschland und Österreich haben rausgefunden, dass diese Nachtschattenkönigin damit die aus den Körpern herausgelösten Seelen ihrer Opfer in sich selbst hineinbeschwört, beziehungsweise in ihren kristallienen Uterus, ihren materiellen Fokus. Wen sie darin einlagert wird zu einem neuen Nachtschattenkind von ihr. Deshalb hoffen wir besser, dass wir deine Brüder nie wieder zu sehen kriegen und dass unsere Sonnenzauber trotz des kleinen Durchstoßes gerade eben stark genug bleiben, um auch die mächtigsten dieser Dämonenbrut abzuwehren.“
„Moment, heißt das, meine Brüder werden von dieser Nachtschattenhure zu neuen Kindern ausgebrütet und machen dann, was die denen befiehlt?“
„Grausam aber leider nicht anders zu sagen“, sagte Manosana, die vor zwanzig Jahren als Heilerin im mexikanischen Torreverde-Krankenhaus gearbeitet hatte, wo sie bei der Behandlung eines kleinen Jungen von diesem gebissen wurde, weil der sich in einen Werwolf verwandelt hatte.
„Aber noch mal, die beiden werden zu neuen Nachtschatten und dann? Können die mich oder die anderen von der Nachtwolfsippe jagen und für diese Schattenschlampe klarmachen?“ wollte Nightpaw wissen.
„Also, das wissen wir nicht, weil der Fidelius-Zauber nur verhindert, dass lebende Mitwisser des Geheimnisses es weitergeben können, wenn sie nicht als Geheimniswahrer eingesetzt wurden. Nachtschatten sind eine Abart von Geistern, keine lebenden Wesen mehr. Deshalb sagten wir ja, dass wir hoffen, dass von denen keiner durch die Sonnenbarriere Intis kommt.“
„Öhm, weiß der Boss das schon, ich meine, el hermano maior?“ fragte Nightpaw. „Das mit der Schattenkönigin noch nicht. Das mit dem kurzen, punktuellen Durchstoß unserer Sonnenzauber und der zerstörten Geschwisterkette ja“, sagte Madrugadiña. Manosana fügte dem hinzu: „Hat ihm nicht gefallen. Aber ich bestand als von ihm anerkannte Heilerin darauf, dass du selbst erst außer Gefahr bist, um frei von Nebenwirkungen berichten zu können. Da dies nun möglich ist berichte es besser gleich, bevor er noch ungehaltener wird als so schon.“
„Klar, wo wir alle dachten, die Schutzzauber halten alles ab, was dunkler ist als wir“, spöttelte Nightpaw, obwohl er überhaupt keinen Grund dazu hatte. „Nein, das mit dir und deinen Brüdern war nur der Kringel auf dem Ñ“, sagte Madrugadiña, die Verbindung zu Bocafina und somit zum obersten Bruder hielt.
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Zwei Männchen, stark und besonders, weil einer bestimmten Familie angehörend, hatte sie nicht einfach so geschluckt, sondern auf ihre Weise in sich aufgenommen, um sie als ihre gehorsamen Kinder wiederzugebären. Als dies nach nur einer Nacht geschah verrieten die beiden neuen Nachtschatten ihrer Mutter und Herrin, für wen sie unterwegs gewesen waren und zu welcher Familie sie gehört hatten. Das war für Birgute Hinrichter sehr interessant. Doch noch interessanter empfand sie es, wo die beiden neuen Nachtschatten „ihre Weibchen“ untergebracht hatten, welche sie aus sich vor einem Monat durch den ansteckenden Biss gefügig gemacht hatten. So war es für sie keine Frage, dorthin zu apparieren und die beiden mit ihrem Dasein hadernden Werwölfinnen vollständig zu entseelen und ihre besondere Lebenskraft in sich aufzunehmen. Was erst eine vage Hoffnung auf Grund von Thurainillas Wissen und Morgauses Zauberkenntnissen war reifte zum durchführbaren Plan. Ja, so konnte und so würde sie sich ein eigenes, besonderes Rudel neuer Lykanthropen heranzüchten.
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León del Fuego, der sich für den unumschränkten Anführer der Mondgeschwister hielt, starrte auf den Brief, den er vor zwei Stunden von einer von Finos letzten künstlichen Eulen bekommen hatte. Bocafina saß neben ihm und wiegte ihren Kopf, als müsse sie eine schwere Bleikugel darin in eine angenehme Lage bringen. „Was hast du mir da für einen Drachendreck bei völliger Mondfinsternis diktiert, Boquita. Das hat die Biester offenbar wachgekitzelt. Oder wie verstehe ich das, dass Lunera mit den drei roten Schwestern einen Gegenzauber zu dem von dir erwähnten gemacht hat, dass über Lunera und der Nabelschnur von Alejandro, die sie von Nina geschenkt bekommen haben will, einen Fluch auf Alejandro gelegt hat, der sich erfüllt, wenn wir ihn nicht bis zum Augustvollmond an einen Ort des alten Berges auf ihrem Heimateiland bringen, wo er durch Lykomedas Nähe erlöst wird?“
„Vor einer Viertelstunde hätte ich noch ganz sicher behauptet, dass hier kein Fernfluch durchdringt. Aber nachdem, was der Nachtpfote zugestoßen ist kann ich das nicht mehr ausschließen“, seufzte Bocafina. „Ja, was, dass beide seiner Brüder erwischt haben muss, weil es sonst nicht die Kraftkette von dem zerbröselt hätte. Das war so ein Fokusdings.“
„Richtig, ein Fokusdings“, wiederholte Bocafina ein wenig verwegen. „Ja, und Alejandros aufbewahrte und haltbar gemachte Nabelschnur, in der vielleicht noch ein wenig Blut seiner Mutter war, die ja von Lunera zur Mondschwester gemacht wurde ist auch so ein Fokusdings, Leoncito.“
„Können wir rauskriegen, ob das echt so ist?“ fragte León. „Wenn ich unglücklich prüfe könnte der Fluch ausgelöst werden und Alejandro in blauem Schmelzfeuer verbrennen lassen. Dagegen hilft der Sonnenzauber leider nicht. Diese roten Luder haben das offenbar genau ausgeklügelt, nachdem wir denen eine Vorlage geboten haben.“
„Wir? Du!“ entgegnete León. „Du hast mir das doch vorgeschlagen, dass wir die englischen Superschwestern damit kriegen, dass Fino seinen Welpen und den von Lunera mit so einem Verbindungszauber verbandelt hat und dass sie deshalb zu uns hinkommen muss, damit ihre Kleine nicht ganz schrecklich wegstirbt. Häh?! Was ist jetzt?“ wollte León wissen, weil seine Frau so plötzlich erbleichte. Vielleicht war was mit seinem zweiten Kind. Doch es war nichts mit seinem zweiten Kind. Als sie ihm sagte, was Nightpaw ausgesagt hatte und dass er das gleich zu Protokoll geben würde erschauerte León. „Stimmt, die gibt es auch noch. Aber woher wusste die, wo die zwei Nachtwölfe herumgelaufen sind?“
„Das weiß wohl nur sie“, bemerkte Bocafina dazu.
Nachdem Nightpaw dem neuen Anführer seine Erlebnisse berichtet hatte und auch erwähnt hatte, dass die beiden einen Schlangenbändiger, der echt Parsel sprechen konnte getroffen hatten meinte León del Fuego: „Der Schlangenbeschwörer kann es nicht gewesen sein. So Leute machen keine gemeinsame Sache mit Geistern, sondern murksen mit magischen Tierkreuzungen oder dunklen Kreuzungen an Pflanzen und Pilzen herum. Irgendwer hat dieser Schattenbrüterin gesteckt, dass zwei Werwölfe in Marrakesch herumstreunen. Ja, und dann hat sie ausgerechnet zwei von denen kassiert, die supergut Nacht können, oder wie hast du das genannt, Bocafina?“
„Nyctophil, also der Nacht im besonderen und der Dunkelheit im allgemeinen verbunden sein“, sagte Bocafina und sah dabei Manosana an, von der sie wohl den Begriff hatte.
„Ja, gut, heißt das auf superschlau“, grummelte León del Fuego. „Aber heißt das auch, dass die zwei der verraten können, wo unsere Versammlungsstätten sind?“
„Das können wir nicht mit Ja und auch nicht mit Nein beantworten. Sicher ist nur, dass diese Dämonenkönigin mit ihrer Kraft bis zu Nightpaw durchgedrungen ist, durch den Schutzwall des Inti, wohl weil ihr kraftstoß so scharf gebündelt war wie das Sonnenlicht im Brennglas, eben nur mit dunkler Magie statt hellem Sonnenlicht. Womöglich ist diese Kraft über die Geschwisterketten der beiden Kundschafter zeitlos und unter Umgehung aller räumlich ausgreifenden Barrieren auf die Kette Nightpaws übergesprungen, hat diese blitzunterkühlt und ihm, weil er magoempathisch mit seinen beiden Brüdern verbunden war ebenfalls eine Menge Wärme entrissen, bis die Kettenverbindung zerstört wurde.“
„Hoffentlich war es nur das und keine Möglichkeit, uns auf die Bude zu rücken“, grummelte León. „Womöglich hatten wir deshalb noch Glück, weil es bei uns heller Tag ist und dadurch der Schutzzauber von der Sonne nachgeladen wird und die Dunkelheitsmagie schon bei der Ankunft abgeschwächt wurde“, vermutete Manosana. „Abgeschwächt? Wie stark hätte die dann rreinknallen sollen, wenn wir es hier auch dunkel gehabt hätten, eh?!“ ereiferte sich León. Dann hörte er von draußen den von ihm eingesetzten Herold der Besucher Palón, die Bohnenstange. „Mondsänger und Gefährtin Mondtänzerin!“
„Deine Huldigungsbesucher stehen vor der Tür, León. Du wolltest, dass sie herkommen“, erinnerte Bocafina ihren Gefährten an seine Aufforderung, dass alle Mitgeschwister ihm ihre Gefolgschaft bekunden sollten. Dass er das eigentlich nur wegen Lunera und ihren neuen Mitstreiterinnen aus Irland angeschoben hatte wollte er hier und jetzt nicht ausplaudern. Also waltete er seines neuen Amtes und begab sich in den eingerichteten Audienzsaal. Palón öffnete die kleine Tür für die einfachen Mitgeschwister und ließ sie nacheinander eintreten.
León musste sich sehr anstrengen, die Würdigung und Gefolgschaftsschwüre mit der entschlossenen, Achtunggebietenden Miene entgegenzunehmen, die diesem Anlass anstand. Doch dabei musste er an die beiden viel zu kurz hintereinander abbekommenen Nackenschläge denken, an den möglichen Rachefluch auf Alejandro, der solange nicht wirkte, solange er nicht gequält oder getötet wurde und die Aktion der aus der tiefsten Dunkelheit auferstandenen Nachtschattenkönigin, von der er nicht wusste, wie mächtig sie wirklich war. Was Alejandro anging, so wollte er zum Schein auf Luneras Forderung eingehen und ihn bis zum Letzten Tag vor dem Augustvollmond zu jenem alten Berg auf Luneras Heimatinsel bringen. Durch die Längen- und Breitenangaben wusste er, dass der irgendwo auf den kanarischen Inseln im Atlantik zu finden war. Von Luneras Anspielung auf ihren Nachnamen her war es Tenerifa. Also konnte nur der westliche Nachbar des Pico del Teide gemeint sein, wahrhaftig ein alter Berg. So schlau war er gerade noch. Sie behauptete, sie käme mit Lykomeda dorthin und einigen Zeugen, um eine friedliche Übereinkunft mit der südamerikanischen und spanischen Bruderschaft zu schließen und Alejandro bei der Gelegenheit in ihre Obhut zu nehmen, weil sie dies ihrer ehemaligen Weggefährtin Nina schuldig sei. Er selbst wollte dann, wenn die zwei Kinder sich sahen, beide gefangennehmen und Lunera dann vor den von ihm mitgebrachten Zeugen auffordern, sich splitternackt vor ihm hinzuknien und ihm dann die Füße zu küssen. Allerdings durfte Bocafina nichts von dieser Idee wissen. Obwohl, war die nicht sowieso eifersüchtig auf Lunera. Das konnte zu einem Kampf der Wölfinnen um ihren Leitwolf ausarten. Nein, Bocafina würde sich und das Kind in ihrem Bauch nicht dieser Gefahr aussetzen. Auch mochte sie ihm das sehr übelnehmen, und eine rachsüchtige Gefährtin konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Also sollte es wohl nur bei der bereits geforderten Unterwerfungsgeste bleiben. Wenn Lunera dann als Leibdienerin seiner Frau auf der Hacienda bleiben musste bekam sie ihre Genugtuung und er ebenso. Das sollte doch reichen.
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Die Herders lebten seit zwei Jahren mit einem schrecklichen Geheimnis. Seitdem sie damals mit ihrem Wohnmobil durch Südspanien gereist waren führten sie ein Leben zwischen Bangen und Lügen, von Vollmond zu Vollmond.
Es war an einem Abend passiert, wo das Ehepaar und ihre damals voll auf die Amerikanische Teenagerikone Britney Spears abfahrende Tochter die Idee hatten, ein Strandpicknick bei Vollmond zu machen. Da hatten sie sie erwischt, erst für streunende Strandhunde gehaltene Geschöpfe, die sich dann beim Näherkommen als Wölfe mit besonders buschigen Schwänzen und kürzeren Schnauzen erwiesen hatten. Die vier pelzigen Geschöpfe hatten sich nicht vom entzündeten Lagerfeuer abschrecken lassenund ohne großen Übergang die drei deutschen Touristen angefallen und mehrmals gebissen, bevor Dirk, der Familienvater, sie mit einem brennenden Holzscheit vertreiben konnte. Sie waren daraufhin in ein Krankenhaus gefahren, wo sie vorsorglich die ganze Bandbreite gegen von Tieren übertragene Krankheiten einschließlich Tollwut erhalten hatten. Die Polizei hatte den Strandabschnitt abgesucht. Da, wo die Wellen den Sand aufweichten waren keine Spuren zu finden gewesen. Doch mehr im landesinneren fanden die Beamten der örtlichen Polizei tatsächlich Spuren von vier bis fünf hundeartigen Wesen.
Trotz der vorsorglichen Spritzen oder vielleicht gerade deshalb fühlten sich Dirk, Renate und Biggi Herder die ganze restliche Nacht wortwörtlich hundeelend. Am nächsten Morgen hatten sie einen Zettel in ihrem Wohnmobil gefunden:
Hallo ihr drei blonden Strandverschmutzer!
Wir, die ordentliche Bruderschaft des Mondes, haben euch eingeladen, in unseren Reihen zu dienen. Wir haben es mitbekommen, dass sie euch wohl alles mögliche an Heilmitteln und Entgiftern in die Körper gejagt haben. Aber gegen den Bruderkuss des Mondes hilft das Zeug nichts. Einer von unseren Getreuen, der die Einladung an euch ausgesprochen hat, wird euch am nächsten Abend besuchen. Denkt nicht einmal an die Polizei! Sie würde uns höchstens als willkommene Dreingabe dienen.
Achso, wenn ihr beim nächsten Vollmond noch keine eingetragenen Mitglieder unserer Gemeinschaft seid solltet ihr besser weit von allen Menschen fern sein, wenn ihr nicht von übereifrigen Holzstabfuchtlern eingefangen oder totgemacht werden wollt.
Sie hatten die Polizei gerufen, weil ja jemand in ihr Wohnmobil eingebrochen war. Die Polizisten hatten daraufhin wohl wen dazugeholt, der wohl sowas wie ein Spezialist für außergewöhnliche Fälle war. Der hatte allen Ernstes die drei anderen Polizisten mit einem gezückten Holzstab erstarren lassen wie ein böser Zauberer im Märchen und auch die Herders auf diese unheimliche Weise bewegungsunfähig gemacht. Dann hatte er die drei mit einem merkwürdigen Lichtstrahl aus dem Holzstab überstrichen, der von erst hellrot flirrend zu Violett wechselte. Dabei hatten Dirk, Renate und Biggi ein durch den ganzen Körper gehendes Beben und Hitzewallungen gefühlt. „PSL Positiv“, hatte der unheimliche Beamte gemurmelt. Dann hatte der eine kleine silberne Dose aus der Uniformjacke gezogen und wie bei einem Handy hineingesprochen und aus der Dose Antworten bekommen. Da die Herders nur wenig Spanisch konnten und der andalusische Akzent für Ausländer noch schwerer zu verstehen war als für alle anderen spanier verstanden sie nicht alles. Doch dass es eine höchst aufgeregte Unterhaltung war bekamen sie schon mit. Worum es ging wurde ihnen danach erklärt, als die drei anderen Polizisten mit der Vorstellung, hier nichts mehr ausrichten zu können gegangen waren. Da hatten Dirk, Renate und Biggi Herder erfahren, dass sie von echten Werwölfen überfallen und gebissen worden waren, und zwar von solchen, die ihre Beißwut steuern und sich gezielt bestimmte Opfer aussuchen konnten. Nachdem, was der Fremde mit seinem Holzstab angestellt hatte glaubten die drei, dass es doch sowas wie Zauberei und somit auch viele der aus Märchen, Sagen und Gruselgeschichten bekannten Fabelwesen und Ungeheuer gab. Das sie jetzt selbst zu solchen blutrünstigen Monstern gemacht worden sein sollten hatten die drei deutschen Luxuscampingtouristen erst nicht so recht verdaut. Als ihnen der Polizist oder Zaubererweltagent klarmachte, dass sie ab heute nur noch drei Möglichkeiten hatten: Sich in ihrer Heimat als Opfer von Lykanthropie registrieren zu lassen und alle Bedingungen zu erfüllen, die das Deutsche Werwolfkontrollamt ihnen abverlangte, weit ab von aller Menschenwelt zu leben, um bloß niemanden mit dem in ihr Blut übertragenen Fluch anzustecken oder zu riskieren, von Jagdkommandos des deutschen oder spanischen Zaubereiministeriums eingefangen oder getötet zu werden, wenn sie sich beim nächsten Vollmond selbst in Werwölfe verwandelten und dann anders als jene, die ihnen das angetan hatten ohne eigenen Willen alles bissen und zerfleischten, was nach Mensch roch.
Biggi hatte zwar noch einmal gelacht und gemeint, ob man sie dann mit geweihten Silberkugeln erschießen würde, wie es die Geisterjäger aus den Heftromanen taten, die von manchen Mädchen und noch mehr Jungen in ihrer Schule verschlungen wurden. „Mondsteinsilber, also in Öfen, die mit dem Mineral Mondstein und der reinigenden Helligkeit des Mondes bezauberten Öfen gegossenes Silber. Ja, kann Ihnen passieren, falls nicht in Ihrem Land wie in unserem eine Sonderregel gilt, dernach in dicht besiedelten Orten marodierende Werwölfe als Schadwesen der Stufe vier der gezielten Tötung durch den gegen unbelastete Menschen verbotenen Todesfluch ausgeliefert sind.“
„Und was ist, wenn wir ihren Hokuspokus von eben für eine Art von die Nervenbahnen beeinträchtigenden Energiefeldern halten und ihren Lichtzauber als reinen Budenzauber abtun?“ hatte Dirk Herder gefragt. „Dann werden sie es spätestens merken, wenn ihnen beim nächsten Vollmond alle Glieder weh tun und sie sich am nächsten Morgen total erschöpft irgendwo wiederfinden und womöglich Blut an Händen und Mund haben, falls man sie nicht tatsächlich getötet hat. Auf jeden Fall haben wir in Spanien besonders auf jene selbsternannten Brüder und Schwestern des Mondes keine Toleranz. Jetzt, wo wir wissen, dass es Sie gibt werden Sie von uns weiterbeobachtet, allein schon, um die Ihnen angekündigte Kontaktperson zu ergreifen, sofern diese nicht längst gewarnt wurde, nachdem Sie die Polizei gerufen haben“, hatte der Zaubererweltagent behauptet. „Ich kann das für Sie regeln, dass Sie in Ihrer Heimat von den dort zuständigen Fachkollegen aufgesucht und über weitere Verhaltensweisen unterrichtet werden, Señor ‚erderr“, hatte der Fremde noch angemerkt. „Ich lasse Ihnen meine Karte hier. Ihr fahrbares Haus steht nun unter unserer Beobachtung. Mucha Suerte, Señores y Señorita!“ Mit diesen Worten hatte er wortwörtlich aus dem linken Ärmel drei scharlachrot umrahmte Visitenkarten geschüttelt, sich dann in die Mitte der geräumigen Mobilkabine hingestellt, den Holzstab nach oben gereckt und sich auf dem Absatz gedreht. Es hatte geknallt, und der unheimliche Mensch war einfach weg. Gleichzeitig hatten die ausgeteilten Karten zu leuchten begonnen und mit Stimmen wie aus winzigen Lautsprechern den Namen Antonio Remo Vallebajo Casarica ausgesprochen. Die leuchtende Schrift auf den Karten gab weiter an, dass jener Antonio Remo Vallebajo Casarica „Miembro de la unidad de registración y supervisión de los individuales humanos expuestos de lycantropía“ war. Biggi hatte dann über die topmoderne Satellitenrouteranlage des Wohnmobils im Internet nachgesehen, was die Begriffe bedeuteten.
Da am Abend niemand von jenen Mondbrüdern aufgetaucht war hatten sie den unheimlichen Besuch als kurioses Beiwerk zu ihrem Urlaub abgetan und waren nach vier weiteren Tagen nach Hause zurückgekehrt. Dort hatten sie jedoch schon einen Tag nach ihrer Ankunft Besuch von einer Frau Marion Mondenquell und einem Herrm Sigurd Brunacker erhalten, die ihnen weitere Zauberstücke vorgeführt und sich als Außendienstbeamte der „Behörde zur erfassung, überwachung und sicherheitsbedingten Beschränkung von erwiesenen Werwölfen“ ausgegeben hatten. Die hatten auch diesen Leuchteffekt ausprobiert, bei dem der ausgeschickte Lichtstrahl von hellrot flimmernd zu Violett umgeschlagen war. Da die Registrierung kein Geld kostete hatte sich Biggi darauf eingelassen und dann auch ihre Eltern. Ab da galten die Herders aus einem der wohlhabenden Vororte von Hannover als registrierte Lykanthropen mit allen daranhängenden Verhaltensregeln. Eine davon besagte, dass sie sich bei Vollmond nicht unter Menschen begeben sollten, um das, was ihnen zugestoßen war, nicht willentlich oder unfreiwillig weiterzugeben. Auch durften sie mit keinem anderen über ihre Lage sprechen, da zu befürchten stand, dass „höchst unliebsame Zeitgenossinnen und -genossen“ davon Wind bekamen und die drei dann für ihre Zwecke einsetzten oder als Gefahrenherd für ihre eigenen Angehörigen töteten.
Als dann der erste Vollmond nach jener verhängnisvollen Urlaubsreise die Nacht erhellte hatten sie gewusst, dass die Behauptungen stimmten. Denn Dirk Herder hatte eine Videokamera im Wohnzimmer installiert, die die Verwandlung der drei in allen Einzelheiten aufgenommen hatte. Zum Glück hatten sie die Haustüren und Fenster ein- und für Werwölfe ausbruchssicher verriegelt, sodass sie nicht dem „Ruf des Jägers“ folgen konnten.
Von den Mondgeschwistern hatten sie erst wieder was gehört, als der dritte Vollmond in ihrem neuen Leben vorbei war. Jemand hatte angerufen und gefragt, ob sie jetzt immer so weiterleben wollten, wo feststand, dass die „Knauserköpfe aus dem Schatzamt des Zaubereiministeriums“ keinen LNT spendieren wollten. Doch die Herders hatten es abgelehnt, einer obskuren Vereinigung beizutreten.
So waren sie in den Vollmondnächten dazu verdammt, im schalldichten Keller ihres Hauses zu hocken, bis die Auswirkungen der unheilvollen Krankheit wieder abklangen. So vergingen die nächsten zwei Jahre, bis etwas eintraf, was die Infektion mit dem Werwolfkeim noch übertreffen mochte.
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Remurra Nika war stolz, zu den Jagdtruppen zu gehören. Tagsüber konnte sie zwar nicht ins freie hinaus. Doch sie hatte von den erfahrenen Geschwistern gelernt, sich so sehr zu verkleinern, dass sie sich vor der Sonne in tiefen Ritzen verbergenkonnte oder durch Schlüssellöcher und Türspalten zu kriechen, wie sie es in ihrem scheinbar lange zurückliegenden Leben als gewöhnliche Menschenfrau von Gespenstern gehört hatte. Gut, in gewisser Weise war sie ja genau das, ein Angst, Schrecken und Leid verbreitendes Nachtgespenst, Tochter einer leibhaftigen Dämonenkaiserin. Dass sie als solche jetzt Jagd auf echte Werwölfe machte hätte sie früher mit einem verächtlichen Lachen abgetan. Jetzt war es eine todernste Sache.
Sie hatte drei Tage gebraucht, um nur in den Nächten die Lebensausstrahlung oder auch Aura von Normalmenschen und Werwölfen zu unterscheiden. Hier in einer Vorstadt von Hannover hatte sie tatsächlich drei gefunden, die jene besondere Ausstrahlung hatten, eine Frau, ein sechzehnjähriges Mädchen und einen Mann: Vater, Mutter, Teenietochter. Sie hatte über die ihrer Art mögliche Gedankenverständigung bei ihrer mächtigen Mutter angefragt, wen von den zwei Weiblichen sie „erbeuten“ solle. „Nimm dir das Mädchen. Das passt besser zu dir als eine biedere Hausfrau. Außerdem kannst du sie, wenn du meine Kraft einsetzt, richtig gut dazu einsetzen, ihre Altersgenossinnen und -genossen anzustecken“, erklang die Stimme ihrer Gebieterin und Gebärerin.
„Ja, höchstverehrte Mutter, heute nacht wird Biggi meine kleine, brave Kettenhündin“, schickte Remurra Nika zurück.
Die in Form einer sonnenblumenkerngroßen schwarzen Kompaktkugel hinter einem der Wohnzimmerschränke steckende Abgesandte der Kaiserin fühlte, wie die ihren Tod bedeutende Sonne schwächer und schwächer wurde und dann endlich verschwand. Das elektrische Licht, was die Familie benutzte, konnte ihr nur dann etwas ausmachen, wenn sie direkt in den Schein einer der Lampen geriet. Sie musste noch warten, bis die drei die Wohnzimmerbeleuchtung ausschalteten. Doch sie gingen nicht in die Schlafzimmer, sondern stiegen die Kellertreppe hinunter und verschwanden hinter einer dem Geräusch nach schweren Tür. „Herrin und Mutter, die schließen sich ein. Die wollen wohl die Vollmondnacht im Keller überstehen“, schickte Remurra Nika ihrer Gebieterin. Diese gab ein höchst erfreutes „Dann kriegen wir sie alle drei“, zurück. „Verrate mir noch einmal die genaue Adresse, Remurra Nika!“ Das tat die lauernde Jägerin der einzigen Kaiserin aller wahren Nachtkinder. Keine vier Sekunden später fühlte sie, wie eine ihrer direkten Schwesternund ein Bruder im Wohnzimmerschrank erschienen, wohl geführt von ihrer Verbindung zu der einen, der mächtigen Mutter.
Remurra wurde als Einsatzleiterin bestimmt und durfte somit die Kommandos geben. Da die unheimlichen Eindringlinge sich untereinander in Gedanken unterhalten konnten und kein einziges Geräusch machten konnten sie lautlos bis zu jener Kellertür hinschweben. Sie hörten Schmerzenslaute und das in ein wildes Hächeln und Schnauben übergehende Atmen dreier Menschen, die nach nur zwei Minuten zu bissigen, willenlos wütenden Werwölfen wurden. Remurra, die schon Übung darin hatte, durch Schlüssellöcher zu kriechen, fand heraus, dass das Schloss nicht vom Kellerschlüssel verstopft war. Ihre Schwester Nira Rebned folgte ihr. Dann schaffte es auch ihr Bruder Uldur Wokyokun. „Ziemlich anstrengende Form, in einen anderen Raum zu gehen“, beklagte sich der einzige männliche Mitstreiter.
Sie fanden die drei verwandelten unter einer kleinen, roten Notlampe. Sie rannten umeinander herum, schnupperten, sprangen an den vergitterten und einbruchssicheren Fenstern und der verschlossenen Tür hinauf. Doch sie konnten nichts davon öffnen. Dann bemerkten sie die drei zu ihrer vollen Größe anwachsenden Eindringlinge und stießen ein angstvolles Jaulen aus. Das Licht der Notbeleuchtung reichte den dreien, die an die Wände geworfenen Schatten zu überdecken und mit Hilfe ihrer antrainierten Fertigkeiten in sich aufzusaugen. Dabei sangen sie auch ein Lied über den Vollmond, dem wahren Gefährten der Nacht. Dabei floss ihnen auch neue Kraft von ihrer Mutter zu, die sich auf die eingeschlossenen Schatten übertrug. Die drei Werwölfe erstarrten in ihren Bewegungen und erzitterten. Dann stießen sie ein schmerzvolles Winseln aus, fielen zu Boden und blieben keuchend liegen.
Innerhalb von einer Minute kehrte sich die Verwandlung um. Aus den drei Werwölfen wurden eine Frau, ein Mann und ein halbwüchsiges Mädchen. Remurra fühlte Stolz und Freude, dass sie tatsächlich den richtigen Schatten in sich eingesaugt hatte und nun in die wieder klar werdenden Gedanken des Mädchens hineinlauschen konnte.
„Hör mir zu. Ich bin deine neue Herrin, Botin der einzig wahren Kaiserin aller Nachtgeborenen. Du dienst nun mir und damit der Kaiserin, meiner Mutter. Also sei friedlich und wage es nicht einmal, dich gegen mich zu wehren!“ befahl Remurra Nika ihrer neuen Sklavin. Wie herrlich war das, fand sie. „Ja, Macht ist ein wundervolles Rauschmittel“, hörte sie ihre Mutter, die Kaiserin wie aus der Ferne denken. Ja, sie überwachte Remurra und die beiden anderen, die ihrerseits ihre neuen Gefangenen und Leibeigenen anwiesen, wie sie sich zu verhalten hatten.
„Ab heute jagd ihr für uns die, die der Kaiserin zu folgen haben oder ihre Feinde sind“, stellte Remurra Nika klar. Biggi Herder gedankenmurrte, dass sie es verstanden hatte. Dann verschwanden die drei Nachtschatten übergangs- und geräuschlos. Doch die nun trotz Vollmond in Menschengestalt befindlichen Herders erkannten, dass sie gerade einem noch schlimmeren Schicksal begegnet waren. Erst später, als sie im Wohnzimmer waren und merkten, wie schmerzhaft die Energiesparlampen ihres zwölfstrahligen Deckenfluters in den Augen brannten sahen sie, dass sie keinen Schatten warfen. Ihr Schatten war fort, geraubt, gepfändet von jenen Wesen, die noch unheimlicher als die Werwölfe waren. „Wir sollen andere wie wir es sind jagen, aber nicht bei Voll- sondern Neumond“, sagte Dirk Herder. Seine Frau und seine Tochter nickten. Sie hatten dieselbe Botschaft erhalten, das Edikt der Kaiserin der Nachtkinder.
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Der Rückhalt, den Tara McRore in der abgeschirmt lebenden Gemeinschaft von Glenfield Brooks genoss blieb hoch. Selbst die Aussicht, bei Verweigerung der Anerkenntnis von León del Fuego die Mitgliedschaft in der Mondbruderschaft zu verlieren oder gar von Leóns Getreuen auf Sicht getötet werden zu dürfen hatte keinen hier dazu gebracht, nach Mexiko zu reisen. Viele sahen es wohl auch mit ihrem britischen Stolz unvereinbar, sich einem Mexikaner zu unterwerfen, sich zu dessen Hörigen oder gar Leibeigenen machen zu lassen. Tara wusste, dass sie eine Rebellion entfacht hätte, wenn sie die Unterwerfung unter León del Fuego gefordert hätte. Mittlerweile schrieben sie den 1. August 2007. Die von León gesetzte Frist lief in wenigen Wochen ab.
Tara berief am Nachmittag dieses Tages eine Vollversammlung im ehemaligen Ballsaal des Gutshauses ein. Alle waren gespannt, was die anerkannte Sprecherin zu sagen hatte.
Wie üblich standen Tara, ihre beiden Schwestern Lorna und Maura und auch Lunera Tinerfeño auf der kleinen Erhebung, die ein größeres Podest oder eine kleine Bühne ohne Vorhang war. Alle erwachsenen Mitglieder der Gemeinschaft saßen auf den bequemen Stühlen, deren Vorlage ein Stuhl aus der Ehrenloge des Royal Opera House in London war. Die Kinder, die in den letzten Jahren in die Gemeinschaft hineingeboren worden waren, waren durch einen leichten Schlaftrunk beruhigt worden, sodass sie nicht weiter beaufsichtigt werden mussten.
„Liebe Gemeinde von Glenfield Brooks“, begann Tara. „Es erleichtert mich zu sehen, dass ihr euch von der gesetzten Frist des neuen Mondbruderschaftsanführers nicht beeindrucken lasst. Sicher, es sind nur noch wenige Wochen bis zum Vollmond im August. Doch wissen wir alle, dass León del Fuego es sich nicht leisten kann, mit unserer Gemeinschaft in Europa zu brechen. Er mag sich für den Fürsten von Hispanoamerika halten. Doch er wird sein Ansehen nur dann bewahren, wenn er es schafft, alle Mitglieder von Espinados Mondbruderschaft hinter sich zu vereinen. Da wir nicht als Zerstörer der Mondgemeinschaft dastehen wollen werden meine Schwester Maura, sowie Lunera, vier männliche Mitglieder von uns und ich selbst am Tag vor Vollmond nach Tenerifa reisen, sozusagen den halben Weg zwischen ihm und uns. Lorna wird hierbleiben, weil sie wegen ihrer Schwangerschaft keine beschwerlichen Reisen machen soll.
Warum Tenerifa? Weil Lunera, Espinados langjährige Gefährtin, dort geboren wurde. Da León ja überdeutlich erklärt hat, dass ihm die Anerkennung Luneras wichtig ist steht es ihm frei, sie ebenfalls zu ehren und zwar dort, wo sie das Licht der Welt erblickt hat. Natürlich wird er nicht alleine dorthingehen, weil er Zeugen aus seinen eigenen Reihen braucht, die hinterher bekunden, wie gut er sich als neuer Anführer verhalten hat und welche Erfolge er erringen konnte. Noch wissen wir nicht, ob er auf unseren Kompromissvorschlag eingeht, sich auf Tenerifa am Fuße des Pico Viejo zu treffen, da wir nur wissen, dass unser Briefbote das festgelegte Ziel erreicht hat. Er ist jedoch noch nicht zurückgekehrt. Wir werden bis einen Tag vor dem vorgeschlagenen Zeitpunkt warten, ob wir eine Antwort bekommen. Falls nicht, bleiben wir hier. Falls doch – und die Wahrscheinlichkeit ist hoch – werden wir dort eine wie ich hoffe verbindliche Übereinkunft treffen, die unsere beiden großen Gemeinschaften weiterhin vereinigt und dass er als Bewahrer der Bruderschaft in die Aufzeichnungen unserer Gemeinschaft aufgenommen werden mag. Er kann es sich nicht erlauben, mit uns in Unfrieden zu leben. Womöglich haben die, deren Wort er trotz seines hohen Führungsanspruches er noch schätzt ihm erklärt, dass Drohungen oder deren Erfüllung ihm nur Abneigung und Feindschaft einbringen werden. Solte diese meine Hoffnung ein Irrtum sein, so gefährden wir nur uns selbst, wenn wir uns auf dieses Treffen mit ihm einlassen. Abgesehen davon können wir, weil wir uns nicht auf seinem klar befestigten Gebiet treffen werden, Vorkehrungen treffen, um Angriffe von ihm oder anderen abzuwehren. Hierzu wurden bereits Vorkehrungen getroffen. Mir geht es nun darum, jene vier männlichen Begleiter auszusuchen, die mit uns nach Tenerifa reisen sollen, sobald wir wissen, dass das Treffen dort erwünscht ist. Ich bitte um Meldungen.“ Von den zwanzig Mitbrüdern zeigten fünfzehn auf, darunter Hank Mosley, Lornas Angetrauter. Peter Walters, Maurras Angetrauter, ließ demonstrativ seine Arme links und rechts vom Körper sinken. Tara blickte die Freiwilligen an und bestimmte durch Gesten, wer sie auf die Reise begleiten sollte. Als das erledigt war meldete sich Pete zu Wort:
„Nichts für ungut, werte Schwägerin und Sprecherin, aber was treibt dich dazu zu glauben, dass sich dieser Feuerlöwe, wie sein Name ja übersetzt heißt, aus seiner eigenen Festung raustraut. Was habt ihr dem im Gegenzug angeboten oder angedroht. Das möchte ich gerne wissen.“
„Die Drohung ist seine eigene, nämlich der Zerfall von Espinados Erbe und eine Schwächung der Mondgeweihten gegenüber allen anderen Feinden. Das Angebot von uns ist eine formelle Anerkennung seiner neuen Rolle als Gesamtsprecher und die damit zusammenfallende Unterstützung auch der amerikanischen Mondgeschwister, sollte denen was zustoßen“, erwiderte Tara. „Wie gerade gesagt hoffe ich, dass die Leute, denen er weiterhin vertraut, ihm geraten haben, dass er besser Frieden mit uns hält als uns zu bedrohen.“
„Wenn der Typ so drauf ist wie es der Brief von dem und die Erzählungen von euch rüberbringen müsst ihr dem was ganz übles angedroht haben. Wenn der echt so’n Macho-Mann ist wird der das nicht auf sich sitzen lassen, wenn wir dem nicht seine Füße küssen. Ist es da nicht viel schlauer, wir bleiben alle hier und warten ab, was er als nächstes macht?“
„Du bist lustig, Pete. Wenn wir nur noch im Bunker hocken und warten, wann der aus seinem eigenen Bunker klettert können wir nichts anderes mehr machen“, sagte Hank, nachdem Tara ihm durch Nicken das Wort erteilt hatte. „Neh, Pete, wir müssen mit dem irgendwie reden und rauskriegen, was den umtreibt und was der anstellen will. Deshalb danke, dass du mich mitnehmen möchtest, Tara.“
„Da nicht für“, erwiderte Tara. Sie hielt ihr Gesicht sehr gut im Zaum. Dann sagte Lunera:
„León del Fuego kann es sich auch nicht leisten, mich zur Feindin zu haben oder mich zur Märtyrerin zu machen. Er ist von ganz allein in eine Sackgasse gelaufen und muss jetzt zusehen, wie er da ohne Ansehensverlust wieder rauskommt. Falls er oder seine Gefährtin das erlauben möchte ich ihm dabei helfen. Fino wollte es damals ja nicht haben. Richtig weit ist er damit nicht gekommen. Ja, und Fino war wesentlich schlauer und erfahrener als León del Fuego.“
„Wie gesagt, ich glaube eher, dass ihr diesem Feuerlöwen und seinen Leuten irgendwas angedroht habt, dass der übel auf die Fresse knallt, wenn er nicht spurt. Solange ich das nicht weiß könnt ihr das knicken, dass ich euch bei eurer Sache zustimme“, erwiderte Pete darauf. Hank sah seinen Vetter und Mitbruder verstört an und bat noch einmal ums Wort. Als er es erhielt sagte er:
„Selbst wenn wir noch was haben, wovon Tara uns hier noch nichts erzählen will, so ist das doch wichtig, diesem Typen klarzumachen, dass er nicht als großer Diktator herumposieren kann und mit lautem Getöse alle von uns nach seiner Pfeife tanzen lassen kann. Ich will auf jeden Fall nicht abwarten, ob der irgendeine Strafaktion gegen uns fährt, ohne vorher zu wissen, was er vom Stapel lassen kann.“
Dich und die Ladies abmurksen zum Beispiel. Weil sonst würde Tara die runde Lorna ja nicht hierlassen, oder. Leute, die will uns hier verarschen und hat irgendwas vor, um diesem Typen eins reinzuwürgen. Klappt das, könnten wir Krach mit seinen Leuten kriegen. Klappt das nicht, passiert das mit der Ächtung oder wie das heißt, wenn jemandem verboten wird, frei weiterzuleben. Also sollten wir hier und jetzt darüber abstimmen, ob wir Taras kleine Reisegruppe echt losschicken wollen oder nicht besser doch in unserem schnuckeligen Bunker mit Freigehege bleiben, bis der Sturm vorbei ist, den der Typ uns auf die Hälse schicken kann.“
„Gut, du möchtest eine Abstimmung, Peter. Die darfst du haben“, sagte Tara unbeeindruckt von Petes Vorwürfen und Gegenrede. „Wer stimmt dafür, dass die von mir vorgeschlagene Verhandlungsgruppe nach Tenerifa reist und dort mit der Verhandlungsgruppe von León del Fuego zusammentrifft?“ Außer Pete und drei älteren Mitschwestern stimmten alle für Taras Reiseplan. Sie rief auch die Gegenstimmen genau auf. Dabei stellte sich heraus, dass Pete der einzige war, der dagegenstimmte. Die drei Mitschwestern, die nicht zustimmten wollten sich enthalten, wohl weil sie sich nicht sicher waren, was richtig war. Damit war dieser Tagesordnungspunkt vom Tisch.
Es ging nun um Berichte aus Afrika, dass Werwölfe, nicht nur Mondgeschwister, als tiefgefrorene Leichen wieder aufgetaucht waren, darunter die Brüder Nightcoat und Nightface, die zur weithin berühmt-berüchtigten Sippe der Nachtwölfe gehörten, jenen, deren leibliche Eltern in einer besonders langen Vollmondnacht im Winter den Keim der Lykanthropie erhalten hatten. Es wurde beraten, wie man diesen spukenden Schatten beikommen sollte. Es boten sich die Zähne des Ra an, die auch schon Fino eingesetzt hatte. Ebenso wollten einige Mitbrüder an jene goldenen Stachelkugeln gelangen, die bis zu fünf Stunden Sonnenlicht speichern und auf Zuruf wieder ausstrahlen konnten. Da in Ägypten, einer Hochburg der orientalischen Sonnenzauber, gerade keine Mondgeschwister unterwegs waren waren sich die Gruppensprecherinnen und -sprecher am Ende darüber einig geworden, dass kein europäischer Werwolf mehr nach Afrika geschickt werden sollte. Wie das die Amerikaner hielten konnte aber erst geklärt werden, wenn León del Fuego seine Anerkennungszeremonie vollendet hatte. Tatsächlich waren mehrere Deutsche, Österreicher und auch Tschechen mit Hilfe von Portschlüsseln in die Nähe der Hacienda namens Fortaleza Luna Ascendienda gereist und hatten sich dort in langen Reihen angestellt, um den großen neuen Führer zu begrüßen und ihn bedingungslos anzuerkennen. Dabei hatte es sich gezeigt, dass die Mitschwestern ihn umarmen und auf die Wangen küssen mussten, während die Brüder sich vor ihm hinknien und ihm die Füße küssen mussten. Nicht wenigen hatte das missfallen. Doch weil sie Angst vor all den vielen Feindesgruppen hatten wollten sie sich nicht in die Verbannung oder gar den sicheren Tod schicken lassen.
Nach der Versammlung trafen sich die vier höchsten Schwestern der Gemeinschaft von Glenfield Brooks in einem kleineren, als Dauerklangkerker bezauberten Zimmer. Pete hatte unbedingt dabei sein wollen. Doch Tara hatte klargestellt, dass die Versammlung vorbei war. Er wollte den großen Beschützer von Maura rauskehren, dass er sie nicht in eine mögliche Falle von León oder anderen reinrennen lassen wollte. Doch Maura hatte sehr entschlossen geantwortet, dass sie seine Schutzherrin sei und er somit ihrem Wort unterstand.
„Netter Versuch, Kleiner“, hatte Lunera gemeint, als die Zimmertür von innen verschlossen war und der Klangkerkerzauber wirkte. „Der will wissen, was genau wir León anbieten oder androhen, damit er die anderen gegen uns aufbringen kann“, meinte Lorna. Maura sagte dazu: „Der hat immer was zu kritisieren und meint jetzt, weil er nicht alles mitbekommt, wir hätten was übles geplant oder sowas.“
„Ja, so ganz unrecht hat er ja nicht. Ohne die Gegendrohung, Alejandro zur lebenden Brandbombe zu machen, wenn er ihn nicht bei uns auf Tenerifa abliefert wird der ihn nicht freigeben, sondern eher selbst umbringen“, sagte Lunera. „Aber wie kannst du dir sicher sein, dass dieser Gegenbluff funktioniert, Tara?“
„Weil ich von der druidischen Magie genug Ahnung habe, dass Schutzbezauberungen durchdrungen werden können, wenn bestimmte Kraftquellen zusammengeführt werden, ein von Blut durchströmter Körper, der mit seiner Abkunft verbunden wird ist so eine Zusammenführung. Auch weiß ich, dass die indigenen Völker Mittel- und Südamerikas ähnliche Fernflüche kennen, und vom afrokaribischen Voodookult brauchen wir ja nicht zu sprechen. Dieser Sonnenzauber schützt gegen stofflich gebundene Kraftquellen wie Vampire oder dunkle Quellen wie diese Nachtschatten. Bocafina weiß das. Die wird ihm da schon das richtige raten, auch wenn es unter seiner Würde ist, sich von der eigenen Frau beraten lassen zu müssen.“
„Wo wir es von diesen Nachtschatten haben, Tara: Kann es sein, dass diese nun gezielt Jagd auf Lykanthropen machen, nachdem sie die Vampire dezimiert haben?“ fragte Lunera. „Ich fürchte, das kann nicht nur sein, sondern genau das läuft jetzt. Ob diese Übermutter der Nachtschatten noch existiert oder die auch wen neues als Führer haben, die könnten auf die Idee gekommen sein, die Mondabhängigkeit der Lykanthropen in sich aufzunehmen, um selbst bei Vollmond noch stärker zu werden, wo Licht denen sonst zusetzt, oder dass sie denken, sie könnten sich dann auch wie wir Lykanthropen bei hellem Sonnenlicht im Freien herumtreiben. Haben die Langzähne ja auch mal geglaubt, dass sie das können, wenn sie unser Blut trinken“, erwiderte Tara. Lorna fügte dem noch hinzu: „Ich fürchte sogar, liebe Mitschwestern, dass wer immer die Nachtschatten befehligt vorhaben könnte, unsere Gemeinschaft zu unterwandern, indem er oder sie den erkannten Lykanthropen androht, ihnen das Leben und die Seelen auszusaugen. Es mag einige geben, die sich davon einschüchtern lassen. Deshalb ist es ja wichtig, dass wir auch einen auf Sonnenmagie gründenden Zauber um unser Grundstück gelegt haben.“
„Hoffen wir, dass uns weder diese Nachtgespenster noch die Langzähne in die Quere kommen, wenn wir uns mit León auseinandersetzen. Denn dass wir ihn nicht so anerkennen werden, wie er das gerne haben will steht außer Frage.“
„Ja, aber dass wir unsere Leute derartig anlügen mussten und Pete das beinahe rausgefunden hätte“, meinte Maura dazu. „Die, die mitkommen werden es denen später erklären, dass León behauptet hat, wir hätten ihm gedroht. Außerdem denke ich, dass er uns gerne eine Falle stellen will. Also sollten wir besser besprechen, wie diese Falle funktioniert und auch, wie wir Alejandro von ihm loskriegen können, ohne uns eine wilde Schlacht zu liefern“, sagte Lunera. Die drei anderen stimmten ihr zu.
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„Schick diesen künstlichen Vogel zu denen hin, dass du mit Alejandro und zehn Leuten hinreist“, bestand Bocafina auf ein gewisses Entgegenkommen bei Lunera.
„Du bist also sicher, dass wir es nicht riskieren können, dass Alejandro sich und uns alle aus der Welt brutzelt?“ fragte León del Fuego. Seine Gefährtin bestätigte das. „Selbst wenn die eine ähnliche Täuschung wie wir angesetzt haben können wir es uns nicht leisten, diese Drohung auf Erfüllbarkeit zu testen.“
„Und wenn wir Finos Brut irgendwo in der Wüste aussetzen und schnell genug abhauen?“ fragte León. „Könnte es dir durch die reine Absicht, ihn umzubringen passieren, dass dieser Blutfluch auf dich überspringt, bevor du disapparieren kannst. Nein, du musst ihn weiterhin am leben lassen. Notfalls übergibst du ihn Lunera und stellst dabei klar, dass sie in dem Moment, wo sie ihn mitnimmt, jede Unterstützung von uns erledigt ist und wir von denen in Europa nichts mehr wissen wollen. Die ägyptischen Zauber können wir Dank Finos Aufzeichnungen gut genug, um uns vor diesen frechen Schattenbiestern und den Blutsaugern zu schützen. Wenn diese Leute in England das nicht können müssen die eben büßen, was wir den Schatten und Langzähnen zufügen.“
„Ja, und zugleich vor allen sogenannten freien Mondgeweihten die Hosen runterlassen, weil unsere Truppe nicht mehr einig ist“, knurrte León. „Wer wollte denn, dass Lunera sich dir in größter Unterwerfung zu Füßen wirft?“ fragte Bocafina. „Du willst doch die drei anderen Schlüssel benutzen können, die du von Fino geerbt hast.“
„Erzähl mir nichts mehr, was ich nicht schon längst weiß“, knurrte León. „Gut, wir gehen auf das Spiel der roten Schwestern ein. Allein schon deshalb, damit ich diesen Mist aus dem Kopf habe und mich auf die Operation „Mondgeflüster“ besinnen kann.“
„Schöner Name für diese Unternehmung“, schnurrte Bocafina und strich ihrem Gefährten durch die namensgebende feuerrote Löwenmähne. Er genoss das. Ja, sie liebte ihn, weil er so stark und so entschlossen war. Deshalb wollte sie ihn und würde ihm noch mehrere stramme Kinder gebären. Doch erst musste er die Sache mit Lunera erledigen. Er hatte nicht vor, sie davonkommen zu lassen. Er würde sie und Lykomeda gefangennehmen und hierher zurückbringen und dann dazu zwingen, ihn vor genug Zeugen ganz und gar anzuerkennen oder zusehen müssen, wie Lykomeda starb.“
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Der August begann in Südfrankreich mit heißen Tagen. Direkt am Meer und auch in den Seealpen tobten örtlich begrenzte Gewitter. Deren windige Ausläufer erreichten auch Millemerveilles. Für die besenflugfähigen Mitbewohner war es eine gewisse Herausforderung, durch plötzliche Windböen zu fliegen oder in Fallwinde hineinzugeraten. Daher verfügte der Dorfrat am sechsten August, dass alle nicht nötigen Besenflüge unterbleiben sollten und die, die nötig waren mit halber Geschwindigkeit stattzufinden hatten. Die in den Sommerferien üblichen Quidditchspiele der jugendlichen Dorfbewohner blieben sowieso aus, weil jene, die in Beauxbatons zur Schule gingen mit Madame Faucon und Professeur Fourmier mit einer ausgesuchten Gruppe von Schülerinnen und Schülern per Schnellsegler nach Indien zu den Spielen der französischen Quidditchnationalmannschaft gereist waren.
„Gut, dass Hipp mit der Ministeriumsdelegation in Indien ist. Die würde sonst ein Testfliegen für alle Besitzer des Fünfzehners vorschlagen“, meinte Béatrice am Abend des sechsten August, als sie mehrere weit über dem Dorf dahinjagende Wolken beobachtete. „Ui, dann hätte die dich aber sicher ordentlich getrietzt, weil Hera deinen Fünfzehner vorübergehend einkassiert hat, wie Trice?“ stichelte Millie.
„Ich bin zwar die Schwester deiner Mutter, aber derartig besenflugvernarrt bin ich dann doch nicht“, meinte Trice.
Julius testete das von Uranie Dusoleil zum Geburtstag geschenkte neue Teleskop, bei dem er Wärmesicht- und handgeregelte Restlichtverstärkung nutzen konnte. Darauf setzte er noch den Entflackerer zum Ausfiltern von Luftturbulenzen, sodass er den Eindruck haben konnte, durch eine dünne Glasscheibe direkt in den freien Weltraum hinauszusehen. Nur die ab und an durch den Sichtbereich huschenden Wolken verdarben diese Illusion. Doch als er sich den zunehmenden Mond im Wärmesichtmodus ansah störten ihn die Wolken nicht mehr. Er konnte sich den Mond gewisserweise so hell stellen wie den klaren Himmel an einem schönen Sommertag. Mit einer Sonderfunktion konnte er sich sogar die Namen der Krater, Mondmeere und Mondberge anzeigen lassen. So suchte und fand er das Meer der Ruhe, lateinisch Mare Tranquillitatis und konnte das dort zurückgelassene Landegestell der ersten bemannten Mondlandefähre und die immer noch beim Start der Fähre umgefallene amerikanische Flagge sehen. Seine entfernte Verwandte Uranie hatte sogar erwähnt, dass er mit dem Fernrohr bis zum Uranus und seinen Monden Oberflächenmerkmale erkennen konnte, wenn der Entflackerer mitspielte. Also holte er sich noch den Jupiter ins Blickfeld. Im Infrarotmodus sah der größte Planet des heimischen Sonnensystems ganz anders aus. Es war möglich, die in den oberen Schichten seiner Atmosphäre tobenden Gasströme zu unterscheiden. Das, was als großer roter Fleck bekannt war und bei Standardlichtbetrachtung auch so angezeigt wurde, zeigte sich als von helleren Hitzeentladungen durchsetzte, kreisende Spirale. Da er gelernt hatte, dass die großen und jahrhunderte andauernden Stürme auf Jupiter ein Hochdruckzentrum hatten und nicht wie auf der Erde ein Tiefdruckzentrum war es für ihn spannend, die Bewegung der scheinbar langsam nach außen drehenden Spirale zu verfolgen. Sechs Tage brauchte das mehr als Erdgroße Sturmgebilde für eine Eigendrehung.
„Julius, bist du noch nicht müde?“ hörte er Millies Gedankenstimme in sich. Er schickte zurück, dass er Uranies Geburtstagsgeschenk ausprobierte. „Und, was neues da oben zu sehen?“
„Nein, ich habe mir was älteres angeguckt, den Mond und dann den Jupiter. Das neue Fernrohr ist der Hammer“, gedankensprach Julius. Béatrice gedankenantwortete: „Das war mir klar, dass du so einen windigen Abend ausprobierst, um die Kombi aus Fernrohr und Entflackerer zu prüfen. Aber es wäre vielleicht doch langsam Zeit. Oder wolltest du dir morgen freinehmen?“
„Okay, ich bin gleich wieder im Haus“, schickte Julius zurück. Er besah sich noch einmal den Mond in Normalansicht. Dann hielt er dem im Mondschein hellgrau widerscheinenden Apfelhaus seinen Haustürschlüssel entgegen und dachte: „Haustür öffnen!“ Lautlos tat sich die Tür auf. Er trat in die auf angenehmer Temperatur gehaltene Empfangshalle ein und genoss die Stille. Alle Kinder schliefen schon. Daher stieg er so leise er konnte die von unzerbrechlichem Glas umfasste Wendeltreppe hoch. Auf der Höhe, wo Béatrices eigenes Schlafzimmer war traf er sie und verabschiedete sich leise aber mit einer kräftigen Umarmung und einem langen Gutenachtkuss von ihr. Denn heute war ja wieder die Nacht zu einem ungeraden Tag, also dass er neben seiner offiziellen Ehefrau im Bett schlief. An dieser Aufteilung hatten sie auch nichts geändert, als beide Hexen wussten, dass sie seine Kinder sieben, acht und neun erwarteten. Nur mit den wilden Liebesnächten war es bis auf weiteres vorbei.
Als er bei Millie hinter dem zugezogenen Schnarchfängervorhang des Ehebettes lag sagte sie zu ihm: „Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Hestia und Hidalga mondgesteuert sind. Jedesmal, wenn es auf Vollmond zugeht werden die quirliger. Aber ich denke, die beruhigen sich gleich wieder, wenn wir zwei einschlafen.“
Julius strich ganz behutsam über Millies schon sehr gerundeten Bauch und bekam durch die Bauchdecke eine winzige Faus zu fassen. „Eh, Monju, fordere sie nicht heraus. Wenn ich schon deren ganz persönliche Turnstube bin muss ich nicht noch ihr Boxring sein.“ Julius verstand und streichelte den hoffnungsvoll angeschwollenen Leib seiner Frau. Millie kuschelte sich an ihn, sodass er ihr Herz schlagen hören konnte, ja und auch die winzigen Herzen von Hestia Hippolyte und Hidalga Hera. Er wünschte allen drei Hexen eine gute Nacht und drehte sich so, dass sie in bequemer Haltung einschlafen konnte. Dabei dachte er daran, dass bald wieder vollmond war. Er hatte lange nichts mehr von kriminellen Werwölfen gehört. Doch das war ja auch nicht seine Baustelle. Zumindest konnten sie nicht nach Millemerveilles, weil sie feindlich gesinnt waren und wohl auch wie Vampire von dem mächtigen Schutzzauber der Kinder Ashtarias zurückgedrängt wurden. Mit diesem höchst beruhigenden Gedanken schlief er ein.
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Weil er an die 600 Meter niedriger war als sein östlicher Nachbar war der Pico Viejo in der Caldera Las Cañas nicht so überlaufen wie der Teide, der zugleich der höchste Berg der Kanaren und des spanischen Staatsgebietes war. Dennoch galt auch der Pico Viejo als bewundertes Naturdenkmal, Zeuge der feurigen Geburt des kanarischen Inselreiches.
Die Sonne ragte nur noch zu einem Drittel über den Rand der vulkanischen Senke hinaus und übergoss die westliche Seite des Pico Viejo mit orangerotem Licht. So wirkte es, als ob die erkalteten Lavaströme erneut in Glut geraten seien und richtung Fuß des Berges flössen. Der Gipfel des an die 3100 Meter hohen Berges wurde gerade noch von den Sonnenstrahlen berührt und schimmerte in einem tiefroten Licht. Alles in allem war es ein erhabener, wunderschöner Anblick. Das fanden sicher auch die vielen Reisenden, die sich um den verkehrstechnisch erschlossenen und zum Teil überlaufenden Teide scharten und mit ihren Fotoapparaten und Videokameras die ihnen dargebotene Aussicht für ihre Urlaubsalben festhielten. Doch eines konnten sie nicht auf Film, Magnetband oder neuartige Speicherkarten bannen: Das Plateau namens Vista Oriente.
Jenes Plateau, dass auf zwei dritten der Berghöhe aus der Ostflanke herausragte wurde ständig von einem magischen Dunst umhüllt, der die Sicht für unmagische Augen erschwerte und die Erfassung durch mechanische Bildaufnahmevorrichtungen vereitelte. Denn dieses Plateau galt den lebenden Nachfahren der Ureinwohner als besondere Stätte für Rituale von Sonne und Feuer in Angedenken der Austreibung jenes Dämons Guayota. Daher hatte der königliche Zauberrat Spaniens 1756 das Plateau mit bezauberten Lavabrocken umfriedet, die einen ständigen Ich-seh-nicht-Rrecht-Zauber über die flache Stelle am Berg legten. Die meisten spanischstämmigen Hexen und Zauberer kannten diesen Ort und nutzten ihn immer mal wieder als heimlichen Treffpunkt.
Die Sonne im Rücken glitten zwei langgezogene Gebilde mit seitlich angesetzten, wild flirrenden Gebilden auf die orangerote Westflanke des Pico Viejo zu. Aus der Nähe betrachtet sahen sie wie flache, breite Boote mit spitzem Bug und gerundetem Heck aus. Sie fuhren nicht auf Wasser, sondern flogen durch die Luft. Dies ermöglichten je zwei Paar schmetterlingsartiger Flügel an der Backbord- und Steuerbordseite. Die fligenden Boote, die eine Ähnlichkeit mit chinesischen Dschunken hatten, glänzten im letzten Schein der Abendsonne violett. Die sie tragenden und vorantreibenden Flügel waren durchsichtig wie feinstes Glas. In ihnen wirkte die Kraft von Wind und Meereswogen. Die Boote selbst wurden von einem Federleichtzauber aus der Luftmagie der Japaner im Fluge gehalten. Am Steuerrad einer der schmetterlingsflügeligen Boote stand ein hoch und schlank gewachsener Mensch mit kräftigen Händen. An Deck standen drei weitere Männer, von denen der große, starke Mann mit der im Abendsonnenlicht feurig glühenden Löwenmähne und dem ebenso glutrot widerscheinenden Vollbart in der Haltung eines Kapitäns durch sein entspiegeltes Fernrohr blickte. Neben ihm saß ein kleiner Junge, gerade einmal fünf Jahre alt und sah mit seinen großen blauen Augen fasziniert auf die Landschaft. Hinter ihm hockte auf einer niedrigen Bank ein gedrungener, eher klein geratener Mann mit dunkelbraunem Hautton und nachtschwarzer Naturkrause. Links des löwenmähnigen Bootsführers saß ein Mann, der einem großen Kleiderschrank glich und sehr kräftige Arme und Hände besaß. Er war hellhäutig und hatte bis in den Nacken fallendes nachtschwarzes, glattes Haar.
Im anderen geflügelten Boot stand eine matronengleiche Frau mit schwarzen Locken am Ruder. Vor ihr saßen vier weitere Frauen, darunter eine zierliche Frau mit tiefschwarzen Augen und eine hochgewachsene Frau mit dunkelbraunem Haar.
Einen vollen Tag und eine Nacht waren die Schmetterlingsflügelboote unterwegs gewesen. Eigentlich hätten sie alle zehn in ein Boot gepasst. Doch die Gefährtin des Anführers hatte mit den anderen Schwestern, deren Gefährten mitreisten beschlossen, dass es nach Geschlechtern getrennte Boote geben sollte. Da die Bruderschaft vor zehn Jahren Dank Finos und Luneras guten Verhandlungen in Japan sechs solche Boote ergattern konnte und drei davon auf der Mondlichtungsinsel untergestellt worden waren konnten sie die geforderte Geschlechtertrennung einhalten. Die anderen drei Boote waren noch in Europa geblieben. Sicher stand eines davon schon auf jenem Gutshof, der das Gegenstück zur heimatlichen Hacienda in Mexiko bildete. Wegen dieser Anderen hielten die beiden Boote nun auf das für Nichtmagier verborgene Plateau zu.
Unvermittelt strömte dichter weißer Dunst unter dem flachen Kiel jedes Bootes hervor und hüllte das Fahrzeug blitzartig ein. Es war der Dunst der bergenden Wolken, ebenfalls ein Zauber aus dem Reich der aufgehenden Sonne.
„Können wir da landen, ohne uns die Flügel abzubrechen, Capitán?“ fragte der bohnenstangengleiche Steuermann im Männerboot. „Da konnten schon tausend Leute auf Besen landen, und Fino tönte mal, dass da auch schon marokkanische Teppichreiter mit ihren Flusenfängern drauf gelandet sind. Dann können wir das auch“, sagte León del Fuego, der neue Anführer der Mondbruderschaft.
„Ist das da der große Feuerberg, den Tia Lunera mir mal zeigen wollte, Tio León?“ fragte der kleine Junge, der im Moment nicht so traurig aussah wie in den letzten Monaten, nachdem ihm der rothaarige Onkel erzählt hatte, dass sein Papa bei einem großen Kampf gestorben war. „Ja, der noch von der Sonne angeheizt wird, das ist der große schlafende Feuerberg“, sagte León leise und mit einer selten gehörten Sanftheit in der Stimme. Er winkte zum anderen Boot hinüber. Die zierliche Mitschwester Madrugadiña winkte zurück. Dann überholte das Boot mit den Männern das mit den Frauen und überquerte den glutrot leuchtenden Gipfel, um wie auf unsichtbaren Schienen gleitend die Bergflanke hinunterzusteuern und zielgenau an der Südseite des versteckten Plateaus herabzusinken. Zuerst landete das Boot auf einem Kissen aus verdichteter Luft. Dann streckte es alle seine sechs Landebeine aus und krallte sich damit in den Untergrund. Das Boot mit den Frauen an Bord folgte in zwanzig Längen Abstand, schwenkte leicht nach Backbord, um dann parallel zum nördlichen Rand des Plateaus ausgerichtet niederzusinken. Als auch das zweite Boot auf seinen sechs Landebeinen Halt gefunden hatte klappten sich alle Flügelpaare der Boote zu wellengleichen Rändern der Seitenwände zusammen. Zwischen den eingeklappten Flügelpaaren glitten nun durchsichtige Planken hervor, über die die Besatzungen nun ihre Boote verließen.
„Wenn unsere aufmüpfigen Geschwister auch mit zwei Booten kommen ist da in der Mitte wohl der Platz, wo wir uns treffen“, meinte León zu Madrugadiña. Diese nickte nur. Indes lief der kleine, gedrungene Halbafrikaner aus Leóns Boot hinter dem blauäugigen Jungen mit blonden Haaren her, der es richtig spannend fand, dieses Bergplateau zu erforschen und von dessen Rand her zum höher aufragenden Teide zu gucken. „Eh, die haben da fahrende Häuser, die an Seilen hängen“, rief der Junge begeistert und lauschte, weil sein Rufen so oft widerhallte.
„Eh, nicht so brüllen, Alejandro!“ blaffte León. „Die müssen uns nicht hören, auch wenn die Eingestaltler halbtaube Ohren haben. „Ja, die haben den erhabenen Feuerberg mit ihrer Bergseilbahn bepflastert, damit möglichst viele Leute auf dem herumlaufen können, die sonst zu schwach sind, den Berg zu Fuß hochzuklettern oder die nicht apparieren können, um gleich ganz oben auf dem Berg anzukommen. Ich hoffe mal, dass dieser Verbergedunstring auch uns vor denen versteckt“, knurrte León noch und winkte dem dunkelhäutigen Gefolgsmann Blackface. Er flüsterte ihm zu: „Denk dran, dein Leben für das des Jungen, Blackface.“ Der kleinere Mondbruder bestätigte es. Er hatte die Aufgabe, auf Alejandro aufzupassen und sofort bereitzustehen, wenn der rothaarige Anführer das vereinbarte Zeichen gab. Blackface eilte nun bis auf zwei Schritte an den Jungen heran, der immer noch begeistert das Plateau ablief. Hätte Alejandro gewusst, dass Blackface einen unterarmlangen Mondsteinsilberdolch unter seiner schwarzen Wildlederjacke trug wäre er wohl nicht so heiter herumgetollt.
„Wenn die vom Osten kommen könnten die Eingestaltler die mitkriegen, ob mit dem Dunst der bergenden Wolken oder ohne“, meinte die beleibte Steuerfrau aus dem zweiten Boot. León sah sie an und raunte: „Weil Lunera nicht so blöd ist wird die das ihren Leuten schon klarmachen, Lunamares. Wir hatten ja schon unseren Ritt um die ganzen großen Schiffe, die Städte und unter diesen viel zu lauten Feuerstrahl-Flugdingern durch. Werden die also auch mit zu tun kriegen“, schnarrte León.
„Bocafina meinte auch, die wollten erst nachts ankommen“, erinnerte Madrugadiña die ganze Reisegruppe an die Vereinbarung.
„Wenn die bis morgen früh nicht auftauchen geht’s wieder zurück und die Nacht vom Vollmond dann eben auf dem offenen Meer und gehofft, dass die Blaulichtbanditen wirklich noch in ihren stinkigen Bruthöhlen stecken“, schnaubte León del Fuego. Blackface indes fing Alejandro ab, als der meinte, über einen der im letzten Sonnenlicht tiefrot glimmenden Felsen klettern zu müssen. León dachte, dass wenn er Blackface zurückpfiff Alejandro sich selbst aus der Welt schaffen konnte. Ja, das wäre doch was. Doch er und Bocafina wollten Lunera bei sich haben. Dazu brauchten sie Finos Brut lebendig und unverflucht.
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Anders als die Gefolgsleute Leóns besaß die Glenfield-Brooks-Gemeinschaft nur eines der geflügelten Boote. Da dort aber zehn Erwachsene und Proviant für drei Wochen untergebracht werden konnten reichte das auch. Denn anders als die Hacienda-Gruppe legten die Mitschwestern keinen Wert darauf, dass die Männlichen ein Boot für sich haben mussten. Tara und Maura hatten ihrer zu Hause gebliebenen Schwester Lorna versichert, dass Hank keinen Unsinn anstellen würde.
„Achtung, gleich haben wir wieder volle Kraft auf den Flügeln und unterm Kiel“, warnte Joel, der wachhabende Rudergänger die Reisegruppenführerin Tara, die durch ihr Fernglas nach westen spähte. „Gut, dann halbier die Flügelschlagzahl, damit wir nicht über Tenerifa hinwegfegen wie eine Sturmwolke!“ befahl Tara. „Aye Aye, Madam“, bestätigte Joel. Er war vor seiner Einberufung in die Mondbruderschaft Sportflieger und hatte als junger Mann bei der Royal Navy gedient.
Kaum war der letzte Funken Sonnenlicht verloschen und der Mond übernahm die Nachtwache ruckte das Boot merklich an und schnellte dabei um mehr als fünfzig Meter nach oben, bis Joel die Flügelschlagzahl wieder abgesenkt und die Auftriebskraft im Kielholz auf zwei Drittel abgeschwächt hatte. Im vom letzten Dämmergrau erhellten Westen ragten die schlafenden Feuerberge von Tenerifa auf. Über ihnen glühten mehr und mehr Sterne auf. Der Anblick war erhaben.
Als das Boot über Tenerifa flog sank es etliche Dutzend Meter ab und wurde langsamer, weil nun nur noch die Kraft von Mond und Wind es in der Luft hielt. Joel verstärkte die Auftriebsleistung und hob das Boot auf viertausend japanische Manneslängen an. Die Höhenluft machte den Reisenden nichts aus. Denn ein Flügelboot der Kinder Susanoos erzeugte in sich eine Luftdichte, die der auf Meereshöhe entsprach, auch wenn es bis zu achttausend Manneslängen aufsteigen konnte, um für eine Stunde auf der Höhe der höchsten Gipfel der Erde zu kreuzen, bevor es wieder in dichtere Luftschichten hinabsinken musste.
„Mamita, da wo die Sonne untergegangen ist sind so hohe Berge. Ist das da, wo Tio León und Alejandro hinkommen?“ rief eine Kleinmädchenstimme vom Bug her. Dort saß die kleine Lykomeda und hielt mit dem dort befestigten Fernrohr Ausschau. Lunera eilte nach vorne und blickte ohne Fernrohr nach Westen. Dann ließ Lykomeda sie durch das Rohr gucken. „Ja, da ist der Teide, ja und der daneben, der kleinere Berg ist da wo wir hin wollen, der Pico Viejo. Kuck mal, die haben keine Spitzen, sondern Krater, also ganz große Löcher, wo Feuer und glühender Steinbrei rauskommen können, Medi.“
„Ui!“ staunte Lykomeda. Dann sah Lunera durch das magische Fernrohr ein schwaches, bläuliches Flimmern und daruntereinen von acht großen schwarzen Felsbrocken begrenzten flachen Abschnitt und konnte jetzt auch zwei Gefährte sehen, die genauso aussahen wie ihr geflügeltes Boot. „Oha, mit zwei Booten sind die angerückt, Tara. Wollte León nicht nur zu zehnt ankommen?“
„Sind die Boote kleiner als unseres, Lunera?“ wollte Tara wissen. „Nein, gleichgroß wie unseres“, bestätigte Lunera. „Sieht dem ähnlich, dann mit mehr Leuten anzurücken. Klar hat der was vor“, mentiloquierte Tara nun mit Lunera, damit Lykomeda es nicht mitbekam. „Unsere Gegenmaßnahmen sind klar, Tara?“ gedankenfragte Lunera. „Ja, sind sie. Im Zweifel opfern wir das Boot und nehmen für die Rückreise das weiße Tischtuch“, erwiderte Tara auf dieselbe unhörbare Weise.
Steuermann, leicht Backbord und langgsamen Sinkflug zwanzig Grad vorlastig!“ kommandierte Lunera, der es gerade Spaß machte, als Kapitänin aufzutreten. „Aye, Captainess, leicht Backbord und zwanzig Grad vorlastig!“ bestätigte Joel den Befehl und führte ihn im gleichen Moment aus.
Nach weiteren zehn Minuten langsamen Fluges über die sich lichtenden Touristenhorden auf dem Teide hinweg landeten sie im Schutz des dunstigen Verbergezaubers auf dem Südabschnitt des flachen Absatzes im Berghang des Pico Viejo.
„Nein, nicht wahr!“ grinste Maura, als sie sah, dass gerade fünf Frauen und vier erwachsene Männer und der kleine Alejandro warteten. „Ich prüf mal was“, mentiloquierte ihre Schwester Tara und führte hinter dem Rücken Joels einen Zauber aus. „Wir sind die einzigen Zweigestaltler im Umkreis von hundert Metern“, gedankensprach Tara zu Maura. Dann gingen sie über die ausfahrbare Planke von Bord. Lunera hielt Lykomeda an der Hand und zischte ihr zu, erst bei ihr zu bleiben, bis sie ihr was anderes erlaubte.
León del Fuegos namensgebende Löwenmähne glitzerte im Mondlicht mittelgrau. So sah er nicht ganz so aus wie ein wilder Krieger, sondern wie ein alter weiser Mann in einem hohen Rat. Doch Lunera war sich sicher, dass in Leóns Kopf nicht mehr Weisheit drinsteckte als in dem eines Straßenhundes. Doch Straßenhunde konnten sehr gefährlich werden, wenn ihnen wer ihr Fressen oder das Revier streitig machte.
„Ich grüße euch, Brüder und Schwestern aus dem fernen Westen“, sagte Tara McRore in einem akzentfreien europäischen Spanisch. León sah jedoch an ihr vorbei auf Lunera. Doch die hielt sich zurück. Tara trat vor und wiederholte ihre Begrüßung mit dem Zusatz „Ich, die Sprecherin von Glenfield Brooks“. Dann starrten beide einander an, während Alejandro auf seinen kurzen Beinen herumtrippelte, als müsse er dringend zur Toilette. Doch der Mann, der hinter ihm stand hatte seine linke Hand auf seiner Schulter liegen.
Lunera wartete wie mit Tara vereinbart, ob León Tara als Sprecherin würdigte und grüßte. Doch der meinte wohl, Lunera habe Tara McRore vorgeschickt. Dann hörte er wohl was, was selbst die hochempfindlichen Ohren von Mondgeweihten nicht mitbekamen und trat verdrossen dreinschauend vor. „So grüße auch ich euch und dich, Schwester Tara McRore ohne Kampfnamen und die, die bei dir sind, ich, León del Fuego, durch den Kampf der Nachfolge bestätigter Führer der ehrenvollen Bruderschaft des Mondes.“
„Es freut mich, das dieses so wichtige Treffen stattfindet. Denn nun, wo sich die Zeiten und die Ämter geändert haben müssen wir Einigkeit in gegenseitiger Achtung erweisen“, sprach Tara.
„Häh?!“ machte León ungeachtet dessen, wie peinlich sich das für einen Anführer anhörte.
„Sie sagt, dass wir wegen allem, was neu ist gut miteinander klarkommen sollen“, übersetzte Madrugadiña. „Achso, ‚tschuldigung, das Eurospanisch habe ich nicht so gut drauf“, grummelte León. Dann sah er Lunera wieder an und fragte: „Hat sie mit dir um die Führung gekämpft, oder habt ihr ein Wettstricken veranstaltet, dass sie einer Engländerin den Platz freigemacht hat?“ Leóns männliche Begleiter kicherten jungenhaft.
„Nein, wir haben um die Wette gestrullt. Wer am weitesten spritzen konnte hat gewonnen, und weil ich als Schottin mehr trinken kann und deshalb eine stärkere Blase habe hab ich gewonnen, León. Reicht dir das als Begründung, warum ich die Sprecherin bin, obwohl ihr das doch schon lange schriftlich habt?“
„Noch mal ‚tschuldigung, werte Haargenossin, aber dass du aus Schottland bist wusste ich nicht mehr. Öhm, aber die Begründung kann nicht sein. Weibchen können sowas nicht.“
„Bei euch in Mexiko nicht, aber bei uns im guten alten Europa geht das“, erwiderte Tara, die problemlos auf die vulgäre Art von León eingehen konnte. Lunera wusste nicht, ob sie sie dafür bewundern oder tadeln sollte. Jetzt lachten die Frauen aus Taras Gruppe und auch die mitgebrachten Männer grinsten, obwohl sie eigentlich dasselbe wie León dachten.
„Also, ihr seid hier, weil ihr mir und meiner Gefährtin geschrieben habt, dass ihr wollt, dass Alejandro und Lykomeda sich wiedersehen, richtig? Gut, dann sollen die zwei sich begrüßen. Los, Alejandro, geh zu deiner kleinen Freundin hin!“ befahl León. Der Mann hinter Alejandro löste seine linke Hand von seiner Schulter. Da gab auch Lunera Lykomeda frei. „Sag dem Alejandro hallo!“ zischte sie Lykomeda zu. Da lief das kleine Mädchen los.
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León del Fuego kämpfte mit seiner Wut. Er durfte sie nicht rauslassen, sonst wurde er zum Wolf und konnte nicht mehr reden. Erst hatte ihn Gordiños nichht minder fülliges Weibchen melomäßig zurechtgewiesen, dass er auf Taras Begrüßung zu antworten hatte, und dann hatte ihm Madrugadiña noch das verlispelte und geschraubte Altspanisch dieser britischen Braut übersetzen müssen. Dann hatte dieses Ding da von der Insel noch eine total verdrehte Begründung für ihren Führungsanspruch abgeliefert, wo er als Mann sich echt verladen fühlen musste. Ja, und als er ansetzen wollte, Lunera zur Anerkennung seines Rangs zu fordern hatte ihm Madrugadiña noch zwischen die Ohren geknallt, dass erst die zwei Kinder entflucht werden müssten, bevor er von Lunera die Anerkennung einfordern konnte. Hielten die ihn jetzt alle für einen Trottel, der nichts alleine hinkriegte?
Er gab Blackface das Zeichen, Alejandro freizugeben, damit der und Lykomeda sich begrüßen konnten. Er sah mit stark unterdrückter Wut zu, wie die zwei wie gute alte Bekannte aufeinander zuwetzten und sich wild umarmten. Dann sah er, wie von Lykomeda und Alejandro aus blutrote Funken sprühten. Beide lachten. „Eh, was kitzelt da denn in meinem Bauch?“ quiekte Lykomeda. Alejandro giggelte: „Eh voll lustig, wie das im Bauch und den Armen kribbelt.“ Die Funkenwolke wurde dichter und heller. Dann zerfiel sie in zwei Ringe. Der eine zischte in den Boden. Der andere schwirrte säuselnd und knisternd mehr als zehn Meter nach oben, bevor er mit leisem Piff zersprühte. War das die Entfluchung? Sollte er das jetzt fragen? Er wartete noch, bis Alejandro Anstalten machte, mit Lykomeda zu Lunera hinzulaufen. Er rief: „Halt Alejandro. Komm noch mal wieder zurück! Erst soll Medis Mama mich begrüßen!“
Alejandro hatte entweder nicht gehört oder, was wohl eher war, der wollte nicht hören. Er deutete auf Blackface. Doch der blieb wo er war. Schnell sah León diese Tara und ihre jüngere Schwester an. Nein, keine von denen hielt einen Zauberstab in der Hand. Warum lief dieser kleine dunkelgesichtige Dummkopf dann nicht los und holte Alejandro zurück? „Al, komm sofort zu mir hin!!“ bellte León. Jetzt lief genau das, was er eigentlich nach der Begrüßung haben wollte. Lykomeda und Alejandro liefen Hand in Hand zu ihm hin. Doch auf halbem Weg ließ Lykomeda den Jungen los, warf sich herum und wetzte zu ihrer Mutter. Die konnte den doch unmöglich angemelot haben. Die war doch keine ganze Hexe. Jedenfalls war Alejandro wieder bei ihm. Blackface kam mit schuldbewusstem Gesicht herüber und stellte sich wieder hinter ihn. „Da reden wir noch drüber“, knurrte León den kleineren Gefolgsmann an. Dann blickte er sich schnell um, um bloß nicht von denen überrumpelt zu werden. Dann sah er Lunera an.
„Lunera Tinerfeño. Du wolltest, dass ich herkomme, auch wenn das gar nicht richtig ist, dass ich zu dir hinkommen muss. Gut, ich bin hier. Jetzt komm du zu mir, zieh alles aus, was du an hast, knie dich vor mir hin!Dann küss mir die Füße und sage: „Ich, Lunera Tinerfeño, die Witwe des großen Cortoreja Espinado, erkenne dich, León del Fuego, als seinen rechtmäßigen Nachfolger an und … Äh … ach ja! … gelobe dir Treue bis in den Tod und mein Leben in deinem Dienst.“
„Wie war das mit gegenseitiger Achtung?“ fragte Lunera. „Ich werde dich nur anerkennen, wenn wir beide auf selber Augenhöhe bleiben und du mir im Gegenzug schwörst, dass du mich als Witwe des Gründers weiterhin achten und vor Feinden und Gefahren beschützen wirst und mir freistellst, ob ich bei dir oder woanders wohne. Die Zusage will ich erst von dir hören, León del Fuego.“
„Jetzt reicht’s bald!“ entfuhr es León. Er spürte ein Kribbeln auf der Haut und merkte, wie seine Kiferknochen pochten. Gleich würde er auch ohne Vollmondlicht zum Wolf. Gerade so konnte er noch dagegen ankämpfen und grollte: „Ich habe die Anerkennung genauso von allen anderen gekriegt. Ich habe das Recht, das so zu machen. Das hat dein gestorbener Begatter so gewollt, dass der Anführer sagt, was gemacht wird. Wenn ich sage, du machst das so, dann machst du das so, und die beiden anderen Weibchen da auch.“
„Jetzt muss ich um Entschuldigung bitten. Aber ist das wort Weibchen die im amerikanischen Spanisch amtliche Bezeichnung für eine Frau? Bei uns in Europa ist das nämlich noch die Bezeichnung für ein niederes weibliches Tier oder Zaubertierwesen“, sagte Tara. León fühlte, wie seine Gedärme verdreht wurden und fühlte das Blut in seinen Adern aufwallen. Wenn jetzt die Schmerzen in Kifern und Gliedmaßen zunahmen musste er erst zum Wolf werden und dann versuchen, wieder zum Mann zu werden.
„Zumindest ist das das Wort für alle, die nicht seine Gefährtin sind“, wagte es Madrugadiña, für ihn zu sprechen. Wieso hatte er diese Halbindia mitgenommen? Die machte ihn doch hier voll zum Dummbatz.
„Espinado hat mir gesagt, dass ich vor keinem anderen mehr knien muss, weil ich seine Gefährtin und eine Schwester des Mondes geworden bin. Wenn du wirklich sein Andenken bewahren willst, León del Fuego alias Feliciano Torres aus Tihuana in Mexiko, dann halte dich bitte daran!“erwiderte Lunera kerzengerade aufgerichtet. Dabei sah sie ihn so an wie einen unartigen Jungen, den sie ausschimpfen muss.
„León, langsamer Atmen, du kriegst mehr Haare!“ hörte er jetzt auch noch Lunamares‘ Stimme im Kopf. Was fiel der denn ein, ihm nun auch noch dazwischenzudenken?
„Puñazo, hol dir Luneras Kleine!“ gedankenrief er so kräftig er konnte. Doch der übliche Nachhall im Kopf war fast nicht zu hören. Hatte er den Kleiderschrank mit den Riesenfäusten erreicht? Blutrote, nächtelange Mondfinsternis, wieso lief das hier alles gerade voll aus der Spur? Wieso musste er so viele Fragen haben?
„Puñazo, hol dir Luneras Welpenmädchen!!“ presste er eine weitere Botschaft aus seinem Kopf hinaus in die Welt, damit Lunera es nicht hören konnte. Ja, jetzt hatte er auch einen kurzen Nachhall mitbekommen. Ah, Puñazo bewegte sich auf Lunera und Lykomeda zu, die bei Lunera stand. Er wurde schneller. Doch unvermittelt blieb er mitten im nächsten Schritt wie gegen eine unsichtbare Wand geknallt hängen, stolperte und fiel um, ohne dass seine Arme und Beine dabei verrutschten. Er sah nun, dass Taras Schwester, Moira oder Mara oder Mory im Sichtschutz Puñazos ihren kurzen, dünnen Zauberstab rausgezogen und ausgerichtet hatte. Also hatte die seinem stärksten Kämpfer das Laufen abgehext. Als er das kapierte brach die Wut bei ihm voll durch. Jetzt konnte und wollte er nichts mehr dagegen machen.
Es war wie eine platzende Feuerkugel in seinem Bauch. Die Hitze jagte durch Arme und Beine und brannte unter seiner Schädeldecke. Er fühlte die Schmerzen und sah das Mondlicht. Weil er den mächtigen Trank im Körper hatte, der eine gewollte Verwandlung machte reichte das Mondlicht, weil seine wut wollte, dass er zum wolf wurde. Er knurrte und röhrte los, weil die wilde Wut und die Schmerzen der Umwandlung, die er sonst als herrliche Gefühle der Stärke abtat, ihn vom Denken abbrachten.
„Ihr seid doch nicht ganz richtig hier oben, unseren Anführer derartig zu provozieren!“ hörte er trotz des wilden Pochens in seinen sich verändernden Ohren Lunamares schimpfen. Gordiños Gefährtin spielte sich nun noch als Anstandsfrauchen auf. Das gab seiner Wut den allerletzten Schub. Mit einem lauten, gurgelnden Aufschrei, der in ein röhrendes Heulen überging, platzte ihm seine Kleidung vom Körper. Er verlor den Halt auf den schmerzenden Hinterbeinen und knallte auf die genauso pochenden Pranken. Er sah durch die sich auch ändernden Augen, wie seine Finger zu tödlichen Krallen wurden, fühlte seinen Mund zur Schnauze werden und merkte, dass sein langes Kopf- und Barthaar auf halbe Länge zusammenschnurrte, bis es mit dem aus seinem Körper brechenden Pelz gleich war.
„Alejandro, komm her, schnell!“ hörte er Lunera zischen, während sie Lykomeda in ihre Arme schloss, damit sie nicht losrannte. Blackface bekam mit, wie sein Anführer zum wütenden Wolf wurde.
„Blacky, der letzte Gruß!“ versuchte er trotz der noch wirkenden Verwandlungsschmerzen seinem Diener zuzumentiloquieren. Doch weil der ein schlechterer Zauberer als er war kam die Botschaft bei dem wohl gar nicht erst an, dachte León. Doch er hatte Blackface ja schon vorher was befohlen, wenn die anderen was machten, dass er keine Handbewegung oder kein gesprochenes Wort mehr hinkriegte. Ja, und weil diese überhebliche Blondine Alejandro zu sich hinrief war das der letzte Fehler, den die machen konnte. Er sah, wie Blackface loslief und dabei für seine sonstige Trägheit ziemlich schnell unter seine Jacke griff und was langes daraus hervorzog. Es blitzte im Mondlicht silbern auf und streckte sich Alejandro entgegen, der schon auf dem Weg zu Lunera und Lykomeda war.
Expelliarmus!“ rief Taras kleine Schwester, die ja noch den Zauberstab hatte. Ein roter Blitz pfiff daraus auf Blackfaces ausholenden Arm zu und traf die Klinge. Ei, das tat weh in seinen Augen, als er sah, wie der rote Blitz von der Klinge abgewiesen wurde, ohne dass sie weggestoßen wurde. Was hatte ihm Blackface gesagt: „Der ist nicht mit Zaubern zu bewegen oder wegzuhauen, Jefe.“ Das stimmte dann wohl. Aber Blackface war mit einem Zauber umzuhauen. Das sah León, als Blackface gerade auf Alejandros Rücken losstach, weil etwas ihm voll von vorne traf. Er prallte zurück. Sein Stoß rutschte nach unten weg, ohne Alejandro zu treffen. Dann bekam Blackface wohl noch was magisches gegen den Kopf und fiel um.
„Palón, blitz die beiden Schwestern tot!“ gedankenrief er Palón zu. Doch der stand erstarrt da. Jetzt konnte León sehen, dass auch die mitgenommene Heilerin Manosana ihren Zauberstab in der Hand hatte. Hatte die Palóm bewegungslos gehext? Jedenfalls konnte der wohl keinen Zauberstab mehr frei ziehen.
Alejandro erreichte derweil Lunera, die ihn an sich vorbeilaufen ließ und sich dann vor ihn hinstellte. „So, du räudiger Straßenköter, der du meintest, den großen Espinado beerben zu dürfen, der Weg zu Finos und Ninas Sohn führt nur noch über meine Leiche!“ rief Lunera mit ihrer körperlichen Stimme. Er konnte ein gequältes Winseln nicht unterdrücken, so laut schrillte das in seinen nun voll verwandelten Lauschern.
„Tio León, wieso bist du jetzt schon Wolf?!“ rief der Angst habende Alejandro jetzt auch noch mit piepsig hoher Schrillstimme. Das reichte. Sie wollte es so, sie sollte es kriegen!!
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Tara blickte auf den verwandelten León del Fuego. Natürlich war der nun stinkwütend, weil nichts so gelungen war wie er es wollte. Das hatten die beiden McRore-Schwestern vorausgesehen, dass León leicht in wilde Wut geraten konnte. Der Lykonemisis-Trank und der beinahe Vollmond reichten da aus, um ihn zu verwandeln.
Seine Handlanger, die Lykomeda und Alejandro bedrohten hatten sie beide aufhalten können. Den langen Kerl, der sinnigerweise Palón, genannt wurde, hatte aber weder sie noch Maura bewegungsgebannt, sondern eine der Mitschwestern aus Leóns Gefolge. Was trieb die dazu, die eigenen Leute zu schwächen?
Jetzt rannte dieser wütende Werwolf León del Fuego auf Lunera zu. So wie sie war hatte sie gegen ihn so wie er war keine Chance, wenn sie sich nicht auch verwandelte. Was sagten die Eingestaltler immer und immer wieder über die Mondgeweihten, sie seien Geschöpfe, deren Blut durch einen Fluch vergiftet wurde, Kranke, die entweder bemitleidet oder zurückgewiesen wurden.
Lunera hatte die zwei Kinder hinter sich bugsiert. Da spannte sich ohne ihr Zutun eine schwarze, von Tara, Maura und ihr aus durchsichtige Wand zwischen ihr und León auf. Er prallte im vollen Lauf dagegen und stieß ein schmerzhaftes Jaulen aus. Er wurde wie vom Fuß eines unsichtbaren Riesens getreten zurückgeworfen und bog sich dabei. Er kam ins kullern und schlug gegen den unebenen Hang des schlafenden Vulkans. Die Wut oder die bessere Ausdauer eines Verwandelten ließen ihn den Aufprall besser wegstecken. Doch einen Augenblick lang schien es, als halte ihn der Berg fest. Dann kam er wieder auf die Beine. Tara musste jedoch erkennen, dass die Eingestaltler zumindest damit recht hatten, dass ihre Natur den dunklen Zauberquellen entstammte, denn sonst hätte die Kraft des schwarzen Spiegels, die durch genug Angst um sich oder ein geliebtes Mitgeschöpf ausgelöst worden war, nicht den Angreifer zurückwerfen können. Gut, im Zweifelsfall war Maura bereit, einen zeitweiligen Windwall zu wirken, wenn León noch näher an Lunera herangekommen wäre.
„Schwestern, was tut ihr da mit unserem Anführer?!“ rief die übergewichtige Dame, die neben der mit dem Zauberstab stand und wohl sowas wie Leóns wandelndes Gewissen war.
„wir haben euch nicht angegriffen, sondern ihr uns!“ rief Tara sehr streng klingend. „Ja, und der halbafrikanische Diener eures Anführers wollte Finos und Ninas Sohn von hinten erdolchen“, fügte Lunera hinzu. „Das ist nicht nur saufeige, sondern auch ein ganz klarer Verstoß gegen Espinados Gebote. Kinder genießen den Schutz vor jeder Form von Gewalt, solange sie nicht zur Erziehung ausschließlich von den Eltern angewandt wird. So einem Anführer werde ich nicht ….“ Da kam er wieder angerannt. Seine Mitschwester mit dem zauberstab zielte erst auf den schwarzen Spiegel, besann sich aber und zielte auf ihn. „Stupor!“ rief sie. Mit einem lauten Zischen schlug ein roter Blitz auf León über und raubte ihm trotz seiner Wolfsgestalt die Kraft und die Besinnung. Er glitt aus und schlidderte auf seinem struppigen Bauch weiter. Dabei stieß er mit der Nase an die schwarze Wand und wurde wieder davon zurückgeprellt. Einen halben Meter über dem Boden flog er bis zu zehn Schritte weit zurück, bis er wieder auf dem Bauch landete. Dabei konnte Tara sehen, wie mondlichtfarbene Funken aus seinem Pelz sprühten. Also war es die im Blut und wohl auch durch den Trank wirkene dunkle Mondmagie, auf die der schwarze Spiegel ansprach.
„Euch ist jetzt doch klar, dass das wohl heißt, dass wir aus Amerika euch aus England aus der Bruderschaft ausstoßen müssen“, sagte die korpulente Mondschwwester. Tara fragte, wer das sagte. „Ich bin Lunamares, Steuerfrau des geflügelten Bootes der Schwestern und die Beraterin des Anführers in internationalen Angelegenheiten.“
„Dann muss ich dir leider sagen, dass du den Anführer nicht gut genug beraten hast, Lunamares“, stellte Tara McRore klar. „Denn sonst hätte der neue Anführer ja wissen müssen, dass in Europa Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen herrscht, dass Unterwerfungsgesten wie das Knien und Füßeküssen in Europa nur noch bei wirklich dunklen Orden geduldet werden und dass er nur dann als würdiger Anfürer anerkannt wird, wenn er sich auch wie ein würdiger Anführer benimmt und nicht wie ein verflohter Straßenhund in einem Elendsviertel bei euch drüben in Südamerika. Ja, hört sich gemein an, wo er da gerade nichts mitbekommt und nichts antworten kann. Aber für das erste seid ihr verantwortlich und für das nicht antworten können ist er allein verantwortlich. Wir haben euch nicht angegriffen. Und ja, was unsere Bundesschwester Lunera sagte ist auch richtig. Was er da“, wobei sie auf den halbafrikanischen Gefolgsmann deutete, „versucht hat ist ein Akt der Feigheit und ein Verstoß gegen das sechste Gebot Espinados, das Welpenschutzgebot. Kennst du sicher, wenn du ihn beraten wolltest, Schwester Lunamares.“
„Der Anführer darf bestimmen, dass ein ihm ungehorsames Kind sterben darf, wenn es seinen Welpenschutz verliert“, seufzte Lunamares. „Oha, wusste nicht, dass León mentiloquieren kann“, ätzte Lunera. Dann fragte sie: „Wieso hat Alejandro seinen Welpenschutz verloren? Der ist gerade erst etwas mehr als vier, also noch keine sechzig erlebten Vollmonde alt.“
„Hmm, ja, eh, ja, öhm“, druckste Lunamares herum. Da stellte sich die andere Mondschwester vor sie und sagte: „Ich bin Manosana, Heilerin der Fortaleza Luna Ascendienda. Genau deshalb habe ich eingegriffen, weil weder ein Kind noch einer oder eine von uns getötet werden sollen, und ja, Palón, Blackface, Puñazo und werte Mitschwestern, mir war nicht klar, dass León Blackface diesen Dolch übergeben hat, den ein eingestaltlicher Todfeind von uns hat schmiedenlassen und ihn mit zusätzlichen Zaubern gegen unsere Mondnatur belegt hat, sonst hätte ich ihm den schon unterwegs entwendet. Der Dolch kann nicht mit Bewegungs- oder auf Lichtstrahlen getragenen Zaubern aufgehalten werden, nur durch magielose körperliche Gewalt. Ich nehm den besser an mich, um ihn auf dem Rückflug ins Meer zu werfen, wo dieses von Neumondstrahlen auf die Erde geworfene Ding hingehört. Da ich die von León anerkannte Heilerin bin, zumindest galt das bisher, wird er mir verraten, woher er den hatte.“
„Das kann ich dir schon jetzt sagen, Heilerin Manosana“, erwiderte Lunera, während die schwarze Spiegelwand sich von selbst auflöste, weil die von ihr zu schützende Person keine Angst mehr hatte. „Euer großer Führer hat den aus dem Haus des Frühlingsmondes, das nur mit einem der schwarzen Obsidianschlüssel aufgesperrt werden kann. Fino hat den Dolch damals aus dem Nachlass eines ahnungslosen Waffensammlers herausgekauft, damit der Dolch sich nicht gleich gegen ihn wendet und in diesem Schutzhaus eingesperrt und gesagt, dass der besser da bleibt und jetzt von keinem mehr gegen uns benutzt werden kann, auch nicht von jenem, mit dem Greyback verbündet war und …“
Was Lunera noch sagen wollte verging in einem gleißenden silbernen Licht und einem lauten, wie aus allen Richtungen zugleich erklingenden Lärm, der wie ein in beide Ohren zugleich hineinsingender Frauenchor klang. Tara fühlte, wie ihr die Sinne schwanden. Der Gesang verebbte in einem wilden Pochen, das lauter und lauter in ihren Ohren donnerte und dann in Dunkelheit und Stille endete. Ob sie noch stand oder gerade hinfiel merkte sie nicht mehr.
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„Alarm beim Plateau der Feuerhand Guayotas auf Tenerifa!“ rief Ronaldo Boreas Alvárez Mondego, diensthabender Wachhabender in der Zweigstelle für magische Sicherheit unter dem Felsen Dedo del Dios auf Gran Canaria. Sofort rannten mehrere Mitglieder der Spätschicht in den Einsatzraum und sahen auf der magischen Landkarte, wo der rote Punkt blinkte. Auch lasen sie den darunter angezeigten Hinweis:
Starke Entladung lunarer Zauberkraft in Verbindung mit Erdkraft.
Einstufung unbekannt!
„Zielapparieren möglich?“ fragte einer der Sicherheitszauberer. „Nachprüfen!“ war die Antwort seines Vorgesetzten. Er tippte die Landkarte an. Unvermittelt wurde sie zu einem scheinbaren Fenster, das ein Plateau vor einem zerklüfteten Berghangb bei Mittagslicht zeigte. Die Mitglieder der Spätschicht von vier Uhr nachmittags bis zwölf Uhr abends zückten ihre Zauberstäbe und konzentrierten sich auf das Ziel und die unter dem Fenster stehenden Angaben von Richtung und Entfernung. Dann wirbelten sie auf dem Absatz herum. Es krachte laut und metallisch widerhallend. Für einen winzigen Augenblick verschwanden die Apparatoren. Dann blitzte es blutrot auf, und mit einem Ausdruck von Schreck und Schmerz aufschreiend erschienen sie in einem Meter höhe wiieder.
„Ein Wall, kein üblicher, sondern was mit blutroter Leuchterscheinung!“ Meldete einer, der diesen unerwarteten Rückpreller am besten überstanden hatte.
„Drachenmist! Dann sind es die verflohten Mondköter. Öhm, ich meine, Alarm, möglicherweise Lykanthropen am Berg Pico Viejo auf dem Plateau der feurigen Hand Guayotas! Besen fassen, aufsitzen und Zielanflug!“ befahl der Schichtleiter und hob seinen eigenen Zauberstab. Aus dem Nichts heraus erschien ein Flugbesen mit kerzengerade ausgerichteten Schweifreisern. Die anderen holten sich auf dieselbe Weise ihre Einsatzbesen und disapparierten nach einigen Sekunden, um an der Gran Canaria zugewandten Küste Tenerifas anzukommen. Zumindest ging das noch. Als der Schichtleiter festgestellt hatte, dass die Einsatztruppe vollständig war befahl er: „Aufsitzen und losfliegen. Bei Zielankunft alle anzutreffenden Lykanthropen kampfunfähig machen. Minister Pataleón hat ausdrücklich befohlen, Gefangene zu machen!“ „Geschätzte Ankunftszeit fünf Minuten“, meldete der mit der Karte Tenerifas am besten vertraute Sicherheitstruppler. „Dann mal los!“ trieb der Schichtleiter zur Eile.
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Es war schon eine eindeutige Machtdemonstration, wie er hierhergekommen war. Erst haderte er mit dem, was er tun sollte. Doch als er die blonde Frau mit dem kleinen Mädchen erkannte wusste er, wessen Tochter die Kleine war. Die ihm aus Fahndungsakten bekannte Frau war Lunera Tinerfeño, die langjährige Anführerin der Mondbruderschaft.
Sein Gewissen schwieg nun endgültig. Die schwere Entscheidung, die ihm vor einer Nacht auferlegt worden war, fiel ihm nun ganz leicht. Ja, er konnte es tun. Ja, er wollte es tun. Ja, er musste es tun!
Nicht mehr daran denkend, wie er hierhergekommen war und dass er im Grunde ein Verbrechen beging ließ er den besonders langstieligen Besen mit dem extralangen Schweif waagerecht in die Tiefe sinken. Als er sah, wie einer von denen da unten zum Wolf wurde und dass der andere einen silbernen Dolch zückte, um ihn dem nicht mal fünf Jahre alten Jungen in den ungedeckten Rücken zu stoßen wusste er, dass jene, die ihn hierhergeschickt hatten recht hatten. Er hoffte nur, dass sie ihn nicht sahen oder hörten.
Als er gerade noch einhundertfünfzig Längen über ihnen war und die genauen Einzelheiten der drei auf festem Grund gelandeten Boote sah ließ er den schneeweißen Gegenstand in die Tiefe fallen. Als dieser aufschlug sah er eine an die hundert Schritte durchmessende, silberweiße Halbkugel, die alle und jeden in sich einschloss und ja, regelrecht erstarren ließ. Dabei konnte er sehen, wie aus dem Fell des in Wolfsgestalt steckenden Lykanthropen ein Schwarm silberner und roter Funken herausflog und wie aus den Körpern der gerade eben von den Hexen bewegungsgebannten grüne und blaue Funken direkt in die Erde übersprangen. Der Dolch der am Boden lag war auf die dreifache Größe gewachsen.
„Lande auf dem ruhenden Feuerberg und hebe die zwei Unschuldigen auf dein fliegendes Holz!“ hörte er die Gedankenstimme jener, die als erste Tochter angesprochen wurde. Er verringerte die Schwebefunktion des Besens ein wenig und ließ sich federgleich damit herabsinken. Dieser Familienbesen war sowas von genial, dachte dessen Reiter.
Als er in die silberne Lichtkuppel eintauchte hörte er einen sphärischen Klang, jenen Klang, den er in der letzten Nacht schon gehört hatte. Ja, ihre unbekannte, mächtige Magie wirkte hier. Er sah den Gegenstand, den er auf den Boden hatte fallen lassen. Er glänzte im Licht des Mondes. Er sah die helleren darauf in wilden Spiralen kreiselnden Zauberzeichen, die er aus seiner Lehrzeit als Madrashainorian kannte. Er wollte versuchen, die Zeichen zu verstehen. Doch die Stimme der ersten Tochter in seinem Kopf mahnte ihn, die wenige Zeit zu nutzen.
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Er war wieder ein Mann, kein Wolf mehr. Er war wieder wach. Doch was waren das für Stimmen in seinem Kopf? Die klangen wie ein Chor aus Frauenstimmen, die irgendwas in einer Sprache sangen, die er nicht konnte. Es klang auch so, als würden die immer dasselbe singen, nur nicht zusammen, sondern leicht durcheinander und auf verschiedenen Tönen. Die waren aber trotzdem nicht schmerzhaft, sondern schön, wunderschön. Sie wurden immer leiser. Er öffnete seine irgendwie ganz schweren Augendeckel und sah zuerst nur den fast vollen Mond, der ihn eben so heftig aus der Spur geworfen hatte. Er merkte, dass er auf dem Boden lag. Doch wieso konnte er seine Arme und Beine nicht so bewegen wie vorhin. Mondfinsternis! Das war, als würde ein Elefant mit seinen dicken Beinen und seinem ganzen Gewicht auf seinen Armen und Beinen stehen. Ei, und sein Kopf fühlte sich an, als hätte da jemand mehrere Kilogramm Blei reingestopft. Das war bestimmt wegen der hinterhältigen Betäubung, die ihm Manosana übergebraten hatte. Na, die durfte gleich schon vom Berg runterspringen und da unten aufschlagen. Dann fühlte er, wie das Mondlicht und der wohl noch in ihm steckende Trank seine Kräfte zurückbrachten. Ja, jetzt konnte er sich aufsetzen. Er sah sich um. Die waren alle noch da, diese Verräterinnen und Verräter. Doch die lagen alle auf dem Boden wie er gerade eben noch. Dann sah er was, das ihn wieder ärgerte. die zwei Welpen waren nicht mehr da. Alejandro und Luneras Balg Lykomeda waren weg!
„Oh, ich glaube, mir hat wer den ganzen Mond in den Schädel gestopft“, hörte er Blackface stöhnen.
„Kann nich‘ sein, Dunkelfratze, oder was ist da oben so hell?“ hörte er jetzt Puñazos Stimme von weiter vorne. Der sollte doch die kleine Lykomeda einfangen. Blackface lag auch etwas weiter weg. Die mitgereisten Weibchenund auch die aufsässigen Hündinnen aus der anderen englischen Reisegruppe bewegten sich gerade erst.
„Ihr habt uns plattgemacht!“ stieß León aus. Dann rief er Tara, Maura und Lunera ein höchst rüdes Schimpfwort zu, das seine eigenen Begleiterinnen zusammenfuhren und tadelnd schnalzten. Die dicke Lunamares zischte: „Nicht so ein Wort vor den Kindern, Bruder León.“ Dann merkte die selbst, dass hier keine Kinder mehr waren. Dann sah die gerade wieder auf die Beine kommende Krawallschwester Tara McRore wohl was auf dem Boden. Er sah schnell hin. Da lag ein Ding, groß wie eine Untertasse und grau mit schwarzen Sprenkeln und der achso supergefährliche Dolch des entschlossenen Jägers, den er aus dem Frühlingsmondhaus eingesackt hatte, weil er dachte, den zu brauchen. Er sprang auf und lief nun völlig frei von Schwäche auf den Dolch zu. Da zog ihm etwas beide Beine weg. Er landete mit dem Gesicht im kalten Vulkandreck. Wrrg! Er prustete erst und hörte, wie jemand an ihm vorbeisprang und sich bückte. Er schnellte hoch und sah, dass Manosana den Dolch hatte und dann mit einer schnellen Drehung und ganz leisem Knall wegdisapparierte. „Schlampe der Mondfinsternis!“ brüllte er in die leere Luft, wo vorher noch Manosana war. Deshalb bekam er nicht mit, wie Lunera das untertassenartige Ding aufhob, das da lag, wo vorhin die zwei Welpen sich umklammert hatten. Als er das mitbekam wollte er wieder losstürmen. Da fiel ihm doch echt noch rechtzeitig ein, dass er nicht noch mal gegen diese schwarze Wand knallen wollte. Das hatte ihm richtig übel die Knochen und Gedärme durchgerüttelt und war noch dazu wie ein Schluck Eiswasser von der Schnauze bis zur Rute durch den Körper geschossen. Brrr!
Mit einem leisen Knall war Manosana wieder da. „Leute, Ärger! Ich habe mindestens zehn Besen im Anflug gesehen. Wir müssen hier weg!“ rief sie.
„Besen! habt ihr den Unfindbar-Schutzdings-Zauber nicht in eure Nussschale reingerufen, den die Schlitzaugen da eingehämmert haben sollen. Bei uns ging der wenigstens“, knurrte León.
„Das muss der Zauber gewesen sein, der wohl uns alle vorübergehend außer Gefecht gesetzt hat und während dessen Wirkung die Kinder verschwunden sind“, meinte Madrugadiña. „Ich fühlte eine starke Verbindung zwischen Pachamama und Mama Killa, eine ganz und gar weibliche Zaubermacht, die uns offenbar betäuben sollte.“
„Du da, Heilertante, du darfst gleich von diesem Berg da runterspringen und ohne Abbremszauber da unten im Tal die Erde küssen. Vielleicht nimmt Madis Pachamama dich ja auch in ihren Schoß auf, wie sie’s mit Finos Braut und Luneras Begatter gemacht hat.“
„Du verstößt mich?“ fragte Manosana ganz überflüssig. Wer behauptete immer, Heiler seien schlau oder klug?
„Ich kann dich auch gerne selbst da runter stoßen. Ach ja, deinen Zauberstecken, mit dem du mich gerade von den Füßen geholt hast gibst du her, damit du nicht doch noch…“ Wie seltendämlich diese Aufforderung war bekam er sofort mit, als Manosana ihren Zauberstab freizog, damit auf ihn zielte und ihn mal eben bewegungslos machte.
„Von dir unbeherrschten, rüpelhaften, ganz und gar unreifem Dummkopf lasse ich mich ganz sicher nicht umbringen“, stieß die Heilerin aus. Da kam Blackface angerannt und blieb wie in einen Sandhaufen reingelaufen in der Bewegung stecken und wackelte einmal, bevor er wieder sicher stand. „Ihr macht dass ihr wegkommt, bevor die Besen hier sind. Schwester Tara, habt ihr Bedarf an einer magischen Heilerin?“
„Wenn du mit denen da nicht mehr zurückreisen willst kein problem“, hörte er doch echt diese schottische Schäferhündin Tara McRore sagen. Dann plumpste noch ein schwerer Körper auf den Boden. „Palón, du bist nach deiner Base der schlaueste von deiner Familie, leg es also nicht auch noch darauf an, dass sie dich wehrlos kriegen“, hörte León Manosana sagen.
„Manosana, wenn du mit denen gehst ist das Verrat“, sagte die dicke Lunamares. „Lunamares, rein rechtlich kann nur jemand zur Verräterin werden, solange sie noch als Mitglied der Gemeinschaft anerkannt war und ihr vertraut wurde. Da dein Jefe … Ach wisst ihr was, das dauert zu lange. Wer hierbleiben will grüße mir die Ministeriumszauberer. Wenn ihr nicht mit den Booten los wollt appariere ich auf eine der anderen Inseln.“
„Du kannst mit uns kommen“, sagte Tara. „Aber die drei Jungen da sollten sich wieder bewegen können, wenn die echt gleich hier sind. Retardo Removeto! Retardo Removeto! Retardo Removeto!“ León fühlte ein kurzes Zittern und einen leicht prickelnden Wärmeschauer durch seinen Körper. Doch mehr geschah erst mal nicht.
„In die Boote und Notflucht. Hank, du kannst die japanischen Auslösewörter, du steuerst die Flucht! Ach ja, Manosana, du darfst mitkommen. Hopp hopp!“ befahl Tara.
„Komm, Madi, wir nehmen León mit, bevor die Besentruppe hier ist“, hörte er Lunamares. Er fühlte, wie ihn gleich sechs Frauenarme gleichzeitig umschlangen, aufhoben und wegtrugen. Das war doch voll unwürdig, wie ein Wickelkind getragen zu werden. Zur einjährigen Mondfinsternis, war das peinlich.
Er merkte, wie er in das Männerboot abgelegt wurde. Dann hörte er diesen wohl gerade erst großgewordenen Bengel namens Hank ein fremdes Wort ausrufen. Dann klappte etwas, dann schwirrte es laut wie tausend wilde Mücken auf einmal und wurde dabei ganz schnell leiser und leiser. Dann bekam er mit, wie der Kleiderschrank Puñazo neben ihm ins Boot sprang und auch Blackface, der sich am Boot hochzog und nicht die Planke benutzte. Palón hatte die Planke genutzt und rief nun am Steuerrad dasselbe Wort, dass der Jüngling von den aufsässigen Schwestern gerufen hatte. Jetzt sah er, wie das Boot abhob, die Landebeine klappten unter ihm weg, und die Flügel spannten sich aus, um dann mit diesem wilden Geschwirre zu schlagen. Er fühlte, dass er sich wieder bewegen konnte. Dann hatte diese verwünschte Zauberstabwedlerin was gemacht, dass der Hilflosigkeitszauber nach einer Zeit wieder wegging. Er wollte gerne wissen, wielange das gedauert hatte. Doch erst mal war ganz wichtig, dass sie von hier wegkamen.
„Mondfinsternis! Da hinten kommen sie schon. Aber ihr kriegt uns nicht mehr ein und … Drachendreck!“ rief Palón. León sah unvermittelt ein Rudel Besenreiter von vorne her anfliegen. Dann ging das wilde Gezauber auch schon los. „Mist, wie spricht sich der Schutzschildzauber noch mal?!“ rief Palón. Da fegten mehrere bunte Blitze links, rechts und oben drüber vorbei. Das Boot wackelte wohl, so wie die Sterne und der Mond gerade wackelten.
Dann zerplatzte ein solcher Blitz in blauem Licht über dem Boot. „Der Fluchtstartzauber macht auch den Schild an, du vertrocknete Bohnenstange“, schimpfte León. Mann! Das hatten ihnen diese Schlitzaugen doch erzählt, und Fino hatte das doch haarklein aufgeschrieben, damit auch die dümmsten Dörrpflaumen die Boote steuern konnten.
„Wenn wir über dem Meer sind zischen wir ab wie eine Feuerwerksrakete voller Chili“, freute sich León, während weitere bunte Zauberblitze an seinem Boot vorbeizischten oder mit verschieden lauten Plopps, Pengs und Pritzelknacks in blauem Licht auseinanderplatzten. Doch einige Blitze waren keine Kampfzauber. Er hörte das typische Paffen von Fotoblitzen und das Geräusch um ein Bild weitergedrehter Filme. Die fotografierten, während ihre Kollegen mit Zauberflüchen draufhielten?
„León del Fuego, wir haben Erlaubnis, ultimative Aufhaltezauber zu wirken, wenn ihr die Flucht nicht sofort einstellt!“ rief eine viel zu laut gezauberte Männerstimme. León musste erst das Nachklingeln in den Ohren überstehen, bevor ihm klar wurde, dass da wohl ein ganz wütender Eingestaltler gerufen hatte.
„Stecks dir dahin, wo nie die Sonne hinscheint!“ rief León und ärgerte sich, dass er vorhin als Wolf alle Klamotten verloren hatte und nicht selbst zaubern konnte.
„Letzte Warnung! Landen oder sterben, ihr Mondheuler!“ rief dieselbe immer noch zu laute Stimme aus. „Blackface, Palón, Puñazo, heizt denen ein, bevor da noch wer auf …“
„Avada Kedavra!“ rief jemand aus nicht ganz klar hörbarer entfernung. Im nächsten Augenblick sirrte es schon sehr unangenehm. Gleichzeitig stürzte das Boot nach vorne. León meinte, gleich hinauszufallen. Doch wie von einem unsichtbaren Netz umwickelt blieb er im Boot, während der grüne Todesblitz laut und schrill über sie alle hinwegschoss. Das Boot kippte wieder nach hinten und stieg auf. Dann meinte Palón wohl, es mal nach links und mal nach rechts rüberzureißen, damit nicht noch wer mit grünen Blitzen auf sie schießen würde. Dann sah er unter dem Boot das Mondlicht von silbernen Wellen durchbrochen. Sie waren über dem Meer!
Sofort wurde das Flügelschwirren lauter und höher. Das Boot zog jetzt die Kraft von Mondlicht, Mondwiderschein, Wellen und Wind. Aber dann, so hatte es Fino erklärt, hatten sie gerade fünf Minuten, um aus der Gefahr zu kommen. ging das nicht, fiel das Boot nach unten und konnte dann nur noch knapp über Wasser mit Menschenrenngeschwindigkeit weiterfliegen.
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Er hatte es wirklich getan. Er war gelandet und hatte die beiden wie die anderen betäubten, ja wie friedlich schlafenden Kinder eines nach dem anderen zu sich geholt und so auf den leicht vibrierenden Besen gesetzt, dass er in der Mitte sitzen konnte. Er stieß sich mit ihnen ab und löste den in Gedanken aufrufbaren Bergezauber aus, der kleine Kinder sicher auf dem Besen hielt. Dann ließ er den Familienbesen nach oben steigen, weiter und weiter, hinaus aus der Wirkung der silbernen Halbkugel. Weiter stieg er nach oben. Dann hörte er ihn wieder, jenen fremdartigen, erhabenen, machtvollen und wunderschönen Chor. Wie in der letzten Nacht meinte er Worte der alten Sprache zu hören. Doch er konnte sie nicht alle verstehen. Er hörte nur, dass die erhabene Mutter ihren Segen geben sollte, um den Abgesandten und zwei unschuldige Seelen zurückzubringen.
So kehrte er über viele tausend Kilometer dorthin zurück, wo die sechsunddreißig auf ihn und seine lebende Fracht warteten.
Kaum war er wieder in jenem Hof hinter dem Tor gelandet, erwachten die beiden Kinder aus ihrer Betäubung. Sie versuchten sich zu bewegen. Doch der Bergezauber hielt sie fest. Da rief das Mädchen laut „Mamita ayudame!“ Dieser Ruf versetzte ihm, dem vielfachen Familienvater, doch noch einen Stich ins Herz. Was hatte er getan?
Da traten ein Mann und eine Frau aus einem der Gebäude hervor. Sie wirkten, als hätten sie sehr lange geschlafen. Sie trugen nur leichte, helle Nachtgewänder. Als der mann das Mädchen sah rief er „Medi, papa esta aquí! Vente a mi!“ Die blonde Frau im weißen Nachthemd sah den Jungen und rief ihm zu: „Alejandrito, ven te a tu mamita!“
Der Besenreiter löste schnell die Bergezauber und sah, wie die beiden Kinder vom Besen herabrutschten. Die zwei Menschen aus dem turmartigen Gebäude kamen schnell näher. Da liefen die zwei Kinder auf sie zu. Er hörte das kleine Mädchen auf Spanisch nach ihrer Mutter rufen und dann vier der in wallende, weiße Gewänder gehüllten einen beruhigenden Ton anstimmen. Dann umarmte die blonde Frau den Jungen und der dunkelhaarige athletische Mann das Mädchen.
Der Bote jener, die hier wohnten, sah nun eine zweite Frau in einem schlichten Nachtgewand aus jenem turmartigen Gebäude heraustreten. Es war jene halbindigene Südamerikanerin, die den beiden Europäern geholfen hatte, von der geheimen, bis heute nicht bekannten Zuflucht der Mondbruderschaft zu entkommen, ohne Angst zu haben, verfolgt zu werden. Sie lächelte ihn an, machte eine Geste, die er nicht einordnen konnte und zog sich wieder in den Turm zurück, damit die verlorenen Eltern mit ihren Kindern für sich sein konnten.
„Sei bedankt für deine Hilfe, auch wenn sie schwer auf deiner Seele lag. Doch sei bitte beruhigt, dass du kein schlechtes, sondern gutes Werk getan hast. Denn nur wenn die bereits gereinigten Menschen mit ihren Kindern zusammen sein können sind alle sicher vor Vergeltung jener, die die in ihrem Blut lodernde Wut der erhabenen Mutter für einen Segen halten, weil sie einen aus vielen der leuchtenden Mutter geweihten Kräutern und Tieren bestehenden Trunk einnehmen, der ihnen die Macht gibt, ihren freien Willen zu behalten und aus eigenem Wunsch zwischen den beiden Gestalten zu wechseln. Doch wenn sie mehr werden und jeder von denen diesen Trank erhalten will wird es sehr bald sehr viel mehr von der Wut der erhabenen Mutter getriebene geben, die Unheil über sich und alle reingebliebenen Menschen bringen. Du hast heute zwei unschuldige Seelen befreit, aber nur, weil wir sie erkennen und dich zu ihnen leiten konnten. Du musstest niemanden töten, und die zwei Unschuldigen können bei jenen, die das Los des vergifteten Blutes nicht von sich aus annehmen wollten und nun davon befreit sind ein neues Leben führen, wenn wir wissen, wo sie ohne Nachstellung leben können.“
„Ich weiß immer noch nicht, ob ich das richtige getan habe“, erwiderte der Abgesandte der sechsunddreißig.
„Oft hilft Wissen nicht, die richtigen Dinge zu erkennen und das richtige zu tun“, philosophierte die, die als erste Tochter die erste unter gleichen war. „Vielleicht kannst du eines Tages die Antwort darauf finden. Es sei dir erlaubt, alle Erlebnisse der letzten und dieser Nacht in das steinerne Gefäß wichtiger oder schwer wiegender Erinnerungen auszulagern und sie jene sehen zu lassen, deren Meinung und Empfinden dir viel bedeuten. Sieh sie noch einmal, wie sie sich umarmen, frei von Angst und frei von Missgunst, solange meine Schwestern das Lied der sicheren Heimstatt singen!“
Er dachte an einen ähnlichen Zauber, der auch auf der Kraft des Mondes gründete. Damit hatten die Gastgeber der internationalen Geheimzusammenkunft in Japan ihn und alle anderen in eine ruhige, misstrauensfreie Stimmung versetzen wollen. Dass es bei ihm nicht gelungen war lag an jenem Kleinod, dass er in seinem Schlafzimmer zurückgelassen hatte, um sich darauf einzulassen, was er gerade getan hatte. Doch der Vorschlag mit dem steinernen Gefäß beruhigte ihn.
So sah er, wie sich Vater und Tochter und Mutter und Sohn einander in den Armen lagen. Er hörte die Mutter des Jungen auf Spanisch sagen: „Hier bist du sicher. Hier ist nichts, das dir weh tun will, Aljejandrito!“
„Und was ist mit der Scheibe, die ich dort zurücklassenmusste. Kann die irgendwie ausgewertet also untersucht und entschlüsselt werden?“ fragte der erfolgreich zurückgekehrte Bote der sechsunddreißig deren erste Sprecherin.
„Ihre Kraft verbraucht sich. Danach kann sie nicht mehr entfesselt werden. Wir haben nur eine kurze Botschaft darin eingraviert, dass wir, die reinen Töchter der leuchtenden Himmelsschwester, die beiden Kinder in unsere Obhut genommen haben. Das dürfte jene verärgern, die meinen, die leuchtende Himmelsmutter sei nur ihnen hold. Doch werden sie erfahren, dass sie nicht zu uns gelangen und uns angreifen können. Jedenfalls werden sie nicht erfahren, dass du uns geholfen hast. Denn innerhalb des zehnfachen des halbkugelförmigen Wirkungsraumes versagt jede Art von Nachbetrachtung. Ja, uns ist jene sehr brauchbare Erfindung bekannt, mit der ein Mensch die sichtbaren Ereignisse der letzten zwei vollen Tage nachbetrachten kann. Doch was im Schutze der Himmelsmutter geschieht bleibt vor fremdem Auge verborgen, ob in der Gegenwart oder der Vergangenheit.“
„Irgendwie beruhigt mich das“, erwiderte er. Dann fragte die erste Tochter ihn etwas, das er jetzt noch nicht erwartet hatte.
„Du hast mittlerweile fünf Töchter gezeugt und im Auftrag der dem Lichte des feurigen Himmelsvaters wandelnden Mutter der sieben einen Sohn mit einer anderen mit der hohen Kraft begüterten Frau gezeugt. Bei welcher der bereits fünf Töchter kannst du dir bereits vorstellen, dass sie einer nicht all zu fernen Nacht zu uns kommen und um Aufnahme in unsere Gemeinschaft bitten mag? „
Der Gefragte schluckte erst. Sollte er jetzt ernsthaft eine seiner Töchter als neue Mondtochter vorschlagen? Das konnten die doch nicht von ihm verlangen. Abgesehen davon hieß es, dass erst das Kind der jüngsten von ihnen geboren sein musste, was bisher nicht der Fall war. Erst dann mochte die gerade amtierende erste Tochter ihr Machtsymbol ablegen und in einer Art sanftem Suizid den Körper abstreifen und zu den in einer Halle tief unter der Burg überdauernden Geister ihrer Vorgängerinnen überwechseln. Doch weil sie ihn nun alle so erwartungsvoll anblickten, als hinge von seiner Antwort das Schicksal des ganzen Planeten Erde und seines Mondes da oben am Himmel ab holte er tief Luft und antwortete:
„Welche meiner Töchter sich dazu entschließt, eurem erhabenen Bund beizutreten werden der Mond und die Sterne weisen. Darauf darf ich keinen Einfluss nehmen, wo ich der Erde anvertraut wurde.“ Er war selbst beeindruckt, wie heftig diese Antwort bei den 36 Mondtöchtern wirkte. Dann sagte die erste von ihnen: „So mag es sich fügen, dass die nächtlichen Lichter und das Licht unserer erhabenen Himmelsmutter den Weg erleuchten werden, den eine deiner Töchter gehen wird. Ja, und noch ist genug Zeit. Noch wachsen fünf weitere Töchter in unserem Haus heran. Doch sollte eine deiner Töchter vor deren Reifezeit den Willen bekunden, sich unserer Gemeinschaft anzuschließen, so wird ihr unser Tor geöffnet. So sei bedankt für deine Hilfe und die deiner von uns anvertrauten Gefährtin, die erneut zwei Töchter unter ihrem Herzenträgt. Gehet beide hin in Frieden!“ Sprach die erste Tochter des Mondes. Der Bote der Mondtöchter hätte fast geantwortet, dass dies der Gruß christlicher Priester war. Doch er hütete sich, das laut auszusprechen. Falls sie es aus seinen Gedanken fischten war es deren Sache, wie sie damit umgehen sollten. Also ging er in Frieden auf das Tor zu.
So wie er vorhin diesen Hof erreicht hatte wurde er wieder vor die geheime, verborgene Festung gebracht, wo eine hochgewachsene, unübersehbar Mutter werdende Frau in einem im Mondlicht silbergrau glitzernden Kleid wie aus zusammengenähten Feuerzungen auf ihn wartete.
„Hast du die zwei gefunden, Monju!“ hörte er eine ihm wohlvertraute Gedankenstimme. „Ja, habe ich, Mamille. Ich bin mir jetzt auch sicher, dass ich doch das richtige getan habe. Näheres, wenn ich alles in unser Familiendenkarium kopiert habe“, schickte er zurück. Dann trat er mit nach oben zeigendem Besenschweif zu ihr hin. Sie korrigierte die Haltung des Besens, dass er nicht zu weit nach oben ragte und umarmte ihn. Dann rief sie: „Vahayanin!“
Aus dem Kleid schossen orangerote Flammen hervor, bildeten eine lodernde Kugelschale um sie beide und trugen sie für wenige Sekunden in einem unendlich scheinenden Raum aus lebendigem Feuer. Dann standen sie beide in der Bibliothek, die zugleich die geheimsten Schätze der Familie Latierre beherbergte.
„Lass mich mal los und sage mir, was du empfindest“, sagte die Frau im Feuerkleid. Er gehorchte. Er lauschte in sich hinein. Er fühlte keine Gegenwehr von außen oder etwas anderes das ihm zeigte, dass er hier nicht erwünscht war. Er wurde auch nicht aus dem Haus und aus dem Ort hinausbefördert. Dann hörte er eine weitere weibliche Gedankenstimme in seinem Kopf: „Das war richtig, die zwei da wegzuholen, Julius. Als du über denen warst konnte ich ihre Gedanken hören. Der mit der Mähne wollte die blonde Frau gefangennehmen und sie und ihre Tochter zu sich bringen. Er wollte sie unterwerfen, um sich die vollständige Macht jener Unholde zu sichern, die er ohne die blonde Frau und ihre Tochter nicht erlangen kann. Ja, und weil er den Jungen nicht zurückhalten konnte sollte sein Handlanger, der mit dem dunklen Haar, ihn mit diesem höchst interessanten Dolch von hinten erstechen. Wie feige kann einer sein, einen unbewaffneten Jungen von hinten zu erdolchen?! Nein, Julius, du hast den Kindern nichts böses getan. Der Vater des Jungen ist schon länger tot. Das konnte ich aus den Gedanken der fülligen Frau und des bohnenstangenartigen Mannes erlauschen. Er diente nur noch als Druckmittel gegen die blonde Frau und ihre neuen Mitverschwörerinnen. Ja, und auch diese waren nicht mehr unschuldig. Sie haben das kleine Mädchen als Druckmittel gegen den mit der Löwenmähne verwendet. Die beiden Kinder waren wie der legendäre Zankapfel, um den sich den alten Griechen nach drei Göttinnen stritten. Du hast etwas richtiges getan.“
„Hättest du mich zurückgehalten, wenn du es für richtig gehalten hättest, Ammayamiria?“ fragte er in Gedanken zurück. „Nein, das hättest du und nur du selbst tun dürfen. Du warst nicht in unmittelbarer Gefahr und du wolltest auch niemanden töten und auch nicht zulassen, dass jemand getötet wurde. Deshalb hätte ich dich gewähren lassen. Ich hätte dann auch erst nach deiner Abreise von der Burg zu dir gesprochen um dir zu helfen, die aufgeladene Schuld zu tilgen. Dies ist aber nicht nötig. Lagere nun aus, was du auslagern möchtest und schlaf dich dann aus!“ Mit dieser letzten Anweisung, die lange nachhallte, ließ ihn seine transvitale Zwillingsschwester wieder alleine.
„Du brauchst uns nichts zu sagen, Julius. Wir haben sie beide gehört, weil die Herzanhängerverbindung supergut ist und jede von uns was kleines von dir austrägt“, sagte die Frau im Feuerkleid. Die andere Frau, die ihr ein wenig ähnelte und etwas älter war nickte und deutete auf den Schrank, in dem die wichtigsten und mächtigsten Gegenstände ihres gemeinsamen Haushaltes aufbewahrt wurden. Er verstand und öffnete den Schrank.
ENDE des 1. Teils