090. DIE RITTER DER NACHT (2 von 2)
by Thorsten OberbosselP R O L O G
Ladonnas Macht ist gebrochen. Vier Jahre hatte sie mit Hilfe ihres einzigartigen wie unheilvollen Feuerrosenzaubers viele Zaubereiministerien unterjocht. Nach ihrer Entmachtung fielen die noch nicht aus ihrem Bann befreiten in einen unaufweckbar erscheinenden Tiefschlaf. Die Ministerien werden bis auf weiteres von außenstehenden Hexen und Zauberern aus der Liga gegen dunkle Künste betrieben. Doch das kann und soll kein Dauerzustand bleiben. Außerdem müssen viele durch Ladonnas Treiben aufgeworfene Fragen abschließend geklärt werden, unter anderem was mit den von ihr gesammelten Zaubergegenständen und Aufzeichnungen geschieht oder was den Umgang mit anderen Zauberwesen wie Kobolden und Veelas angeht.
Nachdem Ladonnas Blutsiegelzauber um den Weinkeller der Girandelli-Villa verfliegt versuchen mehrere Gruppen von Hexen und Zauberern, die dort angehäuften Artefakte und Aufzeichnungen aus aller Welt zu erbeuten. Albertrude Steinbeißer gelingt es mit einem flächendeckenden Betäubungszauber, die Konkurrenten auszuschalten und sich in den Besitz deutscher und altägyptischer Zaubergegenstände zu bringen. Dabei trifft sie eine kleinwüchsige Frau mit gläsernem Helm und silbernem Bogen, die von Albertrudes Betäugungszauber weit fortgeschleudert wird. Die Kleinwüchsige ist die Koboldstämmige Diana Camporosso, der Ladonna kurz vor ihrem Verschwinden den erbeuteten Seelenglashelm des Koboldgeheimbundgründers Deeplook aufgesetzt und dessen darin lauernden Geist Dianas Gedanken und Willen unterworfen hat. Diana will nun Königin der Kobolde und damit Ladonnas Nachfolgerin werden. Sie sammelt mit Hilfe von Deeplooks Wissen überlebende Mitglieder des Geheimbundes der Kobolde um sich. Diese glauben, Deeplook sei der vorherrschende Geist im unfreiwillig angenommenen Körper der koboldstämmigen Hexe. Sie versuchen Gringotts zu übernehmen. Das misslingt, weil einer der Gringottszweigstellenleiter bereits unter dem Bannwort des schlafenden Königs steht und die Aktion an die Ministerien verrät. So bleibt Diana nur, sich nach Afrika zurückzuziehen, wo noch Schlupfwinkel des Geheimbundes sind.
In den USA wird lebhaft diskutiert, ob es nicht ein neues Zaubereiministerium oder einen neuen magischen Kongress der USA geben soll. Diesen bevorzugen die zehn mächtigsten Zaubererfamilien, darunter die Greendales und die Southerlands und arbeiten darauf hin, dieses Ziel zu erreichen.
In Europa ist noch unklar, was mit den ehemaligen Unterworfenen des Feuerrosenzaubers geschieht. Außerdem gilt es, den von Ladonna verursachten Kriegszustand mit anderen Zauberwesen zu beenden. Julius Latierre hofft darauf, einen Frieden zwischen den Menschen und Veelas herbeiführen zu können. Die französische Zaubereiministerin plant eine Rundreise, um mit anderen Zaubereiministerien darüber zu verhandeln. Bevor Julius am 16. März aufbricht erfährt er noch, dass seine Frau Millie und seine mit ihm und ihr in einer Dreiecksbeziehung zusammenlebende Schwiegertante Béatrice gleichzeitig von ihm schwanger geworden sind. Mit dieser Erkenntnis und mit der Hoffnung auf eine europaweite Verständigung zwischen magischen Menschen und Zauberern begibt er sich mit der hochrangig besetzten Abordnung des Zaubereiministeriums auf eine Reise für den Frieden zwischen Menschen und denkkfähigen Zauberwesen. Dabei gelingt es ihm und der französischen Abordnung, mit allen Nordeuropäischen Delegationen wichtige Vereinbarungen zu treffen. Julius ist erleichtert, dass Russland und alle anderen Länder, in denen Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen leben, einen ähnlichen Friedensvertrag schließen wollen wie er in Frankreich verfasst wurde.
In Ägypten üben Mitglieder der Bruderschaft des blauen Morgensterns die Amtsgeschäfte aus. Doch als die afrikanischen Zaubereiministerien zu einer Konferenz in Kenia einladen kommt es zur Machtrückeroberung durch die Familie Al-Assuani. Diese wollen die von Ladonna Montefiori entführten Zaubergegenstände aus Ägypten wiederhaben, vor allem jene Artefakte, die zu den zwölf Schätzen des Nils gehören.
Worum es sich dabei handelt erfährt Julius, nachdem ihm Béatrice einen in das Familiendenkarium ausgelagerten Traum zeigt, den ihr Ashtaria geschickt hat. Er erfährt den Grund, warum Millie es erlaubt hat, dass Béatrice noch ein Kind, diesmal möglicherweise eine Tochter, von ihm empfangen durfte. Denn Béatrice wird von Ashtaria, die als Vorbild der ägyptischen Muttergöttin Isis gegolten hat, eine magische Halskette aus jenen zwölf Schätzen zum Erwerb angeboten, die Kette der Isis, die ihrer Trägerin, sofern sie bis dahin kein Menschenleben genommen hat, neunfache Kraft auf alle heilsamen Zauber verleihen soll aber eben nur von Hexen getragen werden kann, die bereits einmal Mutter wurden.
Mit diesem unglaublichen Wissen und möglichem Vermächtnis in Aussicht reist Julius mit der französischen Ministeriumsdelegation auf die Insel Malta, wo es zum Treffen mit den Mittelmeeranrainern, darunter den Ägyptern kommt. Julius erfährt, dass das spanische Zaubereiministerium nicht beabsichtigt, den Friedensvertrag mit den Veelas zu übernehmen und dass Ägypten alle ehemaligen Fluchbrecher von Gringotts zur Fahndung ausgeschrieben hat.
Gleichzeitig baut Diana Camporosso ihre Rangstellung in dem im Neuaufbau befindlichen Geheimbund der Kobolde aus. Doch sie plant auch, mit den ehemaligen Feuerrosenschwestern Kontakt aufzunehmen. Vor allem in Afrika will sie eine sichere Basis finden. dabei gerät sie zunächst an Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens. Diese kann sie mit vier Todespfeilen aus Anhors Bogen bewegungslos machen und denkt, sie getötet zu haben. Doch als sie die Pfeile wieder aus dem Körper zieht erholt sich die Abgrundstochter. Diana hat eine neue starke Feindin. Außerdem gerät sie an die in einem mächtigen Ankerartefakt überdauernde Vampirherrscherin Akasha und ihre treuen Nachtkinder. Diese hatten bereits versucht, normale Menschen für sich einzuspannen, um Getreuen nach Amerika zu schicken. Doch der ausgewählte Transporteur stand bereits auf einer Todesliste der von aller Welt für tot gehaltenen Campoverde-Geschwister. Diese lassen das Privatflugzeug des von Akashas Untertanen erwählten Waffenschiebers aus Nordafrika über dem Atlantik explodieren und mit ihm Boten Akashas.
Diana Camporosso sucht die verbliebenen Schwestern auf und plant mit ihnen eine Neuauflage unter neuem Namen. Als Hauptquartier wählt sie eine Höhle eines ehemaligen Vampirherrschers. Nachdem sie die dort überdauernden Blutwürmer besiegen konnte plant sie die Neugründung eines dunklen Hexenordens.
In den USA bereiten sich alle magischen Menschen darauf vor, einen neuen magischen Kongress zu wählen. Doch findet diese Idee nicht überall Zustimmung. Außerdem erhebt sich dort eine Gruppierung, die einen außerlegalen Feldzug gegen alle angeblich dunklen Hexen führen will. Unruhen und Widerstand drohen, die Wiedervereinigung der US-amerikanischen Zaubererwelt zu verhindern. Dies wiederum bekümmert die zehn wichtigsten Familien dort, die ihrerseits ihre Hoffnungen in die Neuauflage des MAKUSAs setzen.
In Texas und anderen US-Staaten kommt es zum Widerstand gegen die Wiedereinsetzung des MAKUSAS. Ein Nachfahre des dunklen Magiers Durecore steuert über eine Reihe besonderer Zauberbilder die Aktionen gegen Regionaladministrationen. Die zehn mächtigsten Familien der Staaten müssen sich zusammenraufen, alte Rivalitäten zu begraben und unterstützen die Neuordnung der USA. Zeitgleich jagd die von Ladonnas Rosenzauber an den Rand des Wahnsinns gedrängte Atalanta Bullhorn danach, alle ihr missfallenden Hexen zu fangen und zu töten. Doch Anthelia sorgt dafür, dass ihre eigenen Schwestern unbehelligt bleiben. Weil Bullhorns Vorgehen zu grausam ist wird ihr Tun von den noch regierenden Regionaladministrationen als Verbrechen eingestuft.
Nachdem es gelingt, den Anstifter der Anschläge und Störversuche zu stellen wird dieser von einem lebendigen, offenbar teilbeseelten Hut Durecores verschlungen. Dieser wiederum wird mit einem Basiliskenzahn zerstört.
Atalanta Bullhorn lässt sich von Anthelia zu einer Bergregion bei Los Angeles locken, wo sie auf die Anführerin der Spinnenhexen trifft und sich mit ihr duelliert. Es endet damit, dass Anthelia Atalanta wieder in eine langstielige Rose verwandelt und diese dem neuen MAKUSA überlässt. Bullhorns illegale Organnisation wird zerschlagen.
Am 4. Juli wird Godiva Cartridge zur ersten Präsidentin des neuen MAKUSAS gewählt. Sie trifft sich heimlich mit Anthelia und schließt mit ihr einen Burgfrieden. Solange Anthelia keine Menschen innerhalb der USA behelligt darf sie ihren Orden weiterführen.
Die Zaubereiministerien wissen, dass es noch zu viele Widersacher auf der Welt gibt. Es dauert auch nicht mehr lange, bis sich neues Unheil regt. Die selbsternannte Kaiserin der Nachtschatten entsteigt wie von sich selbst geboren dem kristallinen Uterus, ihrem Ankerartefakt und trachtet danach, die vergangenen Monate aufzuholen. Vor allem zielt sie auf die Werwölfe und Vampire. Bei den Lykanthropen kommt es im Mai 2007 zum Führungswechsel. León del Fuego will eine gezielte Anwerbung von neuen Mitgliedern in den Reihen der südamerikanischen Zaubereiministerien. Doch seine Machtübernahme verläuft nicht so vollkommen, weil Lunera Tinerfeño, die einstige Anführerin noch lebt und ihn nicht anerkennen will. Um sie zu unterwerfen behauptet er, dass er über den Sohn ihres getöteten Kampfgefährten Fino Gewalt auf ihre Tochter Lykomeda ausüben kann. Lunera versendet darauf eine Gegendrohung, dernach der nun verwaiste Sohn Finos zur Gefahr für die Gefolgschaft Leóns wird und bietet ihm an, das bei einem Treffen auf Tenerifa zu klären. Als sie mit den beiden Kindern dort eintreffen und in Streit geraten überkommt sie und Leóns Abordnung ein heftiger Betäubungszauber. Als sie daraus erwachen sind beide Kinder fort. Sie konnten nicht ahnen, dass die Töchter des reinen Mondes die beiden Kinder überwachten und die Gelegenheit nutzten, jemanden mit einem starken Zaubergegenstand zum Treffpunkt zu schicken.
Die Vampirgötzin Gooriaimiria entlockt dem in ihrem geistigen Corpus eingeschlossenen Iaxathan die Herstellung besonderer Rüstungen, die schier unzerstörbar sind und gegen alle auftreffenden Schadensformen schützen. Um die Rüstungen anfertigen zu lassen lockt Gooriaimiria mit ihren Dienerinnen zwanzig Schmiede, die alte Ritterrüstungen anfertigen können, in eine versteckte Burg bei Killarney. Unter der magischen Kontrolle von Gooriaimirias Dienerinnen schmieden diese Fachkundigen die Schattenrüstungen nach. Gooriaimiria erhofft sich dadurch eine bessere Streitmacht und die Möglichkeit, den Traum von Nocturnia wieder aufleben zu lassen.
Völlig im verborgenen wird Bellatrix Lestranges Schwester Narzissa mit dem vergessenen Erbe konfrontiert, dem im alten Richtbaum Dairons eingelagerten Ungeborenen, den Anthelia Bellatrix entriss. Da der Ungeborene mit der Zeit ein eigenes Bewusstsein und eigene Begierden entwickelt will die dem Baum innewohnende Intelligenz ihn loswerden und gaukelt Narzissa in ihren Träumen vor, große Macht zu erlangen, wenn sie sich dem Richtbaum hingibt. Als dies geschieht überträgt er den zum Menschenkeim verkleinerten Sohn Bellatrixes in Narzissas Schoß. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als ihrem Mann per Gedächtniszauber vorzugeben, er habe das nun in ihr heranwachsende Kind gezeugt.
Derweil gehen die Macht- und Revierkämpfe zwischen Werwölfen, Vampirsekte und Nachtschatten weiter. Es droht ein Entscheidungskampf, der die ganze Welt verheeren mag.
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Hank Mosley hatte das Fluchtstartwort gerufen. Er war stolz wie ein Olympiachampion, dass er in der Schule diesen Japanischkurs mitgemacht hatte, weil ein paar Schnöselprinzen das gerne wollten, um bei denen Eindruck zu schinden. Ja, und weil er da schon ein großer Manga-Fan war und wissen wollte, woher die Länder und Figuren der bunten Bildergeschichten ihre Namen hatten hatte er da auch mitgemacht. Die Prinzen hatten ihn da erst komisch angeguckt. Doch als er einen Band seiner gerade angesagten Mangaserie aus der schlichten Schultasche gezogen hatte hatten die erst gelacht und dann verstehend genickt. Jetzt düste er in einem voll Mangamäßigem Boot voll animemäßig über eine Vulkaninsel dahin, verfolgt von ziemlich wütenden Zauberern auf echten Hexenbesen. Oha, die zauberten jetzt auch drauf los wie die Daltons beim Banküberfall. Doch das Schmetterlings-Flugboot hatte einen eingebauten Schutzschild, voll Sci-Fi-mäßig. Dann fiel ihm ein, dass das Boot noch ein paar Tricks zur aktiven Verteidigung hatte. Sollte er die tödlichen oder die nur aufhaltenden nehmen? Er überlegte, während Tara neben ihm stand und ihm die Hände auf die Schultern legte, als wolle sie ihm zusätzliche Kraft zuführen. Dann rief er „Nami no Hana!“
Um das Boot herum sprossen aus dem Nichts heraus blaue und grüne Blüten, die sich ausbreiteten und dann von selbst auf die anfliegenden Besenflieger zuschwirrten und sie von vorne einschlossen. Sie wurden zu blau-grünen Lichtkugeln, die mitten in der Luft stehen blieben.
„Lorna will mindestens noch drei Kinder von dir. Und wenn sie dich nicht mehr will kriege ich die Babys von dir“, raunte ihm Tara ins Ohr. Alle Besenflieger waren von den Leuchtblüten aus Meerwassermagie eingefangen und aufgehalten worden. Erst wenn die Sonne aufging würde der Zauber nachlassen oder wenn sie doch über Land treiben würden.
„Der ist voll genial“, meinte Joel zu Hank. „Ja, aber leider nur zwanzig von den Blüten. Wenn die Steckenreiter mehr gewesen wären hätte das nicht gereicht“, sagte Hank. „Ich wollte nur nicht gleich mit Eissturm oder dem ziemlich üblen Schwert des Meeres auf die eindreschen. Lunera sagt, dass wir zusehen sollen, mit den Normalos Frieden zu kriegen. Zu viele Tote kommen da nicht gut.“
„Ja, und dabei bleibe ich auch, Bruder Hank“, sagte Lunera. „Aber bitte lerne eine erwachsenere Ausdrucksweise. Du bist nicht so ein Hohlkürbis mit Zottelmähne wie León del Fuego.“
„Eh, dass ich die japanischen Auslösewörter kann hat was mit meiner unerwachsenen Vorliebe für japanische Comics zu tun. Also nicht an meiner Ausdrucksweise rummeckern, bitte!“ begehrte Hank auf. Tara lachte darüber und meinte: „Immerhin hast du „bitte“ gesagt und nicht gegen eine Anweisung von mir verstoßen.“
„Hast du echt den Dolch ins Meer geworfen, Manosana“, hörte Hank, obwohl er nicht so gut Spanisch wie englisch konnte. Die mitgenommene Mondschwester aus Lateinamerika sagte nur „Sí“, das verstand auch er. Dann sagte sie noch was wie: „Ich bin in fünftausend meiner Längen über dem Atlantik appariert und habe den Dolch weit von mir weggeworfen und dabei aufgepasst, dass der keine freie Hautstelle von mir kratzt. Keiner wird mitkriegen, wo der runtergeht und keiner den raufholen, weil es da sicher mehr als zweitausend Meter tief ist.“
„Gut, wir hätten den vielleicht auch einsackenkönnen wie die Scheibe hier“, sagte Lunera, während das Boot immer noch auf Fluchtgeschwindigkeit dahinschwirrte. Tara nickte und deutete dann nach hinten. „Kein neuer Besen achtern. Kommt von vorne was auf?“ Lunera ging an das Fernrohr und blickte durch. „Nein, alles frei vor uns, auch nichts unsichtbares. Da hätte das Rohr himmelblaue Leuchtflecken gezeigt.“
„Hank, runter auf Reisegeschwindigkeit, bitte!“ kommandierte Tara. Hank bestätigte seemännisch korrekt und sprach leise die nötigen Wörter ins Steuerad. Mehrere Symbole aus der japanischen Schönschrift blinkten kurz auf. Dann wurde das Boot langsamer und langsamer, bis es mit der bei Nacht und über see möglichen Langstreckengeschwindigkeit von 216 Stundenkilometern dahinflog.
„Wenn in dem blauen Energiekern noch genug Zaubersaft drinsteckt möchte ich die blaugrünen Blumen gerne neu aufladen“, sagte Hank. Tara und Lunera genehmigten das. Er fragte das Steuerrad nach „Restkraft!“ und bekam ein Zahlwort in japanischer Standardschrift. „Ui, wir waren knapp vorm Abschmieren, Ladies and Gentlemen. Wenn wir mit Langstreckenhöchstfahrt weiterfliegen dauert es zwei Stunden, bis wieder genug Kraft im blauen Kern ist, um alle verblühten Meeresblumen zurückzukriegen“, meldete Hank. „Gut, die zwei Stunden haben wir ja auf jeden Fall. Zeigst du mir mal bitte die kleine Scheibe, die du aufgelesen hast, Lunera?“ wandte sich Tara an die blonde Mondschwester. Diese nickte und übergab Tara die graue Scheibe mit den schwarzen Sprenkeln.
„Also doch, ich habe es geahnt, als uns alle dieses Silberlicht und dieser erst überlaute und dann schön verhallende Frauenchor erwischt hat. Das ist eine sogenannte Tafel des reinigenden Mondes, eine fast in Vergessenheit geratene Zauberei aus der Zeit, wo aus Ritualzaubern schnell und zielgenauer wiederholbare Zauberkraftausrichtungszauber wurden. Ich kenne diesen Zauber, weil er in „Magie des Mondes“ erwähnt wird, dass er ein „legendärer, nicht mehr nachgewiesener Zauber gegen ein Rudel Werwölfe“ sein soll. Ja, und die, die uns den eingebrockt haben kennen und können den garantiert auf der Stufe Unerreichbar gut. Das ist ein stofflicher Gruß von den legendären sechsunddreißig Mondtöchtern, Schwestern und Brüder“, sagte Tara. Außer Hank schienen alle hier schon davon gehört zu haben und erstarrten in Ehrfurcht. Sollte er jetzt fragen, wer die Mondtöchter waren? Nein, diese Schwäche musste er jetzt nicht zeigen, nachdem er sich und den anderen gerade die Hinterteile gerettet hatte. Er brauchte es auch nicht. Denn tara sagte: „Damit ist auch klar, wo die beiden Kinder hingekommen sind, Lunera. Ich denke, die Mondtöchter haben sich aus ihrer versteckten Burg herausgewagt und sie gesucht und gefunden.“
„Bist du dir da ganz sicher, Tara?“ fragte Lunera jetzt sehr verärgert klingend. „So sicher wie dass der Mond am Himmel steht und nicht unter der Erde scheint“, erwiderte Tara darauf. „Wir können da leider nicht hin, wenn wir schon mal fühlende Wesen getötet haben, und das haben außer unserem wackeren Steuermann hier wohl alle, außer dir, Schwester Manosana.“
„Ja, und wenn jemand von uns den Mondsegen wieder loswerden will und solange niemanden getötet hat kann er oder sie diese Mondtöchter darum bitten, ihn oder sie davon freizubeten. Auch hier kommt dieser Zauber des reinigenden Mondes zum Einsatz, wenngleich in kleinerer Dosierung und über längere Zeit angewandt“, sagte Tara.
„Ja, aber wenn Medi und Alejandro das nicht wollen? Ich meine, das sind doch unsere Kinder“, ereiferte sich Lunera.
„Die hätten die nicht zu sich geholt, wenn die sich nicht ganz sicher wären, dass die zwei ihr Angebot annehmen. Sie dürfen sie nicht zwingen. Aber sie können verdammt gut überzeugen, hat mal einer erzählt, der seine Frau an diese Gutmondlerinnen verloren hat“, sagte Tara.
„ja, nur sind die Mondtöchter doch irgendwo in Frankreich zu hause“, sagte Maura. „Offenbar hindert sie das nicht, dahinzureisen, wo gerade der Mond scheint“, erwiderte Tara. Dann sahen alle, wie Lunera zu weinen anfing. Gleichzeitig spross ihr helles Fell im Gesicht, und ihre Mund-Nasen-Partie verformte sich. Da bestrichen Tara und Manosana sie mit einem rosaroten Zauber, der machte, dass sie erst ganz ruhig wurde und dann in Schlaf versank. „Sie wird uns das verzeihen, dass wir nicht mitten über dem Meer mit einer wütenden Wölfin fertig werden wollen“, sagte Tara. Lunera verwandelte sich in der Zeit wieder zurück. Denn es war ja noch kein Vollmond.
Hank dachte an die Erläuterungen, die er gerade gehört hatte. Sollte es echt einen Weg geben, Ddiese Werwolfkiste wieder loszuwerden? Aber was würde dann aus Lorna und dem Baby, dass sie gerade von ihm trug? Er wollte sehen, wen er da in sie reingestoßen hatte. Aber zu wissen, dass es einen Ausweg gab, wenn er keinen Menschen oder anderen denkfähigen Zeitgenossen umbrachte sollte er sich merken. Doch im Moment war das mit dem Werwolfdasein spannend genug, solange sie den Lykonemisis-Trank hatten.
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Julius holte mit seiner Frau und seiner zweiten Gefährtin das steinerne Becken aus dem Schrank hervor, in dem eine silberweiße Substanz steckte, die weder flüssig noch gasförmig war. Das war das familieneigene Denkarium. Hier hinein gaben er, Millie oder wer das Vertrauen der Familie genoss Erinnerungen an besonders eindrucksvolle Erlebnisse oder Träume. Nun wollte Julius die Erlebnisse der letzten Stunde dort hineinkopieren. Um das, was er auslagerte mit einer Art Erzählstrang zu unterlegen dachte er, während er die einzelnen Erinnerungen in seinem Kopf ertastete und in Form eines silberweißen Stranges aus dem Kopf herauszog, wie es eine Nacht zuvor angefangen hatte.
„Millie und ich schliefen schon. Ich träumte, ich sei ein frei im All schwebender Astronaut, der auf den Mond zustürzte …“ Während er das dachte zogen die Bilder des erträumten vor seinem inneren Auge vorbei und verwoben sich zu jenem Silberstrang. Er erinnerte sich daran, wie er fast auf der Mondoberfläche aufschlug und dann auf einmal in einem Hof landete. Nein, er schwebte einen halben Meter über dem Boden. Vor ihm standen sechs mal sechs Frauen in weißen Gewändern, die ein perfektes Quadrat bildeten und sich dabei an den Schultern hielten. Die ganz vorne stehenden reckten immer wieder ihre Hände zum Himmel und spreizten ihre Finger so weit sie konnten. Dabei fingen sie vom Mond herabregnende Silberfunken ein und leiteten sie über ihre Arme in ihre Körper und wohl auch in die der sie an den Schultern haltenden.
Er hörte wieder jenen wunderschönen, fremdartigen und machtvollen Chorgesang und sah, wie die sechs mal sechs Frauen unterschiedlichsten Alters weitersangen. Die hatten eine Atemtechnik, dass sie selbst dann noch klare Töne hervorbrachten, wenn sie einatmeten. Er hörte die Silben von Wörtern aus der alten Sprache, von denen er jedoch nicht alles verstand, außer die Wörter für „Erhaben“, „Mutter“ und „Weg“.
Mir war da schon klar, dass es wieder so ein außersinnlicher Traum war, dass die Mondtöchter mit mir in ihre Art von geistigem Fernkontakt treten wollten. Doch warum?“ dachte Julius, während die aus der Erinnerung aufsteigenden Bilder zeigten, wie die erste der sechsunddreißig ihren Mitschwestern durch eine Kopfbewegung zu schweigen gebot.
„Julius, Gesegneter der erhabenen Mutter, Vater von fünf Töchtern. Vor mehr als einem Jahr deiner Zeitrechnung baten wir dich, die drei von ihrer unreinen Bruderschaft davongelaufenen zu uns zu bringen“, sprach die erste Tochter des Mondes, wobei sie wie selbstverständlich die Hochsprache von Altaxarroi benutzte. „Wir erwähnten auch, dass der eine Mann und die junge weiße Frau Kinder hervorgebracht hatten und baten dich, nach ihnen zu suchen. Ja, wir verfolgten mit, wie du sie gesucht hast, bis dir und damit auch uns enthüllt wurde, dass sie an einem selbst vor dem Blick der erhabenen Mutter verhüllten Ort sein mussten. So mussten wir warten. Doch vor der Zeit, die für dich ein halber Zwölfteltag sein mag, fanden wir beide Kinder auf unterschiedlichen Wegen. Sie reisen in in vom Wind und dem Mond getragenen Barken durch die Luft. Wenn wir erkennen, dass sie demselben Ort zustreben, so ist es an dir, dein Gelöbnis einzulösen, die Kinder zu ihren nun von der im Blute lodernden Wut der erhabenen Mutter befreiten Elternteile zurückzubringen, auf dass sie nicht weiter von düsteren Gedanken getrieben werden müssen.“
„Ja, doch die Kinder haben noch einen Vater und eine Mutter. Ich kann die denen doch nicht einfach wegnehmen. Das wäre Kindesentführung, ein schweres Verbrechen“, widersprach Julius.
„Die Mutter des Mädchens hat die Mutter des Jungen ohne ihr Wollen mit dem Keim der wütenden Himmelsmutter angesteckt, um sie zu lenken, wie ein Reiter sein Pferd. Sie ist in der alleine fliegenden Barke. Der Vater des Jungen, dessen Mutter du uns brachtest, ist nicht in einem der zwei von Abendlicht her fliegenden Barken. Entweder lebt er nicht mehr oder er will nicht mehr wissen, was mit seinem Sohn geschieht.“
„Ja, aber trotzdem bleibt es eine Untat, einer Mutter ihr Kind wegzunehmen. Ich habe jetzt so viele eigene Kinder, dass ich weiß, wie grausam das ist“, blieb Julius bei seinem Widerspruch.
„Ja, und dieses Zögern ehrt dich, Julius Erdengrund, Sohn der Martha, Tochter der Linda. Doch solltest du auch bedenken, dass es unschuldige Kinder sind, die in der Gewalt von dunklen Gedanken und Taten getriebener Wesen sind, die den Fluch der erhabenen Mutter für einen Segen haltenund davon ausgehen, das rein gebliebene Volk der großen Urmutter mit diesem Keim der Unreinheit bedrohen zu dürfen, wie es ihnen gefällt. Wenn die Kinder bei ihnen bleiben werden sie entweder bald sterben oder von deren düsteren Gedanken und Wünschen vergiftet und selbst andere unschuldige Kinder mit dem Keim der wütenden Himmelsmutter verseuchen oder andere Menschen töten, weil der, der ihre dunkle Gemeinschaft lenkt, ihnen das befiehlt. Willst du, dass zwei noch unschuldige Seelen in Häuser mit wehrlosen Kindern geschickt werden, um ihnen diesen Keim ins Blut zu treiben, auf dass diese für ihre eigenen Eltern, Geschwister und Freunde zur Bedrohung werden?“
„Nein, natürlich will ich das nicht“, erwiderte Julius. „Aber muss es echt eine Entführung sein? Könnt ihr euch denen nicht offen zeigen und sie zur Abkehr von ihren Taten überreden?“
„Ja, darüber haben wir lange beraten, nachdem du uns die beiden Frauen und den Mann gebracht hast, Julius. Wir sind jedoch zu der Einsicht gelangt, dass wir sechsunddreißig auf Frieden und Liebe eingeschworenen Schwestern nichts gegen von Gewalt und Herrschsucht getriebenen, vielfach mehr als sechsunddreißig vorgehen können. Ein gewaltsamer Kampf ist uns verboten, fühlende und denkfähige Wesen zu töten noch viel mehr. So blieb uns nur, zu entscheiden, ob wir die zwei unschuldigen Kinder der von dir zu uns gebrachten einer verhängnisvollen Zukunft überlassen sollen oder wenigstens sie aus dem Würgegriff von Hass und Gewalt befreien. Wir haben uns für die Befreiung entschieden.“
„Ja, und weil ich im Gegensatz zu euch auch mit gewisser Gewalt gegen Feinde kämpfen kann soll ich die zwei jetzt da rausholen, gegen deren Widerstand wegschaffen und zu euch bringen?“ hörte Julius seine verärgerte Stimme rufen.
„Nein, du wirst nicht kämpfen. Du wirst einen von uns mit der Macht der gnädigen Himmelsmutter besungenen Stein mitnehmen und ihn dort, wo die beiden Kinder zusammentreffen aus ausreichender Höhe niederfallen lassen, sodass das Licht unserer himmlischen Mutter ihn erleuchtet und die Kraft der großen Allgebärerin die ganze Stärke unseres machtvollen Gesanges freisetzt. Jene, die von der Wut der Himmelsmutter erfüllt sind werden der Kraft der Gnade erliegenund für dreihundert ruhige Herzschläge im friedlichen Schlaf liegen, unfähig, dir und sich etwas anzutun. In der Zeit nimmst du die ebenso schlafenden Kinder auf ein ausreichend langes Flugholz und entfernst dich von dem Orte, wo sie sind. Wir hoffen, dass die am Boden bleibenden rechtzeitig wieder aufwachen, bevor die Wächter des Landes, in dem sie sind unsere machtvolle Zauberei erspüren und zu ihnen hineilen können. Doch selbst wenn das geschehen sollte können sie die schlafenden nicht töten. Sie können sie nur in Fesseln legen und mit sich nehmen.“
„Sie können sie nicht töten, während euer Zauber wirkt?“ hörte sich Julius fragen. Er dachte dann noch: „Mein leidiges Interesse an allen besonderen Zaubern.“ Dann ließ er die Antwort der ersten Mondtochter in seinen Memorextraktionszauber einfließen. „Solange unsere Macht wirkt dürfen schlafende nicht mit Gewalt verletzt oder getötet werden. Das was ihr Tageslichtgewöhnten Gewissen nennt würde sie davon abhalten. Unsere Macht ist eine Macht des Friedens, nicht des feigen Meuchelmordes.“
„Ich muss euch also vertrauen, dass die beiden Kinder wirklich besser dran sind, wenn ich sie da weghole, richtig?“ hörte sich Julius wieder fragen. „Ja, darum bitten wir dich, dass du uns vertraust.“
„Und wenn ich sage, dass ich das nicht kann, weil mein Gewissen das verbietet?“ hörte sich Julius wieder fragen. „Dann müssen auch der Vater des Mädchens und die Mutter des Jungen im tiefenSchlaf verweilen, weil sie sonst in Gefahr geraten, auf der Suche nach ihren Kindern erneut gebissen und zu tierhaften Sklaven der Wut der leuchtenden Mutter zu werden oder, was noch viel schlimmer für sie sein mag, von Ihresgleichen für gefährlich oder Wahnsinnig gehalten und getötet zu werden. An ihrem Tod dürfen und wollen wir nicht die Schuld tragen. Noch hast du wohl Zeit, bis wir wissen, wohin wir dich senden können. Erscheinst du im Lichte unserer himmlischen Mutter vor unserem geschützten Haus, so wissen wir, dass du dich auf den Weg begeben willst. Erscheinst du nicht, wirst du damit leben müssen, dass irgendwann zwei einstmals unschuldig geborene Kinder nach dem Leben anderer Kinder trachten werden, weil ein machtlüsterner Anführer ihnen dies befiehlt oder die Mutter des Mädchens wider jene kämpft, denen sie einst selbst befahl, ihr zu folgen. Halte Zwiesprache mit deinem Gewissen und triff die für es und für dich hinnehmbare Entscheidung! Auch ist dir gestattet, jener, die dich zu uns hineintrug und jener, mit der du denSegen unserer Mutter hinterfragt hast, weil eine andere außerhalb der Welt stehende Mutter dich dazu anhielt, ins Vertrauen zu ziehen. Doch bitten wir dich, das von jener dem Himmelsfeuer vertrauten und dem Licht von Leben und Liebe verbundenen erhaltene Machtzeichen in deinem geschützten Haus zu lassen, damit unsere Kraft alleine wirken kann.“
„Weil eure Kraft der Sonne entgegensteht?“ hörte sich Julius wieder fragen. „Weil wir sonst die Kraft von sieben mal sieben und einem zusammen erfassen und befördern müssen, Und wir sind nur sechsunddreißig“, hatte die erste Mondtochter darauf geantwortet. Das verstand Julius.
Nun sah er sich wieder mit Millie und Béatrice zusammen und hörte, wie er ihnen seinen besonderen Traum erzählte. In eine längere Sprechpause dachte er als Kommentar: „Es ist nicht leicht, über sowas zu entscheiden. Daher danke ich Millie und Béatrice für ihre Geduld und ihr Einfühlungsvermögen.
„Julius, natürlich piesackt mich das auch, mir vorzustellen, anderen Leuten ihre Kinder wegzunehmen, ohne dass die sich dagegen wehren können. Aber zum einen hast du uns damals erzählt, dass die Mondtöchter die Kinder und die Elternteile wieder zusammenbringen wollten. Zum anderen kennst du auch Fälle, wo es für die Kinder das richtige war, von den Eltern wegzukommen. Nein, und ich meine jetzt nicht dich oder Laurentine“, sagte Béatrice. Millie sagte erst einmal nichts. Sie dachte daran, dass die noch als Werwölfin herumlaufende Mutter eines Mädchens dieses ja auch im Bauch getragen hatte, wie sie gerade die Zwillinge Hestia und Hidalga und das sie Béatrice die Mutterschaft von Félix gestattet hatte. Deshalb hatte Julius noch geantwortet: „Ihr meint die Kinder von schwer drogensüchtigen oder gewalttätigen Eltern ob mit oder ohne Zauberkraft? Stimmt, von der Seite habe ich das nicht gesehen. Im Grunde sind die Lykanthropen, die mit dem LNT ihre Werwut steuern können ja drogenabhängige. Ja, und weil sie uns sogenannten Eingestaltler erpressen wollen, ihnen unsere Welt zu Füßen zu legen – obwohl, da liegt sie ja schon – sind sie auch gewalttätige Verbrecher. Hmm, stimmt, aus der Warte her gesehen wäre es echt richtig, denen die Kinder wegzunehmen, damit die nicht selbst so werden und dabei getötet werden. Vita Magica hat sich bisher nicht aus der Deckung gewagt. Die trauen der Sache mit Ladonnas Ende nicht so ganz über den Weg.“
„Ja, Vita Magica, die keine von irgendwelchen magischen Dauererkrankungen behafteten Mitmenschen dulden, also keine Vampire und keine Werwölfe und womöglich auch keine Veelastämmigen“, hörte Julius Béatrice aufzählen. Seine Frau hatte darauf noch geantwortet: „Ja, und du verteidigst als Vater deine eigenen Kinder, wenn du mithilfst, dass diese Verbrecher nicht noch mehr Zuwachs kriegen, der alle unsere Kinder bedroht. Einen Werwolf in Wolfsgestalt könnte ich womöglich töten, selbst wenn ich dann die vier Lichtzauber von Ianshira vergessen müsste. Aber das wären mir das Leben und die Gesundheit meiner eigenen Kinder wert, Julius Latierre geborener Andrews.“ Diese Aussage hatte für Julius den Ausschlag gegeben. Ja, er beging keinen erpresserischen Menschenraub, wie sein Onkel Claude, der Rechtsanwalt, es genannt hätte, sondern eine Entziehung der Kinder von zur Fürsorge unfähigen oder unwilligen Angehörigen zum Wohl der Kinder. Das gab er dann auch beim Übergang zur nächsten Erinnerung als gedanklichen Kommentar ab.
Nun wickelte er wortwörtlich jene Erinnerungen ab, die er vor nicht gerade einer Stunde in sein Gedächtnis aufgenommen hatte. Millie hatte ihn mit Hilfe des Kleides Kailishaias zusammen mit dem gemeinsamen Familienbesen vor die Mondburg gebracht. Dort hatten sie zehn Minuten warten müssen. Wohl wwegen der verlangsamten Zeit innerhalb der Mondburg hatte es gedauert, bis die verhüllte Burg aus dem Nichts herausgewachsen war. Dann war wie schon mehrmals von ihm beobachtet die gläserne Brücke ausgelegt worden. Millie hatte ihn schon hinübertragen wollen. Doch eine der etwas kräftiger gebauten Mondtöchter eilte aus dem runden Tor hervor und überquerte mit langen Schritten die Brücke. „Nein, nein, von uns gesegnete Tochter der großen Urmutter, du trägst bereits genug lebende Last in deinem Leib. Ich werde deinen Gefährten hineintragen, so er dies aus freien Stücken will.“ Julius stellte sich so, dass ihn die in Weiß gekleidete aufheben konnte und als wöge er nichts über die Brücke hinüber in die Burg hineintrug. „Ich warte auf dich“, hörte er Millies Gedankenstimme, bevor das Tor sich wieder schloss.
Nun folgte die letzte Frage, ob er bereit sei, die ausstehende Aufgabe zu erfüllen. Er bejahte es. Dann hatte er von der ersten Tochter eine flache weiße Scheibe mit silbernen Sprenkeln darauf übergeben bekommen. Die sollte er über dem Ort, wo die beiden Kinder waren herunterfallen lassen, dass im Umkreis von hundert Schritten alle „von der Wut der Himmelsmutter“ vergifteten für dreihundert Herzschläge in einen tiefen, friedlichen Schlaf fielen. Dann hatten sie drei konzentrische Kreise gebildet und einander bei den Händen gefasst. Sie hatten ihre Gesichter dem Mond zugewandt, der fast voll zu sehen war und jenes Lied angestimmt, das ihn bereits in der Nacht davor in seinen Träumen berührt und zu ihnen hingeführt hatte.
„Jetzt erkannte ich, wie mächtig die sechsunddreißig Töchter des Mondes wirklich waren“, kommentierte Julius, während seine abspulende Erinnerung zeigte, wie ein breiter und breiter werdender Lichtstrahl vom Mond herabglitt und sich wie ein leuchtender Schlauch um ihn legte. Dann hatte er das Gefühl verspürt, im inneren einer leuchtenden Kugel schwerelos zu treiben. Es war ähnlich wie die ihm vertrauten Reisesphären von Beauxbatons, nur dass die ihn umschließende Kugel mondlichtsilbern geleuchtet hatte und er den geheimnisvollen Chorgesang der sechsunddreißig Mondtöchter aus allen Richtungen zugleich gehört hatte. Vorsorglich hatte er sich den Besen zwischen seine Beine geschoben. Dann verschwand die mondscheinfarbene Lichtkugel um ihn herum. Er fühlte den Wind und sah, dass er aus einer großen Höhe in die Tiefe stürzte, genau auf ein schüsselförmiges Tal zu, aus dem mehrere schroffe Kegel herauswuchsen. Das waren erloschene oder besser schlafende Vulkane. Wo genau war das?
„Folge dem Gesang!“ hörte er die Stimme der ersten Tochter. Dann hatte er ein leichtes Vibrieren in der mitgegebenen Mondscheibe gespürt. Aus purer Intuition völlig ohne Einfluss von Felix Felicis hatte er sich die Scheibe an sein rechtes Ohr gehalten. Da hatte er die singenden Stimmen der Mondtöchter wiedergehört. Zugleich meinte er, adlergleich oder wie durch ein Zoomobjektiv die Landschaft unter sich immer näher heranzuholen. Da hatte er sie deutlich gesehen, die drei Boote auf ihren stummelförmigen Landebeinen. Da er schon was von fliegenden Barken gehört hatte musste er nicht sehen, ob sie Flügel, Tragflächen oder Propeller hatten oder wie Flugbesen und Flugteppiche ohne Flugvorrichtungen fliegen konnten. Wichtig waren für ihn die zwei Reisegruppen, die sich wohl gerade unterhielten.
Er erinnerte sich noch, was dann zwischen den Gruppen passiert war und dass ihm das endgültig klar gemacht hatte, dass er die zwei kleinen Kinder da wegholen sollte. Er lagerte noch aus, wie er die bezauberte Scheibe in die Tiefe warf und wie er die beiden schlafenden Kinder aus der schlagartig entstandenen Lichthalbkugel herausholte. Den silbernen Dolch ließ er wo er war. „Ich wusste nicht, ob der nicht nur von Lykanthropen angefasst werden konnte“, kommentierte er. „Die Scheibe sollte ich auch dort liegen lassen, damit die beiden Gruppen wussten, wer die zwei Kinder abgeholt hatte: Die Töchter des reinen Mondes.“
Dann spulte er noch die Erinnerung an die Rückreise in einer neuen Leuchtsphäre und das Verlassen der Mondburg und die Rückkehr mit Hilfe von Kailishaias Feuerkleid ab, um eine vollständige Erinnerungskopie zu erzeugen, vielleicht mal für Aurore, Félix oder die anderen Kinder oder deren Kinder und Kindeskinder. So gedankenkommentierte er noch: „Nach allen Bedenken, die ich wegen der unerbetenen Abholung der beiden Kinder, die Alejandrito und Lykomeda oder Medi heißen hatte bin ich doch froh, dass ich es getan habe. Ammayamirias nachträgliche Bestätigung, wie haarscharf der kleine Junge seinem Tod entging und dass die blonde Lykanthropin ihre Tochter sicher zu einer würdigen Erbin ihrer Ideen erzogen hätte hoffe ich jetzt wenigstens, dass mein Einsatz wirklich kein unschuldiges Leben kostet. Sicher wird die blonde Lykanthropin Lunera Tinerfeño sehr verärgert sein, dass ihre Tochter entführt wurde. Doch so gemein es klingt, wie viele Kinder anderer Leute hat sie auf dem Gewissen? Hat sie überhaupt noch ein Gewissen? Ich hoffe, dass die zwei Kinder mit ihren nun von der Lykanthropie geheilten Elternteilen irgendwo ein friedliches Leben führen können, wenn ich auch nicht weiß, wie das gehen soll. Julius Latierre: Erinnerungen an die Entziehung zweier Kinder aus dem Einflussbereich verbrecherischer Lykanthropen, Ende!“
Als er den letzten Gedankenkommentar beendet hatte beendete er den Memorextraktionszauber ordnungsgemäß und ließ die davon aufgeräufelte Erinnerungskopie in das Denkarium einfließen. Nun sah er statt des silberweißen Leuchtens im Inneren des Denkariums wie durch ein rundes Dachfenster hinab auf den Burghof der Mondtöchter und hörte ihren überirdischen Gesang, ein wirklich machtvolles Lied, wie er nun wusste.
„Gut, auch wenn du gerade nicht schwanger bist solltest du dich jetzt auch wieder hinlegen, Julius Latierre geborener Andrews“, wies ihn Béatrice an. Er wagte es nicht, ihr zu widersprechen.
„Nur noch soviel, Stiller Dienst oder nur wir?“ fragte Millie. „Ich werde das besser für uns allein behalten, bevor doch noch wer meint, dass wir die Mondtöchter für irgendwas einspannen können. Abgesehen davon muss das auch nicht im Ministerium rumgehen, dass ich ganz ohne Konsultation der dafür zuständigen Behörden zwei junge Lykanthropen in einem Vulkangebiet irgendwo auf der Erde aufgegabelt und ohne Einwilligung der dort selbst anwesenden Mutter fortgeschafft habe. Die würden mich für die nächsten Jahre einbuchten, wegen mehrerer Gesetzesbrüche und Verstöße gegen die Dienstvorschriften. Hmm, aber was ich machen kann ist, zu behaupten, dass ich davon geträumt habe, dass die Mondtöchter irgendeine Form von magischem Transporterstrahl eingesetzt haben, um die zwei Kinder zu holen. Das schrammt zwar laut quietschend an der Wahrheit vorbei, ist aber auch nicht wirklich gelogen.“
„Falls die nicht sogar den Potestas-Geninorum-Zauber benutzt haben, um einen oder mehrere von sich zeitweilig zu verdoppeln und die Doppelkörper die zwei Kinder dann einfach dadurch zu ihnen hingebracht haben, indem sie kontrolliert aufgelöst wurden und die dabei freiwerdende Kraft alle von ihnen gerade berührten an den Ausgangsort zu ihren Originalen hinteleportiert hat“, warf Béatrice ein. Millie blickte sie verwundert an. „Öhm, wäre das möglich? Falls ja, Trice, warum haben die das nicht gleich so gemacht?“
„Gut, ich habe sie nicht gefragt. Aber als ich mit dem Besen gelandet bin und die Kinder aufgegabelt habe hatte ich den Eindruck, dass etwas auf den Stiel einwirkt. Ich werfe mal einen Quaffel in blauen Nebel rein und hoffe, er geht durch einen Torring, wenn ich behaupte, dass dieser zeitweilige Tiefschlafzauber von denen jede andere Magie gestört hat. Könnte also sein, dass ein Doppelkörper, der durch den nicht ganz ungefährlichen Potestas-Geminorum-Zauber erschaffen wurde, da nicht reingekommen wäre oder sich bei Berührung dieser Leuchthalbkugel wieder aufgelöst hätte. Da musste also ein Mensch aus Fleisch und Blut ran. Aber danke für die möglichen Erklärungen, warum die zwei Kinder nach aller Zeit doch geborgen wurden. Ich hoffe nur, dass die Mondtöchter, Ashtaria und auch Ammayamiria uns jetzt bis auf weiteres mit Sonderaufträgen in Ruhe lassen.“ Seine beiden Lebens- und Liebespartnerinnen nickten ihm zustimmend zu.
Nur fünf Minuten später lag Julius im Ehebett neben seiner Frau. Sie tätschelte ihm noch einmal die Wangen und schnurrte: „Hast du doch gut gemacht, Monju. Jedenfalls haben diese Mondbruderschaftsbanditen jetzt einen herben Rückschlag erlitten.“
„Die Blondine könnte auf die Idee kommen, Vergeltung zu üben, Mamille“, unkte Julius. „Ja, und die Mondtöchter wissen das, Monju. Kann sein, dass sie darauf ausgehen, sie auch noch zu sich zu holen, damit das kleine Mädchen wieder beide Eltern hat, wenn stimmt, dass der Vater des Jungen schon ermordet wurde“, erwiderte Mildrid.
„Nein, Ammayamiria melote, dass der Vater des Jungen sich wohl mit einem Mitbruder duelliert hat, um die Führungsfrage zu klären und dabei getötet wurde. Wäre dann höchstens Totschlag“, erläuterte Julius. „Hallo, Onkel Charles, wusste nicht, dass du dir mal den Körper meines Mannes ausleihen wolltest“, scherzte Millie. Julius grinste sie an. Dann küsste er sie noch einmal, streichelte über ihren gewölbten Bauch und wünschte ihr und den sicher verstauten Zwillingstöchtern in Wartestellung eine gute Restnacht. Dann schlief er ein und träumte irgendwas, woran er sich aber am nächsten Morgen nicht erinnerte. Jedenfalls war kein Albtraum dabei.
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Endlich war es soweit. Achtundzwanzig tiefschwarze, völlig lichtschluckende Vollrüstungen standen ihr zur Verfügung. Sie hatte darauf wert gelegt, genauso viele Rüstungen für Männer wie für Frauen anfertigen zu lassen. Denn sie konnte ihre Dienerinnen immer noch am besten aus der Ferne anleiten und mit ihrer göttlichen Kraft erfüllen als die männlichen. Die sollten dann halt ihre körperliche Kraft einsetzen, um den Auftrag der Göttin zu erfüllen.
Es war am neunten August 2007 menschenzeitrechnung, als Gooriaimiria einen Probelauf mit allen 28 Rüstungstragenden machte. Dafür schickte sie sieben Gruppen zu je vier Auserwählten auf jeden der sieben Kontinente und versetzte dann jeden einzelnen an eine andere Stelle. Ihre von Heptachiron erworbene Gabe der zeitgleichen Fernüberwachung so vieler Getreuer gelang trotz der gewissen Magieabwehr der Rüstungen. Der Probelauf gelang. Sie holte alle 28 erst in sieben Vierergruppen zusammen und brachte sie dann alle in den als neues Hauptquartier festgelegten Stollen tief unter den Bergen Norwegens. „Ich werde euch demnächst die ersten Ziele geben. Dort sollt ihr mir je einen rotblütigen Forscher oder eine Forscherin ergreifen und sie in das neue Versuchslabor bringen“, teilte sie den ersten achtundzwanzig mit.
Als sie wusste, dass ihr Vorhaben gelingen konnte setzte sie ihre Suche nach fünfzig geeigneten Kandidaten fort, die als Spenderinnen und Spender für mächtiges Blut zur Verfügung stehen sollten.
Als sie am 20. August Menschenzeitrechnung die Hilferufe von Kundschaftern in Afrika und Europa erhielt, sie würden von fliegenden Schattenkugeln gejagt erkannte sie, dass ihre Erzfeindin ebenfalls wieder aktiv geworden war. Als die Gejagten tatsächlich überwältigt und getötet wurden versuchte sie, deren Seelen mit den an diesen saugenden Widersachern an sich zu reisßen. Doch diese hinterhältigen blutlosen Biester vermochten, die unsichtbaren Verbindungen zu kappen, so dass Gooriaimiria von den zurückschnellenden Kräften durchgeschüttelt wurde. Das weckte ihn wieder auf, Giriainaansirian. Dieser versuchte erneut, sich freizustrampeln. Doch sie ließ ihn auch diesmal nicht entwischen. Mit einem besonders kraftvollen Gedankenstoß brachte sie ihn beinahe zum völligen Vergehen. Doch noch wollte sie sein Wissen nutzen. Löste er sich auf verging seine ganze Erinnerung, ohne von ihr verdaut zu werden. Denn sonst hätte sie ihn ja längst in sich zerrinnen lassen.
Erst als alle von Schattenkugeln gejagten entweder tot oder noch gerade rechtzeitig in Sicherheit geschafft worden waren beruhigte sich Giriainaansirian endlich wieder. „Meine Zeit wird kommen, du undankbares, herrschsüchtiges Weib!“ tönte seine Gedankenstimme noch einmal. „Schlaf weiter, kleiner Untermieter“, dachte Gooriaimiria. Dann hatte sie endlich wieder ruhe.
„Woher wissen die, wo meine Diener gerade sind?“ fragte sich die erwachte Göttin aller Nachtkinder. Ihre Diener hatten doch Unortbarkeitsgegenstände am Körper. Sollte sie dazu übergehen, ihre Diener nur noch bei Tageslicht handeln zu lassen. Das widersprach jedoch der Ehre der Nachtkinder. Es sollte reichen, dass sie durch die Solexfolien vor Sonnenlicht geschützt waren. Doch wenn sie weitere Rotblütler zu neuen Dienern machen wollten mussten sie ihre ganze Kraft einsetzen, und das ging nur bei Nacht. Es wurde wirklich Zeit für das neue Vampryrogenese-Agens.
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Die Heimkehr in die geheime Residenz der Mondgeschwister war kein Triumph. Das merkte León schon, bevor sie mit den aus Japan erhaltenen Zauber-Flugbooten nach anderthalbtägigem Flug landeten. Er hatte Lunera, die einstige Anführerin der Mondbruderschaft, unter seinen Befehl stellen wollen. Er hatte vorgehabt, ihr Kind als Unterpfand zu nehmen. Beides war misslungen. Schlimmer noch, jemand von außen musste den geheimen Treffpunkt auf Tenerifa mitbekommen haben und hatte was gemacht, was sie alle aus den Schuhen gehauen hatte. In der Zeit, wo er und alle anderen wehrlos am Boden gelegen hatten hatte der Jemand Alejandro und Lykomeda abgegriffen und war mit ihnen abgeschwirrt, ob auf einem Besen, auf einem flusigen Flugteppich oder einem ähnlichen Flügelboot wie seine Leute und er es benutzt hatten. Der einzige Hinweis darauf, wer das gewesen sein mochte war eine kleine graue Scheibe gewesen. Doch er und seine unfähigen Gefolgsleute waren zu langsam gewesen, die aufzuschnappen und mitzunehmen. Die hatten sich die anderen geholt. Dann wussten die jetzt vielleicht mehr. Auch das war ein Rückschlag für ihn, den großen Anführer, den Bezwinger von Fino, dem einstigen Vertrauten Cortorejas und Luneras. Am Ende hatten die ihn noch verraten. Ja, das mochte es sein. Doch als er das unterwegs mal so nebenher laut gesagt hatte um zu gucken, wie die anderen das schluckten hatte die dicke Lunamares nur gesagt: „Dann wären wir alle an Ort und Stelle gefesselt oder gleich getötet worden, weil die alle Zeit hatten, uns die Mondsteinsilberabwehrhalsbänder und Fußkettchen abzumachen. Die wollten nur die Kinder, und die haben sie sich geholt.“ Als er gefragt hatte, wer „die“ waren hatte Lunamares was gesagt, dass ihn zum grinsen brachte: „Es könnten die selbsternannten Töchter des Mondes von irgendwo in den Pyrenäen gewesen sein. Das mit diesem Silberlicht und den Frauenstimmen im Kopf könnte echt von denen herrühren.“
„Pummelchen, das mit den Mondtöchtern ist eine Legende, die sich all die erzählen, die uns nicht leiden können und was erfunden haben, um uns Angst zu machen oder denen, die nicht stark genug sind, den Mondsegen auszuhalten was einzureden, dass sie den wieder loswerden“, grummelte León.
„Mond-Segen? Wenn das ein Segen wäre wärest du nicht von diesem schwarzen Spiegelzauber abgewiesen worden, den Lunera ohne Zauberstab heraufbeschworen hat“, wagte Lunamares ihm zu widersprechen. „Ja, neh, ein bitterböser Fluch ist das. Ja, solange jemand dem ohne den Trank ausgeliefert ist ist das so. Aber wir haben den Trank und damit die Macht. Das ist doch ein Segen“, deutete León ihre Lage als was erhabenes, wunderschönes.
Ja, das war unterwegs gewesen. Als sie wieder im Hauptquartier waren hatte er sich noch was von seiner mittelträchtigen Gefährtin Bocafina anhören müssen, dass er das Leben von Alejandro und Lykomeda riskiert hatte, dass er es sich mit Manosana verscherzt hatte und sie nun alle keine ausgebildete Heilerin mehr hatten und sie deshalb vielleicht sein Kind verlieren konnte und dass es ihm offenbar nie mehr gelingen würde, die drei anderen Schlüssel der jahreszeitlichen Monde zu benutzen, weil er Luneras Unterwerfung jetzt ganz sicher nicht mehr erzwingen konnte. Das war dann noch wilder geworden, als sich dieser hirnlose Trottel Blackface verplappert hatte, dass er es nicht geschafft hatte, den magischen Silberdolch des entschlossenen Jägers einzusetzen und der ihnen noch von der Heilerin abgenommen worden war. Da hatte Bocafina geblickt, dass er nicht vorhatte, Luneras Tochter mit zurückzubringen, sondern dass er sie oder sogar Alejandro umbringen wollte, um Lunera richtig zu verletzen. Sie hatte erst wild geheult. Dann hatte die ihm sogar vor versammelter Hausgemeinschaft zwei schallende Backpfeifen ins Gesicht gedroschen, dass er meinte, gleich würden ihm die Ohren vom Kopf fallen. Dabei hatte sie schon Fell an ihren Händen gehabt und sich dann noch vor den anderen verwandelt. Immerhin war die eine Vollmondnacht im August gerade um gewesen. Aus ehelicher Gemeinsamkeit oder aus eigener Wut war er dann auch zum Wolf geworden. Sie waren dann beide um die Hacienda herumgerannt, bis sie müde genug waren, um wieder ins Haus zu gehen. Soviel zum starken, selbstbeherrschten und vor allem geachteten Führer León del Fuego, dachte eben dieser nach all diesen Rückschlägen. Immerhin waren sie ja wieder hier, den Besenfliegern noch entwischt, weil Lunamares diesen japanischen Abschüttelzauber mit blauen und grünen Leuchtblumen gebracht hatte, den Palón nicht mehr kannte.
Er probierte die drei anderen Schlüssel am zweiten Tag nach der Heimkehr aus. Doch die erzitterten wild. Der für das Mondhaus des Sommers erhitzte sich schlagartig zwischen seinen Fingern, dass er ihn sofort wieder loslassen musste. Der für das Mondhaus des Herbstes wurde zum widerstrebenden Zittern noch feucht und glatt wie vom Regen benetztes Laub und glitt ihm aus der Hand. Der für den Winter wurde schlagartig so kalt, dass ihm die Finger einzufrieren drohten. Nur der vom Frühlingshaus, den er sozusagen durch den Entscheidungskampf rechtmäßig erobert hatte, der ging noch. Ja, und die weniger wichtigen, die für die Archivkeller, die schon längst auf die Fidelius-Niederlassungen verteilt worden waren, die gingen auch noch. Er war ein König, der nur ein Viertel seines Schlosses betreten konnte, dessen Königin ihn für einen Kindermörder hielt und dessen Untertanen das garantiert irgendwem aus der Bruderschaft weiterreichen würden, was für ein Versager er war. So legte er genug Wut, um nicht zum Wolf zu werden in einen Brief, der nach der ordnungsbemäßen Bezauberung zum scharlachroten Umschlag wurde. Diesen schickte er an die Adresse: „Zu Lunera Tinerfeño der Verräterin ihres verstorbenen Gefährten und ihre undankbaren Mitschwestern“. Dann jagte er einen der von Fino geerbten künstlichen Eulenvögel los, um die scharlachrote Botschaft zu überbringen. Denen würden dann die Ohren von den Köpfen fallen, und ob die von ihm abgeseilte und zu denen übergewechselte Heilhexe das wieder heilezaubern konnte konnte er sich nicht vorstellen.
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Nightpaw bangte, ob León del Fuego das mitbekommen mochte, dass er mit seinem Vetter Nightleaper im Grenzland zwischen England und Schottland Kontakt aufgenommen hatte, weil er von dem was über seine wiederkehrenden Angstträume wissen wollte.
Immer wieder seid Nightcoats und Nightfaces Verschwinden träumte er davon, mit seinen Brüdern in Gestalt von pechschwarzen Riesenwölfen durch einen vom Vollmond beschienenen Wald zu laufen, sie vor ihm und er hinter ihnen her. Dabei hörte er sie wie aus großer Ferne nach ihm rufen und ihn dazu auffordern, mit ihnen zu kommen. Sie führten ihn dann im immer schnelleren Lauf zum Ufer eines Sees, der schwarz und ölig wie heißer Teer am Fuße einer steilen Böschung lag. Mitten im öligen Brei tauchte dann immer wieder ein riesenhaftes Gesicht mit blau leuchtenden Augen auf, das den beiden vorderen Brüdern zurief: „Bringt ihn mir!“ Dann wollten seine größeren Brüder ihn packen und in den schwarzen Teersee hineinschleudern. Doch immer, wenn er bereits im freien Fall auf die unheilvoll dunkle Masse zustürzte wachte er auf. Dabei hörte er noch das enttäuschte Heulen seiner zwei Brüder.
Er erinnerte sich dann immer daran, was den zweien zugestoßen war und dass er dabei einen Teil der unheilvollen Kraft abbekommen hatte, die Nightcoat und Nightface erwischt hatte. So hatte er seinen Vetter Malcolm alias Nightleaper in der von der Winterborn-Sippe erfundenen Geheimschrift angeschrieben. Er wollte wissen, was der sich mit magischen Verbindungen und dem Wesen von Lykanthropen auskennende Nightleaper dazu sagen mochte.
Am Tag nach Leóns Rückkehr ohne Lunera und ohne die Heilerin Manosana war über die heimliche Posteulenverbindung ein Brief von Nightleaper eingetroffen. Nightpaw musste sich sehr beherrschen, seine Ungeduld zu verbergen. Erst als er in dem ihm zugeteilten Zimmer alleine war las er das in der Geheimschrift seiner Familie verfaste Antwortschreiben.
Lieber Vetter Mitch!
Einerseits muss ich wenigstens dafür danken, dass du mir so weit vertraust, mir deine Träume zu beschreiben. Andererseits hat mich die genaue Schilderung dessen, was du darin mitbekommst sehr erschreckt. Wir alle haben ja mitbekommen, was mit Myron und Morty passiert ist und fürchten, dass sie von dieser Nachtschattenkönigin einverleibt wurde. Da auch deine Mutter genau diese Träume hat, die dich gerade umtreiben fürchten wir von der ganzen Familie, dass dieses fleischlose Frauenzimmer die Verbindung mit uns sucht, indem sie die seelische Verbindung von Myron und Morty nachahmt. Soweit ich aus dem Buch „Die Sprache der Träume“ habe stellt ein Gewässer, ob ruhend oder fließend, das Leben an sich dar, kann aber auch je nach Farbe und geträumter Tageszeit als unbewusste Ahnung von Todesnähe oder Todesgefahr ausgelegt werden. Der schwarze See, vor allem das aus ihm heraus entstehende Gesicht stehen dann wohl für die Art, wie Myron und Morty gestorben sind und dass es trotzdem eine Verbindung zu ihnen gibt. Ich fürchte, dieses Nachtschattenungeheuer will wissen, wo die sind, die mit den beiden eine gute bis sehr gute Verbindung gehalten haben. Da du eine dieser Geschwisterketten benutzt hast, um mit ihnen in Verbindung zu bleiben zielt dieses Monstrum nun auf dich. Dieses Ungetüm will wissen, wo du bist. Du sollst daran denken, wo du bist und wo das ist. Du könntest ungewollt zum Verräter werden, sofern die beiden nicht bei ihrem Tod ihr Geheimnis an ihre Mörderin weitergegeben haben können. Dieses Biest will wissen, wo euer Stützpunkt ist. Ich habe es schon Tante Lykene Vorgeschlagen und mach das bei dir auch, dass du in den Nächten ohne Vollmond diese goldene Sonnenbrosche am Körper trägst, die Fino gemacht und mit diesen altägyptischen Zaubern der mächtigen Sonne und der Abwehr sonnenempfindlicher Wesen ob lebendig oder geisterhaft bezaubert hat. Vielleicht blockiert die jeden Suchzauber, den dieses Nachtschattenweib benutzen kann, und du hast dann Ruhe. Ich werde die Brosche auf jeden Fall tragen.
Ach ja, ich habe das mit diesem peinlich danebengegangenen Ausflug von León mitbekommen. Du bist ja nicht meine einzige Verbindung zu euch. Tja, er hätte den Kleinen besser irgendwo aussetzen und sich selbst überlassen sollen. Was die selbsternannten freien Töchter des Mondes mit Finos Sohn und Luneras Tochter anfangen wollen weiß ich nicht sicher. Vielleicht wollen sie Lunera damit aus ihrem Versteck locken, um sie festzusetzen. Tja, und dein Vater Lawrence will beim Neumond Ende August eine Familienratssitzung in den Grenzlandbergen einberufen. Du bekommst sicher die entsprechende Aufforderung, dort hinzukommen. Geh mal davon aus, dass dein Vater, mein hochverehrter Oheim Lawrence jeden Einspruch von León del Fuego ablehnt, da du unserer Sippe länger und tiefer verbunden bist als der von diesem rotschopfigen Burritoschreck aus Tihuana. Falls er das ihm nicht selbst schreibt weise ihn gerne darauf hin, dass er dich nur von uns „ausgeborgt“ hat, um ihm mitzuteilen, ob wir an wichtige Informationen herankommen. Mach das mit der Schutzbrosche auf jeden Fall.
Ich sage dann mal: Bis bald in der Höhle der Winterborns. Bis dahin hoffentlich angenehmere Träume!
Malcolm alias Nightleaper
Mitch musste seine Augen wieder an eine gleichbleibende Draufsicht gewöhnen. Die Geheimschrift der Winterborrns wurde nicht in geraden Zeilen von oben nach unten, sondern in Spiralwindungen von außen nach innen geschrieben, angeblich eine Huldigung an ihr machtvolles Kraftgestirn, den Mond. Als er wieder gerade aus sehen konnte durchdachte er den Brief. Also fürchtete Malcolm dasselbe wie er, dass dieses fleischlose Flittchen aus der Geisterwelt versuchte, ihn zu finden um sich auch den dritten Bruder der Winterborn-Sippe einzuverleiben. Offenbar genoss sie die dem Mond verbundene Kraft von Lykanthropen. Mindestens das sollte León bedenken. Das würde dem nicht gefallen, wusste Mitch alias Nightpaw. Wer wollte schon als Jäger dauernd gejagt werden? Wohl auch deshalb würde Old Nightheart Lawrence Winterborn diese Familienversammlung durchsetzen, auch gegen den angeknabberten Anführer der Mondbruderschaft. Er würde Old Nighthearts Ruf folgen, auch wenn es hieß, dass er danach nie wieder vor León oder dessen Lakeien Puñazo und Blackface treten durfte. Aber bis zum Neumond waren es noch zwei Wochen Zeit. p>
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Es war gut gewesen, dass sie die Vollmondnacht im August nicht im freien Flug verbracht hatten. In gewisser weise mochten sie sogar den spanischen Ministeriumszauberern dankbar sein, die sie zur Fluchtgeschwindigkeit getrieben hatten, bis sie weit genug über dem Meer waren, um dessen innewohnende Kraft und die des Mondes auszunutzen. So hatten sie sich erst an der Küste Afrikas niedergelassen und mit Hilfe des Lykonemisis-Trankes die Vollmondnacht durchgestanden. Dann waren sie wieder auf den Atlantik hinausgeflogen und weit genug um die iberische Halbinsel herumgeflogen, bis sie den Ärmelkanal erreichten und dann in ihrem eigenen heimlichen Hauptquartier landeten.
Lunera hatte einen leichten Schock zurückbehalten, weil ihr die selbsternannten Mondtöchter ihre leibliche Tochter Lykomeda entführt hatten, wohl um sie dazu zu kriegen, sich die besondere Kraft des Mondes aus dem Blut spülen zu lassen oder wie immer die das machen konnten. Sie hatte sich mit Tara und der zu ihnen gestoßenen Heilerin Manosana, die in ihrem prälykanthropischem Leben Rosalba Virginia Rojas geheißen hatte zusammengesetzt. Hank war in der Zeit bei seiner Werwolfsbraut Lorna geblieben, die sein zweites Kind im Bauch hatte. Er konnte dessen Herz hören, auch wenn er nicht sein Ohr auf ihren Bauch legte. Da hatte er wieder begriffen, was für geniale Fähigkeiten er hatte, weil er ein junger Werwolf war. Also konnten diese Mondtöchter gerne weiter auf ihn warten.
Lunera war nach dieser Dreiersitzung zurückgekehrt und hatte verkündet, dass sie sich jetzt mit ihrem neuen Gefährten zusammentun wollte, um ihr Vermächtnis an die Mondbruderschaft weiterzureichen und dass sie davon ausging, dass sich die drei Schlüssel für Sommer, Herbst und Winter weiterhin Leóns Zugriff verweigerten, weil er es gewagt hatte, daran zu denken, den Sohn seines Vorgängers umbringen zu lassen, noch dazu im sogenannten Welpenschutz. So hieß das, wenn in die Mondgemeinschaft hineingeborene Kinder jünger als sechzig selbst erlebte Vollmondnächte waren, also zwischen viereinhalb und fünf ganzen Jahren.
Es war die Nacht von Neumond, als einer von diesen künstlichen Eulenvögeln an das Fenster von Lunera klopfte. Mittlerweile wusste dieses bionische Biest, oder wie immer sie das nannten, wo Lunera schlief. Dann hörten Hank und die anderen sie rufen: „Tara, ein Heuler von León!“
„Heuler! Liegen lassen,nicht aufmachen, wenn dir deine Ohren lieb sind!“ rief Tara durch das ganze Gutshaus zurück. Dann hörte Hank das bereits vertraute Ploppen des Apparierens und dann ein knurren, Knistern und dann was wie ein Metallverschluss, der auf eine Metalldose geschraubt wird.
„Wenn die Weasleys wüssten, dass deren neuartige Heulerfangdosen auch bei uns gelandet sind“, hörte er Tara ganz leise, weil durch drei Wände hindurch. „Okay, wer mithören will bitte in den Ballsaal, bevor der rote Fetzen sich selbst zerfleddert!“ rief sie.
Hank und Lorna wollten mithören, Maura und Pete ebenso wie die Heilhexe, die sich Manosana nannte, aber hier in der Gemeinschaft jetzt wieder ihren Normalmenschennamen angenommen hatte.
Tara stellte eine versilberte Dose mit dreverschluss auf den Tisch, fingerte an zwei gemalten Symbolen wie ein durchgestrichenes Ohr und ein u-förmiges Abflussrohr herum undd schüttelte die Dose. Es prasselte und knisterte, als wenn eine uralte Schallplatte abgespielt würde. Dann klang blechern und recht laut, aber noch nicht zu laut die Stimme von León Löwenmähne aus einem unsichtbaren Lautsprecher oder Trichter.
„Dir, Lunera Tinerfeño, so wie allen, die das hier mitzuhören haben, brülle ich meine ganze Wut entgegen. Ihr habt unsere Bruderschaft sowas von niedergemacht und sowas von verraten, dass einem Eierkopf wie Fino sicher die richtigen Worte gefehlt hätten. Aber ich bin ein frei heraus textender Bursche und sage wie ich fühle. Ihr in den tiefsten Krater vom Teide oder Popocatépetl geworfenes Ungezifer seid ab jetzt, wo ihr diesen letzten Brief von mir auf die Ohrenkriegt, keine Mondgeschwister mehr. Zong!! Ihr seid jetzt Mondschatten, welche, die unsere Feinde sind und daher keine Lebensberechtigung mehr haben. Wagt es nicht, eure verräterischen Nasen und andere Körperteile in unsere Reviere reinzuhalten. Dann sind die ganz schnell ab, und Geier und Maden werden ein Festmal auf euren Leichen halten. Wenn einer von meinen anständigen Brüdern eine von euch Drecknasen sieht hat er ab jetzt die Erlaubnis, euch womit auch immer abzzumurksen, plattzumachen, zu zerlegen und in den stinkendsten Dreck zu treten! So, falls dir noch nicht die Ohren vom Kopf gebröselt sind hör noch die Namen aller, die ab heute nur noch zum Zielschießen taugen …“
Er zählte alle ihm bekannten Namen auf, angefangen von Lunera, über Tara, Lorna, Maura und dann Manosana. Aber er hatte wohl nicht mehr alle Namen auf dem Schirm, dachte Hank. Denn seinen und Petes Namen sprach dieser schallgedämpfte Brüllbrief nicht aus. Am Ende tönte die Stimme noch: „Ja, und die, die ich gerade nicht auf dem Zettel habe sollen, sofern sie noch was hören können, ihre aufgezählten und damit ausgezählten Kameraden, Bettgenossen und -genossinnen mit Feuer oder Mondsteinsilber totmachen und dann zusehen, ihre nacken oder pelzigen Ärsche nach Mexiko südlich der Hauptstadt zu befördern, um vor mir und allen meinen echten Mondbrüdern und -schwestern um eine passende Buße zu bitten, wie es die Idioten machen, die bei den katholischen Pfaffen ihre Untaten ausplaudern. Wenn ich da gerade in guter Stimmung bin dürft ihr dann bei mir wohnen und arbeiten und für die Bruderschaft kämpfen, forschen, Kinder machen oder Kinder kriegen, was mir für wen von euch da einfällt. Aber eben nur wenn ihr außer einem lauten Gepiepe in den Ohren noch was anderes hören könnt. Piiiiiiiiiep!!!“
Es knarrte in der Dose. Dann leuchtete ein Symbol eines brennenden Briefumschlages auf. Dann ploppte es kurz. Mehr kam dann nicht. „Soviel zu unserem großen und klugen, worttgewandten neuen Anführer“, bemerkte Tara mit einem verächtlichen Grinsen. Auch Lunera grinste verächtlich. Pete sah Hank an und wiegte den Kopf. Dann sagte er: „Warum soll ich meinen Aaallerwertesten zu dem nach Mexiko schicken. Den brauche ich selbst und der kann mit einem losgemachten Hinterteil doch nix anfangen als ein Wettfurzen.“ Viele der Männer und vor allem der jüngeren grinsten lausbübisch, während die älteren Frauen ihn missbilligend ansahen und die Mädchen überlegten, ob sie erröten oder kichern sollten.
„Also, Ladies and Gentlemen, mein Vetter ist zwar ein richtiger Motzkopf. Und wenn der so Wutbrüller machen könnte wie den gerade mitgehörten könnte der sicher die ganze Welt taub machen. Aber wo er recht hat … Öhm, liegt denn hier überhaupt was aus diesem Mondsteinsilber rum, mit dem wir uns gegenseitig abstechen oder abschießen können. Ich meine, hier liegt genug Silberbesteck in den Schubladen, aber das kribbelt wohl nur wie unter Strom gesetzt.“
„Würdest du mich denn töten wollen und das Baby von dir gleich mit?“ fragte Lorna Hank. Dieser sah sie an und sagte: „Nicht die Bohne. Öhm, ich meine, auf keinen Fall, Baby.“
„Ich werte das mal so, dass du mit unserem Kind gesprochen hast. Das kann dir leider noch nicht antworten. Aber ich denke, es wird sehr beruhigt sein, auf die Welt kommen zu dürfen“, sagte Lorna. Alle hier lachten über diesen kurzen, ernst gestarteten und dann in ein Zugeständnis geendeten Dialog. Alle, die nicht namentlich genannt worden waren wurden nun gefragt, ob sie gehenoder bleiben, ob sie zu Mördern an ihren Mitbewohnern werden wollten oder doch noch genug Freude an ihrem eigenen Leben hätten. Darauf sagte Joel, der Privatpilot und Ex-Navy-Matrose: „Schwester Tara, selbst wenn ich der einzige wäre, der das von diesem Holbrägen geforderte Gemetzel überleben sollte weiß ich doch, dass ich selbst mit dem schnittigen Flugboot nicht heimlich genug nach Mexiko reinkomme, ohne unterwegs auch noch abgeschossen zu werden. Ja, und wenn ich da hinkommen sollte wäre ich womöglich nur noch als Latrinenreiniger und Tischabwischer eingeteilt. Neh, dafür hat sich meine selige Mum nicht den Unterleib verrenkt um mich da rauszudrücken.“ Wieder lachten die Jungen, aber jetzt auch die jungen Mädchen, ja sogar Lorna, die Hanks Kind erwartete. „Gut, dann ist das geklärt. Wir wissen jetzt, dass wir keinem der anderen Geschwister mehr über den Weg laufen dürfen, solange dieser Rohling als Anführer auftreten darf. Wir bleiben also größtenteils hier auf dem Gut. Hmm, aber vielleicht können wir was anleiern, dass dem selbst wie so ein roter Rüpelbrief um die Ohren fliegen kann. Aber näheres dazu erst, wenn ich das mit den ältesten von euch genauer besprochen habe und es möglicherweise zur Abstimmung gestellt wird. Denn eines müsst ihr euch klarmachen: Auf Dauer können wir nicht nur auf dem Hof herumsitzen. Ja, und jetzt, nachdem Luneras Tochter von uns weggenommen wurde bleibt noch, Lornas und Ediths Baby auf die Welt zu bringen und über die erste Zeit zu bringen. Falls in der Zeit noch Kinder auf den Weg gebracht werden kein Problem. Soweit die Nachricht der Neumondnacht, wie passend für Leute, die ihr Leben ganz dem Mond geweiht haben.“
„Also, dieser León hat mit dem Dünnen, also Fino, auf Leben und Tod gekämpft, mit Zauberstab?“ fragte Hank noch einmal seine Angetraute, bevor sie sich ins Bett legten. „Nein, in Wolfsgestalt, so wie es Espinados Gebote verlangen, weil er da von vom Mond erleuchtetem und getriebenem Blut spricht. Ja, dabei muss der sonst so gescheite Fino wohl einen winzigen Fehler gemacht haben, und das war sein letzter. Kann uns allen passieren. Aber die Vorstellung, dass danach ein flohhirniger Brüllbeutel der neue Anführer ist und solange den keiner neu herausfordert jeden Murks beschließen und durchsetzen kann ist sehr, sehr traurig und beängstigend zugleich. Ich kann Lunera verstehen, dass sie damals Fino lieber freiwillig den Vorsitz übergeben hat. Da wusste sie wenigstens, dass der in guten Händen ist.“
„Moment, Lorna, war das nicht so, dass Fino ähnlich wie dieser Rabioso, von dem ihr mir mal erzählt hat einfach drauf losbeißen wollte, um in jeder Vollmondnacht tausend neue Werwölfe zu machen. Wollte Fino nicht sowas ähnliches?“
„Ja, sowas in der Richtung, nur weniger wild und weniger lautstark. Lunera hofft immer noch darauf, Frieden mit allen, außer den Langzähnen zu kriegen. Das dürfte sie jetzt genauso vergessen wie León es vergessen darf, dass er aus England noch einmal Hilfe bekommt und vor allem, dass er diese ominösen Schlüssel von Espinado benutzen kann. Der Heuler zeigt nur einmal wieder, wie schnell er sich in Wut versetzen lässt und vor allem, dass er genau weiß, dass wir ihn trotzdem nicht für voll nehmen, wie es bei den Nichtmagiern heißt und dass er auch wohl bei seinen daheimgebliebenen Getreuen Punkte verspielt hat, weil er den großen Triumph verfehlt hat und mit zwei Leuten weniger zurückkam. Auch bei denen ist jeder, der oder die mitmacht wertvoll. Der hätte uns einfach nur in Ruhe lassen sollen und vielleicht auch darauf verzichten sollen, sich mit Fino zu duellieren und lieber nur für seine Hausgemeinschaft in Mexiko den großen Chef herauskehren sollen.“
„Hat er aber nicht. Aber wir sind jetzt wie Robin Hood und seine fröhlichen Gesellen. Sollen wir dann alle in Grün herumlaufen?“ fragte Hank. „Ja, und mit Pfeil und Bogen herumschießen“, lachte Lorna, bis ihr wohl jemand schmerzhaft klarmachte, dass sie zu laut und zu wackelig war. „Hei, für’n Mädchen schon ein heftiger Schlag am leib.“
„Woher willst du das wissen. Könnt ihr das riechen oder geht das über Klicklaute gegen den Bauch und ich höre, ob das Kind ein Pipimännchen oder ein Pipidöschen hat?“
„Nein, noch weiß ich nicht, ob das zweite Kind von uns auch ein Junge wird. Aber es gibt magische Einblickspiegel, mit denen einer werdenden Mutter in den Bauch geguckt werden kann, ohne den aufschneiden zu müssen. Hat Rosalba, die früher Manosana hieß sicher noch mit in der Heilertasche, die sie nach ihrer Mondweihe behalten hat. Immerhin schön, dass Tara nicht noch mal als Hebamme einspringen muss“, erwiderte Lorna McRore. Die Nachnamen hatten sie beide behalten, weil sie ja nicht standesamtlich oder kirchlich verheiratet waren, sondern schlicht durch einvernehmlichen Geschlechtsverkehr.
„Was meinte Tara mit etwas, das noch mit den älteren besprochen werden muss und dass es diesem Brülllöwen um die Ohren fliegen könnte?“ wollte Hank wissen.
„Hmm, ich bin jetzt mal biestig und sage, wenn meine Schwester will, dass jeder es gleich weiß brüllt sie es durch die Gegend. Ich wurde auf jeden Fall noch nicht zu so einer Beratung eingeladen, wohl weil ich gerade was Kleines im Bauch habe. Das könnte mir als eine gewisse Befangenheit ausgelegt werden, ob ich mit Schwangerschaft genauso entschieden hätte wie ohne.“ Das sah Hank Mosley ein. Er wünschte seiner Frau eine gute Nacht. Denn draußen war ja gerade Neumond, die Zeit, wo sie am wenigsten unruhig waren.
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Es war der 5. August, als der mexikanische Zaubereiminister erfuhr, dass die Familienoberhäupter der Fuentevivas und Torrealtas sich bereiterklärt hatten, zwei Drittel aller ihrer Besitzungen und Goldvorräte an das Ministerium abzuführen, um sich eine schmachvolle Wiederverjüngung ohne Gedächtnis zu ersparen. Die schwarze Pyramide stand seit dem 7. Juli unter einer mehrfachen unsichtbaren Sperrglocke und zudem in alle Haupthimmelsrichtungen wirkenden Ich-seh-nicht-recht-Zaubern, damit zufällig in der Gegend herumkreuzende Nomagos die unnatürlich große, öde Lichtung im Urwald nicht zur Kenntnis nahmen, sondern eher ein besonders dicht zusammengewachsenes Unterholz zu sehen vermeinten.
Bei der Unterredung mit den Vertretern der indigenen Hexen und Zauberer hatte er versucht auszuloten, wer zur „helfenden Hand“ gehörte. Dabei mussten er und Sicherheitsleiter Montebravo höllisch aufpassen, keinen gezielt zu verdächtigen. Des weiteren hatten sie den Sprechern der neuen Gesellschaft für präkolumbianische Magie klarmachen können, dass sie die schwarze Pyramide gegen jeden Zugriff absichern mussten, da es sich erwiesen habe, dass durch die weltweit wütende Welle dunkler Zauberkraft vom 26. April 2003 internationaler Zeitrechnung unberechenbare Kräfte in der Pyramide entfaltet wurden. Wer meinte, diese beherrschen zu können mochte diesen am Ende selbst zum Opfer fallen. Es hatte zwar erst ein wildes Palaver gegeben, dass sich das Zaubereiministerium damit vor der Rückgabe von alten Kultstätten und Artefakten drücken wollte. Doch nach einer Beratung in einem Klangkerker waren die Vertreter der indigenen Völker Mexikos herausgekommen und hatten einhellig zugestimmt, auf die schwarze Pyramide zu verzichten.
Was ihm noch immer Sorgen bereitete war das durch Fuentevivas Aufkaufaktion entstandene Misstrauen der Texaner und Südkalifornier. Da die Kalifornier die meisten Abgeordneten in den neuen MAKUSA hineingewählt hatten und von denen wiederum zwei Drittel eine eher kritische Haltung zum südlichen Nachbarn vertraten könnte der gesamte Kongress auf diese Leute hören und von Mexiko Zugeständnisse einfordern, die Piedrarojas Landsleuten nicht gefielen. Immerhin gehörte zu dem, was die Fuentevivas an das Zaubereiministerium abtreten mussten an die zweitausend römische Quadratmeilen Land in Texas. Dieses Land würde Piedraroja gegen die Einwände seines Schatzmeisters dem MAKUSA überschreiben, damit der die dort noch wohnenden Leute mit kostenlosen oder wenig kostenden Grundstücken versorgen konnte. Womöglich konnte er auf diese Weise schon mal gutes Wetter machen, wenn er sich mit der neuen Präsidentin und dem kanadischen zaubereiminister ttraf, um einen ergänzenden Nachbarschaftsvertrag zu vereinbaren, der weitestgehenden Freihandel zusicherte. Allerdings würden die Gringos wohl nicht auf ihre Ausfuhrverzögerung eigener Produkte verzichten. Aber wer weiß. Vielleicht ging da ja noch was.
Seitdem die Wogen zwischen den spanischstämmigen und indigenen Bewohnern Mexikos geglättet waren hatte sichLa Mano Ayudante zurückgehalten. Dennoch hatten Montebravo und andere darauf bestanden, Hinterleute und Absichten dieser Gruppierung zu ermitteln, wohl auch wegen dem, was Margarita Elena schon zu ihrem Mann gesagt hatte. Der Stachel der Fremdbestimmung durch Vita Magica und dann Ladonna Montefiori saß noch sehr tief und schmerzhaft in den Seelen der Betroffenen. Montebravo hatte es bildhaft formuliert: „Wir hören das Brodeln des Kessels, aber sehen nur dichtesten Dunst. Solange wir nicht wissen, was im Kessel brodelt sollten wir nichts daraus trinken.“ Tja, hätte der gewusst, was Piedraroja tun musste, um den Bluteid der grauen Brüder abzuschütteln. Das hätte sowas von gepasst.
Am 7. August bat Montebravo um eine Dringlichkeitssitzung mit dem Zaubereiminister. Der wusste auch warum. Sicher hatte Montebravo ebenfalls Post erhalten.
Die beiden ranghohen Vertreter der mexikanischen Zaubereiverwaltung trafen sich in Piedrarojas Büro. Er errichtete einen Klangkerker und setzte auch den Fernbeobachtungsabwehrzauber in Kraft.
„Also, Argo, was drängt dich?“ fragte der Minister, in dieser kleinen Runde die kameradschaftliche Anrede gebrauchend. „Das hier“, knurrte Montebravo und zog einen offenen Umschlag aus seiner stoß- und feuerfesten Aktentasche hervor. Piedraroja erkannte sofort die smaragdgrüne Hand auf kreisförmigem gelben Hintergrund. Er nickte. „Also du auch. Habe ich mir schon gedacht“, sagte der mexikanische Zaubereiminister.
„Ja, und wieder ist das Ding mit einer Druckvorrichtung hergestellt worden, dass der Verfasser oder die Verfasserin nicht zu enthüllen ist“, sagte Montebravo. „Ja, und ist der an dich geschickte Brief auch spiegelverkehrt gedruckt worden?“ fragte Piedraroja. „Womöglich ist außer der Anrede alles an diesem Schrieb identisch“, knurrte Montebravo. Piedraroja nickte.
„Steht bei dir auch drin, dass es uns sehr unangenehm wird, wenn wir unsere „angeworbenen Agenten“ innerhalb der indigenen Volksgruppen weiter danach suchen lassen, wer alles zur sogenannten helfenden Hand gehört?“ fragte Montebravo. Piedraroja bejahte das. „Ich bin zwar kein ängstlicher Feldhase, der sofort wegrennt wenn jemand laut „Peng!“ ruft. Aber ich habe die verdammte Befürchtung, dass die uns ziemlich übel drankriegen können, wenn wir echt nachbohren, wer dazugehört. Meine Augen und Ohren bei den Indios warnen überdeutlich vor Ritualzaubern, die ähnlich wie Voodoo nur ohne Nadelpuppen funktionieren und dass wir nur solange frei handeln können, wie wir denen nicht hinterherschnüffeln.“
„Mir drohen sie an, die mir und damit dem Ministerium geleistete Hilfe zurückzunehmen und unsere Administration vollkommen handlungsunfähig zu machen, wenn wir uns nicht zurückhalten. Außerdem hätte ich durch die Annahme eines Hilfsangebotes bekundet, eine Gegenleistung zu erbringen, so sie denn von mir gefordert würde. In diesem Fall ist die Gegenleistung die vollständige Unantastbarkeit aller Mitglieder der sogenannten helfenden Hand, auch wenn wir nicht erfahren, wer dazugehört. Ach ja, und dass die mir gewährte Hilfe doppelt bis vierfach zurückgefordert werden könne, wenn ich mit dir und den anderen nicht umgehend eine Erklärung vereinbare, dass La Mano Ayudante als völlig autarke Gruppe mit eigener Gesetzgebung geführt wird, also quasi das, was Torrealta und Fuenteviva auf mexikanischem Hoheitsgebiet ergaunern wollten“, erwiderte Piedraroja.
„Und was sagen wir und vor allem wem, damit es auch da ankommt, wo es hin soll und auch so, dass die von Weißen abstammenden Mexikaner sich nicht auf alle zehn Zehen getreten fühlen?“ fragte Montebravo missmutig.
„Also, den Weißen und halbindigenen Mexikanern sagen wir besser gar nichts. Also keine Presse. Was die Autarkie angeht können wir die ja nur denen gewähren, die nachweislich auf unserem Hoheitsgebiet leben. Internationale Gruppen unterliegen internationalen Übereinkünften, zum Beispiel der, sich an das internationale Geheimhaltungsgebot der Zauberei und die Einhaltung der Unversehrtheitsgesetze der Magischen Weltgemeinschaft zu halten. Wenn La Mano Ayudante sich nicht daran gebunden fühlen will könnten wir deren Existenz und unbekannten Beweggründe zum Gegenstand globaler Beratungen machen. Also sollen die beweisen, dass sie sich aus rein mexikanischstämmigen Mitgliedern zusammensetzen“, sagte Piedraroja.
„Das wird denen nicht schmecken, Andrés“, raunte Argo Montebravo. „Das liegt bei denen, ob sie auf völlige Unantastbarkeit beharren oder lieber weiter in Deckung bleiben wollen. Sollte uns was passieren, Argo, so wird das öffentlich gemacht, wer dahintersteckt. Dann wird erst recht nach denen gesucht“, sagte Piedraroja. Er überlegte: „Das könnten wir dann auch in die Suche nach der eindeutig internationalen Bruderschaft des Mondes und die sowieso laufende Suche nach Anhängern dieser Vampirsekte einfließen lassen.“
„Ui, das wäre aber sehr heftig, Andrés. Denn dann würdest du die ja in denselben Topf werfen wie beißwütige Mondanheuler und blutdurstige Bleichgesichter. Willst du das echt?“
„Ich nicht und die sicher auch nicht, Argo. Aber was ich eindeutig nicht will ist, dass mal wieder wer international tätiges meint, unser Land sei wie eine pflückreife Frucht oder er oder sie habe die Frucht schon gepflückt“, erwiderte Andrés Piedraroja. Argo Montebravo stimmte ihm da vollkommen zu. „Also, ich berufe mich auf die Gesetze, die nur solchen Gruppen Autonomie oder Autarkie zubilligen können, die auch in meinem Zuständigkeitsbereich bestehen. Ist auch nur einer aus Guatemala, Peru oder noch weiter südlich dabei gelten die erwähnten internationalen Zuständigkeiten.“
„Ja, mach es besser so, dass die nicht meinen, wir wollten sie mit den aufmüpfigen Werwölfen oder fanatischen Vampirgötzinnenanbetern gleichsetzen!“ sagte Montebravo. Piedraroja meinte erst, sich verhört zu haben. Doch dann fiel ihm ein, dass Montebravo wesentlich mehr von möglichen Auswirkungen indigener Magie wusste als er. Allein das, was er schon davon mitbekommen hatte reichte aus, vorsichtiger zu sein.
„Wo wir schon mal so schön zu zweit hier sitzen, Andrés. Es könnte sein, dass die Lykos und die Langzähne versuchen, ihre Agenten bei uns einzuschleusen, um uns von innen her lahmzulegen. Ich erfuhr, dass es mal einen Stützpunkt der Mondbruderschaft in Mexiko gegeben haben soll oder es ihn immer noch gibt, aber jetzt halt besser getarnt. Falls das stimmt, dann haben diese Pelzwechsler ein sehr großes Interesse daran, uns kleinzukriegen“, warnte Montebravo. „Hast du konkrete Hinweise oder gar Verdächtige?“ fragte Piedraroja. „Bisher noch nicht, und ich will auch keinen schlafenden Drachen kitzeln. Doch wir sollten unsere Sicherheitsmaßnahmen gegen Werwölfe und portschlüsselnde Vampire verbessern.“
„Argo, ich fürchte eher, die werden sich an einflussreiche Unternehmen und außerministerielle Institutionen wie die Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse und gefährliche Wesen halten, um uns zu unterlaufen, weil die wissen, dass wir genug Ortungsmittel haben um ihre aktiven Mitglieder zu entdecken, sobald die in unsere Räumlichkeiten eindringen. Ja,und was die Gesellschaft gegen dunkle Vermächtnisse angeht denke ich, dass die schon längst damit rechnen, von der einen oder anderen Feindesgruppe ausspioniert oder gar unterwandert zu werden. Wir müssen nur aufpassen, dass wir denen nicht all zu viel Bewegungsfreiheit im Ministerium lassen.“
„Gut, dann schreibe mir eine Generalvollmacht, dass ich jeden Besucher, Antragssteller oder bestellten Reparaturthaumaturgen gesondert prüfen darf und wir eine Beschränkung von Außenstehenden pro Stunde auferlegen, um jedem Außenstehenden je nach erkannter Risikostufe einen bis drei getarnte Begleitpersonen zuteilen zu können, die auch mit in die Besuchertoiletten gehen dürfen“, sagte Montebravo. Piedraroja überlegte. Das würde einen sehr drastischen Eingriff in die Bewegungsfreiheit und Intimität von Besucherinnen und Besuchern bedeuten und zudem noch mehr Personal benötigen. Er sagte:
„Die Vollmacht kann ich dir nicht geben. Ich kann dir höchstens erlauben, die Notstandsregel drei zu nutzen, die besagt, dass die Zahl von nicht im Ministerium tätiger Hexen und Zauberer auf die Hälfte bis ein Viertel pro Tag reduziert werden kann und kann dir für unseren Goldhüter eine Ministeranweisung ausstellen, die Ortungsmittel für Werwölfe und Vampire zu verdreifachen. Gegebenenfalls klärst du das mit dem Kollegen aus der Zauberwesenabteilung, ob er sich auf diesenAntrag mit draufsetzt. Aber das mit den unsichtbaren Begleiterinnen und Begleitern kann und will ich so nicht erlauben, Argo. Denn glaube es mir, irgendwann kommt das raus, und dann stehen wir beide vor unserem Rat der Richter wegen Einschränkung der Personenfreiheit ohne akute Notlage, Generalverdächtigung und Eingriff in die Intimsphäre von unbescholtenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Nicht alles, was erst supertoll aussieht ist auch so, Argo.“
„Dann wundere dich nicht, wenn doch mal eine Werwölfin auf dem Klo eine bis dahin unverfluchte Hexe beißt oder wenn diese Vampirgötzin ihre Leute als Reparaturtrupp tarnt und unsere Sicherheitsvorkehrungen sabotieren lässt“, grummelte Montebravo.
„Argo, solange wir keine konkreten Verdachtsmomente haben oder damit rechnen müssen, direkt angegriffen zu werden sollten wir was Freiheitsbeschränkungen angeht ganz vorsichtig sein. Wir haben lange genug für Ladonna Montefiori Leute unterdrückt. Wenn wir nur eine Freiheit beschränken ist der Aufschrei sehr laut. Also können wir nur da Beschränkungen machen, wo unser Hausrecht das erlaubt. Mehr geht nicht“, erwiderte Piedraroja.
„Womit wir wieder bei der sogenannten helfenden Hand sind, Andrés. Die könnten sich öffentlich darauf berufen, dass wir aus purem Misstrauen die Bewegungsfreiheit und Selbsbestimmung von indigenen Zaubererweltmitbürgern einschränken. Vielleicht sollten wir einfach klären, dass wir keine Hilfe mehr von denen haben möchten und dafür darauf verzichten, mehr über deren Organisation zu erfahren“, sagte Montebravo. Piedraroja überlegte kurz, ob Argo jetzt eingeschüchtert oder weise herüberkam. Dann sagte er: „Gut, wir machen folgendes: Wir beenden alle heimlichen oder offenen Ermittlungen gegen die Mitglieder der helfenden Hand und lassen über unsere Kontakte zu den indigenen Gruppen mitteilen, dass wir solange stillhalten, wie die Gruppierung sich ebenfalls zurückhält, also nicht wie bei den Fuentevivas und Torrealtas unmittelbar in laufende Auseinandersetzungen eingreift oder sonst wie meint, uns helfen zu müssen. Die haben im Grunde bekommen was sie wollten. Dann sollen sie es dabei belassen. Gegenseitiges Stillhalten, Argo.“ Montebravo überlegte kurz und sagte: „Ich gebe das an die von mir geführten Agenten weiter, dass sie sich zurückziehen sollen und dass wir davon ausgehen, dass es keinen Grund gibt, auf weitere Aktionen der selbsternannten helfenden Hand angewiesen zu sein und wir daher eben nicht wissen müssen, wer dazugehörte. Ja, wir tun so, als hätte sich diese Organisation erledigt, was ihre Ziele angeht. Vielleicht kommt es dann auch so.“ Piedraroja nickte heftig. Ja, so konnten und wollten sie beide es hinstellen, allerdings ohne Pressegetöse und öffentliche Debatten im Ministerium.
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Am 15. August verfolgten die Latierres über die Armbandverbindung mit Julius‘ Mutter die feierliche Konstituierung des neuen MAKUSAS. Es war im Grunde wie bei den Nichtmagiern, wenn ein neuer US-Präsident den Amtseid leistete. Viel vor allem mit Blechblasinstrumenten gespielte Musik, drei Hymnen aus der Zaubererwelt über „Das Land, wo Himmel und Erde die Freiheit gewähren“, dann wurden alle gewählten Mitglieder in alphabetischer Folge ihrer Nachnamen aufgerufen, den Amtseid zu leisten. Zum Schluss, als „Zuckerman, Eunice“ in einem Julius‘ fremden Regionalakzent den Eid auf das neue Manifest der magischen Gemeinschaft der USA geleistet hatte wurde „Madam President“, Godiva Cartridge zum Tisch des neuen höchsten Richters des Zwölferrates gebeten. Der Radioreporter, der das Ereignis für die Hörerschaft einfing und kommentierte flüsterte: „Die neu gewählte Präsidentin schreitet würdevoll in ihrem hoffnungsvoll grünen langen Kleid über den goldenen Teppich zum schwarzen Richtertisch hinüber. Der oberste Richter Ernest Pancras Southerland begrüßt die neue Präsidentin und lässt sie ihre rechte Hand auf die Schriftrollen und die Linke an den Stein des Tisches legen.
„Bitte sprechen Sie mir nach!“ setzte der Richter an. „Ich, Godiva Isobelle Adelaide Cartridge“, die neuerwählte Präsidentin wiederholte es, „schwöre auf den Stein des ehernen Rechtes und die erhabenen Rollen der magischen Rechtsordnung, … dass ich das mir verliehene Amt … nach bestem Wissen und Gewissen ausüben, … die magischen Gesetze unserer Gemeinschaft achten und befolgen … sowie ihre Achtung und Befolgung im Hoheitsgebit der USA wahren werde … jeden menschen mit magischen Kräften gleichwertig achten und Gerechtigkeit gegen ihn üben werde … Ich schwöre es, bei der Unversehrtheit meines Leibes und meiner Seele.“ Nachdem die neue Präsidentin auch diesen ohne einen bestimmten Gott auskommende Abschlussformel gesprochen hatte sagte der Richter: „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Amt und wünsche Ihnen alles gute und eine sichere Hand und einen kühlen Kopf bei dessen Ausübung. Gratulation, Madam President!“ Aus dem Publikum erscholl stürmischer Beifall und Jubelgeschrei. Das Orchester spielte dreimal einen kräftigen Tusch. Die Ungewissheit, wie die Zauberergemeinschaft der Staatenunion geführt werden konnte war vorbei. Die Störmanöver, ja ernsthaft lebensgefährlichen Sabotageanschläge hatten das nicht verhindert. Sicher, jetzt konnte noch ein durchgedrehter Attentäter zuschlagen. Doch der oder die mochte im nächsten Augenblick tot zu Boden fallen.
„Tja, soweit zur Frage, wer es in diesem Land richten soll, ihr alle“, sagte Martha Merryweather. Dann habt ihr es sozusagen live mitbekommen.“ Millie, Béatrice und Julius bejahten es.
Wie üblich feierten sie am sechzehnten August den Geburtstag von Callie und Pennie Latierre. Eigentlich gehörten die Zwillingsschwestern Sabine und Sandra Montferre auch dazu. Doch die spielten ja noch in der französischen Nationalmannschaft im fernen Indien.
Auch Temmie sprach Julius gut zu, das richtige getan zu haben. Auch im Alten Reich hatte es Fälle gegeben, wo wahnhaften Eltern oder schwer von Rauschmitteln abhängigen das Kind oder die Kinder fortgenommen werden mussten. Auch erwähnte sie, dass sich die von einem bösen Zauber getriebenen sicher bald mit ihren eigentlichen Feinden schlagen würden, den Kindern der Nacht und den Erben von Kanoras, dem Schattenträumer. Julius konnte das nicht ausschließen.
Am 20. August reiste Béatrice in Richtung Greifenberg ab. Sie trug unter ihrem mintgrünen Reiseumhang jene nützliche Unterwäsche, die ihre weiter voranschreitende Schwangerschaft verbarg. Antoinette, Hera und sie hatten vereinbart, dass die kleine Chloris erst einmal nur eine Angelegenheit für die französische Heilerzunft bleiben sollte. Hera hatte ihr jedoch einen schmalen silbernen Ring mitgegeben, in dem ein grüner Stein eingefasst war. Auch wenn sich magische Heiler nicht hemmungslos betranken konnte es doch sein, dass sie mit den in Greifenberg zusammenkommenden Kolleginnen und Kollegen mit Wein oder Met anstoßen mochte. Der Ring konnte bei Berührung eines Trinkgefäßes den darin enthaltenen Alkohol in harmloseren Traubenzucker umwandeln. Met würde für sie dann eben wie noch süßerer Honig schmecken und Wein wie gesüßter Traubensaft.
„Sollte was wegen des Kindes sein enthülle deinen Zustand, anstatt dein Kind weiter zu gefährden!“ ermahnte Hera Matine die jüngere Kollegin noch. Diese antwortete: „Im Zweifelsfall sind genug Heilerinnen da, wie Bethesda Herbregis … und Aurora Dawn.“
„Wenn sie es schafft, die kleine Rosey bei ihren Eltern oder ihrer Tante June zu parken“, erwiderte Julius frech. „Das hätte sie uns schon gesagt, wenn sie die Kleine bei uns hätte unterbringen müssen, Julius Latierre“, entgegnete Béatrice verkniffen grinsend. Dann entzündete sie ein Feuer im Kamin. Sie warf Flohpulver hinein. Augenblicklich färbten sich die Flammen smaragdgrün um und wuchsen zu einer den ganzen Kaminraum ausfüllenden Feuerwand auf. Béatrice kletterte mit ihrem rauminhaltsvergrößerten Reiserucksack und ihrer an der linken Seite hängenden Heilerinnentasche behände auf den Rost, als sei sie wirklich nicht schwanger. Dann rief sie „À la frontière!“ Mit einem lauten Rauschen wie ein durch den Kamin rasender Schnellzug verschwand die zweite Heilerin von Millemerveilles im grünen Feuer. Die Flammenwand blieb noch einige Sekunden bestehen, dann fiel sie leise fauchend in sich zusammen, bis ein kleiner Rest normalen, orangerot knisternden Feuers zurückblieb
„ich hoffe, Hera, du bekommst nicht doch noch Ärger, weil du das mit Béatrice gewusst hast“, raunte Julius seiner Ausbilderin in magischen Hilfsmaßnahmen zu. „Es ist mit Antoinette abgestimmt, dass wir im Zweifelsfall darauf verweisen, dass wir wegen des Nachbarschaftsfriedens in Millemerveilles kein Aufheben um Béatrices und dein Kind machen. Es gibt auch so schon genug gerede wegen euch dreien oder Laurentine und Louiselle.“
„Oha, nachher meinen die auf ihre Traditionen beharrenden Bürgerinnen und Bürger, wir dürften hier nicht mehr wohnen, weil wir deren Familienbild in Frage stellen“, unkte Julius. „Das darfst du aber glauben, dass ich in so einem Fall meine eigene Residenz in Millemerveilles in Frage stelle, sollte irgendwer nach allem, was ihr drei und auch Laurentine hier geleistet habt hier nicht mehr erwünscht sein. Ja, und Camille und Florymont werden dem sicher auch entgegenwirken. Ich habe es nur erwähnt, um nicht zusetzliches Öl ins Feuer zu gießen“, erwiderte Hera Matine.“ Julius hätte fast „Danke für die Warnung“ geantwortet. Doch das könnte Hera doch in den falschen Hals bekommen.
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Die Träume waren ausgeblieben. Die ägyptische Sonnenbrosche hatte es offenbar bewirkt. Als Nightpaw dann am vierten Tag vor Neumond von León del Fuego in den Versammlungsraum gerufen wurde dachte Nightpaw erst, dass er mit ihm alleine sprechen wollte. Doch als er eintrat traf er die fünf verbliebenen höchsten Mitglieder der Fortaleza-Luna-Ascendienda-Gemeinschaft an. León saß auf dem von ihm angefertigten, thronartigen Sessel und winkte ihm energisch zu, vor ihn hinzutreten.
„Dein alter Herr, Old Nightheart, hat mir über die von meinem Vorgänger erhaltene Verbindung eine Aufforderung geschickt, dich in der nächsten Neumondnacht zu einer von ihm einberufenen Familienzusammenkunft hinzulassen. Der hat mich allen Ernstes aufgefordert, so als wenn er allein darüber bestimmt, zu wem du gehörst. Kann es sein, dass dein Vater den Eindruck hat, er hätte dich nur an uns ausgeliehen? Falls ja, woher hat er das denn?“
„Weil Fino das vor einem Jahr mit ihm ausgehandelt hat, dass einer der Winterborn-Mitglieder, einer der großen Nachtwölfe, als Verbindungsstelle zwischen der Mondbruderschaft und unserer Familie erwünscht war“, sagte Mitch Winterborn alias Nightpaw. „Mein Vater hat sich durch das in der Nacht vor Vollmond in den Loch Maree ergossene Blut der beiden bestätigen lassen, dass ich solange bei Fino und seinem Nachfolger als Verbindungsbruder bleibe wie mein Vater keine Verwendung in seinemStammsitz hat. Wenn er eine Versammlung haben will, bei der alle Familienangehörigen da zu sein haben ist das verbindlich“, sagte Nightpaw ruhig. Er hatte ja damit gerechnet, dass León eine Einberufung ablehnen mochte.
„Zur Mondfinsternis, das habe ichin Finos Handschriften auch so gefunden, dass er dich von deinem alten Herren nur einhandeln konnte, wenn ihr dafür den LNT bekommt und wenn dein alter Herr nichs anderes für dich zu tun hat, weil du der beste Melokünstler von denen bist und daher gut für Fernverständigungen. Doch, Chiquito, wer bei uns in der Bruderschaft ist, und durch den Bluteid bei Vollmond hast du dich Fino verdingt, bist du jetzt auch mir unterstellt, weil ich Finos Erbe bin, verstanden. Das heißt, solange von eurer Sippe noch mehrere im Auftrag der Mondbruderschaft unterwegs sind hast du mir jederzeit ohne Umweg über magische Hilfsmittel zur Verfügung zu stehen. Da wir nicht wissen, ob du nicht bald schon mit deinen Cousins oder der einen Cousine Verbindung aufnehmen musst erhebe ich den Anspruch, dich hierzubehalten, auch wenn dein Vater meint, du wärest nur eine Art Leihgabe.“ Die hier anwesenden Mitbrüder grinsten. „Und dann noch seine Begründung, dass er Angst hat, die Nachtschattenübermutter könnte nach dem Verschlucken deiner Brüder meinen, ihr würdet ihr besonders gut schmecken und müsste deshalb auch alle anderen in sich reinstopfen klingt nicht echt nach einer eindeutigen Notlage“, sagte León noch. „Deshalb bleibst du hier bei uns. Basta! Wenn dein alter Herr das anders sieht ist es nicht mein Problem. Er ist ja noch keiner unserer Mitbrüder. Ihm steht es aber frei, nach Mexiko zu kommen und sich von Palón abholen und herbringen zu lassen. Vielleicht will er ja jetzt, wo er weiß, dass der LNT demnächst alle ist selbst alle seine Söhne und neffen zu unseren Mitbrüdern machen und selbst beitreten.“
„Oberster Bruder León del Fuego, du solltest Finos Aufzeichnungen noch einmal genauer lesen“, begehrte Nightpaw auf. „Das ich hier bei euch bin, solange mein Vater dies erlaubt ist mit Blut beeidet worden. Der Mond und der Loch Maree sind Zeugen dieses Handels. Wenn mein Vater befiehlt, dass ich zu dieser Versammlung hingehe verbietet er ja gleichzeitig, dass ich hierbleibe. Damit ist mein Hiersein nicht mehr erwünscht, weder nach dem Bluteid noch nach seinem Willen. Ja, und wir Winterborns sind ein in ganz Britannien geachteter Clan. Selbst Greybacks Getreue haben unsere Reviere respektiert und unsere Entscheidungen hingenommen. Du wirst mich wohl gehen lassen müssen, León del Fuego. Denn wenn ich meinem Vater nicht gehorche wird er mich aus der Familie verbannen, was mich für euch wiederum wertlos macht. Wenn ich aber zu ihm hingehe und noch dazu etwas von dem Trank mitbringen kann wird er sicher schätzen, wie wichtig die Beziehung zwischen seiner Familie und der Bruderschaft ist. Du wirst also mehr gewinnen, wenn du mich zu dieser Versammlung hinschickst.“
„Wieso glaubt ihr Engländer und Schotten alle, mir nach Belieben auf der Nase herumtanzen zu können? Erst diese widerwärtigen McRoree-Schwestern und jetzt noch deine Sippschaft, nur weil die sich für stärker und ausdauernder hält als die meisten anderen Mondgeweihten. Wenn er sich wirklich von dieser Schattenschlampe bedroht fühlt soll er darum bitten, dass er und seine ganze Familie in die Bruderschaft aufgenommen werden. Dann können und werden wir ihm regelmäßig den LNT geben, ihn in den Verstecken unserer Gemeinschaft verbergen, statt dass er sich vor diesem fleischlosen Flittchen und den Blaulichtbanditen verstecken muss. Also soll er herkommen und mir denselben Eid schwören, den du geschworen hast, als Fino dich auf die Mondlichtungsinsel mitgebracht hat!“
„León, du willst nicht, dass mein Vater ein vollwertiger Mondbruder nach Espinados Vorgaben wird. Denn wenn er ein solcher Bruder wird darf er dich im nächsten Jahr herausfordern. Wie gesagt, willst du nicht wirklich, León.“
„Woher willst du wissen, was ich will, ohne das ich dir das sage?!“ brüllte León und erbebte. „Was ich auf jeden Fall will ist, dass du und deine Anverwandten die alten Mondaufzeichnungen findet, die in Afrika sind und dass ihr rauskriegt, wo genau diese vermaledeiten Töchter des reinen Mondes hausen, die Finos mir anvertrauten Sohn entführt haben. Ich werde das nicht auf mir sitzen lassen. Also brauche ich dich und deine Anverwandten, verstanden?!“
„Abgesehen davon, dass es lauter als nötig war habe ich dir gerade gesagt, dass diese von dir so erwünschte Verbindung nur dann weiterbesteht, wenn ich der Aufforderung meines Vaters folge und zu seiner Familienzusammenkunft hingehe. Mache ich das nicht gilt das als Missachtung des Clanältesten. Ja, und in meinen Adern fließt Winterborn-Blut, das mich verpflichtet.“
„Du willst uns also verlassen, obwohl ich gerade gesagt habe, dass ich dich nicht gehen lassen kann?“ fragte León nun mit einer unheilvoll leisen Stimme. „Du wirst nicht gegen mich kämpfen oder mich hinterrücks töten, wie du es mit Alejandro versucht hast“, erwiderte Nightpaw. In beiden Fällen hättest du unseren Clan gegen dich persönlich und alle deine Nachkommen, ob schon geboren oder noch im Mutterleib“, erwiderte Nightpaw ruhig und blickte die im Hintergrund sitzende Bocafina an. Ja, und was die McRore-Schwestern angeht, der alte Keith McRore hat mit meinem Großvater Old Nightgazer Blutsbrüderschaft geschlossen, will sagen, dass deren und meine Familie uns gegenseitig nicht bekämpfen oder das Revier streitig machen dürfen. Also, oberster Bruder León del Fuego, wenn mein Vater wirklich nach mir ruft muss und werde ich hingehen, wo immer er mich hinruft, selbst wenn es in den Pfuhl der mondlosen Nächte ist, was ihr Katholen die Hölle nennt.“
„Ich bin nicht katholisch. Mein Großvater hat diesem Verein noch angehört. Aber ich bin da nicht drin“, knurrte León. Dann deutete er auf die Tür. „Gut, León, du kennst unsere Regeln. Wer einen Befehl des Anführers vor Zeugen verweigert darf von ihm getötet werden. Wenn du jetzt das Haus verlässt und nicht sofort wieder bei mir erscheinst, wenn ich nach dir rufe, bist du ein Monndschattensohn und darfst von jedem meiner Mitbrüder getötet werden, wenn du dich von ihm sehen lässt.“
„Ach, du willst mich nicht selbst töten, León? Laut der Gebote Espinados steht es dir doch zu, einen widersetzlichen Bruder vor Zeugen zu töten, damit die Achtung des Anführers wiederhergestellt wird. Ach, stimmt, du hast ja den Dolch des rastlosen Jägers verloren, den Fino eigentlich ganz sicher weggesperrt hat.“ Wieso Nightpaw so unverfroren sprach wusste er selbst wohl nicht. Vielleicht kam jetzt durch, dass der Clan der Nachtwölfe sich eben doch für allen anderen Lykanthropen überlegen hielt. Doch war der es auch im Bezug auf diese Nachtschattenfurie? Im Grunde bbrauchten sie ja die neuen Waffen, um gegen Vampire und diese fleisch- und blutlosen Biester zu kämpfen. Nur die Bruderschaft des Mondes hatte diese Waffen hergestellt. Aber das Blut des Clans forderte, dass das Wort des Clanobersten Gesetz war. Und weil Nightgazer vor fünf Jahren im Alter von hundert Jahren zum letzten mal eingeschlafen war war das eben Old Nightheart, sein Vater.
„Entweder, du schwörst mir Stein, Blut und Bein, dass du weiterhin hier in dieser Gemeinschaft bleibst und jederzeit zu mir kommst, wenn ich rufe, oder du gehst ohne einen Teil von Habe durch diese Tür und von Puñazo begleitet durch die Haustür hinaus. Dann hast du bis zum Neulicht des nächsten Mondes Zeit, dieses Land zu verlassen. Findet dich danach noch wer von meinen Leuten, bist du tot.“
„Der Brauch sagt, dass ich mit allem die Bruderschaft verlassen darf, was ich am Leibe trage, richtig?“
„Nicht unbedingt. Wenn ich denke, dass du was bei dir hast, was nur einem ordentlichen Mitbruder gehören darf ziehst du dich aus und gehst nackt da raus“, sagte León.
„Hast du keine Angst, Madrugadiña oder gar deine Angetraute könnten Gelüste bekommen, wenn sie einen strammen britischen Mondgeweihten ganz ohne Kleidung am Körper sehen?“ fragte Nightpaw. Die zwei erwähnten Mondschwestern verzogen ihre Gesichter.
„Du wirst mir also nicht den Eid der unverbrüchlichen Treue auf mich als deinen einzig wahren Anführer schwören?“ knurrte León. „Nein, mein Blut verbietet das. Mein Clanhäuptling ruft, und sein Ruf gilt“, sprach Nightpaw es nun unmissverständlich aus.
„Dann sieh zu, dass du bis zum ersten Licht des nächsten Mondes vom amerikanischen Kontinent herunter bist! Oder beim Urvater der Mondgeweihten, du wirst nicht mehr lange zu leben haben. Ach ja, und deinem Vater darfst du noch ausrichten, dass die Übereinkunft wegen des LNTs beendet ist, da ja keiner von seinen Clanssöhnen mehr in der erhabenen Bruderschaft des Mondes ist. Der wird ja nicht auf den Gedanken kommen, das Zaubereiministerium in London anzupumpen.“
„Das werde ich ihm ausrichten, León del Fuego. Hoffe nur darauf, dass die Gefahr mit den Nachtschatten sich nicht auf alle Mondbrüder erstreckt, sondern nur auf uns Nachtwölfe beschränkt. Am Ende findet sie die magische Lebenskraft von Zweigestaltlern wohltuender als die von Eingestaltlern.“
„Puñazo, bring ihn raus und bring mir anschließend seine Kleidung. Seinen Zauberstab kann er behalten, damit ihn nicht gleich wer von Piedrarojas Ministerium einfängt und in einer Menagerie ausstellt“, knurrte León del Fuego. Puñazo nickte und stand auf. „Dann komm, Nachtwölfchen“, grummelte er. Nightpaw nickte und verließ mit ihm den Versammlungsraum.
Als sie an der Haustür ankamen sagte Puñazo: „Du hast den Jefe gehört. Klamotten runter!“
„Nein, das sind meine Sachen. Die behalte ich an“, sagte Nightpaw. „Eh, keine Augen im Kopf? Ich kann dich mal eben niederhauen und … Uuumpff!“ Nightpaw hatte blitzartig seinen Zauberstab freigezogen und dem in Menschengestalt größeren und breiteren aus nur einem halben Schritt abstand einen ungesagten Schockzauber voll zwischen Bauch und Brustkorb versetzt. Sofort fiepte der Bruderkampfalarm los, von dem León ihm erzählt hatte, wenn jemand innerhalb des Hauses gegen einen der Mitbrüder kämpfte oder gar einen Fluch ausrief. Doch das war ihm jetzt auch egal. Er rannte durch die offene Tür und lief davon. Wie weit mochte er kommen, bevor ihm wer auf den Fersen war?
„Mein Wanst“, knurrte Puñazo, als Palón und Blackface ihn an der offenen Tür fanden. Sie sahen gerade, wie Nightpaw auf die Grundstücksgrenze zurannte. „Der hat dich überrumpelt?“ fragte Palón. „Ich wollte dem klarmachen, dass der alles von sich ausziehen soll. Da hatte der wohl schon seinen mistigen Zauberstab in der Hand und mich mal eben aus den Schuhen gehauen, dieser Drecksack! Macht den alle!“
„Der Jefe sagt, der soll lebend vom Grundstück runter, damit sein Alter nicht meint, wir hätten ihn gelyncht und dann die Blutrache gegen uns ausruft“, sagte Palón.
„Ja, das war noch bevor der den Großen hier ohne einen ehrlichen Kampf auf die Bretter geschickt hat. Wenn einer einen von uns Brüdern angreift darf er getötet werden.“ Palón und Puñazo sahen den bedeutend kürzer gewachsenen Blackface an. Der sagte dann noch: „Ich kassier den und mach ihn kalt. Ich kann den Todesfluch.“
„Wenn der Jefe das befiehlt mach es“, grummelte Palón. Anders als der León total hörige Blackface hinterfragte Palón seit der missglückten Aktion auf Tenerifa viele aus dem Bauch getroffene Entscheidungen des Anführers. Außerdem wusste er, dass die Rache des Winterborn-Clans sehr grausam sein konnte. Nightpaw hatte es bereits erwähnt. Sie würde auch noch ungeborene Nachkommen dessen treffen, der sich an einem der Clansmitglieder vergriffen hatte. Wusste diese Schattenkönigin das auch? Aber die war ja schon tot.
Blackface rannte hinter Nightpaw her, der schon fast an der Grundstücksgrenze war. Er zog heimlich seinen Zauberstab und zielte auf den Fliehenden. Da strahlte von diesem urplötzlich ein so grelles Licht auf, als habe er mit der Sonne den Platz getauscht. Weil Blackfaces Augen gerade auf die Dunkelheit der Nacht eingestimmt waren traf ihn der Lichtschock wie mit glühenden Klingen an den Augen. Er stieß einen lauten Schmerzensschrei aus und fühlte, wie sein Körper aus Wut und Schmerz in die Wolfswandlung verfiel. Puñazo rannte aus dem Haus und kniff sofort die Augen zu, als er den aus sich heraus ggrell leuchtenden und einen mindestens sechs Meter breiten gelben Lichthof verbreitenden Nightpaw sah, der nun genau auf die Begrenzung zuhielt, hinter der nur noch die Eingeweihten die Hacienda sehen konnten. Die Hacienda wurde seit bald vier Jahren von einem mächtigen Zauber des Inkagottes Inti umgeben, um Vampire und Nachtschatten auszusperren. War Nightpaws grelles Licht eine Ausprägung davon?
Nightpaw selbst bekam nur mit, dass die Umgebung um ihn auf einmal viel heller zu sehen war und fühlte, wie die unter seinem Holzfällerhemd versteckte Sonnenbrosche vibrierte. Da fiel ihm wieder ein, was Fino erwähnt hatte. „Das Licht des Widerstandes blendet jeden mit feindlichen Gedanken, der oder die auf Sichtweite an den Träger herankommt. Vampire oder niedere Nachtschattenkönnten sogar getötet oder ausgelöscht werden. Wenn das Licht angeht und du nicht im natürlichen Sonnenschein herumläufst hast du gerade hundert Herzschläge Zeit, der Sicht des Feindes zu entwischen oder den Feind im direkten Kampf zu besiegen.“
Nightpaw legte es nicht auf einen Kampf an. Er lief über die Grundstücksgrenze hinweg. Dabei erbebte seine Brosche noch einmal. Um ihn blitzte es kurz weißgelb auf, und er empfand einen Wärmeschauer, der durch seinen Körper jagte. Dann war nur jenes ihn umgebende Licht da, dass ihm selbst nichts anhatte.
„Ei!“ brüllten Palón, Blackface und Puñazo, als Blackface scheinbar in einer letzten großen Lichtexplosion verschwand. „Eh, meine Augen. Ich hab da voll reingeguckt“, schnaubte Puñazo mit krampfhaft zusammengebissenen Zähnen. „Wir brauchen gleich Augenheiltropfen gegen blendendes Zauberlicht, falls noch welche da sind“, meinte Palón mit einer Mischung aus Unbehagen, Wut und heimlicher Anerkennung für Nightpaw. Er dachte sogar, dass der das seinem Vater sicher nicht erzählen durfte, dass der sich mit einem Sonnenlichtzauber gegen seine Verfolger gewehrt hatte, statt anständig zu kämpfen. Jedenfalls war dieser verwünschte Nachtwolfssohn nicht mehr zu sehen. Das lag aber sicher daran, dass Palóns Augen heftig überreizt waren und er vor lauter schwarzen Punkten und Schlieren gerade nichts in der natürlichen Nachtdunkelheit erkennen konnte.
„Dann hat Fino nicht alle Broschen verzeichnet, die er gemacht hat“, sagte León, der sich selbst die Augen reiben musste, weil Nightpaws Durchquerung der Sonnenzauberbarriere einen die ganze Hacienda überstrahlenden Lichtblitz ausgelöst hatte. Ihm war nach dem Bericht der drei ausgeschickten klar, wie Nightpaw das mit dem blendenden Licht angestellt hatte. Klar, Fino musste dem wohl eine Schutzbrosche mit altägyptischen Sonnenzaubern zugespielt haben, wohl auch um bei Nightpaws altem Herren bestes Wetter zu machen.
„Blackface, was genau an meiner Anweisung, den lebend vom Grundstück herunterzulassen hast du nicht verstanden?“ fragte León seinen Gefolgsmann Blackface. „Der hat Puñazo mit einem Schockzauber angegriffen. Da wollte ich den für bestrafen, weil kein Bruder einen anderen ohne Vorwarnung angreifen oder gar verletzen und töten darf, Jefe.“
„Oh, da wolltest du ihm den Todesfluch überbraten oder was? Klar, dass dieser Feindesblendzauber darauf angesprungen ist, als du ihn von hinten angezielt hast, du Fliegengehirn. Na gut. Der ist weg und hat mindestens eine Sonnenbrosche mitgehen lassen. Dem seine Leute können deren Magie sowieso nicht rausfinden. Wenn die ihre eingebauten Zauber verbraten hat und nicht die festgelegte Zeit in der Sonne liegt um wieder vollzuwerden sind das nur zweihundert Gramm Gold. Kriegen wir bei unserer Aktion gegen diesen Rauschgifthändler El Patagoño, wo der mit seinen ganzen Goldsachen rumgeprotzt hat.“
„Ja, aber die Ehre?“ grummelte Blackface und Puñazo stimmte ihm zu. „Ich reiche weiter, dass Nightpaw keine Hilfe mehr von uns Brüdern kriegt und wenn er vor dem Neulicht noch mal irgendwo in unserem Revier in Amerika und Europa auftaucht darf er eben erlegt werden.“
„Ja, nur dass der dann immer noch diese Sonnenbrosche hat.“ „Dann sollen unsere Leute bei der Jagd Sonnenbrillen aufsetzen“, sagte León. Doch weil er sich selbst die schmerzhaften Augen rieb dachten hier viele, dass das nicht reichen mochte.
Eine weitere unangenehme Überraschung ereilte die Bewohner der Hacienda noch am selben Abend. Denn es stellte sich heraus, dass Manosana keine Augenheiltropfen zurückgelassen hatte. Wollten die von Nightpaws halbgeblendeten keinen dauerhaften Augenschaden zurückbehalten mussten sie die Heilerin auf der Mondlichtungsinsel um Beistand bitten. Die hatte aber wegen Manosana erwähnt, dass sie nur Leute behandelte, die persönlich zu ihr hinkamen. Also blieb den Betroffenen, also fast allen Bewohnern der Hacienda, nur übrig, mit einem der Schmetterlings-Flugboote nach Brasilien zu fliegen und zu hoffen, dass sie noch vor dem Morgenrot dort ankamen. Mondlicht und das in Flüssen eilende Wasser würden den zwei Booten den nötigen Antrieb verleihen.
Allerdings wohnten 200 Leute auf der Hacienda. In die Boote passten aber nur an die zehn hinein. Bocafina bestimmte als nach Manosana Heilbeauftragte der Gemeinschaft, dass die am stärksten betroffenen zuerst losflogen und auf dem Rückweg Augenheiltropfen mitbrachten. Deshalb reiste Bocafina auch mit, um der Heilerin auf der Insel klarzumachen, dass die Hacienda gerade keine eigene Heilerin mehr hatte.
Als die beiden verfügbaren Flugboote davonschwirrten dachte León, dass ihm schon wieder ein wichtiges Mitglied seiner Hausgemeinschaft abhandengekommen war und dass es schon wieder wer gewagt und auch geschafft hatte, seine Führungsstärke ins Lächerliche zu ziehen. Aber er wusste auch, dass er Nightpaw nicht hätte töten dürfen. Denn dieser Kerl hatte zur dauerhaften Mondfinsternis noch mal recht, dass sein Vater das nicht hinnehmen und zur Blutrache rufen würde. Nein, der sollte sich auf dieses Schattenweib einschießen, dass Nightcoat und Nightface erledigt hatte.
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Wie gut es war, dem Ministerium eine logisch durchdachte Geschichte von übermächtigen Mondtöchtern zu erzählen, die über die bei ihnen untergebrachten Menschen Blutsverwandte erspüren und auf eine nicht näher erklärbare Art zu sich geholt zu haben erfuhr Julius Latierre, als der Leiter des Werwolfüberwachungsbüros die Anfrage stellte, ob die Légion de la Lune, die französische Sondergruppe aus Lykanthropen, die Mondbrüder und -schwestern nicht mal langsam aufstöbern konnte. Julius hatte dann noch einmal vor Barbara Latierre, dem Werwolfüberwachungsbehördenleiter und dem Leiter des Büros für magische Sonderfälle, das auch die Mondburg „verwaltete“ ausgesagt, was er sich zurechtgelegt hatte. Auf Béatrices Anraten hatte er die wahrheitsgetreuen Erlebnisse zum Familiengeheimnis der Latierres erklärt, sodass er sie nur freiwillig verraten konnte und sie auch ohne den Heilsstern Ashtarias nicht aus seinem Gedächtnis herausgezogen werden konnten.
„Das klingt seltsam und selbst für unsere Verhältnisse sehr phantastisch, Monsieur Latierre“, merkte der Leiter des Büros für magische Sonderfälle an. „Doch wenn es sich so verhält, wie sie zu Protokoll gegeben haben, Monsieur Latierre, besteht Ihrerseits die Vermutung, dass diese 36 Ordensschwestern auch die noch lebende Mutter jenes Mädchens zu sich holen könnten?“
„Also, soweit ich die mir in jenem erwähnten Wahrtraum übermittelte Aussage der Oberin jener 36 Mondordensschwestern verstanden habe können und wollen sie nur solche Menschen zu sich einlassen, die noch keinem Menschen oder anderem denkfähigen Geschöpf willentlich bleibenden Schaden zugefügt haben. Falls die Mutter des Mädchens schon getötet hat kann oder besser darf sie die Mondburg nicht betreten, selbst wenn sie darum bittet, von ihrer Werwut befreit zu werden.“
„Das deckt sich mit dem, was ich den Berichten über diesen Orden entnehmen durfte“, sagte der Leiter des Büros für magische Sonderfälle. Auch Barbara Latierre nickte. „Wir sind uns einig, dass dieser Vorfall oder besser Vorgang auf der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe eingeordnet werden muss“, sagte Julius‘ direkte Vorgesetzte Nathalie Grandchapeau. Alle stimmten ihr zu. Das sollte nicht herumgehen, dass es irgendwo in den Pyrenäen einen Hexenorden gab, der mal eben bei Nacht und vor allem Mondlicht Leute mit einem „Transporterstrahl“ auflesen und fortschaffen konnte. Die einen würden diese machtvolle Zauberei haben wollen, die anderen aus lauter Furcht davor die Mondburg zerstören wollen. Beides wollte hier keiner.
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Aurore freute sich auf den Beginn des zweiten Schuljahres. Immerhin konnte sie schon alle Buchstaben und alle Akzentzeichen lesen und schreiben. Julius bewunderte sie dafür. Denn er hatte sich trotz des Französischlernbuches am Anfang mit der Rechtschreibung schwergetan.
Millie und Julius brachten ihre erstgeborene Tochter persönlich zur Schule, wo Laurentine Hellersdorf sie und die anderen Zweitklässler willkommen hieß. Wie schon im letzten Jahr führten die Drittklässler für die Schulanfänger ein kurzes Singspiel auf. Dann hielt Direktrice Dumas eine Rede, dass nun die Zeit des vielen Lernens anfing, die auch für die ganz großen nicht aufhörte, aber jedes gelernte einen klüger und stärker machte. Dann gingen die Schülerinnen und Schüler in ihre Klassenräume. Aurore folgte Laurentine. Julius sah Claudine etwas traurig hinter ihren eigenen Klassenkameradinnen hertapsen. Offenbar wurmte es sie, dass die Patenschaft für Aurore vorbei war, weil die ja jetzt in der zweiten Klasse war und die ganzen wichtigen Sachen ja schon alleine machen konnte.
Am 30. August kehrte Béatrice Latierre von der Heilerkonferenz zurück. Neben ihrer Kleidung hatte sich in ihrem von außen winzig wirkenden Rucksack ein Haufen Geschenke für die Kinder und die Erwachsenen angesammelt. Julius fragte scherzhaft: „Ja, ist denn schon wieder Weihnachten?“ Alle lachten. „Ich habe auch eine halbe Bibliothek in deutscher Sprache an zaubereigeschichtlichen Ereignissen im deutschen Sprachraum für Laurentine und Louiselle mitgebracht“, sagte Béatrice, während Aurore bereits das Puzzle begutachtete, das zusammengesetzt eine Landkarte von Mitteleuropa mit allen großen Städten und Flüssen bilden sollte. Chrysope bekam ein honigfarbenes Einhorn mit einem regenbogenfarbigen Horn, dass durch Streicheln über die Mähne zu einem kleinen Reitspielzeug anwachsen oder zu einem kleinen Kuscheltier für’s Bett schrumpfen konnte. Bei schlechtem Wetter oder wenn jemand das deutsche Wort „Licht“ sagte leuchtete das Horn solange, wie es am Tag Sonnenlicht abbekommen hatte. Clarimonde bekam für ihren Spielzeugbesen einen plüschigen Aufsatz für die Spitze, der im Dunkeln leuchtete, wenn der Besen mehr als zehn Zentimeter frei über dem Boden flog. Die Zwillinge bekamen eine zusammenbaubare Wippschaukel, die noch in ihr Zimmer passte oder draußen im Garten aufgestellt werden konnte. Félix freute sich über einen Schwimmdrachen, der bis zu drei Kinder seiner Größe tragen und einen unterschiedlich dünnen oder breiten Wasserstrahl speien konnte. Den musste der auch gleich im draußen aufgebauten Planschbecken testen. Julius hörte ihn schon bald quieken, weil der neue Wasserfreund ihm eine armdicke Salve Wasser mitten ins gesicht blies.
„Öhm, du warst bei einer Konferenz. Wann konntest du denn den halben Spielzeugladen leerkaufen?“ fragte Julius wieder nicht ganz so ernst.
„Vorgestern. Da hatten wir nämlich Ausgang und konnten uns Greifenberg ansehen“, sagte Béatrice lächelnd. „Ihr wart da ja auch, wo die Sonnenfinsternis war.“ Millie und Julius erinnerten sich noch sehr gerne an diesen kurzen aber eindrucksvollen Ausflug.
Während die Kinder ihre neuen Spielsachen im Garten ausprobierten und die größeren Mädchen Felix immer tadelten, weil der seinen neuen Schwimmdrachen so lenkte, dass der immer wieder Wasser auf Aurore, Chrysope und Clarimonde spuckte unterhielten sich die drei Erwachsenen im Klangkerker-Arbeitszimmer über die Konferenz, da Millie und Julius ja Pflegehelfer waren.
„Also, Julius. Es wurde beschlossen, dass alle Lykanthropen, die sich ohne Aufforderung des Zaubereiministeriums bei den Heilern registrieren lassen und nicht auf einer internationalen Fahndungsliste stehen alle zwei Monate die für die Vollmondnacht nötige Dosis LNT erhalten. Das hat einigen Ministeriumsleuten nicht gepasst. Aber Deutschlands Zunftsprecher Foeniculus Rautenblatt hat sich gegen Güldenberg und seine Werwolfsuchbrigaden durchgesetzt. Brigid Barley hat uns allen dann die Rezeptur beigebracht, die sie von ihrer Mutter Ceridwen erlernt hat“, erläuterte Béatrice. „Wir approbierten Heilerinnen und Heiler dürfen bis zu drei Pflegehelfern, die wir für geeignet halten, die Rezeptur beibringen. Allerdings besteht der Trank aus hundertacht Zutaten, die zu bestimmten Tageszeiten geerntet und ebenso zu bestimmten Tageszeiten eingerührt werden müssen. Immerhin reichen drei zeitgleich köchelnde Kessel aus, um in zwei Tagen an die hundert für eine Nacht vorhaltende Dosen zu erhalten. Die können dann sogar entwässert und als Pulver in luftdichten Säckchen verpackt werden und müssen dann vor Einnahme in einem kleinen Dosierglas mit mindestens körperwarmem Wasser verrührt werden, um wieder aufzuwachen, wie es Brigid genannt hat. Dann ging es noch um die Auswirkungen der Erdmagiewelle vom sechsundzwanzigsten Dezember 2004 und um diverse Austauschübereinkommen, wer welche Zutaten bei sich wachsen hat und wer welche neuen Heilverfahren weitergeben kann. Aurora hat dann noch weitere Nutzanwendungen von Sonnenkraut vorgestellt und zusammen mit Tim Preston ein Verfahren zur Reinigung von organischen Materialien von radioaktiven Rückständen aus diesem Tschernobyl-Unfall vor einundzwanzig Jahren. Das hat vor allem die gefreut, die viele auf Pilzen basierende Tränke anrühren. Einer unserer Gastgeber meinte dazu, das es dann ja auch möglich sei, bedenkenlos Wildschweinfleisch zu essen, wenn es mit dieser Freispülmixtur entstrahlt wird. Ich glaube, ich sag das Brittany selbst, wenn wir sie wieder anrufen, dass sich die Idee veganer Lebensweise auch bei manchen Heilerkollegen eines gewissen Interesses erfreut. Hildegard Schwarzdorn, eine Heilerin aus der Lüneburger Heide im Norden Deutschlands forscht an tierbestandteilfreien Alternativen zu gängigen Zaubertränken. Ich habe mich einige Minuten mit ihr unterhalten und dieses Thema genauer besprochen. Sie zeigte sich erfreut, dass es in der magischen Welt noch andere gibt, die sich für tierproduktfreie Heilverfahren interessieren. Als ich dann den Namen Brittany Brocklehurst erwähnte meinte sie, dass sie schon aus einer internationalen Sportzeitung von ihr und ihrer veganen Lebensweise erfahren habe. Doch die US-amerikanischen Kollegen legen keinen Wert auf alternative Verfahren. Sie schwören auf das kombinierte Wissen der afrikanisch-europäischen Alchemie und der traditionellen Kräuterkunde der indigenen Medizinleute“, berichtete Béatrice.
„War Madam Greensporn auch da?“ fragte Julius. „Nein, sie war nicht da. Sie hat drei Kolleginnen und zwei Kollegen geschickt“, erwiderte Béatrice. Dann erwähnte sie noch Themen und Übereinkünfte, die die beiden ausgebildeten Pflegehelfer interessieren und wohl auch betreffen mochten.
Als es Abendessenszeit war apportierte Julius einen großen Tisch auf die große Wiese, weil die Kinder nicht zu bewegen waren, ins Haus zu gehen. Nur abtrocknen mussten sie sich vor dem Essen.
Nach dem Abendessen schickte Béatrice ihre eigene Posteule mit der schriftlichen Zusammenfassung ihrer eigenen Aufzeichnungen zu Zunftsprecherin Eauvive und beteiligte sich an einer Stunde Hausmusik, bevor es für die Zweitklässlerin Aurore Latierre Zeit wurde und auch die anderen Kinder müde genug waren. Ihre drei Eltern halfen ihnen, alle nicht fest im Garten verbauten Spielgeräte wieder ins Haus zu schaffen und brachten die insgesamt sechs Kinder zu Bett. Danach waren auch die drei Erwachsenen des Apfelhauses rechtschaffen müde.
„Gilt wieder die übliche Absprache?“ fragte Béatrice Millie. Diese überlegte kurz und sagte dann: „Ja, die gilt noch, Trice.“
So zogen sich Julius und Béatrice in Béatrices Schlafzimmer zurück, in dem wegen der Zeit als Friedensretterin ein Bett mit breiter Matratze stand, das fast so geräumig war wie das Ehebett von Millie und Julius.
„RRr, das habe ich vermisst“, schnurrte Béatrice, als sie sich mit Julius zusammen im Bett kuschelte. An mehr war ja nicht zu denken. Julius brummte zurück: „Du bist jetzt wieder zu Hause, Trice. Die nächsten Monate kriegen wir jetzt wieder zusammen hin und alles was danach ist.“
„Chloris, hast du deinen Papa gehört. Du darfst dir ruhig die nötige Zeit nehmen“, brummselte nun Béatrice und streichelte ihren nun nicht mehr versteckten Unterbauch. Offenbar bekam sie aus dessen warmen Tiefen eine Antwort. Sie zuckte kurz zusammen und grinste dann. „Die hat sich unter dem Verhüllungsmieder schön ruhig verhalten. Vielleicht haben die doch was da eingewirkt, dass ein damit versteckter Fötus tief schläft.“
„Das kann ich eindeutig widerlegen, Trice. Demetrius ist auch häufig unter so einem Verhüllungsmieder versteckt und kriegt trotzdem alles mit, wenn er wach ist und kann auch über das auf ihn abgestimmte Cogison mit Außenstehenden reden.“
„Dann war das gerade doch nur die klare Bestätigung, dass sie da in meiner warmen Unterstube sich freut, wieder zu Hause zu sein. Aber jetzt sollten wir dieses nette Bett zum Schlafen nutzen. Wir müssen ja morgen beide wieder früh raus“, erwiderte Béatrice. Julius gab ihr noch einen Gutenachtkuss und rollte sich in eine bequeme Haltung zum einschlafen.
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Im August hatten ihre Kinder mehr als fünfzig Lykanthropen aufgespürt und nach ihren neuen Erkenntnissen und der mit den vertilgten Werwölfinnen erhaltenen Kraft zu ihren neuen Kettenhunden umgeformt. Birgute Hinrichter wollte noch abwarten, ob ihr Plan vollständig aufging. Erst wenn sie Gewissheit hatte, dass die nun auf Neumond „umgepolten“ Lykanthropen eine echte Gefahr für die bisher herumlaufenden Werwölfe waren und sie diese selbstherrliche Bruderschaft des Mondes nach belieben Erpressen, öhm, anleiten konnte, wollte sie den nächsten Schritt unternehmen, die Einberufung der wohl noch auf jener Insel wartenden Dementoren, den wahren Kriegern der Nacht, wie Thurainilla sie in ihrer uralten Sprache genannt hatte.
Die Neumondnacht kam, und zwanzig ihrer neuen Jagdhunde waren mit Autos, Eisenbahnzügen oder zu Fuß dorthin gelotst worden, wo weitere Werwölfe gefunden worden waren, von denen die Kundschafter der Kaiserin herausgefunden hatten, dass sie der Mondbruderschaft angehörten.
Kaum endete die nautische Dämmerung, setzte bei den neuen Jägern die sonst bei Vollmond wirksame Verwandlung ein. Die bis dahin unschuldig wirkenden Menschen wurden zu anderthalb mal größeren, nachtschwarzen Geschöpfen, die kein struppiges Fell, sondern glattes Kurzhaarfell besaßen und schlank wie trainierte Windhunde waren. Nur an den kurzen Schnauzen und den etwas buschigeren Ruten, die wie angewachsene Staubwedel wirkten, konnte ein Fachkundiger sehen, dass es keine natürlich geborenen Wölfe waren.
Die Jäger schlichen auf leisen Tatzen an ihre Opfer heran. Diese hörten und rochen sie, als der Wind sich drehte und sie Witterung bekamen. „Na, wer bist du denn?“ hörte Birgute durch Biggi Herders scharfe Ohren den ihr zugeteilten Lykanthropen fragen. Der ging von einem Mitbruder des Mondes aus, der jenen Trank geschluckt hatte, der auch bei Neumond die Verwandlung möglich machte. Zur Antwort sprang Biggi Herder ihn an und biss ihm kräftig in den Oberschenkel. Der Mondbruder rief: „Eh, was soll der Mist?!“ und wehrte sich. Noch einmal bohrten sich die scharfen Zähne der Neumondwerwölfin durch das Hosenbein ihres Opfers und gruben sich tief in dessen Fleisch. Dann ließ die von Remurra ferngelenkte Biggi von ihrer Beute ab und rannte davon. Ähnlich lief es bei den anderen ab.
Remurra beobachtete aus dem Dunkeln heraus, was weiter geschah. Der Gebissene brach erschöpft zusammenund wand sich vor Schmerzen. Der verfremdete Werwutkeim kämpfte also wirklich gegen den bereits in seinem Blut kreisenden Fluch des Mondes. Am Ende lag er wild erbebend am Boden. Remurra hatte jedoch mitbekommen, dass ihr Opfer wohl noch eine geistige Botschaft ausgestrahlt hatte. Doch sie verstand sie nicht. Für sie war es wie ein Prasseln und Rauschen eines Gewitters in einem Mittelwellenradio gewesen.
Das wilde Beben ebbte ab. Jetzt lag der Überfallene wie tot am Boden. Doch Remurra fühlte, dass dessen Lebensausstrahlung noch da war, schwach aber spürbar. Zu gerne hätte sie herausgefunden, was in diesem Mann vorging. Doch sie konnte nur einmal einen Menschen schattenpfänden wie es die Kaiserin nannte. Wollte sie einen neuen Menschen unterwerfen musste sie den Schatten des bisher beherrschten wieder freisetzen.
„Was wir sehen wollten haben wir mit großer Befriedigung und Freude gesehen, meine Tochter. Lenke deine Schattengepfändete nun wieder in Richtung Heimat, bevor hier noch wer von den Zauberstabschwingern anrückt. „Ab heute suchen wir gezielt nach denen, die bereits Mondbrüder sind und machen sie zu unseren Jagdhunden. Es wird sich herumsprechen, und die Bruderschaft des Mondes wird sich mir unterwerfen müssen, will sie nicht, dass ihre Mitglieder dasselbe erleiden wie dieser Bursche da“, gedankensprach Birgute Hinrichter. In ihr wogte die Freude und auch jener Rausch der unaufhaltsamen Macht. Ja, sie war die Herrin. Alle von ihr berührten mussten ihr gehorchen. Das würden erst die Werwölfe, dann die Vampire und am Schluss auch die Menschen lernen. Sie dachte mit dem von Kanoras‘ Unterwerfungszauber vergifteten Gedanken Birgits und Utes, aber nun auch mit den von Machtgier und Eifersucht durchsetzten Gedanken Morgauses und der grenzenlosen Überlegenheit kurzlebigen Menschen gegenüber, die Thurainilla. Sie war die wahre Herrin. Da kam die selbsternannte Göttin der Blutsauger nicht gegen an. Ja, und bald würde sie eine gefürchtete Streitmacht befehligen, mit der sie auch die noch frei herumlaufenden Schwestern Thurainillas unterwerfen konnte. Sie musste nur planen, wie sie diese Streitmacht einsetzen konnte. Einen Teil davon wollte sie auf dem amerikanischen Doppelkontinent stationieren, um die dort lebenden Lykanthropen zu belagern, wenn diese doch nicht auf ihre Forderungen eingingen. Zugleich sollten sie nach Abgesandten dieser Blutgötzin suchen und ihnen die Seelen aussaugen. Den Großteil wollte sie nach Afrika verlegen, wo sie sie in abgelegenen Dschungelcamps unterbringen wollte.
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Mitch Winterborn alias Nightpaw hatte keine Sekunde verschenkt, sich eine Fahr- oder Fluggelegenheit zu beschaffen. Er war in die Nähe des Flughafens von Mexiko-Stadt appariert und hatte sich mit kleinen Wattepfropfen in den Ohren an einen der großen Feuerstrahl-Metallvögel herangemacht, der gerade in Richtung Europa losfliegen wollte. Er war in den Frachtraum des großen Fliegers hineinappariert und hatte sich dort hinter mehreren Kisten versteckt. Als das magielose Monstrum von Flugmaschine mit für ihn fast ohrenbetäubendem Getöse lospreschte und sich dann auf vier aus heulenden Rohren schlagenden Feuerstrahlen in die Luft schwang erkannte Nightpaw, dass er was gegen den Lärm und die einsetzende Abkühlung machen musste. Denn in einem Frachtraum wurde nicht so geheizt wie im Fluggastraum. Ihm fiel ein, dass er sich in eine Blase aus Wärme und Stille einschließen konnte. Fino hatte ihm das mal gezeigt. Er brauchte jedoch zwei Ansätze, bis er den nur auf seine Körpergröße beschränkten Zauber hinbekam. Sofort wurde es um ihn viel leiser, und die sinkende Temperatur im Frachtraum machte ihm nichts aus. So trat er seine Reise nach Europa an.
„Darf ich dem alten nicht erzählen, dass ich eines von diesen lärmigen Muggelflugdingern genommen habe“, dachte Nightpaw. Doch vielleicht, so dachte er weiter, war das für ihn und seinen Clan bald das kleinere Problem.
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Am 28. August 2007betrat Professor Dr. Douglas Moore den Labortrakt im Institut für angewandte Mikrobiologie der Universität Princeton. Wie üblich musste er hierfür zwei verschiedene Schlüsselkarten, einen Handabdruckabtaster und einen Netzhautabtaster passieren. Denn seine Arbeit war hochbrisant. Was in den Laboren erzeugt und gelagert wurde konnte in falschen Händen zum größten Albtraum für die Menschheit werden. Sein Spezialgebiet war die Erforschung von Virusmutationen und die Herstellung angepasster Antikörper. So konnte es schon einmal vorkommen, dass das ohnehin schon gefährliche Ebola-Virus noch aggressiver werden konnte, wobei es jedoch nicht innerhalb von Tagen den Tod seiner Wirte herbeiführte, sondern erst nach Wochen. Auch wurde an bereits hochgefährlichen Erregern wie HIV oder den SARS-Virus geforscht, die bereits in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts etliche Opfer gefordert hatten.
Moore begründete die Arbeit damit, dass es immer noch besser war, wenn Wissenschaftler der freien Welt an diesen höchst gefährlichen Erregern forschten und es nicht den handzahmen Wissenschaftlern diktatorischer Machthaber überlassen durften, mit dieser unsichtbaren Superwaffe der Natur herumzuspielen. Sein neuester Kandidat für eine weltweite Pandemie, falls er durch alle Sicherungsmaßnahmen schlüpfen mochte, war ein Virus, das gezielt die Bakterien im menschlichen Darmtrakt befallen und sie abtöten konnte. Es galt, dieses Virus so zu modifizieren, dass es ausschließlich bösartige Bakterien befiel. Doch bisher griff es alles an, was für den Menschen überlebenswichtig war.
Als Moore einen ultragründlich gereinigten Schutzanzug mit eigener Sauerstoffversorgung angelegt hatte schleuste er sich in das unter einem Druck von nur 890 Hektopascal stehende Labor ein. Als er durch das Innentor den großen Arbeitsraum betrat flutete aus der Schleuse ein Schwall der unter etwas mehr als 1100 Hektopascal stehenden Luft mit hinein. Der Druckunterschied war eine zusätzliche Maßnahme, um das Entweichen von Erregern zu verhindern. Für die hier arbeitenden Wissenschaftler war es jedoch immer wie von einer heftigen Windböe gestoßen zu werden. Auch deshalb galt für die kleine Zahl der hier arbeitenden ein strenges Körpertraining. Um nicht unter dem Druckunterschied zu leiden wurden die Schutzanzüge selbst unter dem Standarddruck von 1000 Hektopascal gehalten.
Es war schon wie in einem Weltraumfilm, als er die fünf Kollegen in den weißen Schutzanzügen sah und ihre Atemgeräusche hörte. „Darth Vaders weiße Brüder“ hatte der junge Dr. Philipps das mal im Scherz genannt, bis ihn seine Kollegin Esther Wiesenthal darauf hinwies, dass es auch Schwestern gab. Doch von diesen Schwestern waren im Moment keine hier.
Wie üblich verloren die hier arbeitenden Männer keine Zeit mit überflüssigem Gerede. Als der Professor für MRNA-Lokalisation seinen Arbeitsplatz ansteuerte blinkte ihm bereits der in luftdichte Folie eingeschweißte Monitor entgegen, dass er nur noch zehnSekunden hatte, sich anzumelden. Er gab schnell den zehnstelligen Zugangscode ein. Es pingelte in seinen Helmkopfhörern. Er hatte sich noch rechtzeitig angemeldet. „Als wenn es auf eine Minute ankäme“, dachte er. Doch die Institutsleitung bestand darauf, dass alle Mitarbeiter zu genau festgelegten Zeiten ihre Einsatzbereitschaft meldeten. Das Diktat der Effizienz, hatte es jemand mal genannt, der aus guten Gründen nicht erwähnt werden wollte.
Die rechts auf dem Monitor mitlaufende Uhr zeigte gerade 21:40 Uhr Ortszeit, als ein hektisches Bimmeln und das Symbol für Ausfall der äußerenStromversorgung aufleuchtete. Er klickte das Symbol weg und sah nun das Zeichen für die unterbrechungsfreie Stromversorgung. Die hier verbaute konnte jeden Arbeitsplatz 24 Stunden von der äußeren Stromzufuhr unabhängig betreiben. War der Fehler bis dahin nicht behoben wurde eine Notabschaltung und Versiegelung aller Probenbehälter ausgelöst. Das erneute Hochfahren würde dann eine Viertelstunde dauern.
Moore holte sich eine grafisch dargestellte Folge von RNA-Sequenzen auf den Bildschirm. Nur wer wie er jahrelang damit zu tun hatte konnte den Farbcode und die Anordnung verstehen und auswerten. Wer es wirklich nötig hatte konnte die Angaben auch als Tabellen angezeigt bekommen. Ausdrucken ging hier nicht. Dafür mussten die zu druckenden Daten über eine besonders abgeschirmte Glasfaserleitung an einen gesicherten Rechner mit Drucker geschickt werden. Also galt es erst einmal nur zu lesen.
Unvermittelt flackerte die Beleuchtung. Die Rechner gaben Fehlermeldungen aus. Hatten die sich selbst ein Virus eingefangen? Dann fühlte Moore, wie es ihm trotz Schutzanzug kalt wurde. Es war, als habe ihm jemand Eisstücke auf den Rücken gedrückt. Er drehte sich auf seinem gut abwaschbaren Stuhl herum und sah etwas, dass unmöglich da sein konnte.
Vor ihm stand eine an die zwei Meter große, pechschwarze Gestalt, die im wild flackernden Neonlicht deutlich sichtbar von einem schwarz flirrenden Dunstmantel umgeben wurde. Er meinte, seine Augen seien schon überanstrengt. Doch die Erscheinung sah aus wie ein Ritter in voller Rüstung, mit hohem Helm und geschlossenem Visier. Der unbekannte Eindringling streckte seine rechte Hand aus und ergriff Moore am rechten Arm. Der Griff war wie von einem eisgekühlten Schraubstock. Moore wurde von seinem Stuhl gezogen und von dem anderen Arm der unheimlichen Gestalt umschlungen. Jetzt meinte er erst recht, in eisiges Wasser getaucht zu werden. Vor seinen Augen verschwand alles in einem tiefschwarzen Flimmern.
Douglas Moore bibberte vor Kälte, während seine Kollegen offenbar geschockt waren und sich deshalb nicht rührten. Dann fühlte er, wie die ihn am Arm haltende Hand von ihm abließ. Er hörte etwas leise scheppern. Das schwarze Flimmern verschwand. Jetzt sah er das bleiche gesicht eines Mannes unbestimmbaren Alters. Das Helmvisier war hochgeklappt. Über seine Kopfhörer hörte er ein wildes Rauschen, Fauchen und Knistern. Dann kam die mit künstlicher Stimme gesprochene Ansage: „Warnung, Überlastung. Arbeitsplatz wird versiegelt!“ Er wusste, was das hieß. Jetzt griff die Absicherung gegen Stromausfall oder äußere Gewalt.
Douglas Moore traute seinen Augen noch weniger als vorhin, als der, der ihn hielt seinen bleichen Mund öffnete und ihn anlächelte. Dabei sah er sie, zwei spitze, lange Fangzähne, Vampirzähne! Das musste ein Albtraum sein, ein aus seinen Kindertagen herübergeschwappter Albtraum, dachte Douglas Moore. Dann fühlte er, wie ihn gleich mehrere Hände zugleich ergriffen und in eine waagerechte Lage zogen. Seine Kollegen reagierten immer noch nicht. Das konnte nur ein Traum sein, Vampire in Ritterrüstungen im Hochsicherheitslabor, und die Kollegen taten nichts außer dumm starren oder was?
„Verhalt dich ruhig, Douglas Moore, dann wird dir unsere Herrin gnädig sein“, hörte er den Kerl in der Rüstung schnarren. Jetzt sah er, dass er von vier weiteren Unbekannten gehalten wurde, die jedoch keine Rüstung trugen. Er hörte von den Kopfhörern gedämpft Stimmen weit draußen, die aufgeregt durcheinanderschrien. Dann erfolgte etwas, was er für die Steigerung des bösen Traumes hielt.
Um ihn und die ihn festhaltenden Vampirgestalten entstanden nachtschwarze Schlieren, die zu wild kreisenden Spiralarmen wurden, die immer dichter zusammenrückten. Dann meinte er, in einen wilden Sog zu geraaten und durch eine um die Längsachse kreisende Röhre zu rasen. Zwar hielten die Fremden ihn immer noch fest, doch er konnte seinen Kopf ein wenig drehen. Da sah er das erst winzige rote Licht, das immer heller und heller wurde. Mit der Vorstellung, einen besonders eindrucksvollen Albtraum zu erleben schockierte es ihn nicht mehr, als das rote Licht zur aus sich heraus leuchtenden Erscheinung einer riesenhaften nackten Frau mit leichtem Umstandsbauch wurde. Die Erscheinung winkte ihn und seine Überwinder an sich vorbei. Wie mit Überschallgeschwindigkeit entfernten sie sich dann von jener geisterhaften oder gar dämonischen Erscheinung und rasten weiter durch die sich drehende Röhre. Nur hatte Moore jetzt den Eindruck, von einem gehörigen Schubstrahl getrieben zu werden. Dann flirrte es vor ihm, und die dunkle Röhre zerfiel in aberdutzend wirbelnde Spiralarme, die wiederum von der eigenen Fliehkraft zu winzigen schwarzen Punkten zerstreut wurden, bis sie völlig aufgelöst waren.
Er fühlte, wie ihn der schwarze Höllenritter und seine vier ungepanzerten Knappen weitertrugen, bis er in einer vergitterten Zelle ankam. Dort zogen sich die vier ungepanzerten Vampirgestalten zurück. Der schwarze Ritter sah den Gefangenen an und sagte: „Du ziehst den Anzug aus und schläfst dann, bis die Herrin dich braucht, Douglas Moore!“
„Wer sollt ihr denn sein, Draculas Armee?“ wagte Moore eine freche Frage. „Dracula ist ein Treppenwitz gegen die Macht unserer Herrin. Also runter mit der weißen Verpackung und da auf die Pritsche. Die Herrin will, dass du schläfst. Gehorchst du nicht, kriegen wir dein Blut.“
Die hielten die Rolle gut durch, dachte Moore und grinste durch das Helmvisier. „Wusstet ihr, dass ich unter meinem Schutzanzug ein Silberkreuz trage, damit mein Herr und Heiland mich immer vor den bösen Auswirkungen der Welt beschützt?“ fragte er.
„Ja klar, du glaubst auch echt an den. Abgesehen davon ist das mit den Kreuzen totaler Quatsch!“ lachte der schwarze Ritter. „Wie du meinst. Wenn du dich nicht freiwillig ausziehst …“ Er blickte Moore in die Augen. Der begriff die eine Sekunde zu spät, dass er vielleicht von dem berüchtigten Hypnoseblick eines Vampirs erwischt wurde. Da war es auch schon zu spät. Er fühlte, wie sein Wille weggewischt wurde. Er hörte noch einmal die Aufforderung, den Schutzanzug abzulegen. Er dachte nicht einmal daran, dass er damit nicht durch die Dekontamination gegangen war. Er öffnete erst das Helmvisier, dann den Reißverschluss des einteiligen Anzuges und schälte sich dann routiniert daraus hervor wie eine Schlange aus der alten Haut. Dann ging er von selbst in die vergitterte Zelle und legte sich auf die Pritsche. Er hörte eine sanft säuselnde Frauenstimme in seinem Kopf. „Schlaf, mein neuer Braumeister. Schlafe, bis deine Stunde gekommen ist. Deine Herrin und Göttin befiehlt es dir!“ So dämmerte er immer weiter dahin, dachte nicht einmal mehr, gleich aus diesem absurden Traum aufzuwachen. Statt dessen schlief er ein, tiefer als er es je zuvor getan hatte.
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Dass sie schon wieder fünfzig Getreue an diese Schattenbrut verloren hatte ärgerte sie gerade nicht. Dafür war der Erfolg zu groß. Sie hatte sieben Gruppen losgeschickt, die Dank Elenis Internetrecherchen aussichtsreiche Blut-, Gen- und Virusforscher einfangen sollten. Dabei konnte sie direkt durch die Augen einer Truppenführerin beobachten, wie sie mit den drei anderen neuen Ordenskriegern auf ein bestimmtes Haus zuging und die Rüstungen dabei wohl gegen etwas ankämpften. Sie spürte durch die Sinne der Getreuen, wie die Rüstung erbebte. Dann blitzte es kurz blutrot auf. Etwas zersprang mit lautem Knall. Dann war der Widerstand gebrochen. „Das war einer dieser widerwärtigen Kristalle“, dachte Gooriaimiria. „Er ist zerstört worden. Damit habt ihr nicht mehr gerechnet, wie?“ fragte sie an die Adresse ihrer rotblütigen Feinde. Dann gab sie den Befehl zum Stürmen des gesicherten Laborgebäudes.
Die Anführerin führte die drei männlichen Begleiter auf die Tür zu. Mit vereinter Kraft bogen sie die Verriegelung auf und drückten die Tür ein. Natürlich ging dann sofort Alarm los. Aber das störte nicht. Ebenso störten auch nicht die aus Seitengängen heranstürmenden Männer, die mit Handfeuerwaffen fuchtelten und dann, als deren lächerlichen Warnungen unbeachtet blieben schossen. Die Geschosse prallten von den gepanzerten Ordenskriegern der erwachten Göttin ab und schwirrten als Querschläger in alle Richtungen davon. Einige erwischten die Schützen selbst. Doch die trugen offenbar kugelsichere Kleidung. „Nur bei unmittelbarer Berührung ohnmächtig schlagen!“ befahl die Göttin. So schufen sich die vier Ordensangehörigen in den neuen, unheimlichen Rüstungen freie Bahn. Erst als sie an einer Schleuse standen und wussten, dass selbst ihre vereinte Stärke nicht half schickte sie einen der Männer per Schattenstrudel durch die Schleuse hindurch. Als der dann auf der anderen Seite war konnte der mit Hilfe der Göttin die Gedanken der hier anwesenden Menschen erfassenund zielgenau den ergreifen, dessenwegen er hergekommen war. Danach schickte die Göttin ungepanzerte in den Raum hinüber. Denn nun, wo die verwerflichen Blutüberhitzungskristalle nicht mehr da waren konnten auch die ungeschützten Getreuen ans Ziel. So schaffte sie es, den Gesuchten von fünf Gefolgsleuten ergreifen zu lassen und ihn so rund um von ihrer Kraft einzuschnüren, dass sie ihn und die anderen mühelos mit einem Schattenstrudel in das ausgewählte Gefängnis verlegte, wo später das Labor und die Aufbewahrungsstätten der Blutspender eingerichtet werden sollten.
Auf diese Weise schaffte sie vier der gesuchten in ihr neues Versteck. Doch als eine Gruppe gepanzerter in ein Hochsicherheitslabor bei Boston eindringen wollte tauchten aus dem Nichts mit Zauberstäben und Pistolen bewaffnete Leute auf und griffen an. Die Rüstungen parierten erst alle Angriffe. Doch als mehrere Sonnenspeerzauber und mit Sonnensegen geladene Eichenbolzen zugleich auf eine Rüstung trafen erbebte diese so heftig, dass der in ihr steckende sich nicht mehr frei bewegen konnte. Auf jeden schwarzen Ritter der Blutgöttin kamen jetzt zehn Zauberstabträger. Einem fiel ein, dass er ja mal den schwarzen Spiegel verwenden sollte, der dunkle Zauber fünffach verstärkt auf den Ursprungsort zurückwarf. Jetzt musste die Göttin erkennen, dass dieser Zauber ein probates Mittel gegen die Gepanzerten war. Denn als einer von ihnen versuchte, durch die schwarze Wand zu rennen wurde er mit Urgewalt zurückgeschleudert und durch die Wand des Hauses gerammt, als sei diese aus feinem Sand. Immerhin fing die Rüstung jeden Körperschaden ab.
„Tolle Idee, aber nur gut, wenn ihr die nicht als Rammböcke benutzen wollt“, hörte Gooriaimiria durch die Ohren der Anführerin einen Zauberstabträger rufen. Doch weil sie alle mit Sonnenlichtzaubern beharkt wurden konnten sie nichts tun.
Einer der Zauberer bekam den auf ihn zurückprallenden Sonnenlichtspeer in die rechte Wange und schrie auf. Er fiel um. Weitere Zauber trafen die Gepanzerten. Zwei der Zauberer erlitten Augenschäden wegen der grellen Lichtentladungen. Dann hatten die anderen vier Wände aus schwarzen Spiegeln um jeden Gepanzerten gelegt. Der Gepanzerte rannte dagegen und wurde mehrmals zurückgeworfen. Dann jedoch schwirrte er nach oben und stieg mehrere Dutzend Meter nach oben. Die Göttin befahl: „Visier auf!“ Der immer noch nach oben jagende Panzerkrieger gehorchte. Keine Sekunde später umschlang ihn ein Schattenstrudel.
Die Göttin wollte es wissen. Da sie gerade vier weitere Panzerkrieger verfügbar hatte schickte sie diese an den Einsatzort. Sie konnten ihre Visiere gerade soeben noch schließen, bevor sie unter Sonnenlichtzauber genommen wurden. Doch nun war das Verhältnis derartig ausgeglichen, dass sie sich aus der Umzingelung herauskämpfen und auf das ausgewählte Gebäude zulaufen konnten. Sie brachen durch die Wände und schafften es, in die Laborräume zu gelangen. Doch dort war niemand mehr. Die dort arbeitenden Rechner spielten verrückt, weil die Ausstrahlung von gleich drei Ordenskriegern auf sie einwirkte. Da begriff Gooriaimiria, dass sie diese schnell wieder zurückholen musste. Falls etwas von dem, was dort aufbewahrt wurde, freigesetzt wurde, konnte das allen ihren Kindern die Nahrungsgrundlage verderben. Also befahl sie allen, ihre Visiere zu öffnen. Erst dann konnte sie sie fortschaffen. Zu ihrem Glück und wohl auch zum Glück aller Menschen der Erde waren die Vorratslager für die gefährlichen Erreger so abgesichert, dass im Falle eines Strom- oder Computerausfalls mechanische Sicherungen herunterschnellten und die Bestände an hoch ansteckenden Erregern luftdicht abriegelten.
Gooriaimiria erkannte, dass sie mit brachialgewalt nicht in so brisante Einrichtungen einbrechen durfte. Sie musste einen Weg ersinnen, die verfluchten Zauberstabträger an weniger sensible Orte zu locken und sie dort zu binden, um dann einen der Gesuchten nach dem anderen entführen zu können.
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Jetzt wusste Davidson, was die verschwundenen Schmiede hatten schmieden sollen. Doch weil das keine Zauberer waren hatten die sicher Unterstützung von jenen bekommen, die trotz ihrer Umwandlung zu Vampiren noch zaubern konnten.
Drei Wissenschaftler aus den USA waren entführt worden. Drei, die offenbar noch auf der Liste der Blutgötzin standen konnten vor den aufgetauchten Panzerkriegern gerettet werden. Die gefährlichen Stoffe, mit denen diese zu tun hatten wurden neben der mechanischen Versiegelung noch mit dem Conservatempus-Zauber belegt, der den Fluss der Zeit in einem engbegrenzten Raum auf ein Hundertstel verzögerte.
Am 10. September 2007 bat MAKUSA-Präsidentin Cartridge persönlich um ein direktes Gespräch mit Direktor Davidson und seinen wichtigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Er gewährte ihr den Zugang, indem er ihr jenes Sonderflohpulver zukommen ließ, dass schon ihrem Mann erlaubt hatte, direkt in sein Büro überzuwechseln.
Um 11:00 Uhr saß Godiva Cartridge, gehüllt in jenes grüne Kleid, in dem sie ihre Vereidigung zur Präsidentin der US-amerikanischen Zaubererwelt erlebt hatte, Direktor Davidson, Sheena O’Hoolihan, Martha Merryweather, Quinn Hammersmith und Berthold Deepwater gegenüber.
„Ich bedanke mich bei Ihnen, Direktor Davidson, sowie bei Ihnen, Ladies and Gentlemen, dass Sie mir Zutritt zu Ihrem geheimen Stützpunkt gewähren als auch Ihre Aufmerksamkeit widmen. Auch wenn es schon befremdlich war, wie Ihre eigentliche Vorgesetzte mich vor meiner Anreise hierher berührt hat und was ich dabei empfand verstehe ich jetzt, warum Sie alle so sorgfältig mit Ihrem Stützpunkt umgehen müssen. Mir ist auch bewusst, dass ich niemals in Ihre Räumlichkeiten hätte eindringen können, wenn jene mächtige Erscheinung dies nicht gewollt hätte“, sagte die Präsidentin. Dann war der zeitaufwendigen Höflichkeit genüge getan.
In kurzen Sätzen schilderte Davidson der Präsidentin, was sein Institut gegen die so genannten Ritter der Nacht unternahm und dass sie vor wenigen Stunden eine Nachricht gefunden hatten, die eindeutig bestätigte, wer sie entsandte und welchem Zweck das alles dienen sollte. Martha durfte dann erwähnen, was sie über die im angeblichen Dauerurlaub befindlichen Schmiede herausgefunden hatte. Die Präsidentin fragte die Frau, die damals noch für Dime und Buggles gearbeitet hatte, warum es ihr nicht möglich gewesen sei, diese offenbar beachtenswerte Neuigkeit an den MAKUSA weiterzuleiten.
„Zum einen gab es den MAKUSA zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zum anderen hatte ich die Anweisung, erst nur weiterzuverfolgen, was passierte. Natürlich habe ich gleich alle mir zugänglichen Stellen informiert, nachdem Direktor Davidson mir die ausdrückliche Freigabe erteilte. Aber Sie haben ja derzeitig keine elektronische Nachrichtenabteilung.“
„Ja, und Sie wissen auch genau warum, werte Dame. Aber seien Sie beruhigt, dass meine Exekutivbehörde diesen Missstand bereits behebt und wir in den kommenden Tagen eine eigene Überwachung einrichten werden. Allerdings sollten Sie dann auch bereit sein, dieser Abteilung zu helfen, einsatzfähig zu werden. Oder wir müssten Sie erneut zur Persona non grata erklären und jeder in den USA tätigen Institution untersagen, Sie zu beschäftigen. Öhm, wer sich dem verweigert dürfte kaum die Abendabstimmung über die Zulassung oder das Verbot MAKUSA-unabhängiger Firmen und Institutionen erhalten, die am 15. September angesetzt ist.“
„Sie wissen auch sehr genau, warum ich damals tun musste, was ich tat. Oder fanden Sie es witzig, das Vita Magica Ihren Ehemann wiederverjüngte oder dass Buggles als deren Marionette regierte, von Ladonna Montefiori erst gar nicht zu sprechen?“ konterte Martha Merryweather.
„Gut, das kostet unnötige Zeit“, grummelte Godiva Cartridge. „Ich erwarte Vorschläge, wie wir gegen diese schwarzen Panzerkrieger vorgehen können. Denn offenbar ist denen nicht mal mit zehn oder zwanzig zu eins beizukommen, und schwarze Spiegel, ohnehin sehr anrüchige Zauber, können mehr Schaden anrichten als retten.“
„Uns ist ein gewisser Umstand aufgefallen“, sagte nun Quinn Hammersmith ganz unbefangen, dass die Dame im grünen Kleid gerade das Verbot seines Arbeitsplatzes angedroht hatte. Dann erwähnte er, was die mit Gleitlicht-Rückschaubrillen gemachten Beobachtungen ergeben hatten, nachdem die schwarzen Ritter der Blutgötzin verschwunden waren. „Die können offenbar nicht in ihren Portierstrudeln versetzt werden, solange sie ihre Visiere geschlossen haben. Allerdings dauert die Zeit zwischen geschlossenem und offenem Visier gerade mal eine Viertelsekunde. Zu wenig, um einen gezielten Zauber auf den Angreifer zu schleudern. Wir können jedoch orten, wo diese Gegner auftauchen und hoffen, dass wir bald mehr als genug Sonnenlichtkugeln haben, um die neuralgischen Orte abzusichern, ohne dass die nichtmagischen Menschen was davon mitbekommen. Womöglich können wir deren Ankunft verhindern.“
„Ich kann Ihnen Unterstützung zusichern und auch finanzielle Unterstützung, sofern Sie alle dem MAKUSA zusichern, ohne großen bürokratischen Aufwand als unsere größtenteils unabhängige Außenstelle zu arbeiten, ich meine nach den Bedingungen, die zu den Zeiten meines Mannes Milton und dessen Vorgängerinnen und Vorgängern galten und die auch zur Zeit des ersten MAKUSAs galten“, sagte die Präsidentin der US-amerikanischen Zaubererwelt. Davidson sprach für alle aus, dass er dies zusichern wolle, auch weil ihm und seinen Mitarbeitenden daran gelegen sei, die Menschen mit und ohne Magie vor Schaden zu bewahren.
Als die Präsidentin wieder in ihr Büro in New York zurückkehrte meinte Quinn Hammersmith zu Martha: „Die weiß schon, warum du damals deren Internetrechner sabotiert hast, Martha. Aber als neue Staatschefin darf sie dich dafür nicht loben. Generalamnesie dürfte das einzige sein, was du zu erwarten hast.“
„Das ist mir durchaus bewusst“, erwiderte Martha Merryweather.
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Lunera konnte nicht aufhören. Immer und immer wieder sprach sie auf die drei McRore-Schwestern ein, nach Lykomeda und Alejandro zu suchen. Sie konnte doch über einen Suchzauber Kontakt mit Lykomeda aufnehmen. Doch als das versucht wurde hatte sie nur einen weißen Nebel gesehen, aus dem jener Frauenchor erklungen war, der sie und die anderen am Pico Viejo auf Tenerifa außer Gefecht gesetzt hatte. Ja, Schließlich hatten sich sechs Gesichter vor ihr gebildet, Gesichter alter Frauen. „Gespielin des wilden Wüterichs aus Spanien, dein Kind wird frei sein vom Keim des unreinen Mondes. Gib ihm seinen Frieden und finde den deinen!“ sangen die sechs Frauen über dem Klangteppich der anderen Stimmen hinweg. Dann war sie mit starkem Schwindelgefühl aus der Suchbezauberung aufgewacht.
Als sie einmal so unvorsichtig war, Maura zu verraten, dass sie auch alleine losziehen konnte, um die Residenz der Mondtöchter zu finden und dabei jeden zu bestrafen, der oder die denen geholfen hatte, ihre kleine Lykomeda zu rauben hatte Tara sie vor allen anderen gefragt, wie sie es sich vorstellen würde, durch Frankreich oder Spanien zu ziehen, wo es sicher noch genug Suchbilder von ihr gab, und falls die Mondtöchter Lykomeda wahrhaftig die Eigenschaften einer Mondgeweihten genommen hatten, würde sie es sich zutrauen, sie erneut damit zu versehen? Lunera hatte darauf sofort mit einem „Ja, genau das“ geantwortet. Da hatte Tara, die sich mit Fernzaubern sehr gut auskannte erwidert: „Lunera, wenn sie deine Suche bemerkt haben wissen die auch, dass du Lykomeda nicht in die Eingestaltlichkeit abgeben wirst. Also werden sie was tun, dass du sie nicht mehr findest. Mit anderen Worten, wenn du anfängst, sie zu suchen und dabei über alle sich dabei bietende Leichen gehst könnten sie Lykomeda auch töten. Zumindest hätte es dieselbe Wirkung auf sie und auf dich, als wenn sie es täten. Ja, und wir sind alle geächtet worden. Wissen wir, ob León nicht schon geheime Hinweise an die Fangkommandos geschickt hat, wo ungefähr sie nach uns suchen sollen? Ich denke, wir müssen eine Entscheidung treffen, wie wir unseren eigenen Frieden sichern und unsere Freiheit. Rache an den Mondtöchtern hilft dabei nichts.“
„Und wenn ich sage, ich suche die und finde sie auch, egal wo sie sie hinschaffen?“ fragte Lunera. „Steht es dir frei, unsere Gemeinschaft zu verlassen. Aber dann darfst du nicht mehr zurückkehren. Das wird so sein wie bei León. Es sei denn, du schwörst beim nächsten Vollmond den Eid von Blut und Mond, auf die Rache an den Mondtöchtern zu verzichten und Lykomeda einen letzten mütterlichen Gefallen zu erweisen, indem du ihr ein friedliches Leben wünschst, ohne Angst vor Nachstellungen“, sagte Tara.
„Das denkst du wirklich, Tara. Du findest, ich soll meine Tochter so einfach aufgeben, auch wenn sie dann nicht mehr meine Tochter sein will? Du hast sie nicht im Bauch getragen, mit viel Schmerzen geboren und gehofft, dass du sie über die nächsten Jahre bringst, wo sich da draußen alle gegen uns zusammengerottet haben, von Vita Magica und den Blutgötzinnenanbetern bis zu den Ministeriumszauberern in aller Welt. Ja, und auch wegen Tino will ich Lykomeda eine sichere Umgebung bieten.“
„Nichts fvür ungut, Lunera, aber Tino wollte nie so richtig einer von uns sein“, sagte Lorna darauf. „Woher willst du das wissen. Immerhin hat er sich schnell damit abgefunden, in unserer Gemeinschaft zu leben. Ja, und er hat mich geliebt.“
„Du meinst, weil du seine Tochter bekommen hast?“ fragte Maura. „Vielleicht hat ihn das zuerst sehr glücklich gemacht. Aber der Knatsch zwischen dir und Fino und Fino und den anderen hat ihm wohl Angst gemacht. Sonst wäre er nicht auf die Idee gekommen, mit Nina und Patanegra in den Tod zu gehen.“
„Tara, deine zwei Schwestern missachten meine Gefühle. Sag an, was du denkst! Das soll mir helfen, mich zu entscheiden“, knurrte Lunera.
„Lunera, ich habe schon was dazu gesagt. Aber ich wiederhole es noch einmal ganz gerne: Die Mondtöchter haben Lykomeda von dir und uns weggeholt, damit sie sie zu einer ungefährlichen Eingestaltlerin machen, und Alejandro auch. Die werden wohl irgendwie gespürt haben, dass in den beiden Anteile von mehr unfreiwilligen als willigen Mondgeweihten drinsteckten. Womöglich haben sie während unserer Anreise nach Tenerifa auch mitbekommen, dass wir die beiden Kinder quasi als Druckmittel benutzen wollten. Die werden sie dir nicht mehr wiedergeben. Ich weiß, du wolltest das nicht hören. Aber das ist es, was ich dazu noch zu sagen hatte. Fang neu an, Lunera. Lass alles hinter dir, was bis zum Pico Viejo geschehen ist!“
„Wird nicht einfach sein, Tara. Doch ich muss wohl erkennen, dass du ziemlich sicher recht hast. Ich werde mein Leben nicht damit vertun, diese Mondburg in den Pyrenäen zu suchen und dabei immer mehr Feinde am Hinterteil hängen zu haben, die alle warten, dass ich stolpere. Gut, so nehme ich deine Empfehlung an und fang hier bei euch was neues an, womöglich auch was, was unserer Daseinsform hilft, mit den Eingestaltlern überwiegend friedlich zu leben. Denn das wollte ich ja immer schon.“
„Nur Fino wollte was anderes und León will noch was ganz anderes als er und du“, erwiderte Lorna. Lunera nickte. „León wird sich jetzt ärgern, dass er nur den Frühlingsmondschlüssel benutzen kann. Der wird nicht aufgeben, mich unter seinen Befehl zu zwingen, damit ich ihm die drei anderen Schlüssel freigebe und damit er und seine Machobande wieder über unsere Köpfe hinwegbeschließen können, was ihnen passt. Solange ich nicht zu fassen bin und solange ich lebe wird León del Fuego ein König mit wenig Macht bleiben“, sinnierte Lunera. „Also muss ich hier und in Sicherheit bleiben, bis klar ist, wie es im Rest der Bruderschaft weitergeht.“
„Ja, und wir können bald beschließen, wie wir weitermachen, ob wir uns den Leuten hier offenbaren, uns weiter verstecken oder uns in einen magischen Überdauerungsschlaf versenken wie es die Langzähne können, wenn die Umgebung zu ungünstig für sie ist“, erwiderte Tara.
„Gut, tun wir das“, erklärte sich Lunera Einverstanden.
Am späten Abend dieses Tages packte sie sämtliche Kleidung Lykomedas, ihr Spielzeug und die Bilderbücher in eine große Truhe und brachte sie zusammen mit Hank und Maura in einen der kleineren Kellerräume. Dann schrieb sie auf die Truhe:
Du warst nur kurz bei mir, meine Tochter. Möge der Mond weiterhin deine Nächte erleuchten und der Geist deines mit der Erde verbundenen Vaters deine Schritte lenken, auf dass du dich nicht verirrst und keine Furcht an fremden Orten fühlst.
Gute Reise, meine Tochter Lykomeda!
Sie schloss die Truhe mit vier Vorhängeschlössern ab, die Tara mit einem Unaufsperrbarkeitszauber belegte. Dann verließen sie den Keller.
Wieder in ihrem eigenen Zimmer überkam Lunera ein neuer Weinkrampf. Wie hatte sie es zulassen können, dass man ihr Lykomeda wegnahm? Wieso war sie auf Taras Vorschlag eingegangen, sie mit zu diesem Treffen zu nehmen? Sie war traurig und wütend zugleich. Vor allem hoffte sie, dass León del Fuego in nicht all zu ferner Zeit die Rechnung für seine Untaten bekommen würde.
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Die Insel lag so, wie sie sie schon einmal vorgefunden hatte. Als die Kaiserin der wahren Nachtkinder aus dem Nichts heraus dort erschien patrouillierten die dort zusammengepferchten Dementoren. Unvermittelt breitete Birgute die von Thurainilla erlernte Dunkelheit und Eiseskälte aus. Die Dementoren, die Thurainilla als wahre Krieger der Nacht bezeichnet hatte, versuchten mit ihrer eigenen Verdunkelungskraft gegenzuhalten. Doch Birgute sog diese Kraft auf, wandelte sie in ihre eigene Kraft um und warf die Dementoren damit nieder. Es sah schon so bedauernswert aus, wie die so gefährlichen Geschöpfe bibbernd und zuckend am Boden lagen und hörte sich auch bemitleidenswert an, wie sie um Gnade winselten.
Ich bin zurückgekehrt, eure Herrin und Gebieterin. Ihr habt mir alle zu gehorchen und jede meiner Anweisungen zu befolgen. Sonst entziehe ich jedem von euch sein inneres Selbst und verstreue es in die Dunkelheit. Habt ihr verstanden?“ Im Chor antworteten die gepeinigten Unheilsbringer: „Ja, Herrin und Gebieterin, wir haben verstanden. Befiehl uns, was wir tun sollen. Wir sind deine Sklaven.“
Birgute kommandierte nun einen Trupp aus dreihundert Dementoren zum Oststrand der Insel. Dort trafen gerade zwei Frachtschiffe ein, die von schattenlosen Dienern der Kaiserin geführt wurden. Die dreihundert schwebten schwankend und wimmernd an Bord und verschwanden in den leeren Laderäumen, wo sie solange ausharren sollten, bis sie am Ziel, einem fast vergessenen Hafen an der Westküste Afrikas, angekommen waren.
Zwei Hundertschaften der noch auf der Insel verbliebenen Dementoren schickte sie an Bord eines im Westen ankernden Frachters, der einen heimlichen Hafen der kolumbianischen Rauschgiftmafia unterstand. Die Betreiber des Hafens waren vor einer Woche zu Schattenlosen gemacht worden, als Birgute erfahren hatte, dass es diesen Umschlagplatz für Rauschgift, Waffen und aus Überfällen und Erpressungen stammendes Geld gab. Die Bosse dieser Organisation bekamen vorerst nichts davon mit, dass eine weitaus gefährlichere Macht als sie selbst ihren heimlichen Hafen gekapert hatte.
Nun waren die Dementoren auf ihrem Weg, ihre persönlichen Ritter der Nacht.
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Sie wusste, dass es gefährlich für sie war. Doch Tessa Highdale wollte es selbst mitverfolgen, was in der Höhle der Winterborns vorging. Sie musste jedoch sehr aufpassen, nicht erwischt zu werden.
Die höchstamtliche Leiterin des Sonderkommandos Remus Lupin hatte über ihr Netz von Spionen erfahren, dass die als Lykanthropen der höchsten Gefahrenstufe eingeteilten Winterborns, die von einem jungen Kollegen als Mutanten bezeichnet wurden, ein Treffen abhalten wollten. Offenbar ging es dem alten Lawrence Winterborn darum, seine Position zu den Mondgeschwistern zu klären.
Bezeichnenderweise in einer Nacht, in der der von den fanatischen Lykanthropen angebetete Mond nicht am Himmel zu sehen war trafen sich an die fünfzig Männer und Frauen. Tessa konnte mit ihrem Lykanthroskop, das sie so eingestellt hatte, dass es immer einen Lykanthropen weniger als wirklich anwesend waren anzeigte erfassen, dass die sich hier versammelnden alle die starke Ausprägung der schlummernden Ultralykanthropie aufwiesen. Dieser Begriff gefiel ihr doch besser als „Mutanten“. Von Lykanthropen, die in den Vollmondnächten zu besonders großen, pechschwarzen Exemplaren werden konnten hatte ihr Einsatzgruppenkamerad Miles Bullfinch berichtet. Doch die Eigenschaft konnte nicht durch einen Biss weitergegeben werden, sondern konnte nur an eigene Kinder weitergegeben werden, wenn beide Elternteile diese Veranlagung hatten.
Tessa lehnte sich in ihrem Levitationssessel mit Tarnbezauberung zurück, einer neuen Erfindung, um für mehr als zehn Stunden wie auf der Aussichtsplattform eines Turmes auszuharren. Zusetzlich hatte sie sich mit einem Elixier eingesprüht, dass ihren eigenen Körpergeruch verhüllte. Das war eine geniale Erfindung aus der alchemistisch-thaumaturgischen Ideenküche von Quinn Hammersmith vom Laveau-Institut. So konnten alle da unten zusammenfindenden Nachtwölfe der verzweigten Winterborn-Sippe sie weder sehen, hören noch riechen.
Sie berührte ein Stirnband, das gerade wie sie unsichtbar war. Sie suchte mit den Fingern nach zwei Symbolen und berührte diese. Unvermittelt war ihr, als schwebe sie nicht unverwehbar hundert Meter über dem Hang, der zur Höhle führte, sondern befände sich in der Höhle selbst. Das hatte also geklappt. Eine brandneue Erfindung des einohrigen Scherzbolds George Weasley, das Fernlausch-Stirnband, das mit fünf in der Höhle verteilten Steinen verbunden war, die von ihren Abteilungskameraden vorgestern in der Höhle verteilt worden waren. Falls Winterborn keine feste Tür in den Höhleneingang einbaute und die Höhle noch dazu an allen Stellen abgedichtet wurde würde sie nun alles mithören, was dort besprochen wurde.
Gerade betrat ein offenbar sehnlichst erwarteter Nachzügler die Höhle. Er trug noch kleine Stopfen in den Ohren, wie Tessa durch ihr kleines Zauberfernrohr sehen konnte. Dann hörte sie auch, wer es war. „Ah, Mitch, du bist doch noch gekommen. Hat der Feuerlöwe dich freiwillig gehen lassen oder musstest du ihm eins überbraten?“ fragte eine vom Alter angerauhte aber immer noch kräftig wirkende Männerstimme.
„Ich musste abhauen, Pa. Der hat mir befohlen, bei ihm zu bleiben, jetzt, wo er nicht weiß, ob das mit Myron und Morty nur der Auftakt war. Er hat mir gedroht, mich zu ächten. Sicher hat er das jetzt auch gemacht. Also wenn ich ab morgen wieder in sein Revier eindringe bin ich zum Töten freigegeben. Ja, und einer von seinen Gefolgsleuten hat es wohl schon darauf angelegt, mich auf dem Grundstück des Verstecks, das ich nicht verraten kann, umzubringen. Jedenfalls hat das hier ausgelöst und mich beschützt, bis ich frei apparieren konnte“, erwiderte die Stimme des Nachzüglers. Offenbar zeigte er seinem Vater einen magischen Gegenstand. „Das wäre dem aber nicht gut bekommen“, knurrte der ältere Mann. Die anderen Männer lachten.
„Er hat dir angeboten, einer von ihnen zu werden, Pa. Dann hättest du ihn nächstes Jahr im Mai zum Nachfolgezweikampf herausfordern können.“ Alle anderen lachten über das, was der Mitch gerufene Mann da gerade gesagt hatte.
„Stimmt, hätten wir alle machen sollen. Dann könnten wir diesen Verein dieses spanischen Mondtänzers Espinado übernehmen und umkrempeln“, sagte die ältere Stimme, offenbar Lawrence Winterborn. Dann mahnte er zu wichtigeren Themen.
Die Versammlung und damit auch die heimliche Lauscherin weit über der Höhle erfuhr nun, was Mitch und seinen Brüdern geschehen war und dass zu befürchten stand, dass auch andere Lykanthropen den Nachtschatten zur Beute fallen mochten. Keine wirklich angenehme Vorstellung. León wollte jedoch nichts davon wissen und vertraute den Sonnenzaubern, die Fino mit den anderen entwickelt hatte, darunter den Zauber „Zähne des Ra“, mit dem die Kraft von mehreren Stunden Sonnenschein auf verschieden große Goldgegenstände gelegt werden konnte und dass damit Dutzende von Vampiren ausgelöscht werden konnten. Auch erwähnte er, dass die grauen Übervampire wohl auf eine bestimmte, mit Heilsmagie verstärkteSchwingung zu Staub zerfielen, ebenso wie sie den Schrei neugeborener Kinder nicht vertrugen. Das war so wie die tödliche Allergie der Basilisken gegen Hahnenschreie oder die Todeswirkung einer erwachsenen Alraune auf Menschen, wenn jemand sie ausgrub. „Öhm, und diesen Schwingungsapparat konntest du nicht mitnehmen?“ fragte der alte Winterborn. „Den Apparat selbst nicht. Aber die Pläne für Bau und Betrieb, Pa. Die habe ich mir heimlich kopiert und mir ins Futter meines Gebrauchsumhanges eingenäht. Daher musste ich mir auch den Weg freimachen, weil Leóns Gefolgsleute wollten, dass ich alle Kleidung ausziehe“, sagte Mitch Winterborn. Wieder lachten alle. „Dann wolltest du uns die Pläne zuspielen, an diesem roen Mickerwolf vorbei?“ fragte Lawrence Winterborn. „Auf jeden Fall, nachdem Fino den Kampf verloren hat. Aber dann kam schon bald das gemeine Ding mit Myron und Morty. Diese Madrugadiña, eine halbindigene Hexe aus Mittelamerika, meinte, dass dieses Schattenweib die irgendwie zu ihren neuen Sklaven gemacht hat und dass die vielleicht verraten können, wo das Hauptquartier ist“, antwortete jener, der Mitch genannt wurde.
„Können sie nicht, weil sie sonst wohl nicht versucht hätte, über Mitches Träume auf seinen Standort zu kommen“, warf ein anderer Nachtwolf ein, dessen Stimme Tessa noch nicht kannte.
„Katzen spielen mit der Maus, bevor sie sie töten und fressen“, warf Lawrence Winterborn ein. „Aber gut, dass du für einige von uns diese Sonnenbroschen besorgt hast. Dann können sie uns so nicht aufspüren.“
„Ja, aber wir sollten dann auch einen Fidelius-Ort haben“, sagte der Mann, den Tessa noch nicht kannte. „Kannst du den Zauber, Malcolm?“ fragte er. Als die jüngere Stimme antwortete wusste Tessa den Namen Malcolm. „Ich kenne den nicht. Aber die McRores kennen den. Oder haben die ihre eigene Zuflucht nicht auch so abgesichert?“
„Zu denen müssen wir eh hin, wenn uns der LNT ausgeht. León hat nämlich klargestellt, dass wir Winterborns keinen Nachschub kriegen, wenn ich zu euch hingehe.“
„Ach neh!“ meinte Lawrence. „Im Zweifelsfall können wir uns auch einfach im Zaubereiministerium registrieren lassen und dann eine monatliche Dosis davon beantragen. Aber wer will das?“ Keiner antwortete. „Also zu den McRores. Die sind doch bei Leóns Leuten unten durch, weil sie nicht vor ihm gekuscht haben. Aber ob die genug Zutaten haben, um uns alle zu versorgen und ob eine von denen mit uns den Geheimhaltungszauber machen will ist auch fraglich. Aber wenn der neue Anführer der Mondbrüder das so festgelegt hat, muss es halt so sein“, grummelte Lawrence.
So drehte sich die Versammlung noch um Abwehrmaßnahmen gegen Nachtschatten und dass die von Mitch erbeuteten Pläne für die Todesschwingung gegen Kristallstaubvampire ausgewertet werden sollten. Das hätte Tessa auch gerne. Doch sie wusste, dass sie hier und jetzt nicht dazwischengehen durfte. Sicher, sie konnte Verstärkung rufen und die ganze Versammlung hochnehmen lassen. Aber das würde nicht ohne einen Kampf ablaufen. außerdem konnte sie nicht sicher sein, ob wirklich alle dem Ruf des Patriarchen gefolgt waren oder ob nicht irgendwo da draußen noch Verwandte saßen, die auf Nachricht warteten. Auch wollte sie gerne mehr über diese McRores wissen. Meinte der alte Winterborn etwa die drei bereits registrierten Lykanthropinnen Tara, Lorna und Maura McRore? Dann waren die wohl der Mondbruderschaft beigetreten. Aber die akzeptierten die neue Führung nicht, und die hatte sie wohl zu Geächteten erklärt. Als Tessa noch erfuhr, dass Lunera, die sie schon länger auf der Fahndungsliste hatte, eine Tochter gehabt hatte, die von den Töchtern des Mondes entführt worden war, ebenso wie ein Junge namens Alejandro überlegte sie, wie sie diese Nachricht einstufen sollte. Würde es demnächst einen Rachefeldzug gegen alle echten oder vermeintlichen Helfer der Mondtöchter geben? Oder würde sich Lunera damit abfinden, ihre Tochter nie wieder zu sehen? Sie machte sich aber gerade mehr Sorgen über die Brüder von Mitch. So wie er seine Fernwahrnehmung davon beschrieben hatte sollten sie als neue Schattenkinder wiedergeboren werden. Da dies schon mehr als sieben Wochen her war konnten die inzwischen zu vollwertigen Nachtschatten geworden sein. Ob sie dann besondere Kräfte hatten wusste Tessa Highdale nicht. Doch auch die Versammlung da unten wusste es nicht. Feststand für den alten Winterborn nur, dass sie nur noch mit jenen Zaubergegenständen herumlaufen durften, die Sonnenlicht ausstrahlten, wie die Sonnenlichtkugel, von der Malcolm bei der Gelegenheit sprach. Natürlich, Lykanthropen besaßen keine ausgeprägte Nachtsicht wie Vampire. Dafür hatten sie ein überragendes Gehör und einen nicht minder empfindlichen Geruchssinn, wie Tessa aus eigener Erfahrung wusste.
„Also, Leute, wir sehen zu, nur noch in Häusern mit lichtdicht schließbaren Fensterläden und Luftaustauschzauber ohne Belüftungsöffnungen zu sitzen. Die Höhle hier ist ja gegen alle Eingestaltler und Geisterwesen abgesichert. Aber auch hier könnten die uns kriegen, weil die zwei alle dreißig Höhlen kennen, in denen wir uns schon mal getroffen haben. Womöglich suchen die schon nach uns“, meinte Malcolm. „Du bist ein Unkenrufer. Aber womöglich hast du recht“, knurrte der alte Winterborn. „Gut, dann treffen wir uns ab sofort nur noch bei Tageslicht.“
„Besser ist das, Pa“, sagte Mitch.
Es dauerte nur noch wenige Minuten, bis die Versammlung sich auflöste. Am Schluss kamen der alte Winterborn und ein etwas jüngerer Mann aus der Höhle und trugen dabei zwei große Medaillen und eine gerade nicht leuchtende, stachelige Sonnenlichtkugel. Dann bildeten sich Appariergruppen. Sie verschwanden mit lautem Knall im Nichts, dass das Echo noch Sekunden lang nachhallte. Tessa löste ihr Stirnband wieder. Jetzt gab es da unten nichts mehr mitzuhören.
Sie trieb ihren Flugsessel, der nur mit doppelter Laufgeschwindigkeit vorankam, bis zu einem Punkt, wo sie ungefährdet landen konnte. Dann löste sie den in ihrem Gürtel wirkenden Portschlüsselzauber aus und kehrte damit ins Zaubereiministerium zurück. Den Rest der Nacht verbrachte sie damit, alle gehörten Einzelheiten aufzuschreiben und zu recherchieren, was über den Fidelius-Zauber bekannt war.
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Als die Kaiserin der Nachtschatten sicher wusste, dass ihre Streitmacht an den vorbestimmten Zielen angekommen war schickte sie eine Kapitulationsaufforderung an die Mondbruderschaft. Hierzu bediente sie sich eines schattenlosen Neumondwolfes, der zumindest die totenBriefkästen der Bruderschaft kannte. Sicher überwacht von gerade mal zur Körperverformung fähigen Untertanen ließ die Kaiserin beobachten, wie die mit dem Blut des Absenders geschriebene Nachricht gefunden und wohl weitertransportiert wurde. Da der Transport bei Tag stattfand konnten die Beobachter nicht folgen. Doch Birgute zweifelte nicht daran, dass sie an die richtige Adresse gelangen würde. Spätestens wenn nach dem Vollmond im September eine Abordnung mit nachtschwarzer Fahne am befohlenen Verhandlungsort eintraf wusste die Kaiserin, dass ihre dunkle Saat bei den Werwölfen aufging. Dann blieben nur noch die Schwestern Thurainillas und ihre überragend zaubermächtige aber doch auch selbstverliebte Mutter Lahilliota. Diese würde sie im Oktober antreffen, wenn sie in der Körperform einer metergroßen Waldameisenkönigin in ihrem eigenen Stützpunkt hockte. Hierfür würde sie die rekrutierten Dementoren einsetzen und siegen.
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Am 1. September trafen sich die neue Präsidentin des MAKUSAs, Godiva Cartridge, der Zaubereiminister Kanadas, Monty Pinewood und Mexikos Zaubereiminister Piedraroja auf jener einmal zur tückischen Falle gewordenen Isla de las buenas Tardes im Pazifik, um sich über ein Vorgehen gegen die Landesgrenzen überschreitender Gruppierungen zu verständigen. iedrarojas Leute hatten herausbekommen, dass es den Werwölfen offenbar gelang, in ländlichen Gegenden ganze Siedlergemeinschaften zu verseuchen, und dass die Mondbruderschaft offenbar in zwei oder drei Interessensgruppen zerbrochen war. MAKUSA-Präsidentin Cartridge bedankte sich für die freiwillige Rückgabe von den Fuentevivas über Strohleute aufgekaufter Grundstücke
Nach der Rückkehr Piedrarojas nach Mexiko-Stadt fand er einen Brief von La Mano Ayudante. Der Text war wie üblich in Druckbuchstaben auf Pergament gebracht worden, aber nicht spiegelverkehrt wie die Drohung damals.
Herr Zaubereiminister Piedraroja,
auch wenn Sie und und Ihr Sicherheitsabteilungsleiter Montebravo eingesehen haben, dass eine Ermittlung unserer Mitglieder nur zu einem unschönen Streit ausufern kann besteht unsererseits doch noch die Besorgnis, ob wir Ihnen nicht in all zu ferner Zukunft wieder helfend unter die Arme greifen müssen. Denn die Tätigkeit der Blutsauger und Pelzwechsler missfällt uns, und die von uns vertretenen Gesellschaftsgruppen fürchten, dass sie wie Klatscher beim Quidditch hin und hergeprügelt werden könnten, um sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Daher werden wir unsere Kraft weiterhin dafür einsetzen, Schaden von den von uns vertretenen Gruppen abzuhalten. Wir sind nicht aus der Welt, wie Montebravo es über seine Agenten hat verbreiten lassen. Wir bedenken nur, wem wir weiter helfen und wem nicht. Da Sie selbst gemerkt haben, wie schnell es sein kann, dass Sie unsere Hilfe brauchen sollten Sie weiterhin sicherstellen, dass keines unserer Mitglieder zum Gegenstand von Gerichtsverhandlungen gemacht wird. Denn dann gilt das, was wir beim letzten mal angekündigt haben.
„Tja, ihr seid immer noch da“, grummelte Piedraroja. „Wir aber auch“, fügte er in Gedanken hinzu. Doch dann musste er sich fragen, wielange noch.
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Er gehörte zu den Unterworfenen der Kaiserin, José Alvaro Miguez Panadero, einst ein treuer Anhänger Espinados und seiner Witwe Lunera und seit Mai diesen Jahres treuer Gefolgsmann León del Fuegos, bis dieses Wesen ohne Körper ihn bei Vollmond heimgesucht und seinen Schatten geraubt hatte. Ab da musste er tun, was die Kaiserin befahl. Hier und jetzt lautete sein Befehl, auf eine Abordnung von anderen ehemaligen Mitbrüdern zu warten, die ihm zeigen sollten, dass sie sich freiwillig der Kaiserin unterwarfen.
Die Sonne versank. Das Abendlicht wechselte von einem orangen und einem roten Licht zu einem Restgold, dann zu einem abendlichen Blau und dann zu einem verlöschenden Grau. Dann war es endgültig Nacht.
Der Bote blickte in den Mond, dessen Kraft nun anders auf ihn wirkte als vor der Unterwerfung unter den Befehl der Kaiserin der Nacht. Heute war noch keine Nacht der Scheitelpunkte. Weder war der Mond voll zu sehen, noch war er als Neumond jenseits des Horizontes. So konnte sich José Alvaro Miguez Panadero voll auf seinen Auftrag besinnen. Auch in Menschengestalt waren seine Sinne schärfer als bei einem Eingestaltler. So nahmen seine Ohren den kleinsten Windhauch im Gras wahr. Seine Nase sog den Geruch von vergrünenden Pflanzen auf. Wenn jemand kam würde er es sofort merken.
Er wartete und wartete. Laut seiner um den Hals hängenden Klappdeckeluhr an einer Messingkette war es nun seit zwei Stunden Nacht. Das Licht des Mondes streute sich silbergrau in Pflanzen und Felsen. Er saß hier, ein einsamer Wolf, der den Befehl hatte, eine Abordnung von Gleichartigen zu begrüßen. Doch niemand kam. Er blieb alleine. Er hatte den Befehl, bis zum nächsten Morgenrot zu warten. Erst dann, so der Bote seiner neuen Herrin, war sein Auftrag beendet. Dann galt, dass die einstigen Mitbrüder sich nicht ergeben und unterwerfen wollten.
José wusste nicht, dass er beobachtet wurde. Sicher, zu hören war nichts und niemand. Doch durch seine Augen blickte jemand wie durch zwei Fenster. Durch seine Ohren hörte jemand wie durch zwei offene Türen. Falls jemand kam, so würde auch jemand ihm befehlen, zu sprechen oder zu handeln. Der Beobachter war selbst einmal ein Gestaltwechsler gewesen, bis er die große Gnade erfahren hatte, als mächtiger Sohn der Kaiserin wiedergeboren zu werden. Sicher, er musste ab da das Sonnenlicht meiden wie einer dieser widerwärtigen, langzähnigen Blutschlürfer. Doch dafür konnte er seine Form verändern, schneller als der Schall durch die Luft rasen und im Bedarfsfall mit einem ausreichend starken Wunsch an einen fernen Ort überwechseln, solange dort Dunkelheit herrschte. Der Lenker des Boten, wie er sich selbst nannte, verfolgte einmal durch dessen Sinne, was in der Umgebung geschah. Dann schwebte er als handballengroße Kugel in den Himmel, um von oben einen Rundblick zu nehmen. Die Kaiserin rechnete damit, dass die Abordnung, wenn sie denn kam, entweder aus dem Nichts herausploppte oder aus einer sich wild drehenden Lichtspirale entfiel. Oder würden sie es wagen, die gesamte Strecke zu fliegen? Dann mochte der Lenker des Boten sie eher sehen als der Bote am Boden.
Die Stunden krochen dahin. Die Sterne am Himmel wanderten geruhsam dahin. Wo die einen schon wieder unter dem Horizont verschwanden, stiegen am gegenüberliegenden Himmelssaum neue Sternbilder auf. Irgendwo huschte ein Nachtvogel über den kargen Wald. Der suchte wohl nach Mäusen.
Als sich am östlichen Horizont das Morgengrauen zeigte gingen der Bote und sein nichtstofflicher Lenker davon aus, dass keine Abordnung der Mondbruderschaft erscheinen würde. Dann tasteten die ersten rosigen Lichtfinger der Morgenröte über den östlichen Himmelsrand. Die Nacht zog sich nach Westen zurück. Dann, als die Morgenröte in voller Pracht zu sehen war, wusste der Lenker des Botens, dass er jetzt verschwinden musste. Das wenige Morgenlicht reichte schon aus, seine bewegungen zu lähmen. Wenn die ersten wahren Sonnenstrahlen über den Horizont schossen war er in größter Gefahr. So gab er dem Boten den Befehl: „Kehre zu deinem Schlafplatz zurück, José! Dein Auftrag ist beendet.“ Dann rang sich der Lenker die nötige Kraft ab, um aus dem immer heller werdenden Morgenlicht heraus zu verschwinden. Er machte dabei kein Geräusch, da sein Körper kein Stäubchen feste Materie enthielt.
José Antonio Miguez Panadero blickte sich um. Der Motorwagen, mit dem er gekommen war, stand einen halben Kilometer entfernt. Mit müden Beinen schlich er mehr als dass er ging dorthin und verließ den Wartepunkt. „Keine Abordnung! Sie wollen dir nicht Untertan sein, höchste Gebieterin“, dachte José. Seine Gedanken wurden über den, der ihn angeworben hatte an die Kaiserin weitergereicht. Doch er erhielt keine Antwort. Warum auch?
Das Anspringen des Benzinmotors war nach all den Stunden stillen Wartens das erste wirklich laute Geräusch. Als der kleine Seat sich entfernte blieben nur seine Reifenspuren und die Fußabdrücke des Botens zurück.
„Sie wollen also die gewaltsame Unterwerfung“, dachte die, welche dieses Treffen gefordert hatte. Nun, dann sollten sie erleben, wie mächtig sie nun war, die wahre Macht der Nacht.
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„So beschließen wir und erbitten eure Zustimmung, dass wir uns ab heute, dem ersten Vollmond im Herbst, von allen Verpflichtungen der Bruderschaft des Mondes von Cortoreja Espinado und dessen Nachfolgern lossagen. Geächtet sind wir ja schon“, sagte Tara McRore und verzog ihr Gesicht. „Wir haben fünf Vorschläge für einen neuen Namen und vier für unsere weiteren Handlungen. Hier dürft ihr alle mit abstimmen.“
Am Ende der namentlichen Abstimmung stand fest, dass die Glenfield-Brooks-Gemeinschaft nun „Orden des freien Mondes“ heißen sollte und erst einmal auf Großbritannien beschrenkt bleiben würde. Neben Vorschlägen wie eine offensive Neumitgliederwerbung nach der Methode Rabioso oder einer weiteren natürlichen Vermehrung standen auch ein magischer Tiefschlaf für die nächsten zehn Jahre oder eine Unterhandlung mit dem Ministerium und dem Sonderkommando Remus Lupin zur Auswahl. Hier entfiel eine Stimmenmehrheit auf die Einbeziehung von Werwolfsfamilien, die sich bisher nicht mit der Mondbruderschaft Espinados zusammentun wollten. Es sollte eine Konföderation des Mondes entstehen. Lorna äußerte die Vermutung, dass auch León an eine Ausweitung der eigenen Handlungen dachte.
Als sie am abend des 19. Septembers zu einer ersten Beratung über die Kontaktaufnahme mit anderen Familien zusammensaßen traf die Schreckensnachricht ein, dass in Spanien fünfzig unregistrierte Lykanthropen versucht hatten, in das Zaubereiministerium einzudringen. Dabei sei herausgekommen, dass keiner von ihnen einen Schatten warf. Hank meinte dazu: „Huch das galt doch mal für Vampire, nicht für Werwölfe.“
„Für Vampire auch nur in den Gruselgeschichten, wo die auch kein Spiegelbild haben“, berichtigte ihn seine Frau Lorna. „Ja, aber das mit den Schattenlosen ist sehr übel. Das heißt nämlich, dass die Nachtschattenbrut anfängt, uns Mondgesegnete zu ihren Sklaven zu machen. Die haben das bis vor einem Jahr mit Eingestaltlern gemacht. Offenbar hat jemand denen verraten, woran wir Mondgesegneten zu erkennen sind, wenn wir keine Wölfe sind.“
„Am Geruch?“ fragte Pete spöttisch und fing sich von Maura und Tara einen sehr tadelnden Blick ein. „In gewisser Weise schon. Nur dass sie nicht die Ausdünstungen des Körpers, sondern der in ihm wirkenden Lebenskraft und der Seele riechen können, wenn sie sich darauf einstimmen“, sagte Tara. Lorna nickte beipflichtend. „Ja, und was machen diese Schattenlosen? können die auch andere zu solchen Wesen machen oder hängen die nur an einer langen Leine dieser Superdämonin?“ wollte Pete wissen.
„Eins könnte der Zweck dieses Versuches sein und zwei, ja, die hängen an einer die ganze Welt umspannenden Leine. Aber sie dürfen nicht zu viel Sonne abbekommen. Wer seines Schattens beraubt wird wird sehr lichtempfindlich und altert auch schneller als sonst. Willst du nicht wirklich, Pete.“
„Habe ich auch nicht behauptet“, grummelte Pete Walters. „Aber was genau können wir machen, wenn die Schattendämonen sich jetzt auf uns alle einschießen?“ fragte Pete.
„Unsere Aura umfärben und einen Geruchsverfremder drübersprühen?“ fragte Hank. „Das geht nicht so leicht, weil ja unsere sonstigen Eigenschaften dadurch verdorben werden können“, erwiderte Tara. „Ja, und was noch tückisch an diesen Kreaturen ist, die können, wenn sie mehr als vier Menschenleben in sich hineingefressen haben lautlos den Standort wechseln, also geräuschlos irgendwo auftauchen, dass selbst wir sie nicht kommen hören. Der einzige Schutz, den wir im Moment haben ist die Geheimhaltung unseres Stützpunktes und die zehn dank Maura und Joel stiebitzten Sonnenlichtkugeln, die wir immer wieder aufladen können. „Ja, nur dass wir dann immer mit lichtschluckenden Schlafmasken im Bett liegen müssen“, meinte Joel. Hank nickte ihm zu.
„Hat diese Schattenkönigin denn irgendwas weitergegeben, was sie will?“ fragte Hank.
„Bisher noch nicht. Vielleicht konzentriert sie sich auch auf León del Fuegos Bruderschaft. Denn die sie erwischt haben sind alles Mondbrüder von ihm“, sagte Lunera. „Als ich hörte, wer da alles mitmarschiert ist konnte ich das sofort bestätigen. León hat ein ziemlich gewaltiges Personalproblem, wenn das so weitergeht. Ja, und wenn wir nicht aufpassen haben wir das auch“, sagte Tara. „Immerhin konnte ich die ganzen Nachtwölfe um den alten Winterborn dazu überreden, sich auf eine Seeinsel irgendwo im Hochland zurückzuziehen, die mit den von unserer Heilerin Rosalba mitgegebenen Sonnenlichtzaubern einen brauchbaren Abwehrdom errichten können, der nicht als reine Begrenzung wirkt, sondern sozusagen vom Quellgegenstand her alles zurückdrängt, was die Sonne flieht. Zudem konnte ich mit dem alten Winterborn einen Fidelius-Zauber machen. Denn er und seine Leute müssen besonders damit rechnen, dass sie heimgesucht werden sollen. In zehn der sonst genutzten Höhlen waren sie nämlich schon und haben gesucht. Das hat den alten Struwelkopf überzeugt, dass die Zeit des Jagens erst einmal vorbei ist, wenn mehr Jäger als Füchse im Wald unterwegs sind.“
„Hat ihm sicher nicht gefallen“, meinte Hank. „Die haben ausgelost, wer wach bleibt und wer in einen Zaubertiefschlaf versenkt wird.“
„Öhm, war das nicht auch auf unserer Auswahlliste?“ wollte Hank wissen. „Ist es immer noch, falls sich herausstellt, dass wir die Zutaten für den LNT nicht mehr in der gebotenen Menge kriegen. Fünf hat es nämlich genau beim Pflücken der Kräuter erwischt“, sagte Lunera.
„Also dumm sind die nicht, diese Schattenbiester“, knurrte Pete. Er stellte sich gerade eine belagerte Ritterburg vor, deren Bewohner immer weniger zu essen hatten und Angst haben mussten, dass die Feinde ihnen auch noch das Wasser abgruben.
„Kann man diese Nachtschatten nicht auch mit dem Patronus-Zauber zurückscheuchen, Tara und Lorna?“ fragte Maura. „Ja und mit dem Sonnenlichtspeer, Maura. Aber das geht nur dann, wenn du noch zielen und den Zauber rufen kannst. Wer sich zum Kräuterpflücken bückt braucht beide Hände und muss genau hinsehen, was er oder sie aus dem Boden ziehen will.“
„Dann muss einer den anderen bewachen und sofort und ohne Vorwarnung abdrücken, wenn so ein kleinerer Schattendämon bei denen materialisiert“, meinte Pete. „Die haben kein Stäubchen Körpermaterie in sich“, musste Lunera den jungen Mitbewohner berichtigen.
„Deshalb gehen auch nur auf Sonnenlicht und Lebensverstärkung getragene Zauber“, legte Tara nach. „Aber wenn die genau da lauern, wo die pflanzlichen Zutaten für den LNT sind wird es nicht nur für uns eng, sondern für alle, die sich daran gewöhnt haben, in den Vollmondnächten bei eigener Willenshoheit herumzulaufen“, sagte Lorna. „Deshalb hat Lunera rechtt. Sie hat ja auch erwähnt, dass sie das mit ihrem Schiff Reina de las Mareas auch mal so gehandhabt haben, als sie sich längere Zeit verstecken mussten.“ Lunera nickte. „Wir haben da zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der Besatzung im Tiefschlaf gehalten und durchgewechselt, um keinen Bunkerkoller und keinen Hunger aufkommen zu lassen. Sowas in der Art müssten wir dann auch machen.“
„Halt, eine Frage“, setzte Hank an. „Was haben die davon, wenn wir den LNT nicht mehr zusammenbrauen können, oder besser ihr vier hübschen.?“
„Du meinst, unbeherrschte Mondgeweihte taugen ihnen nicht als Helfer?“ fragte Tara. Hank bestätigte es. „Nun, zuerst könnten sie unbeherrschte Lykanthropen leichter einfangen und an ihre – Wie nanntet ihr das? – lange Leine binden. Zum anderen könnten sie über diese lange Leine die Verwandelten dazu bringen, immer mehr Menschen gezielt zu beißen, die dann wieder von freien Nachtschatten unterworfen oder von dieser Nachtschattenkönigin selbst einverleibt werden. Und ja, dumm ist diese Dame nicht. Wir wissen nicht, wer sie früher war. Aber sie kennt sich offenbar in der magischen und in der nichtmagischen Welt aus, was sie für beide Welten höchst gefährlich macht. Ihr erinnert euch doch an die Nachrichten aus Deutschland, wo sie ein großes Einkaufszentrum in einen Dunkelheitszauber eingeschlossen hat. Das könnte sie auch anderswo tun, wo keine Sonnenzauber wirken“, sagte Tara.
„Ja, und was genau heißt das jetzt für uns. Legen wir uns doch hin wie Dornröschen oder machen wir einen Plan, mit dem wir diese Biester abwehren können?“ fragte Joel. Tara sah Lunera an. Die sah Tara und Lorna an. Vor allem Lorna, die nun unübersehbar neues Leben trug sollte sich dazu äußern.
„Wir stellen Vierertrupps zusammen, von denen ein Mitglied das Rezept für den Trank hat und die drei anderen aufpassen, dass aus keiner Richtung ein Nachtschatten kommt. Zusetzlich nehmen die Gruppen eine Sonnenlichtkugel mit. Wir haben gerade zehn stück davon. Vier können wir entbehren. also vier Gruppen, die zum Pflücken losziehen, solange die Tage noch lang genug sind“, legte Tara fest. Wir dürfen im Moment keine Rücksicht auf andere Familien nehmen, die sich bisher nicht zu uns geäußert haben. Jetzt geht es nur um das Überleben.“
„Wird den anderen nicht passen“, sagte Hank. „Das darf uns jetzt auch nicht kümmern, zumal wir für Leóns Leute eh schon tot sind“, legte sie nach.
„Du meinst, die anderen kommen auf dieselbe Idee?“ fragte Joel und nickte sich sofort selbst zu. Damit mussten sie jetzt, wo die Idee erwähnt worden war rechnen.
So planten sie den Einsatz der Gruppen, die auch mit einem wörtlich auslösbaren Portschlüssel ausgerüstet werden sollten. Weil Hank die Frage stellte, ob sich die Nachtschatten auch ganz klein machen und so besser verstecken konnten legte Tara noch fest, dass die abzuerntende Stelle erst mit einem Patronus-Zauber überstrichen werden sollte. Fand der damit beschworene Beschützer einen geschrumpften Nachtschatten sollte er ihn solange zurückdrängen, bis er von selbst verschwand oder verging.
Eine Stunde nach der Beratung rückten die ersten vier Gruppen mit entsprechender Ausrüstung und Fachkräften aus.
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Gooriaimiria hätte fast wieder einen Wutanfall bekommen, als sie einen Vierertrupp nach Atlanta in Georgia schicken wollte, um drei hochrangige Virologen der dort ansässigen Behörde CDC zu entführen. Doch diese Rotblütler hatten das Gebäude mit Sonnenlichtzaubern umschlossen und über dem Dach eine Sonnenlichtkugel untergebracht. Das bekam sie erst mit, als sie einen ihrer schwarzen Ritter bei Nacht in mehr als tausend Längen höhe über dem Gebäude ankommen ließ und der fast vom von unten gleißenden Licht geblendet worden war. Doch sie wollte da rein und sie würde da reinkommen.
Also schickte sie einen der bewährten Vierertrupps in die Nähe der Absperrung und ließ sie den Rest von tausend Schritten zu Fuß laufen.
Auf halbem Weg trafen vier Bolzen mit Saugnäpfen je einen der schwarzen Ritter. Gooriaimirias Gedanken schlugen einen Purzelbaum. Denn sie sah durch die Augen des Truppenführers, dass am Ende des Bolzens ein roter Kristall steckte. Als die vier sahen, woher die Geschosse gekommen waren wollten sie los, die Frechlinge fangen. Doch die disapparierten einfach. Der rote Kristall am hinteren Ende jedes Bolzens pulsierte immer wilder. Dabei lief er immer dunkler an, bis er mit einem leisen Knack zu schwarzem Staub zerfiel, der von der Rüstung herabrieselte wie feinster Strandsand.
Da tauchten zwanzig Zauberstabträger auf und ließen eine weitere dieser Lichtkugeln aufsteigen. Das machte den vieren so nichts mehr aus, solange die Visiere geschlossen blieben. Aber nun konnte man sie bedenkenlos mit allen auf Sonnenlicht gründenden Zaubern beharken. außerdem trugen die jetzt auch verspiegelte Brillen, um selbst nicht geblendet zu werden. Als die dannn noch herausfanden, dass sie nichts gegen die Zauberabwehr der Rüstungen selbst machen konnten, aber den Vieren einfach den Boden unter den Füßen wegziehen konnten, indem sie den Boden aufsprengten und die Vier Gepanzerten in die Tiefe rutschen ließen erkannte sie, dass das so nicht weitergehen konnte. „Ihr seid vier, versammelt in meinem Namen!“ rief die Göttin aus, während ihre Krieger immer tiefer nach unten sanken. Ja, sie besannen sich auf sie und riefen sie zeitgleich an. Sie vereinten ihre Kräfte.
Sie schaffte es für wenige Sekunden, ihre rote Avatari erscheinen zu lassen. Diese hechtete auf die ihr zusetzende Kugel zu und schaffte es, diese zu treffen. Das machte der Erscheinung fast den Garaus. Doch aus ihrer wilden Wut heraus ballte sie ihre Fäuste und schlug mit einem daraus quellenden Dunkelheitszauber zu. Die Sonnenlichtkugel geriet aus der Balance und stürzte zu Boden. Als sie aufschlug blitzte sie kurz blau auf und war dann dunkel. „Und ich bekomme, wen ich will, ihr kurzlebigen Schwächlinge!“ rief die Avatari Gooriaimirias den nun auf sie einzaubernden Menschen zu. Doch nun, wo sie die natürliche Dunkelheit größtenteils ausnutzen konnte parierte sie die meisten Zauber.
Da schwirrten an die hundert Besenreiter heran und gingen sofort mit Sonnenspeeren und einem zur Kugel schließenden Sonnenlichtwall gegen sie vor. Als die Sphäre sich völlig schloss verlor sie den unsichtbaren Halt zu den vier Gefolgsleuten. Die Erscheinung verging. Dabei merkte Gooriaimiria, wie ihr gleich vier Seelen aus ihrem eigenen Gefüge entrissen wurden. Sicher, ein gewöhnliches Kind der Nacht wäre in dieser frei schwebenden Sonnenlichtkugel verbrannt.
Als sie aus der nicht sehr bedeutsamen aber dennoch hinzunehmenden Abschwächung erwachte fühlte die Göttin der Nachtkinder, dass ihre vier Krieger noch lebten. Sie sah durch die Augen des einen, dass die Kugel aus Sonnenlicht wieder verschwunden war. „Visiere auf, ihr findet die eh nicht mehr, die ich wollte!“ befahl sie. Ja, der Kampf hatte zu lange gedauert. Ihre Gefolgsleute öffneten ihre Visiere und gaben sich damit der Kraft ihrer Herrin hin.
„Es soll Zauberpulver geben, die dort, wo sie in die Luft gestreut werden Finsternis hervorrufen, habe ich erfahren. Beschafft euch dieses Pulver und verwendet es, wenn die nächste Sonnenlichtkugel über euch erscheint!“ befahl sie allen ihren Gefolgsleuten.
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„Das ist zu heftig. IVKs vergehen an diesen Rüstungen ohne auszulösen. In Geschlossenen Räumen mit elektrischen Geräten dürfen IVKs nicht eingesetzt werden, zur dreigeschwänzten Gorgone! Ja, und nur wegen vier dieser Panzerkrieger zwanzig Meter Straße zu zerrbröseln und noch dazu ein superweit sichtbares Licht zu beschwören, das hunderttausend Nomajs sehen können“, knurrte Davidson. Quinn Hammersmith und Berthold Deepwater stimmten zu. Dann meinte Quinn: „Wenn ich die wäre würde ich jetzt Verdunkelungspulver aus Peru organisieren, um damit jede Sonnenlichtkugel zu überdecken.“
„Stimmt, sie haben auch Zauberer oder Hexen bei sich“, knurrte Deepwater. Davidson sagte: „Ja, und die Peruaner sind sehr freigiebig mit ihrer achso tollen Erfindung. Wenn das wirklich Sonnenlichtsammelkugeln überlagern kann, was bleibt uns dann noch?““Gegen das peruanische Sofortverdunkelungspulver hilft nur die verbesserte Nachtsichtbrille“, sagte Hammersmith. „Ansonsten bleibt uns, die nicht gepanzerten Vampire von der einzufangen oder gleich umzubringen. Hat die Präsidentin dazu was gesagt?“ fragte Hammersmith.
„Ja, dass sie einen Null-Toleranz-Erlass ausgefertigt hat, dass alle nicht registrierten und an ihren gemeldeten Wohnorten verbleibenden Vampire auf Sicht zu töten sind. Sie hat in dem Zusammenhang um alle vorrätigen VBR-Ausrichter gebeten, die wir gerade haben. War wohl keine so gute Idee, ihr davon zu erzählen“, meinte Davidson.
„Wir wissen nicht, wie viele Rüstungen es gibt“, sagte Hammersmith. „Am Ende kann jeder ihrer ranghöchsten Anhänger so ein Ding anziehen.“ Dem konnten Davidson und Deepwater nicht widersprechen.
Martha Merryweather vermeldete am 14. September, dass es ihr gelungen sei, den Aufenthaltsort der zwanzig Schmiede zu finden. Sie waren in Irland in einer vergessenen Festung bei Killarney. Das hatte sie mit Hilfe des britischen Mitarbeiters für friedliche Koexistenz, Tim Abrahams und dessen Assistentin Pina Watermelon herausbekommen. „Die Briten sagen, sie kümmern sich darum“, war Marthas abschließende Bemerkung zu dem Thema.
„Wie bitte habt ihr das hinbekommen?“ wollte Hammersmith von ihr wissen. „Arthur C. Clarkes drittes Gesetz: Weit genug entwickelte Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden. Die Entführer haben nicht bedacht, dass sie ihre Gefangenen immer wieder mit ihren Leuten telefonieren lassen, damit diese sie nicht vermissen. Das hat Mr. Abrahams ausgenutzt und über die Kontakte zu Scotland Yard, MI5 und der irischen Staatspolizei alle Handygespräche nachverfolgen lassen. Tja, die wurden alle von vier gleichbleibenden Funkmasten aus geführt. Der Schnittpunkt dieser Funkzellen ist eine ehemalige Burg bei Killarney.“
„Und die Briten wollen das alleine machen?“ fragte Hammersmith. „Mich würde eine solche Rüstung echt interessieren, wo wir bisher keine davon zu fassen bekommen haben, ohne ein halbes Stadtviertel zu zerlegen.“
„Unsere Statuten verbieten eigenmächtige Auslandseinsätze, wenn diese nicht von den am Ziel zuständigen Behörden genehmigt werden“, wies Davidson auf die Einschränkungen hin. Dann sagte er: „Abgesehen davon werden die da nur halbfertige Rüstungen finden, weil die fertigen garantiert unverzüglich nach Fertigstellung weggeschafft werden, Mr. Hammersmith.“
„Bitte klären Sie das mit der Präsidentin, dass die Kingsley Shacklebolt in London fragt, ob sie ein Sonderkommando von uns rüberschicken darf“, sagte Quinn.
„Selbst wenn das gelingen würde würde ich Ihnen die Mitreise untersagen, Mr. Hammersmith. Sie sind hier, wo sie sind, zu wertvoll für uns, als sich in einem garantiert gefährlichen Feldeinsatz verletzen, töten oder gar gefangennehmen zu lassen, Mister.“
„Ui, in der Reihenfolge? – Gut, ich befolge Ihre Anweisungen, Sir“, sagte Quinn. Martha Merryweather und der neben ihr sitzende Jeff Bristol hatten ihm aber angesehen, dass er wohl gerne eine freche Erwiderung von sich gegeben hätte.
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Wie recht Temmie hatte, dass die Werwölfe, Vampire und Nachtschatten sich gegenseitig bekämpften bekamen die Mitarbeiter aller europäischen, afrikanischen und amerikanischen Zaubereiministerien mit. Werwölfe kämpften gegen Vampire, und immer wieder tauchten niedere Nachtschatten auf. Richtig beunruhigend war die Meldung, dass menschengestaltliche Wesen in schwarzen Rüstungen auftauchten, die von einem schwarz flimmernden Dunstschleier umgeben wurden. Diese Kämpfer konnten nur mit geballten Sonnenlichtzaubern zurückgedrängt werden, die so hell waren, dass die Verteidiger der Zaubereiministerien ihr Augenlicht riskierten, bis die Parole ausging, Gleitlichtbrillen oder besser richtige Gleitlichtvisiere zu tragen. Als dann feststand, dass die schwarzen Ritter bei einer drohenden Niederlage in jenen nachtschwarzen Strudeln verschwanden, die für Angehörige der Vampirsekte um die selbsternannte Göttin aller Nachtkinder typisch waren, wussten alle ans Arkanet angeschlossenen Zaubereiministerien, dass die gefährliche Entität, nach Julius‘ Wissen eine negative TVE, eine neuartige Waffe erfunden oder wiederentdeckt hatte, die an die zwanzig Zauberer und Hexen band, aber die Eindringlinge nicht vernichten konnte.
„Leute, unser einziger Vorteil bei dieser Sache ist, dass diese Geschöpfe sich gegenseitig massakrieren wollen. Würden die sich zusammentun sähe es sehr finster für uns aus“, schrieb Julius‘ australischer Amtskollege Kyle Benson. Julius textete über die Arkamail-Sammelanschrift zurück: „Ja, aber auch so gefährden die viele tausend Leute. Vor allem die offenkundigen Vampire in den schwarzen Zauberrüstungen sind sehr gefährlich.“ Dem widersprach niemand in der Arkanetgemeinschaft.
Als dann noch Dementorenrotten in Afrika und entlegenen Gegenden Nordamerikas gemeldet wurden stand fest, dass auch diese Wesen einen neuen Herren und Meister hatten, oder viel mehr eine Meisterin.
Julius fand am Abend des 10. Septembers eine neue Nachricht von „Tante Alison“ auf dem Anrufbeantworter. Die Botschaft lautete: „Julius, in wenigen Wochen bin ich vorübergehend weg. Aber wenn ihr diese Schattenspielerin in der Zeit findet und es euch ernsthaft gelingen sollte, sie von allem abzuhalten, was sie noch vorhat könnte es Ärger mit deinen Cousinen geben. Die wollen noch was von ihr wissen und vor allem haben. Das mit diesen von Dunkelheit umgebenen Seelensaugern zeigt eindeutig, dass die Schattenspielerin was von deiner Cousine aus Fernost gelernt hat, was ihr nicht zusteht. Also, kriegt nur raus, wo sie ist, macht, dass sie da bleibt und sendet irgendwie ein Zeichen aus, damit die aufgeweckten Mädchen sie finden können. Macht an ihr nichts kaputt! Das ist meine Nachricht an euch alle. Du kannst denen, die aufpassen, dass dir nichts passiert ruhig sagen, wer dir diese Botschaft schickt. Wir haben auch genug von diesem Schattentheater. Legt es nicht darauf an, dass ich noch andere, sehr gut gepanzerte Streiter in diese Auseinandersetzung reinschicke. Das wwollt ihr nicht wirklich. Abgesehen davon brauche ich die wohl gegen die schwarzen Ritter vom langen Zahn. Spring über deinen Schatten, solange du noch einen wirfst und unterhalte dich mal mit einer der wachen Mädchen, wie so eine Rüstung gemacht werden kann. Dann kriegt ihr auch raus, wie sie verbeult werden können. So, jetzt bin ich mit meiner Ansage durch. Falls du unser Angebot annehmen willst trau dich und wähle folgende Telefonsprechnummer!“
Es folgte eine Nummer mit der Auslandsvorwahl 0034 und die Ansage, dass sich dort ein sehr freundliches Haus melden würde. Dann verabschiedete sie sich.
„Das wird vielen nicht schmecken“, dachte Julius. Er überlegte kurz, ob er die durchgesagte Telefonnummer aufschreiben sollte. Mit seinem Rechner konnte er ja prüfen, wen er da erreichen würde. Er hatte da zwar schon eine Ahnung, aber Wissen war immer noch besser als raten. So notierte er die lange Nummer mit Auslandsvorwahl und ließ die Nachricht noch auf dem Anrufbeantworter, nur für den Fall, dass er die Botschaft noch wem vorspielen sollte.
Seine Suchanfrage auf einer nicht ganz so öffentlichen Auskunftsplattform, die Brenda Brightgate ihm mal empfohlen hatte, ergab, dass er ein sogenanntes Eroscenter namens Casa del Sol in Sevilla erreichen würde. Julius fand seine Ahnung bestätigt. Er hatte davon gehört, dass die Abgrundstochter Itoluhila in ihrer selbsterwählten Funktion als gnadenlose Schutzherrin der Huren von Sevilla selbst ab und an in einem dortigen Bordell zu finden war. Das war also die Telefonnummer, und die Adresse mit dem Vermerk „Mit Vorsicht zu genießen, steht im Ruf, einem gefährlichen Kriminellen zu gehören“ hatte er auch. doch im Augenblick sah er keine Notwendigkeit, dort hinzugehen.
In Afrika trieben Dementoren ihr Unwesen und suchten kleinere Ortschaften im Herzen des Kontinentes heim wie ein Rudel Löwen. Am 11. September, ganz bestimmt nicht aus Zufall, tauchten mehrere Dutzend Dementoren mitten in New York auf und sorgten für Entsetzen. Der neue MAKUSA hätte eigentlich hunderte von Vergissmichs losschicken müssen, um diesen Angriff aus den Gedächtnissen der Betroffenen zu löschen. Doch die Amerikaner griffen zu einem anderen Trick. Sie schickten einen dressierten Donnervogel nach New York, der einen Regen auslösen konnte. Wer von den Regentropfen berührt wurde vergass alles, was innerhalb der letzten Stunde um ihn und mit ihm geschehen war und füllte die entstandene Lücke lediglich mit der Erinnerung an einen gehörigen Gewittersturm mit viel Blitz und Donner. Daher hatten diese bereits von den Medizinleuten der Ureinwohner gekannten Vögel ihre mythischen Namen.
Auch kamen über das Internet immer wieder Berichte von hollywoodreifen Duellen zwischen Menschen und nachtschwarzen Geisterwesen auf. Die Menschen verschossen dabei immer wieder kleine Metallbolzen, die beim Durchfliegen der Schattenwesen einen grellen Lichtblitz ausstrahlten. Ein Augenzeuge wollte gesehen haben, wie ein derartig beharkter Schattengeist erst weiß aufleuchtete und dann unter einem erleichterten Auflachen im Nichts verschwand. Das alles wurde vom Laveau-Institut, dass sich ebenfalls an der Jagd auf Nachtschatten befand, als Werbefeldzug für eine Serie ausgegeben, bei der es um eine Brigade professioneller Dämonenjäger ging, die eine Hybridform aus Außerirdischen und Höllendämon jagten. Wann die beworbene Serie zu sehen sein würde wisse man noch nicht. Die Geschichte wurde noch ausgefeilt.
Julius konnte über das Videoportal Youtube ein Interview nachverfolgen, bei dem ein junger Schauspieler namens Ronin Sunnydale gefragt wurde, ob er für „Nächte der Schatten“ auf der Besetzungsliste stehe. Der junge, athletisch gebaute Mann, ein veritabler Frauenschwarm, lachte darüber.
„Mr. Keaton, ich drehe derzeit an der dritten Staffel von „Herzen am Horizont“ und habe erst vor einem Monat die Verlängerung unterschrieben, nachdem einer der Autoren Milton Finnley von der Brooklyn-Brücke fallen lassen wollte und das irgendwie durchgereicht wurde. Kennen Sie den Begriff Shitstorm? Hat den Produzenten und sein Team heftig den Datenverkehr lahmgelegt. Die wollen haben, dass ich, also Milton Finnley, endlich mit Susanna Ritter oder Nicky Bowland zusammenkomme. Die Fangruppen sind sich da noch uneinig, zumal einer mal auf Facebook rumgeschickt hat, dass er sich auch vorstellen könnte, dass ich Nickys Mutter Rachel heiraten und mit der noch vier süße Kinder auflegen könnte. Aber Leute, was genau abgeht kriegt ihr erst, wenn Staffel drei läuft. Für irgendwelchen Hexen- und Dämonenkram bin ich jedenfalls nicht zu haben. Mich gruselt es schon, wenn Onkel Sam mir die jährliche Steuerforderung schickt.“
„Hmm, ich würde sagen, dass Milton Finnley von der Statur auch gut mit Cindy Swager zusammenpasst“, musste der Interviewer einen draufsetzen. Im Hintergrund erschien kurz das Bild einer walkürengleichen Schwarzhaarigen Frau mit dunkelbraunen Augen.
„Sie dürfen gerne noch Wünsche einreichen, Mr. Keaton. Aber ich denke, die Expokraten vom Autorenteam unserer Serie haben sich da schon auf was geeinigt, dass ich wohl erst in Staffel fünf oder sechs erzählt bekomme. Außerdem weiß jeder echte Fan von „Herzen am Horizont“, dass Cindy Swager lesbisch ist und Ihnen für diesen Verkupplungsversuch locker links und rechts eingeschenkt hätte und ihnen ihr rechtes Knie in ihre Privateste Körperzone stoßen würde.“
„Öhm, ja, gut, wissen wir doch. Späßle gemacht, bevor mich alle Cin-Swag-Fans anbrüllen, ich hätte kein Gefühl für anders liebende Leute. Also Sie stehen für keine Rolle dieser neuen Ghost-Buster-Serie auf der Liste. Alle Fans von HAH dürfen also beruhigt sein, Milton Finnley bleibt euch erhalten.“
Julius stoppte das Video und klickte den Spurentilger an, der seinen Besuch auf Youtube verwischte. Dann schrieb er seine Mutter beim Laveau-Institut an und gratulierte zu dieser genialen Ablenkung. Er warnte jedoch davor, dass die Nachtschattenkaiserin, sofern es sie noch gab, nicht mehr lange hinnehmen würde, dass ihre Untertanen einfach so weggeblitzt wurden.
Seine Mutter schrieb zurück, dass das LI bereits ähnliche Waffen einsetzen konnte wie jene, die diese mit einem sich sofort entladenden Sonnenzauber gespickten Bolzen aus 18karätigem Gold verschossen. Er antwortete, dass er aus sicherer, wenn auch ungeliebter Quelle habe, dass die Schattenkaiserin sehr mächtige Feindinnen habe, die darauf wertlegten, dass nur sie diese Dämonin erledigten. Seine Mutter wusste da schon, wen er meinte. Immerhin hatte er ihr schon von den Anrufen seiner verschwundenen Tante Alison berichtet und sie gebeten, immer was bei sich zu haben, um sofort Hilfe zu bekommen, sollte „Tante Alison“ irgendwann eine ihrer Töchter zu ihr hinschicken. Zwar herrschte immer noch eine Art Burgfrieden zwischen den Töchtern Lahilliotas und den Kindern Ashtarias, doch wollte sich Julius nicht zu sehr darauf verlassen.
Was die Nachrichten von marodierenen Vampiren und Nachtschattenauflockerte war der Sieg Australiens bei der Quidditchweltmeisterschaft. Die Spieler vom fünften Kontinent mit ihrer Starsucherin Pamela Lighthouse hatten die peruanische Mannschaft um ihren einzigen Superstar Gabriel Bocafuego alias g6 mit satten 350 Punkten Vorsprung besiegt. Der indische Zaubereiminister Davindra Peshavani übergab die Flagge des Weltquidditchverbandes an den Brasilianischen Zaubereiminister Joasinho Perigrino Monte. Millie kommentierte das über Distantigeminuskasten versandte Bild mit: „Ups, der kleine Brasiliianer könnte echt eins von Oma Teties Kindern sein. Na, ob ich am Ende nicht doch noch ein paar Onkel und Cousinen mehr in Übersee habe.“
„Also in vier Jahren an den Zuckerhut“, bemerkte Julius. Er bedauerte es zwar, dass Frankreich im Viertelfinale gegen Australien ausgeschieden war. Aber das war halt Sport. Immerhin hatten auch die Belgier mit Corinne Duisenberg als Sucherin den Einzug ins Finale verpasst und gegen die Truppe von G6 verloren, obwohl Corinne den Schnatz gefangen hatte. Das hatte ihr immerhin noch die Genugtuung eingetragen, jeden Schnatz der belgischen Spiele erwischt zu haben.
„Na, in vier Jahren nach Brasilien, die rassige Claudia Torrinha wiedertreffen, Julius?“ fragte Millie provokant. „Die hat in den acht Jahren seit meiner ersten und bisher letzten Begegnung mit ihr schon wen anderes gefunden, der mit ihr Salsa und Samba tanzt, Mamille. Oder willst du mich loswerden, wenn Hestia und Hidalga auf der Welt sind?“
„Neh, besser nicht, sonst zieht Trice mit dir, Félix und der kleinen Chloris ins Sonnenblumenschloss um und ich darf allein mit den sieben Mädels im Apfelhaus wohnen. Nein, bleib du mal schön bei uns und genieße es, ein Haus voller Leben um dich zu haben! Dann kommst du auch nicht ins Grübeln, was du an deinem Leben noch so alles hättest drehen können.“
„Stimmt, für sowas habe ich keine Zeit“, erwiderte Julius darauf. Zwischendurch brauchte Millie das offenbar. Doch er wusste, dass sie ihn nicht kampflos an irgendeine andere außer Trice abgeben würde.
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„Wir haben nur zehn Trockenunzen davon erwischt, O Göttin“, beklagte Gooriaimirias südamerikanische Priesterin Nochelarga. „Die Erfinder dieses Pulvers haben mit den verfluchten Inka-Erben jenen Sonnenmagiewall errichtet, den auch schon die Pelzwechsler in Mexiko aufgebaut haben. Ja, und die Erfinder sind in Deckung gegangen. Offenbar hatten die schon einen Fluchtplan, wenn ihnen jemand ihr lukratives Geschäft verderben will.“
„Gut, wir versuchen noch einmal die CDC-Leute zu ergreifen, weil die die Verbindungen zu anderen Laboren haben. Abgesehen davon habe ich beschlossen, dass wir kein durch die Luft übertragbares Virus erschaffen, sondern wie damals ein mit Trinkwasser aufzunehmendes Agens erzeugen, das nach und nach seine Wirkung entfaltet, ohne gleich andere anzustecken.“
„So sei es“, sagten alle Priesterinnen der Göttin, die sich im neuen Tempel mitten in der Atakamawüste versammelt hatten. Hier würde man keinen Blutsauger suchen, weil bei Tag zu viel Sonne und ansonsten zu wenig lebende Nahrungsquellen.
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„Unternehmen „Hammerfall“ läuft an. Wünscht denen glück, die es durchführen“, schrieb Pina Watermelon am Mittag des 15. Septembers. An die zweihundert Hexen und Zauberer, ausgerüstet mit Vampirschutzartefakten, zehn Sonnenlichtkugeln und einem neuartigen Betäubungsgas, das ähnlich dem Kontralyko-Gas nur auf Träger bestimmten Blutes wirkte, rückten aus. Pina war froh, dass sie nicht dabei sein musste. Aber sie kannte zwei von den Hexen, die an dem Unternehmen beteiligt waren, Proserpina Drake und Loren Wiffle, auch wenn sie denen nicht so recht über den Weg traute.
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Luca Bonetti und die mit ihm seit Monaten eingesperrten Rüstungsschmiede hatten kein Gefühl für die vergangene Zeit gehabt. Immer wenn sie mit ihren Angehörigen telefonierten hatten sie gesagt bekommen, welcher Tag war. Doch danach hatten sie das wieder vergessen. Immerhin waren die anderthalb Millionen überwiesen worden, hatte Luca erfahren. Das schien ihm wichtiger zu sein, als endlich einmal wieder direkt unter andere Leute zu kommen.
Er wusste nicht, dass es schon der 15. September war, als es unvermittelt heller wurde als die Spätsommersonne hinbekam. Gleichzeitig ploppte und krachte es aus allen Richtungen. Giovanna Mantovani, die wie eine dekorative Puppe scheinbar teilnahmslos in Lucas Schmiede ausgeharrt hatte, schrak zusammen und hielt sich die Augen zu. Luca meinte, einen Stich in seinem Kopf zu fühlen. Das rote Feuer, über dem er gerade einen neuen Zauberhelm schmiedete, flackerte und sprühte goldene Funken. Er sprang zurück, weil die Funken wie kurze Laserimpulse durch seinen doch eigentlich feuerfesten Lederschutz zu dringen begannen. Dann tauchten zwei Menschen aus dem Nichts auf. Sein Verstand begann sich zu klären. Was hier abging war kein Traum, aber konnte auch nicht echt passieren. Dann sah er eine violette Gaswolke von den zwei Menschen ausgehen. Giovanetta, die gerade von blutroten Funken umgeben wurde, keuchte, zuckte und erstarrte dann wie versteinert. Sie kippte nach hinten und fiel steif wie ein Brett auf den Boden.
Luca wollte das merkwürdige Zeug nicht einatmen. Doch er brauchte es nicht einzuatmen, erkannte er. Seine Haut kribbelte. Sein Blut schien zu Sprudelwasser geworden zu sein. Er bibberte wie unter schnellen Stromschlägen. „Kontaktgas“, dachte er. Von sowas hatte er schon gehört. Diese hhier hereingebeamten Kerle hatten ein Nervengas auf ihn und alle anderen losgelassen. Aber das schien denen nichts anzuhaben, obwohl die keine Schutzanzüge dagegen anhatten.
„Fünf Vampire und fünf Menschen gesichert!“ rief einer der Fremden mitten im leicht violetten Dunst. Luca konnte sich nicht bewegen vor lauter Bibbern.
Die Fremden in den merkwürdig mittelalterlich wirkenden Umhängen zielten nun mit Holzstäben im Raum herum. Waren das Zauberstäbe? „Ignis Biophagus“, knurrte einer. „Damit machen Sie die Rüstungen magisch“, knurrte der zweite. „Jungs, nicht zu viel quatschen. Wir haben hier auch vier Schmiedeknechte und vier Vampirinnen gesichert. Bringt die Menschen alle vor die Tür“, hörte Luca eine Stimme aus einer silbernen Dose, die der eine der Zauberer um den Hals hängen hatte.
Das violette Nervengas blockierte Lucas Beweglichkeit. Doch sein Verstand wurde wieder klar. hatten ihn echte Vampire hier gefangengehalten. Das konnte unmöglich sein. Ja, und da kippte gerade einer der beiden Zauberstabschwinger einen aus dem Nichts beschworenen Eimer Sand in das Feuer. Das spotzte noch einmal und fiel dann zu reiner Weißglut zusammen, die unter mehr Sand verschwand. „Okay Leute, die Männer hier rausbringen. Die Frauenzimmer haben eine zu hohe PTR und eigene Magiedurchtränkung.“
„Nicht quatschen, Johnny, einpacken und rausbringen!“ rief der Kollege des einen. Da zielte der auch schon auf Lucas Nachbarn Buck. Der wurde auf einmal immer kleiner, bis er gerade mal halb so groß wie eine Barbiepuppe war. Der Zauberer, der Johnny gerufen worden war, nahm den verkleinerten, bibbernden Mitgefangenen Lucas auf. Dann widerfuhr Lucas zweitem Nachbarn andrusch aus Warschau der Schrumpfvorgang. Luca wollte was sagen, wollte protestieren. Doch da meinte er, die Welt um ihn würde wie ein Luftballon von innen her aufgeblasen. Die zwei Zauberer rückten erst in mehr als zwanzig Meter Ferne, sodass er nicht sah, dass sie ebenfalls größer und größer wurden. Doch als Johnnys Kamerad mit den Boden erschütternden Schritten und wie wilden Wind um sich verteilten Luftstößen auf ihn zukam und ihn mit Händen, die bald so groß wie er selbst waren aufhob war es eh schon gelaufen.
Als er dann noch durch einen bunten Farbenwirbel geschleudert wurde und dabei den Eindruck hatte, etwas wolle ihn zusammendrücken wusste er, das alles war zu abgedreht, um echt zu sein. Aber für einen Traum war das auch zu deutlich.
Als sie dann in einer Gegend wie auf einem fremden Planeten ankamen, wo Grashalme so hoch und dick wie junge Bäume waren, wurde er wieder auf die Füße gestellt, danach erwischte ihn ein anderer Zauber, der die Gegend wieder zusammenschrumpfen ließ. Das vorhin meterhohe Gras reichte ihm nur noch bis zu den Knöcheln.
Da war ihm, als streiche etwas über seinen Kopf. Auf einmal fand er sich im Bett eines Hotels wieder und dachte daran, was für einen verrückten Traum er gerade geträumt hatte. Das war sicher der Bunkerkoller gewesen, den er geschoben hatte, als er mehr als drei Wochen am Stück nur dieselben Leute gesehen hatte und Mr. O’Casy ihm geraten hatte, auf seine Kosten erst einmal das Land zu bereisen, da er ja bei seinem Chef gekündigt hatte. Er erinnerte sich an fünf blitzblanke, silberne Turnierrüstungen, die er für O’Casys Burg geschmiedet hatte. Dann war er mit der Zusage, dass er das ausgemachte Honorar bekommen würde auf Reisen geschickt worden.
Als er endlich wieder klar war fand er seine Sachen im Schrank und seinen Reisekoffer, sein Mobiltelefon und seine Papiere. Er genehmigte sich noch ein Frühstück im Hotelrestaurant, dann checkte er aus. Er wollte nach Hause, auch wenn er nicht wusste, was er da machen sollte.
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Gooriaimiria hörte die Hilferufe ihrer Dienerinnen in Irland. Doch als sie versuchte, diese fortzuholen prallte ihre Kraft auf mehrere Sonnenlichtquellen. Als sie befahl, sie anzurufen, damit sie ihre Avatari dort erscheinen lassen konnte war es schon zu spät. Jemand hatte ein merkwürdiges, violettes Gas freigesetzt, das ihren Dienerinnen augenblicklich Beweglichkeit und Bewusstsein geraubt hatte. So verlor sie die Verbindung zu ihren Dienerinnen. Als sie sie zurückerhielt musste sie feststellen, dass ihre Dienerinnen in einem stählernen Gefängnis saßen und von einer widerwärtig bekannten Kraft geschwächt wurden, sodass sie nur sehr nebelhaft durch deren Augen sehen konnte. Diese verdammten Rotblütler hatten ihre Dienerinnen in Kammern unter fließendem Wasser eingesperrt. Da konnte der Schattenstrudel sie nicht ergreifen. Diese Biester hatten eine verdammt wirksame Methode gefunden, ihre Diener zu überwältigen und zu binden.
„Wir können dich einfach hier verhungern lassen, Mädchen. Oder du packst freiwillig aus, was du über eure sogenannte Göttin weißt“, hörte Gooriaimiria die Stimme eines Mannes wie durch eine auf- und zuschwingende Klappe. „Mein Leben ist dienen. Mein Leben gehört der Göttin. Verrat ist mein Tod, Gefangenschaft ist Verrat!“ hörte Gooriaimiria ihre Dienerin deklamieren. Damit löste sie den in ihr eingeprägten finalen Zauber aus. In nur drei Sekunden Todesqual löste sich die Seele aus dem Körper. Jetzt konnte Gooriaimiria sie zu sich hinholen. Das gleiche geschah dann noch dreißig mal. Die hatten ihr dreißig treue Dienerinnen weggenommen, diese Rotblütler. Ihr war klar, dass dies auf dem stinkenden Drachenmisthaufen des britischen Zaubereiministeriums gewachsen war. Dieses würde sie mit ihren Panzerkriegern heimsuchen. Was aus den gefangenen Schmieden geworden war betraf sie nicht. Sicher würden diese Zauberstabschwinger denen ein anderes Gedächtnis verpassen. Das Honorar, dass Gooriaimirias Unterhändler bezahlt hatten war auch unwichtig. Es stammte schließlich von Inhabern von versteckten Konten, die nicht mehr wussten, dass sie solche Konten hatten. Ihre Gefolgsleute hatten noch an die 500 Millionen US-Dollar übrig. Sollten die befreiten Schmiedeknechte damit glücklich werden. Fünfzig Rüstungen waren ausgeliefert worden, wie Nyctodora zugesagt hatte. Erst wollte sie die Wissenschaftler holen, dann würde sie dem britischen Zaubereiministerium den eindeutig gewünschten Gegenbesuch abstatten. Die Rüstungen waren undurchdringlich. Auch dieses nach Feigheit und Vermessenheit stinkende Gas würde ihren Leuten nichts anhaben.
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„Es sind wohl fünfzig Rüstungen geschmiedet und von den Hexen unter den Vampirinnen bezaubert worden“, textete Pina Watermelon an alle, die im Arkanet mitlesen durften. Julius Latierre bedankte sich für diese Information und fragte, ob das Zaubereiministerium nicht die Formel für das Vampirbanngas weitergeben würde. „Ich fürchte, das kann nur in fertigem Zustand ausgeliefert werden, Julius und alle anderen. Aber Anträge auf Amtshilfe sind jederzeit möglich. Wir müssen nur das Ministerium sichern, falls die falsche Göttin uns ihre Paladine zum Gegenbesuch schicken will“, schrieb Pina zurück.
Vier stunden später bekam sie eine Mail von Martha Merryweather, dass sich das Laveau-Institut mit dem MAKUSA darauf verständigt habe, die stillgelegten Arkanet-Arbeitsplätze wieder in Betrieb zu nehmen und dass Direktor Davidson und MAKUSA-Präsidentin Cartridge einen magisch bindenden Vertrag unterschrieben hatten, dass sich beide Institutionen gegenseitig anerkannten und unterstützten und das LI weiterhin unabhängig blieb und alle gegen das Ministerium Buggles begangenen Gesetzesverstöße mit Ablauf des 15. Septembers aus den Akten getilgt würden.
Pina musste lachen, als sie kurz vor Feierabend noch die zitierte Nachricht von Quinn Hammersmith las, dass das LI dieses Gas hätte erfinden sollen und dass es „sehr kollegial“ wäre, wenn dessen Herstellungsformel auch dem LI übergeben würde. Darauf hatte dann Julius in Paris geantwortet:
Sehr geschätzte Mrs. Merryweather, teilen Sie Ihrem durchaus verständlicherweise aufgebrachten Kollegen aus Ihrer Ausrüstungsabteilung bitte mit, dass es auch Dinge gibt, die nicht in den USA erfunden werden müssen. Es gibt in Großbritannien auch eine Abteilung Q, damit wird er leben können.
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Am 19.09.2007 erhielt Julius wieder einmal die gleiche Nachricht aus drei unterschiedlichen, wenn auch nicht voneinander unabhängigen Quellen. Fleur Weasley hatte in den frühen Morgenstunden des 18. Septembers eine kleine Tochter zur Welt gebracht, Dominique Aurore. Julius musste erst grinsen, als er Gabrielles Nachricht dazu las:
… Offenbar hat sich Fleur daran erinnert, dass Sie Ihre erste Tochter Aurore genannt haben, weil sie am ganz frühen Morgen auf die Welt kam. Deshalb hatten wir eine Wette laufen, wer von uns die erste Tochter bekommt, die am frühen Morgen zur Welt kommt. Cecilie wollte ja dann erst am Mittag auf die Welt und hat deshalb als Zweitnamen den Rufnamen meiner Mutter bekommen. Dann ist es eben meine kleine Nichte Dominique, die den Zweitnamen Aurore bekommen hat. Bei der Gelegenheit teile ich Ihnen auch gleich mit, dass ich ebenfalls wieder ein Kind erwarte….
Von Fleurs Eltern hatte diesmal ihre Mutter die Nachricht verschickt, weil „sowas erhabenes wie ein neues Leben“ nicht in „seelenlosem Amtsfranzösisch“ verkündet werden sollte. Recht hatte sie irgendwie. Außerdem konnte er ja, falls er wollte, die offizielle Geburtsmeldung aus England beantragen, falls die dortige Registrierung ihm diese zugestand. Oder er konnte Professor McGonagall in Hogwarts anschreiben, dass sie ihm die dort verzeichnete Geburtsmeldung kopierte und die Kopie zusandte. Doch er hatte genug andere Sachen um die Ohren.
Am Nachmittag desselben Tages erhielten er und alle am Arkanet angeschlossenen Zaubereiministerien der Welt eine merkwürdige, besorgniserregende Nachricht aus Deutschland
An alle offiziellen Stellen die für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne magische Kräfte, internationale magische Zusammenarbeit und Magische Geschöpfe zuständig sind,
ich wurde von unserer Abteilung zur Erfassung und Verwaltung magischer Geschöpfe autorisiert, folgende Mitteilung auf diesem, doch sehr schnellen Weg zu verbreiten.
In den letzten vier Tagen wurden mehrere unregistrierte wie registrierte Lykanthropen ausfindig gemacht, die scheinbar einer Veränderung ihrer Mondphasenabhängigkeit unterliegen. Sie verwandelten sich nicht bei Vollmond, sondern bei Neumond und konnten zudem in Wolfsgestalt dreimal so schnell laufen oder dreimal so weit springen wie sonst. Erst gingen die Lichtwächter von einer Abwandlung des Lykonemisis-Trankes aus. Doch als sich auch bei den registrierten Lykanthropen diese Phasenumpolung (Eine Wortschöpfung meines Kollegens Hilmar Gruner) zeigte, die eindeutig die zertifizierten Dosen des Trankes erhalten, ergab sich eine weitere Absonderlichkeit. Die betroffenen Lykanthropen zeigten keinen Schattenwurf, wenn sie zwischen einer Lichtquelle heller als Kerzenlicht und einer senkrechten Oberfläche standen. Diese Art von Absonderlichkeit konnte bisher nur bei jenen Menschen beobachtet werden, die unter den Einfluss jener Nachtschatten gerieten, die einer selbsternannten Kaiserin der wahren Nachtkinder Untertan sind. Daraus leitet der oberste Kommandant der Lichtwachen, Herr Andronicus Wetterspitz, die Befürchtung ab, dass jene Nachtschatten sich nun gezielt auf Träger des Lykanthropiefluches eingestimmt haben und diese unter ihre Herrschaft zwingen wollen oder dies bereits getan haben. Die scheinbar einzig erfreuliche Nachricht dabei ist, dass die entdeckten Lykanthropen mit dieser Auffälligkeit bei Gefangennahme nicht explodierten. Doch das sei kein Grund zur Erleichterung, so Lichtwachengeneral Wetterspitz. Eher wollte jene erwähnte Nachtschattenkaiserin, dass wir diese ihre neuen Unterworfenen erkennen und erfassen, was mit ihnen geschehen ist. Dies passt auch zu einer Meldung, die Zaubereiminister Güldenberg erst gar nicht freigeben wollte, bis alle dafür zuständigen Abteilungs- und Unterbehördenleiter darauf bestanden, alle in der internationalen Zaubererweltkonföderation verbundenen Ministerien zu informieren.
Als die schattenlosen, auf Neumond umgestellten Lykanthropen in Sicherheitsverwahrung gesteckt werden sollten, und dabei in einen vom Sonnenlicht unerreichbaren Trakt geführt wurden, verschwanden sie in einer schwarzen Sphäre, ähnlich jener bereits bekannten Portschlüsselverkehrung, mit der die ebenfalls selbsternannte erwachte Göttin aller Nachtkinder ihre Gefolgsleute fernversetzen kann. Nähere Auskünfte über die verzeichneten Fälle können von den zuständigen Abteilungs- und Unterbehördenleiter bei uns beantragt werden.
Trotz dieser unangenehmen Neuigkeiten wünsche ich Ihnen allen noch einen erfolgreichen Tag und verbleibe
hochachtungsvoll
i. A. Bärbel Weizengold
„Schattenlose Werwölfe, die mal eben verschwinden, wenn sie eingesperrt werden sollen?“ fragte sich Julius. Dann hatte er eine Idee. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und konzentrierte sich auf Temmies celloartige Geistesstimme. Dann schickte er ihr zu: „Weißt du etwas davon, wie andere Lebewesen in lichtlosen Kugelschalen fortgeschafft werden können?“
„Sowie Iaxathans bluttrinkendes Gezücht von jener sich für eine Gottheit haltenden Daseinsform versetzt wird?“ hörte er Temmies Gedankenstimme zurückfragen. Dann fühlte er, wie etwas in seinen Kopf tastete. Dann gedankensprach Temmie: „die Kugelschale ist vollkommener als der Schattenstrudel. Ich erfuhr damals, als ich Darxandria war, dass die Mitternachtsfolger ihre niederen Diener mit so einem Mittel befördern konnten, allerdings nur dort, wo weder Sonne noch fließendes Wasser an die zu befördernden rührt. Woher sie das nun kennt ist leicht zu beantworten. Sie verleibte sich Kraft und Kenntnisse jener vaterlosen Tochter ein, die dazu erschaffen wurde, über alle Formen der Dunkelheit zu gebieten. Außerdem gilt für diese Unheilsverbreiterin, dass sie nun aus mindestens drei ehemalig eigenständigen Seelen besteht und somit mindestens die neunfache Kraft für geistig wirkbare Zauber hat. Ihr müsst eure Gebäude, die nicht an Flüssen oder über unterirdischen Wasserströmen errichtet wurden mit diesen goldenen Stachelkugeln absichern, die gesammeltes Sonnenlicht wiedergeben können. Das dürfte die unerwünschte Ankunft oder die zeitlose Flucht der Unterworfenen vereiteln.“
„Ich gebe die Nachricht erst einmal an die zuständigen Behördenleiter weiter. Falls ich grünes Licht bekomme schlage ich für die Mitlesenden vor, es mit gespeichertem Sonnenlicht zu versuchen“, schickte Julius an Temmie zurück. Sie bestätigte das.
Zehn Minuten später saß er zusammen mit Belenus Chevallier, Barbara Latierre, Nathalie Grandchapeau, Alain Dupont von der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit und dem Leiter der Werwolfüberwachungsbehörde und dem Truppenführer der Légion de la Lune in einem Konferenzzimmer und verlas die Mitteilung, von der er mehrere Kopien gemacht hatte.
„Öhm, eh ja, öhm ja“, druckste der Leiter des Werwolfüberwachungsbüros herum. Als ihn alle ansahen sagte er: „Das wurde auf Geheimhaltungsstufe S9 unserer Behörde eingestuft, weil wir keine Panik verbreiten dürfen und diesen Kreaturen nicht noch ein unverdientes Erfolgserlebnis bereiten wollten. Aber wir haben auch schon drei schattenlose Lykanthropen aufgegriffen. Diese konnten auf die von Mademoiselle Weizengold voreilig verbreitete Weise entkommen, trotz Appariersperren und Portschlüsselüberwachung.“
„Voreilig verbreitet?“ fragte eine sichtlich ungehaltene Barbara Latierre. „Sie haben mir lediglich mitgeteilt, dass es jetzt nicht nur schattenlose aber nur eingestaltliche Menschen gibt, sondern jetzt auch Lykanthropen. Wann sind diese Ihnen denn entkommen und vor allem wann wollten Sie mir davon Mitteilung machen?“ fragte sie ihren Mitarbeiter aus dem Werwolfüberwachungsbüro. Dieser lief knallrot an und wiegte den Kopf. „Ich höre“, hakte Barbara Latierre nach. „Zwei Fälle,einer am siebzehnten und der zweite einen Tag danach“, seufzte der Befragte. Gerome Lemmond, der Truppführer der Légion de la Lune grummelte: „Mondphasenumgekehrte Lykanthropen, wie soll das gehen und vor allem, wozu soll das gut sein?“
„Vielleicht eine Nebenwirkung des Schattenraubzaubers, dem sie unterworfen wurden“, vermutete Alain Dupont. Julius dachte bereits an eine eigene Vermutung, wagte es aber nicht, sie offen in den Raum zu sprechen. Da sahen ihn seine Schwiegertante und seine direkte Vorgesetzte an. Er wurde nun von Nathalie gefragt, ob ihm als erwiesenen Fachzauberer für Alchemie und magische Wesen eine andere Idee kam, sei sie auch noch so spekulativ.
„Gut, unter dem Vorbehalt, dass ich mich irren könnte, Messieursdames, vermute ich, dass diese Nebenwirkung nicht so unbeabsichtigt ist wie wir alle zunächst dachten. Da die erst gefangenen und dann entkommenen Werwölfe abgesehen vom LNT bei Neumond zu Wölfen werden kann ich mir auf Grund meiner Erfahrung mit Giften und Gegengiften, Flüchen und Gegenflüchen vorstellen, dass diese veränderten Lykanthropen eine Bedrohung für all die auf übliche Weise verfluchten darstellen könnten. Gut, ein Beispiel: Beim Tauziehen ziehen zwei Menschen oder Personengruppen mit gleicher Kraft am Tau. Das Tau strafft sich, wird aber zu keiner Seite hingezogen. Oder anderes Beispiel: Zwei sich in entgegengesetzter Richtung gleich schnell drehende Flügelräder, die sich ineinander verhaken. Bei Fall eins, also dem von zwei Seiten gleichstark gezogenem Tau, heben sich die Symptome der Lykanthropie gegeneinander auf oder verursachen eine unvollkommene Verwandlung, also dass ein Lykanthrop tatsächlich halb Wolf und halb Mensch herumläuft, wie sich nichtmagische Gruselgeschichtenautoren oft Werwölfe vorgestellt haben. In diesem Fall könnten sie bei Tag nicht mehr unauffällig herumlaufen, keine von Menschen benutzbaren Gegenstände gebrauchen oder sonstige Dinge tun, die sie in Menschengestalt gut können oder in Wolfsgestalt gut können. Sie bleiben sozusagen auf der Zwischenstufe hängen, falls die Lykanthropie durch die umgepolte Lykanthropie nicht sogar ganz aufgehoben wird. Im Beispiel mit den zwei ineinander verhakenden Flügelrädern kommt es zur Zerstörung der beiden Räder. Auf lebende Wesen angewandt hieße das Tod durch vollständiges Organversagen einschließlich Herz und Gehirn, Überhitzung bis zur spontanen Selbstentzündung wie bei der von Vita Magica erfundenen Massentötungsvorrichtung oder die völlige Erstarrung aller Lebensprozesse wie bei den Vorfällen mit der Kammer des Schreckens 1992-1993 in Hogwarts. In jedem Fall würden diese umgepolten Lykanthropen eine tödliche Gefahr für die üblichen Lykanthropen darstellen und eignen sich somit als lebende Waffen. Aber das eben nur unter dem Vorbehalt, dass es wegen fehlender Ergebnisse noch zu viele Unsicherheitsfaktoren gibt. Aber Sie baten mich ja um eine Stellungnahme.“
„Gut, Sie wurden ja von Ihrer Vorgesetzten ausdrücklich zu Mutmaßungen aufgefordert“, sagte der Leiter des Werwolfüberwachungsbüros. „Womöglich trifft diese Spekulation deshalb nicht zu, weil bereits veränderte Menschen nicht vom selben Keim noch einmal verändert werden können und diese – Wie nannten Sie diese bedauernswerten Geschöpfe? – umgepolten Lykanthropen ihre besondere Eigenschaft nicht durch einen Biss weitergeben können. Auch davon sollten wir ausgehen.“
„Womöglich geht es jener, die diese schattenlosen Lykanthropen erschaffen hat auch nur darum, sie zu steuern, sie für sich arbeiten zu lassen und gegebenenfalls durch ihre auferlegte Besonderheit leicht transportierbar zu machen“, vermutete jetzt Barbara Latierre. Aber gut, dass wir so viele Meinungen gehört haben. Jetzt erbitte ich ernsthafte Vorschläge, mit denen wir auch die anderen Ministerien ansprechen können, ohne uns lächerlich zu machen oder eine Kette von Fehlhandlungen heraufzubeschwören.“
Julius wartete nun, bis alle Abteilungsleiter ihre Vorschläge gemacht hatten. Dann kam er mit Temmies Vorschlag, den er damit begründete, dass die von Bärbel Weizengold geschilderten Verschwindefälle in sonnenlichtunzugänglichen Räumen oder Gängen stattfanden und sich die Sonnenlichtkugeln bereits als wirksame Mittel gegen die Vampire als auch die Nachtschatten erwiesen hatten. Diesmal sah ihn keiner skeptisch an. Alle nickten ihm zu. Wird Monsieur Fourier nicht erfreuen, so viel Gold für Sonnenlichtkugeln freigeben zu sollen. Aber womöglich finden wir auf der Basis auch eine kostengünstigere Absicherung“, sagte Barbara Latierre. Julius hoffte das auch, allein schon um nicht wieder als Kostentreiber hingestellt zu werden wie damals, als es um die Ausstattung mit internetfähigen Rechnern ging.
Dennoch durfte er an die anderen Zaubereiministerien weitergeben, dass auf Sonnenlichtspeicherung beruhende Mittel vielleicht helfen konnten.
Gegen fünf Uhr nachmittags kehrte er wieder ins Apfelhaus zurück. Ab da verbrachte er einen ruhigen Nachmittag und Abend mit seinen Kindernund den beiden immer runder werdenden Mitbewohnerinnen.
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„Jeden von unns den die fangen können die ausforschen und dann wissen, wo noch welche von uns sind. Diese Brut dieser Schattenschlampe ist wie eine Seuche!“ schnaubte León del Fuego, als er seine Leute eine Nacht vor dem Septembervollmond in das Dauerklangkerkerzimmer einbestellte, wo zudem noch zwei Sonnenkugeln hingen. „Aber jetzt haben wir wieder genug Geschosse mit dem Zauber Zähne des Ra. Die lösenihre Kraft nun auch bei Berührung von besonderer dunkler Magie aus und nicht mehr beim Einschlag in feste Körper. Die Schattenschickse will Krieg. Sie kriegt Krieg“, knurrte der Anführer der Mondbruderschaft.
Seine Leute bewaffneten sich mit Armbrüsten, die durch einen Selbstspannzauber innerhalb einer Sekunde schussbereit gemacht werden konnten. Dann rückten sie aus, um ihrerseits auf Jagd zu gehen.
Am nächsten Abend warteten alle auf das Aufgehen des Vollmondes. Doch der Mond wollte nicht aufgehen. Als Bocafina nach draußen blickte sah sie weit über der Hacienda eine einzige große schwarze Wolke, die das Mondlicht schluckte. Dann sah sie noch, wie der Sonnenzauber der Hacienda flimmerte und ab und an goldene Funken versprühte, die weithin sichtbar übers Land flogen. „Verflucht! Die Wolke ist magisch, und sie wechselwirkt mit unseren Sonnenzaubern und entlädt die!“ rief Bocafina.
Madrugadiña blickte hinaus und erschauerte. „Die Vorgehensweise ist einfach und zugleich sehr wirksam. Diese Wolke da draußen bringt unseren Sonnenzauber dazu, sich und damit uns zu verraten. Und jetzt!“
Unvermittelt wurde der Himmel über der Hacienda vollkommen schwarz. Die Schutzbezauberung aus Sonnenlicht sprühte immer mehr funken. Langsam aber sicher stülpte sich eine völlig lichtschluckende Kuppel über die Ländereien. León sah mit Grausen, wie sich aus der tiefschwarzen Kuppel blaue Lichter schoben und wieder darin verschwanden, Lichter wie gespenstische Augen. Da war klar, dass dort draußen über zweihundert Nachtschatten zusammen waren, die bisher nur von den flackernden Funken der Sonnenmagie um die Hacienda herum zurückgedrängt wurden. „Damit ist die Frage wohl beantwortet, ob die unser Hauptquartier finden und angreifen können“, schnarrte Murillo, einer der wenigen Mitbrüder, die der Zeit unter Fino nachtrauerten. „Wenn der Sonnenzauber nachlässt werden sie die Kuppel enger und dichter machen und uns so vom Rest der Welt abschneiden, wenn die dann nicht auf einen Schlag hier reinkommen“, unkte Gordiño. Seine Gefährtin Lunamares nickte ihm zu.
„Die wollen ernsthaft die Hacienda stürmen“, sagte León. Da klang von draußen eine laute und tiefe Frauenstimme. Sie sprach Englisch.
„An alle Pelzwechsler in diesem getarnten Stützpunkt. Wir wissen, wo ihr seid. Eure Sonnenmagie brennt gerade wie eine hübsche große Wunderkerze ab. Wenn die weg ist kommen wir rein. Oder ihr kommt freiwillig raus! León del Fuego. Dir biete ich an, eines meiner neuen Mondbotenkinder zu werden und dann einen Pelzwechsler deines Vertrauens zu binden. Die anderen lose ich aus, ob Kinder oder Futter für meine wackeren Kinder.“
„Kann die uns hören?“ fragte Gordiño seinen Anführer.
„Nein, natürlich nicht. Die würde ja sonst Spanisch mit uns reden, falls sie das kann“, sagte Léon. „Leute, ladet die Armbrüste. Wir ballern die alle weg, bis die entweder alle ausgelöscht oder wegdisappariert sind. Der Sonnenschild des Inti hält die nur noch wenige Minuten auf!“ rief León. Keine zwanzig Sekunden später stürmten die ersten Bewaffneten Kämpfer an die Fenster und öffneten sie. „Waidmanns Heil!“ rief der Anführer mit der roten Löwenmähne. Dann schossen die ersten vergoldeten Bolzen in die Nacht hinaus. Wie eingewirkt entluden sich die Sonnenlichtzauber bereits bei Berührung einer fremden Magie. Es blitzte grell auf. Feuerbälle blähten sich für einen Sekundenbruchteil auf und fielen zusammen. Es zischte und fauchte, wenn erhitzte Luft verdrängt wurde. Tatsächlich schossen die Armbrustschützen auf diese Weise viele größere Löcher in die halbkugelförmige Formation. Jeder Schuss mochte mindestens zwei oder drei von denen aus der Welt schaffen. Denn jeder Schuss löste Schmerzensschreie aus. Die Löcher in der Schwärze wurden immer größer. Zwar versuchten welche von denen die Lücken zu schließen. Doch weil im gleichen Moment anderswo welche entstanden gelang das nicht. Dann plötzlich war der Himmel wieder frei. Der Vollmond warf sein kaltes Silberlicht auf die Hacienda und tat seine wandelnde Wirkung. Wegen des Stresses und der Jagdlust konnten sich die belagerten Werwölfe nicht gegen die Verwandlung auflehnen. Es dauerte nur eine halbe Minute, bis keiner von ihnen mehr eine Waffe halten oder bedienen konnte.
Eine Minute nach der Verwandlung entstand aus dem Nichts heraus eine neue schwarze Kuppel und blockierte das Mondlicht von neuem. Schlagartig und sehr schmerzhaft kehrte sich die Verwandlung wieder um. Doch bevor die unter heftigen Schmerzanfällen zuckenden Mondgeschwister sich wieder in Menschen zurückverwandelten verschwand die schwarze Kuppel erneut. Wieder fiel ungefiltertes Mondlicht auf sie und trieb die Verwandlung in die andere Richtung. Diesmal leuchtete der Mond nur zehn Sekunden lang. Dann verschwand er wieder hinter einem Dom aus völliger Dunkelheit.
„Das können wir jetzt solange mit euch machen, bis ihr vor lauter Schmerzen und Unklarheit, was ihr gerade seid euren kümmerlichen Verstand verliert. Jedenfalls könnt ihr so nicht mehr auf meine Kinder schießen!“ rief die übergroße Feindin. León sah sich mit brennenden Augen um. Seine Frau und die anderen, die gerade schwanger waren lagen keuchend auf dem Boden. Wenn Bocafina jetzt sein Kind verlor war dieses Ungeheuer da draußen fällig. Nein, er musste es erledigen, bevor Bocafina eine Fehlgeburt hatte. Doch weil seine Hände gerade halbe Wolfspranken waren konnte er keine Waffe führen.
Wieder schien der Mond für zwanzig Sekunden frei. Doch nun konnte León sehen, dass Bocafina sich gegen die Verwandlung wehrte. Sie schaffte es, wieder zur Menschenfrau zu werden. Ihr Unterleib zitterte. Offenbar war das darin wachsende Kind durch die ständigen Körperveränderungen seiner Mutter in Aufruhr. Dann sah er, wie sie nach dem bunten Wandteppich griff. „Nein! Ihr bleibt hier!“ hörte León eine Stimme. „Ich lasse euch nicht weg!“ rief sie noch. Doch da hatte Bocafina ihm, Lunamares und Gordiño den Teppich übergeworfen und „Festungsbrand!“ gerufen. Bevor Léon noch was erwidern konnte strahlte draußen grelles Licht auf. Gleichzeitig wurden Bocafina, Lunamares, Gordiño, sowie die sich noch geistesgegenwärtig mit den Zähnen festklammernden Mondschwestern mit ungeborenen Kindern in jene silberne Lichterflut hinübergezogen, die bei einem auf den Mond abgestimmten Portschlüssel wirksam wurde. León wollte schon protestieren, dass er nicht fliehen wollte. Doch das brachte jetzt nichts mehr.
Als sie aus der silbernen Lichterflut heraus auf warmen Waldboden fielen roch er die Düfte tropischer Pflanzen und hörte das vertraute Plätschern eines gewaltigen Stromes, der um sie alle herum dahineilte. Sie waren auf der Mondlichtungsinsel! Doch wie viele waren entkommen?
„Boquita, wir hätten erst alle an den Teppich bringen müssen“, gedankenknurrte León, weil sein Körper unter dem nun ungeblocktem Mond wieder zum Wolf wurde.
„Ach neh, seid ihr Mäuse und Ratten oder der Kapitän im letzten Rettungsboot mit seiner Besatzung, weil das Schiff schon untergegangen ist?“ wurden sie von einem in menschlicher gestalt gebliebenen jungen Mann begrüßt, von dem León wusste, dass er auf Finos Seite gestanden hatte.
„Dass ich dich nicht gleich in Stücke reiße“, dachte León, als er sah, wie der hier ausharrende Bocafina ansah, die sich ebenfalls gegen die Verwandlung stemmte. „Boquita, wie veile haben wir mitgenommen?“ wollte er von seiner Frau wissen. Sie deutete statt einer Gedankenantwort auf den kleinen, runden Gordiño, dessen nicht minder runde aber etwas größer gewachsene Frau Lunamares und die anderen gerade schwangeren Mitschwestern. Das waren zusammen mit ihm und ihr neun Flüchtlinge, neun von einhundert. Sie hatten einunddneunzig Mitkämpfer diesen Biestern zum Fraß vorgeworfen. Bocafina hatte das getan, weil sie ihr Kind retten musste. Da krachte es einen halben Kilometer weiter weg wie zehn zeitgleich abgefeuerte Kanonen. Eine haushohe silberne Lichtspirale flackerte auf. Dann purzelten an die hundert bepelzte Körper auf die Lichtung.
„Unser war der Pilotschlüssel, wie Fino das nannte. Damit habe ich die im Parkett verankerten Portschlüssel geweckt. Die konnten aber erst auslösen, wenn mindestens zehn Sekunden freies Mondlicht auf das Parkett fiel. Denkst du ernsthaft, ich wollte unsere Leute opfern. Da hätten wir auch nichts von gehabt. Ja, und für die rabenschwarze Schwebebande haben Palón und ich noch was ganz besonderes vorbereitet“, legte Bocafina nach.
„Sind wir denn jetzt alle?“ fragte er besorgt. „Alle, die im Versammlungsraum waren“, sagte seine Frau. Dann erklärte sie ihrem Gefährten, was sie vorbereitet hatten. „Wenn die nicht rechtzeitig wegdisapparieren“, knurrte er. Dann fiel ihm noch was ein: „Aber das wird unsere Hacienda nicht überleben, Boquita. Du hast unser Zuhause auf dem Gewissen.“
„Was meinst du, wielange wir das jetzt noch durchgehalten hätten. Dieses Biest und seine Brut haben genau die Taktik gewählt, uns alle auf einmal körperlich und seelisch kaputtzumachen. Wir mussten da weg, Leoncito“, stellte Bocafina klar.
„Ja, und was wenn die auch hierher kommen?“ fragte Gordiño. Bocafina blickte nach obenund dann über den breiten Amazonasstrom und dann wieder zurück. „Die wissen höchstens, dass eine Insel im Amazonas unsere zweite Zuflucht ist. Weil wir hier aber keinen Sonnenzauber haben, der zu früh auf dunkle Wesen reagiert wird es diesmal keine verräterischen Funken geben. Die werden uns hier nicht finden.“
„Das glaube ich dir erst, wenn die Nacht vorbei ist“, grummelte León del Fuego und sah zum weiterhin leuchtenden Vollmond hinauf, der eigentlich sein guter Freund war und vorhin fast sein schlimmster Feind geworden war.
„Tja, Finos und Luneras späte Rache, würde ich mal sagen“, meinte der junge Bursche, der die Ankömmlinge von der Hacienda so spöttisch begrüßt hatte. León wollte dem gerne was zurufen. Doch außer einem kehligen Knurren brachte er nichts zustande. Dafür lief Bocafina mit schon gut ausladenden Bewegungen auf ihn zu und verpasste dem Spötter einen wuchtigen Kinnhaken, der ihn einen halben Meter vom Boden riss und dabei zwei Meter nach hinten katapultierte. Dass er der Länge nach auf der feuchten Tropenwalderde aufschlug bekam er nicht mit. Auch dass Bocafinas Weltmeisterhaken ihm vier Zähne aus dem Unterkiefer gedroschen hatte würde er erst später bemerken. Statt dessen verwandelte sich der freche Bursche in einen bewusstlosen Wolf, blieb aber liegen.
„Oha, da waren die beiden Ohrfeigen ja noch ein zartes Streicheln“, dachte León für sich alleine. Man sollte eine Hexe nicht wütend machen, und wenn sie zudem noch eine schwangere Werwölfin war ganz besonders nicht.
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Seit des verhängnisvollen Mittsommertages waren nun dreizehn Wochen vergangen. Jede weitere Woche, die Narzissa auf den unerbetenen Nachwuchs wartete lauschte sie, ob sie von ihm was besonderes verspürte. Sein Herz schlug schon. Doch Bewegungen fühlte sie noch keine von ihm. Draco hatte sie erst ab der zwanzigsten Woche gespürt. Sie hoffte, dass dieser Junge, der ehemalige ungeborene Sohn ihrer toten Schwester Bellatrix, sich ganz wie ein natürlich entstandenes Kind entwickelte und nicht zu ihrem eigenen Feind heranwuchs, gar zu ihrem eigenen Mörder.
Als sie am Ende der dreizehnten Woche durch den Garten des Anwesens der Malfoys schlenderte, bemerkte sie, wie die Hecken sich ihr erst zuneigten und dann förmlich nach hinten sprangen, um sie vorbeizulassen. Als sie eine noch geschlossene Blume ansah öffnete sie vor ihren Augen ihre Blüte so weit es ging. Doch sie selbst hatte nicht das gefühl, dass die Zeit um sie herum schneller verging. War es ein Nebeneffekt jener unnatürlichen Vereinigung mit dem Richtbaum, der gerade bewirkte, dass Pflanzen auf ihre Anwesenheit reagierten wie scheue oder willfährige Tiere?
Sie näherte sich einem Busch. Dieser bog zitternd seine Zweige zurück. Als sie dachte, „beruhige dich“, entspannte sich das Strauchgewächs wieder. Narzissa versuchte nun auch, einen der Bäume dazu zu bringen, ihr einen Ast herunterzulassen. Tatsächlich bog sich ein mit vielen Zweigen und Laub geschmückter Ast immer tiefer zu ihr hinunter, sodass sie sich bequem daran hochziehen und in den Wipfel hinüberklettern konnte. Dort konnte sie durch reines Wunschdenken die Astgabel so umgestalten, dass sie wie ein leicht erbebender Sessel für sie war. Als sie es nun einsah, dass ihre Gedanken, ja ihre reine Anwesenheit große und kleine Pflanzen beeinflussen konnte ließ sie sich von jenem Baum an einem Ast so weit hinunterrutschen, dass sie ohne Schwierigkeiten auf den Füßen landen konnte. Der Ast schnippte danach nicht in seine Grundstellung zurück wie ein losgelassenes Gummiband, sondern bog sich sanft nach oben, bis er seine Ausgangsausrichtung wiederfand.
Narzissa Malfoy fühlte eine Mischung aus Unbehagen und Faszination. Sie fragte sich, ob sie diese neue Fähigkeit für immer behalten würde oder nur solange, wie Bellatrixes geraubtes Kind in ihrem Leib heranwuchs. Falls das Kind diese Gabe in ihr auslöste, mochte es diese Fähigkeit nach seiner Geburt ebenfalls benutzen können? Falls ja, mochte es damit auffallen und zum Objekt für Heiler und Herbologen werden? Dann fiel ihr ein, wie sie früher in Hogwarts mit widerspenstigen Zauberkräutern zu kämpfen hatte. Falls diese neue Gabe, ein wohl eher unbeabsichtigtes Geschenk des Richtbaumes, über die Geburt des Jungen hinaus erhalten bleiben würde, konnte sie in der magischen Kräuterkunde neue Wege beschreiten, mit widerspenstigen oder gar lebensgefährlichen Pflanzen umspringen wie mit harmlosen Haustieren. Sie würde diese neue Befähigung weiterhin beobachten und erforschen, bis sie wusste, ob sie ihr erhalten bleiben würde oder nicht.
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Der Nachfahre des einstigen mächtigen Baumes hatte erkannt, dass sein Bestreben, das ihm aufgezwungene Leben loszuwerden, nicht so befreiend gewesen war wie er zuerst angenommen hatte. Zwar hatte er die ihm gefährlich werdende Seele und den mit ihr verbundenen Menschenkeim in die passende Trägerin ausgelagert. Doch dabei war ihm offenbar etwas mehr der eigenen Kraft entströmt als er wollte. So konnte er durch die Augen der werdenden Mutter verfolgen, wie sie und das in ihr wachsende Kind zurechtkamen. Auch bekam er mit, dass ein Teil seiner eigenen Macht über die grünen Kinder in dieses kurzlebige Weibchen übergeflossen waren. Ja, durch ihre Hingabe und seine Bestrebung konnte sie nun die grünen Kinder lenken, und sicher würde es auch jener, den sie an Stelle der toten Kriegerin austrug. Der Geist des Richtbaumes erkannte mit der ihm ermöglichten Auffassungsgabe, dass er womöglich doch einen starken Feind auf den Weg ins Leben gebracht hatte, einen Feind, der ihn eines Tages doch bezwingen konnte. Seine Angst, zu unterliegen, war nicht vergangen. Sie war nur auf einen viel späteren Tag verschoben worden. Nur seine Forderung, dass die beiden weit genug von ihm fortbleiben sollten mochte sie und ihn hindern, den Richtbaum zu bekämpfen. Doch wenn die Zeit vorbei war? Dieses Weibchen hatte leider recht. Zehn mal zehn Sommer waren eine sehr kurze Zeit für ihn. Ihm blieb nun nur noch zu warten. Denn er musste auch feststellen, dass er zwar durch die Augen und Ohren der anderen die Welt erleben konnte. Doch er konnte sie nicht mehr erreichen, nicht einmal in ihrem Schlafleben. Offenbar beschützte die in sie eingeflossene Kraft und die in dem ungeborenen Kind mitwachsende Widerstandskraft gegen ihn sie vor neuen Botschaften und Verlockungen. Ihm blieb nun nur das Abwarten und das, was Menschen Hoffnung nennen, die Hoffnung, dass jene, die sich mit ihm gemessen hatte, seiner erinnerte und ihrerseits den Preis für ihren Sieg einforderte. Vielleicht konnte er sie dazu bringen, sich mit jener zu streiten, der er das Kind der toten Kriegerin überlassen musste. Doch vielleicht machte er sich auch nur unnötige Sorgen, und im Namen Dairons würde sich alles für ihn wieder zum guten fügen. So blieb nur das Warten. Das konnte der Geist des alten Richtbaumes immer noch am besten.
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Es war sinnlos, den von ihr übernommenen Rittern der Nacht bildhafte Zielbeschreibungen zu liefern. Denn die unterworfenen Krieger konnten fühlenden Wesen viel Schaden zufügen. Doch sie konnten keinen Funken Licht sehen. Also waren sie ungeeignet, die versteckte Festung, eigentlich nur ein Landgut in der Nähe einer Großstadt in Mexiko, zu belagern. Nein, die Ritter der Nacht, wie Birgute sie ganz dem Stil einer adeligen Feldherrin nannte, sollten die frei herumlaufenden Mondbrüder aufstöbern und zusammentreiben, um sie für die Schattenpfändung bereitzuhalten. Die geheime Residenz sollten Birgutes treue Kundschafter und Vollstrecker finden und dann, wenn sie die Umgebung abgesteckt hatten, mit einer Hundertschaft der Ritter der Nacht anrücken und den Vollmond abschirmen. Was würden jene, die von dessen besonderer Kraft abhingen erleben? Sie bedauerte es, das nicht unmittelbar mitzuerleben.
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Hier in der Tiefe schien keine Sonne mehr. Hierhin konnte sich auch keiner der lebenden Schatten verirren, weil deren eisige Kälte das Wasser gefror und den Schattengeist damit selbst lähmen konnte, wenn das Eis undurchsichtig wurde. Deshalb konnten die beiden sich hier unten ungefährdet treffen.
Ein großer, schwarzer Stachelrochen glitt mit weit aber ruhig ausgreifenden Flossenschlägen dahin. Das Wesen erkundete die Umgebung mit allen Sinnen, auch dem für fremde Gedanken und Gefühlen. Ja, da war etwas, was dem Wesen vertraut war. Es näherte sich ihr.
Jedes andere Meereswesen und auch jeder mit mechanischen Atemgerätschaften in die Tiefe dringender Mensch hätte vor dem Reißaus genommen, was da aus der Finsternis hervordrang. Es war ein gewaltiger Körper mit acht geschmeidig das Wasser durchrührenden Fangarmen. Doch es war kein Krake oder Oktopus. Denn es besaß auf der Oberseite ein undurchdringlich hartes Gehäuse wie eine Schnecke. Die langen, mit bezahnten Saugnäpfen besetzten Fangarme trieben das unwirklich erscheinende Wesen auf den Rochen zu. Diser stoppte seine Vorwärtsbewegung und klappte die weit ausladenden Flossen ein. Nun schwebten beide ungeheuerhaften Geschöpfe auf Augenhöhe einander gegenüber.
„Gruß dir meine Schwester. Wie erging es dir in den letzten Monaten?“ übermittelte der Rochen eine rein gedachte Frage. Das Mischwesen aus Riesenkrake und Schnecke erwiderte auf dieselbe Weise: „Ich konnte meine neue Schlafhöhle tief unter dem Dach der Welt einrichten und in der Umgebung weitere Höhlen entdecken, in die kein Kurzlebiger hineinklettern kann. Und du, wie fühlt es sich an, eine biedere Familienmutter von zwei kleinen Kindern zu sein?“
„Es ist eine sehr kurzweilige Erfahrung“, gedankensprach jene Seele, die im Körper eines riesigen Stachelrochens steckte.
„Du hast mit Ilithula und Ullituhilia gesprochen. Denkt ihr auch, dass Mutter recht hat und diese fleischlose Unholdin, die unsere Schwester Thurainilla verschlungen hat, alles von ihr erfahren hat und deshalb auch weiß, dass Mutter diesem Zwei-Monde-Wechsel unterworfen ist?“
„Ja, da gehe ich sogar sehr stark von aus, Eranilithanila. Auch Ilithula und Ullituhilia stimmen ihr da zu. Es ist ja auch verständlich, wo Mutter im tierhaften Geisteszustand unsere Schwester des Mondes in sich hineingeschlungen und deren Kraft mit sich vereint hat. Also muss auch jene selbsternannte Herrin aller Schattenwesen das mit Thurainilla geschafft haben. Das macht sie um so gefährlicher.“
„Ja, doch Ullituhilia hat doch gehört, dass Thurainillas Stimme aufgeschrien hat, als jene Unholdin aus der schwarzen Pyramide verstoßen wurde.“
„Dennoch sind Mutter und Ullituhilia sicher, dass sie Thurainillas ganzes Wissen erbeutet hat und davon gebrauch machen wird“, dachte die als Rochen verkörperte Itoluhila.
„Dann weiß sie, wo der Berg der ersten Empfängnis ist. Sie mag Kräfte sammeln und sich überlegen, wie sie die Schutzzauber und die Wächter umgehen oder niederkämpfen kann. Wann glaubt ihr, wird sie angreifen?“
„Ganz sicher, wenn sie weiß, wann Mutter wieder in ihrer zweiten, tierhaft getriebenen Gestalt steckt“, gedankengrummelte Itoluhila. Eranilithanila konnte ihr da nur zustimmen. „Dann wird Mutter angreifbar sein, Riesenameisen hin oder her. Ein Schatten kann sich zwischen denen durchschlängeln.“
„Ja, nur haben wir alle bei unserem Befreiungsangriff damals mitbekommen, dass die Panzer aller Ameisen Zauberkräfte abweisen. Aber ich stimme dir zu, dass sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wird. Gilt dann die Absprache?“
„Natürlich gilt sie, Schwester“, gedankenfauchte Eranilithanila. „Jetzt, wo Mutter sich auch in ihrer Tiergestalt noch einigermaßen auf sich besinnen kann muss sie geschützt werden, wenn eine übermächtige Gegnerin sie anzugreifen trachtet. Das gilt für die Blutschlürfer, die Pelzwechsler, die Kurzlebigen und eben auch für alle fleischlosen Mordgeister wie dieses Schattenweib. Also, wenn es geschieht werde ich da sein“, sicherte die als Krakenschnecke verkörperte Eranilithanila zu. „Der Warnrufstein ist bereits ausgelegt. Wenn Ullituhilia seinen Ruf vernimmt wird sie uns das mitteilen. Doch sei dir bitte gewahr, dass die Feindin alles kennt und wohl auch kann, was Thurainilla und Riutillia konnten, auch wenn wir davon ausgehen wollen, dass unsere verschlungene Schwester noch nicht ganz im dunklen Leib der Feindin zerronnen ist.“
„Ja, und das kann unseren Kräften überlegen sein. Nur Sonnenlichtzauber helfen dagegen. Aber Tharlahilia ist noch nicht ausgewachsen, richtig?“
„Das zwar nicht, aber sie hat uns nach ihrer Wiedergeburt verraten, wo Aufzeichnungen über Anrufungen der Sonne zu finden sind und dass die Kurzlebigen sehr brauchbare Gerätschaften erfunden haben. Wie die gehen haben Ullituhilia und ich aus Tarlahilias Beschreibungen nachvollzogen. Außerdem können Ilithula, Ullituhilia und ich wirksame Wallzauber, und du kannst einen Feind im halbflüssigen Erdboden versinken lassen“, zählte Itoluhila auf. „Ja, was bei einem schwerelosen Schattenwesen auch sehr gut gelingt“, gedankengrummelte Eranilithanila. Doch sie wusste, dass es bei einem Angriff auf die Mutter oder auf jede der noch wachen, mit allen Kräften ausgestatteten Schwestern geboten war, zu helfen. So nahm Itoluhila die feste Zusage der achtarmigen Anverwandten als Versicherung hin.
Die beiden wie Meeresungeheuer wirkenden Wesen verabschiedeten sich und glitten dann voneinander fort.
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Der Plan, gezielt welche in Mexiko zu beißen war wie die Hacienda in Asche und Rauch aufgegangen. Am Tag nach der überstürzten Flucht aus Mexiko berieten die nun auf der Mondlichtungsinsel gelandeten, wie es weitergehen konnte. Feststand, dass sie sich nicht von diesen Schattendämonen fertigmachen lassen wollten. Daher nutzten sie die immer noch vorhandenen Reserven auf der Insel, um möglichst viele Bolzen mit „Zähne des Ra“ zu bezaubern. Da sie eine Sonnenkugel hatten zurücklassen müssen besaßen sie nur noch drei auf der Insel. León war zumindest froh, dass er Finos Obsidianschlüssel an einem Halsband trug, das selbst bei ständiger Verwandlung an seinem Körper blieb. Auch lagerten unter dem Haupthaus noch an die fünfzig Zauberstäbe, die Fino aus verschiedenen Ländern organisiert hatte, um für den Fall, das jemand als Werwolf den eigenen Zauberstab verlor Ersatz zu bekommen.
„Also, Leute! Wir bauen eine Vorrichtung, um Nachtschatten zu orten. Finden wir einen, wird der mit Ras zähnen aus der Welt gefressen. Das machen wir solange, bis es südlich des Rio Bravo und nördlich von Feuerland keine Nachtschatten mehr gibt. Ach ja, und wenn wir dabei auch ein paar von den Langzähnen der roten Göttin in die ewigen Jagdgründe befördern können um so besser.“
„Das Kristallvampirschwingungsgerät, haben wir hier auch eins?“ fragte Palón. Der hiesige Gemeinschaftssprecher lachte und sagte: „Jungchen, als ihr das gemeldet habt, dass diese Waffe echt was taugt hat Fino vier Stück davon gebaut.“ León nickte ihm zu. Doch innerlich ärgerte er sich wieder. Fino hatte Zauberstäbe ausgelagert. Fino hatte die Waffe gegen Kristallstaubvampire gebaut und mehrere Ausgaben davon. Fino hatte dies und er hatte das. Was er aber nicht im Voraus gebaut hatte waren zwei Schmetterlingsflügelboote. Die waren zurückgeblieben. So konnten sie mit den zwei Booten die hier noch waren nicht an mehr als zwei Orten zugleich zuschlagen. Aber sie würden zuschlagen. León wusste, dass er diesen Erfolg nun ganz dringend brauchte. Alle Rückschläge der letzten drei Monate wogen schwer auf seiner Seele. Wenn er nicht bald bewies, dass er der große Macher war brauchte er sich für den Monat Mai nichts vorzunehmen.
Zusammen mit den Geflüchteten plante er nun den großen Vergeltungszug gegen Nachtschatten und Vampire. Wichtig war dabei, niemals mit den Zaubereiministerien ins Gehege zu kommen. Denn die jagten sicher auch die Nachtschatten.
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Lunera und die Glenfield-Brooks-Gemeinschaft erfuhren über Umwege, dass Leóns Hacienda im Glutball innerhalb von einer Sekunde freigesetzter fünf Stunden Sonnenlicht vergangen war. Wie viele Nachtschatten dabei erledigt worden waren konnte nur deren Königin sagen.
Die Sammelkommandos für den LNT mussten sich mehrmals gegen aus winzigen Bodenöffnungen springenden schwarzen Kügelchen wehren, die sich zu großen Schattenwesen auswuchsen. Als der Oktober kam und damit der Zeitraum, in dem Lorna niederkommen würde berief Tara noch einmal eine Vollversammlung ein.
Als alle versammelt waren sagte sie: „Wenn unsere Mitschwestern ihre Kinder auf der Welt haben teilen wir Schlafgruppen ein, die jeweils einen Monat lang durchschlafen. Da draußen wimmeln mittlerweile zu viele vom Kommando Remus Lupin herum, die selbst Angst haben, sie könnten von den Nachtschatten überfallen werden. Die haben sich jetzt ganz auf uns Lykanthropen eingeschossen, wie Joel und Hank es genannt haben.“
„Ja, und zu dem kommt noch, dass die Schattenlosen, die auch auf dem Festland gesichtet wurden einen umgekehrten Verwandlungszyklus haben. Wenn es Neumond ist werden sie zu Wölfen, und bei Vollmond hängen sie nur betrübt wimmernd herum. Wollt ihr so sein?“ Natürlich wollte das niemand hier. So losten sie aus, wer den November verschlafen sollte und wer die Weihnachtssaison im Tiefschlaf überstehen sollte. Natürlich wussten sie, dass sie auf Dauer nicht so weitermachen konnten.
Einen Tag nach diesem wegweisenden Beschluss erfuhr die Glenfield-Brooks-Wohngemeinschaft, dass die selbsternannte Kaiserin der wahren Nachtkinder den Festlandseuropäern eine Liste von Forderungen übergeben hatte. Als die Lykanthropen lasen, dass ihre „Boten des schattenlosen Mondes“ die anderen Werwölfe in Schach halten würden wussten Tara und die anderen, dass es für Ihresgleichen im Moment jene dauerhafte Mondfinsternis war, die sie immer beschworen, wenn sie was verwünschten.
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Birgute Hinrichter alias Stella Nigra bebte vor Wut. Ja, ihr Plan war gelungen, den Mond über dem verhüllten Unterschlupf zu blockieren. Ja, die dort ausharrenden mussten das als Bedrängnis empfunden haben. Ja, und dann hatten sie sich doch noch mit einem Zauber befreit und waren wohl verschwunden. Denn die ausgeschickten Schattenkrieger hatten für einen winzigen Augenblick eine mondlichtfarbene Lichtspirale gesehen, die aus einer goldenen Käseglocke herauswirbelte, bevor die Glocke sich wieder zu einem ungreifbaren Punkt zusammengezogen hatte. Ihrem Wissen aus den Erinnerungen der verschlungenen Lykanthropinnen nach beherrschten die Zauberstabträger unter ihnen eine Methode, die Portschlüssel hieß und konnten sowohl einen auf den Mond abgestimmten und einen auf die Sonne abgestimmten Portschlüssel herstellen. Damit war es möglich, eine Gruppe von Leuten mal eben wegzubeamen, wie es die völlig ahnungslosen Magieunfähigen aus dem Fernsehen kannten. Sicher waren die jetzt in ihrem Ausweichstützpunkt und bereiteten sich darauf vor, diesen gegen eine neue Mondabschirmung zu verteidigen. Doch wenn die Schattenkaiserin nicht wusste, auf welcher der vielen Inseln mitten im Amazonasstrom dieser Unterschlupf lag konnte sie Monate lang suchen.
Ihre Wut verrauchte. Es galt, die neue Lage zu nutzen, nicht die vertane Chance zu betrauern. Sie wollte sich nun vordringlich auf die Vampire Konzentrieren. Ihre Neumondwölfe sollten derweil arglose Menschen zu Ihresgleichen machen, um die Mondgeschwister in die Enge zu treiben. Außerdem stand da ja noch eine ganz große Sache an, für die sie noch einmal an die zweihundert neue Untertanen haben musste und für die sich die von ihr geführten Ritter der Nacht in abgelegenen Urwalddörfern neue Kraft aneignen sollten. Ihr war klar, dass jene auf sie warteten, die meinten, dass sie ein Recht auf Rache hatten und dass die auch wussten, wann und wo sie auftauchen musste, um diese Bedrohung ihrer Herrschaft auszulöschen. Es würde ein harter Kampf werden.
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Es war Birgute Hinrichter gelungen, weitere Mondgeschwister zu ergreifen. Leider hatten ihre aus den Brüdern Nightface und Nightcoat entstandenen Söhne es nicht mehr geschafft, ihre mächtigen Eltern und Anverwandten zu unterwerfen oder sie zu ihnen hinzubringen, damit auch sie ihre Kinder wurden. Außerdem störte es sie, dass die Blutgötzin mittlerweile besondere Panzerkrieger zur Verfügung hatte, die jeden direkten Angriff eines ihrer Untertanen einfach zurückprellen konnten. Aus Thurainillas Wissen kannte sie diese mächtige Absicherung. Schattenrüstung hatte deren Erfinder sie genannt, jener, der von den Vampiren als deren Erzeuger und Halbgott angebetet worden war. Doch von diesen Panzerkriegern gab es noch nicht viele. So gelang es ihren eigenen Untertanen, immer wieder Götzinnenanbeter zu töten, ohne ihre Seelen in sich hineinzusaugen. Denn dann, so wussten sie es längst, konnte diese Abgöttin sie wie an einer langen Angelschnur zu sich hinziehen und ihrerseits einverleiben.
Als sie erfuhr, dass überall dort, wo mehr als zehn ihrer Untertanen auf einmal zusammengingen ein Trupp dieser widerlichen, aus sich heraus wie gleißend helle Lichter strahlenden Sonnenkinder auftauchten und den Trupp in nur wenigen Sekunden auslöschten schickte sie keine großen Truppen mehr aus. Offenbar hatten die Sonnenkinder sowas wie ein Überwachungssystem, das auf die Verdichtung von Nachtkindausstrahlungen ansprach und sie zielsicher dort hinleitete, wo mehr als zehn von ihnen waren. Das schwächte zwar ihre Angriffsmacht, bewahrte aber das Dasein ihrer Untertanen. Sie war sich sicher, jeden von denen dringend zu brauchen, wenn es zum Endkampf gegen die verschiedenen Feindesmächte kam. Allein zweihundert ihrer Kinder und alle in Afrika zusammengezogenen Dementoren wollte sie für den großen Schlag im Oktober einsetzen.
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In der Nacht zum zweiten Oktober träumte Julius wieder von der Mondburg. Die 36 Schwestern in Weiß sangen wieder jenes geheimnisvolle Lied. Dabei sah er, wie zwei tief schlafende Kinder in der Mitte des von ihnen gebildeten Kreises lagen. Das Mondlicht fiel auf sie und schien sie in seinem Silberlicht mehr und mehr zu schrumpfen. Nein, das silberne Licht ließ sie jünger werden. Die zwischen vier und fünf Jahre alten Kinder wurden kleiner und kleiner, bis sie nur zu wenige Tage alten Säuglingen zurückverjüngt waren. Julius hörte aus dem Lied die Worte für neues Leben und freie Seele. Als der Verjüngungsvorgang beendet war hörten die Mondtöchter zu singen auf. Dann sagte die erste Tochter: „So mag der Bote nochmals zu uns kommen, um die ihrer bisher aufgeladenen Last entledigten Kinder und ihre von der Wut der himmlischen Mutter befreiten Blutsverwandten an einen sicheren Ort zu bringen, an dem sie bis auf weiteres vor den Augen und Fängen ihrer Feinde verborgen bleiben mögen. Julius Erdengrund, höre unser rufen!“ Die 35 anderen Schwestern wiederholten es im Chor. „“Tritt vor unsere Heimstatt und empfange jene von allen Übeln befreiten, die du uns anvertrautest!“ Auch das wiederholten die 35 anderen Mondtöchter. Dann sah Julius nur noch silbernen Nebel und dann nichts. Er öffnete die Augen. Neben ihm atmete seine Frau Mildrid. Sie schlief tief und fest. Das war wohl gut so. Denn im letzten Schwangerschaftsdrittel war jede Minute Schlaf kostbar.
Julius bemühte sich, so behutsam es ging aus dem Bett zu klettern. Doch das gelang nicht. Mit einem kurzen Grunzlaut erwachte Millie und wusste, was los war.
„Hast du von denen geträumt, Monju“, grummelte sie schlaftrunken und rieb sich die Augen. „Ja, die wollen, dass ich alle abhole, die bei ihnen waren. Mamille, die haben die zwei Kinder wiederverjüngt, alls wenn die gerade erst geboren worden wären, ganz ohne Zauberstäbe, nur durch Ritualgesang. Das ist heftig.“
„Mann! Monju, was soll daran heftig sein, an einem magisch bis zum Überlaufen aufgeladenen Ort mit sechsunddreißig magisch hochbegabten, die zur gleichen Zeit das gleiche tun ein Ritual zu wirken, für dass ein einzelner einen Zauberstab braucht? Ach, komm, die zwei kleinen Turnchampionetten sind auch wach. Dann bring ich dich mal eben dahin. Oder willst du wen vom Ministerium mitnehmen?“
„Ich weiß nicht, ob die mich dann reinlassen oder die Burg überhaupt sichtbar wird“, sagte Julius.
„Soll ich dich mit dem Kleid dahinbringen? Das kann ich mir über das Nachthemd ziehen. Ist ein geniales Umstandskleid.“
„Oha, verrat mir bloß keine weiteren Geheimnisse des Kleides! Du meintest ja, dass eines davon macht, dass es zu mir hinspringt und mir sich anzieht und dann in meine eigene Zwillingsschwester verwandelt.“
„Ja, und dann auch so lässt. Neh, besser nicht. Deine Kinder sollen mit mindestens einem Vater aufwachsen, wenn schon zwei Mütter im Haus sind“, flüsterte Millie. Dann wisperte Julius noch: „Besser ich appariere alleine vor die Burg. Wo die ist weiß ich ja jetzt. Sollte ich die aus der Burg holen müssen die das Kleid nicht sehen. Und falls ich wen vom Ministerium dazuholen muss brauchen die das erst recht nicht zu sehen.“
„Autsch! Stimmt, wenn du die abholen sollst geht das nicht alleine. Gut, zieh dir aber was über, was dich nicht wie einen mondsüchtigen Schlafwandler rüberkommen lässt! Abgesehen davon ist es da sicher noch kalt.“
Julius fischte nach seinem Zauberstab, konzentrierte sich und vollführte eine schnelle Drehung, als wolle er disapparieren. Statt dessen ploppte es nur. Sein Schlafanzug lag gefaltet auf dem Kopfkissen, und Julius stand in einem dunklen Reiseumhang und bergfesten Stiefeln da. „Schön kannst du das, wie eine ausgebildete Modehexe“, kommentierte seine Frau.
„Wohl eher wie einer, der in einer Minute von null auf hundert hochgejubelt werden muss“, grummelte Julius. Dann stellte er sich so hin, wie er es im Apparierkurs gelernt hatte, wenn er relativ leise verschwinden wollte. Er stellte sich die Mondburg und ihre Umgebung vor. Dann drehte er sich noch einmal auf einem Absatz und verschwand mit leisem, gerade noch vernehmlichen Plopp.
Julius ging davon aus, warten zu müssen. Doch es dauerte keine Minute, bis die geheime Burg wie üblich aus dem Nichts in die Umgebung hineinwuchs, als ziehe jemand unsichtbare Vorhänge beiseite. Als die halbmondförmige Vorderseite vollständig mit dem Burggraben zu sehen war tat sich das runde Tor auf. Leise schob sich die gläserne Brücke heraus. Julius überlegte, ob er es jetzt wagen sollte, alleine hinüberzugehen. Doch da erschienen drei Frauen in Weiß und hielten kleine, pyramidenförmige Kristalle in den Händen. Diese schwenkten sie in alle Richtungen. Doch außer dass sich in ihnen das Mondlicht brach und spiegelte geschah nichts. „Gut, keiner verhüllt auf dem Boden oder in der Luft. Ihr könnt sie heraustragen, Schwestern“, hörte er die vorderste der Vorhut in der Sprache des alten Reiches sagen.
Nun folgten je vier Frauen, die einen leblos wirkenden Körper trugen, zwei Frauen in nichtmagischer Alltagsbekleidung und einen Mann in lässiger Kleidung. Dahinter verließ eine weitere der Schwestern die sichere Burg. Sie trug zwei in Tücher gewickelte, offenbar ebenfalls tief schlafende Säuglinge heraus. „Die erste Tochter der himmlischen Mutter entbietet dir, Julius Erdengrund, ihre Grüße und bedankt sich für deine Hilfe. So ist es nun an uns, unseren Teil der Vereinbarung zu erfüllen“, sagte die Frau aus der Vorhut, während ihre Mitschwestern die fünf schlafenden Menschen über die Brücke trugen. „Wir hielten es für geboten, die Kinder nicht nur aller körperlichen, sondern auch aller seelischen Last zu entledigen. Denn ihre Heilung war für sie schmerzvoller als für jene, die weit nach der Geburt vom Keim der wütenden Himmelsmutter erfüllt werden. Das war auch für uns mit der Heilung jener dunklen Vergiftung vertrauten eine neue Unterweisung. Jetzt wissen wir, dass wir jene, die mit jenem Keim im Blut heranreifen und davon erfüllt geboren werden vier- bis fünfmal so stark durchsetzt sein können wie eben jene, die weit nach der Geburt davon erfüllt wurden. Daher haben wir sie mit unserem Lied der zurückkehrenden Zeit und dem Lied der befreiten Seele besungen. Jene, die die Mutter des Jungen ist, erhielt zudem im Schlaf die Erinnerung, dass sie mit ihrem gerade neugeborenen Sohn bei uns vorsprach. Jener, der der Vater des kleinen Mädchens ist geht davon aus, dass er es mit sich nahm, um es nicht in der Obhut seiner übelsinnigen Mutter zu belassen und dass er sich vor ihr verstecken muss. Jene, die wie du der Erde aber auch dem Mond vertraut ist, wird sich, wenn unsere himmlische Mutter ihr Gesicht zum Schlaf in den Schoß der Urmutter bettet daran erinnern, ihnen zur Flucht verholfen zu haben, und dass es gerade zwei volle Kreise unserer leuchtenden Mutter her ist, dass sie herkamen. Nur, damit du weißt, wie sie möglicherweise auf dich wirken, wenn sie wieder aufwachen. Wir alle hielten dies für alle fünf für sicher und erträglich. Bring sie alle mindestens tausend Schritte von hier fort, ohne ihre Körper zu verändern! Dann erheische Hilfe, wenn du ihrer bedarfst! Dies kündet dir die erste Tochter.“
„Darf sie selbst nicht herauskommen?“ fragte Julius.
„Erst wenn die Himmelsmutter ihr gebietet, sich noch einmal einen Mann für die Empfängnis einer Tochter zu suchen. Wir dürfen auch nur herauskommen, weil wir wussten, dass du diese fünf nicht alleine hinausschaffen kannst“, sagte die Frau, die bisher als einzige gesprochen hatte. Dann winkte sie ihren Mitschwestern. Diese legten die schlafenden fünf auf den Boden vor der Brücke. „So ist das werk getan“, sagte jene, die bisher gesprochen hatte. „So lebe du mit den deinen wohl und zage nicht, auf den Frieden zu hoffen. Nach der längsten und kältesten Nacht erwacht ein heller, warmer Morgen.“ Mit diesen Worten winkte sie Julius zu. Dann eilten die Trägerinnen und die Vorhut im Laufschritt über die Brücke zurück, als müssten sie schleunigst in Sicherheit gelangen. Julius argwöhnte selbst eine Gefahr oder einen unerwünschten Zuschauer. Er drehte sich um und bestrich die Umgebung mit einem Zauber der Erde, der ähnlich wirkte wie der Lebensquellensucher, nur dass er keine grüne Aura aufleuchten ließ, sondern eine sanfte, warme Vibration des Zauberstabes auslöste, wenn jemand in dessen Zielausrichtung stand, ob sichtbar, unsichtbar oder nur hinter einem Sichtschutz in Deckung. Doch er fand nichts. „Die Burg war länger zu sehen, und sechzehn von ihnen sind herausgetreten, wo sonst immer nur eine heraustreten darf“, hörte er Temmies Gedankenstimme. Ja, das leuchtete ein, dachte Julius. Dann sah er, wie die Mondburg wieder von außen nach innen im Nichts verschwand, bis auch der letzte schmale Streifen nicht mehr da war. Jetzt stand Julius auf einem ganz naturbelassenen Plateau irgendwo in den Bergen der Pyrenäen. Nur der Mond, das Kraftgestirn dieses Ortes, leuchtete vom hohen Himmel herab. Solange er schien würden die fünf schlafen. Danach würden sie mit einem neuen Gedächtnis aufwachen. Julius dachte, dass dies noch Ärger geben mochte. Denn sicher hätte sich der Kollege aus dem Werwolfkontrollamt über weitere Einzelheiten aus der Mondbruderschaft gefreut. Aber die reinen Töchter des Mondes hatten nur gesagt, dass sie davon ausgingen, die beiden gleich nach der Geburt aus der Festung der dunklen Mondgeschwister entführt zu haben beziehungsweise mit ihnen geflohen zu sein.
Den Transport über einen Tausendschritt erledigte Julius dadurch, dass er drei schwebende Tragen beschwor und alle fünf darauf unterbrachte, den Sohn bei der Mutter und die Tochter beim Vater und die halbindigene Frau, die selbst eine Hexe war, für sich alleine. Dann bugsierte er die drei Schwebetragen so, dass sie vorne, links und rechts neben ihm waren und lief los, den Zauberstab immer so haltend, dass er alle drei Tragen in der Luft hielt.
Es dauerte zwanzig Minuten, bis er die erbetene Entfernung zurückgelegt hatte. Dann ließ er die Tragen landen und reckte den Zauberstab senkrecht in die Höhe. Er führte eine Kreisbewegung nach links und nach rechts aus. Dabei rief er die Worte: „Advoco Medicum! Aus dem Zauberstab entfuhr eine goldrote Lichtfontäne, die erst kerzengerade in den Himmel jagte und dann zu einer sich blitzschnell von innen nach außen windenden Lichtspirale auswuchs. Im Umkreis von 1100 Kilometern wurde nun jedes Heilerarmband angeregt und würde sehr präzise zeigen, woher der gerade in den Himmel gefeuerte Notruf kam. Julius hatte es sich gut überlegt, die fünf nicht dem Ministerium zu übergeben, sondern erst in die Obhut der Heiler.“
Es dauerte nur eine Minute, da ploppten gleich mehrere apparierende Gestalten aus dem Nichts. Eine davon war Antoinette Eauvive. Die andere, die Julius erkannte, war Hera Matine. Antoinette winkte zwei ihrer ebenfalls aparierten Kollegen heran und nickte den drei anderen außer Hera zu. „Gut, danke, dass ihr auch gekommen seid. Ich denke jedoch, dass wir vier hier das alleine schaffen“, sagte die Direktrice der Delourdesklinik.
„“Wusste gar nicht, dass die DK und Millemerveilles in Reichweite sind“, erwiderte Julius ruhig. Dann erkannte er, dass er jetzt was ganz amtliches sagen musste. „Werte Damen und Herren Heiler, in Befolgung eines vor mehreren Jahren an mich ergangenen Auftrages überließ ich die drei Erwachsenen hier der Obhut der Töchter des reinen Mondes zur Entseuchung vom Keim der Lykanthropie. Vor einem Monat erfuhr ich von diesen, dass sie auch zwei noch unter zehn Jahre alte Kinder gefunden haben, die von zweien der in Obhut gegebenen stammen. Die dritte Person, die Dame ohne Kind, verhalf ihnen zur Flucht. Ich möchte sie vorerst in Ihre Obhut geben, da mir die Töchter des reinen Mondes mitteilten, dass die Entseuchung der beiden Kinder anstrengend für diese verlief und sie diese deshalb mit einem Gedächtniszauber belegten, der sie den Schmerz hat vergessen lassen. Was sie sonst noch getan haben entzieht sich mir.“
„Soso, Pflegehelfer Julius Latierre, das entzieht sich Ihnen“, knurrte Antoinette Eauvive. Hera Matine sagte: „Ja, und was die Reichweite angeht und meinen unterbrochenen Schlaf, da werden wir uns auch noch drüber unterhalten, junger Mann.“
„Ja, genau, und zwar in meinem Büro“, stellte die Heilzunftsprecherin klar. „Ariane, Brigitte und Alfonse, bitte verbringt die fünf Patienten in die Aufnahme. Die Kinder vorerst in die Lucine-Bourgeois-Station!“ Die Kollegen Antoinettes bestätigten es und stellten sich fachgerecht so, dass sie die Tragen mit einer Hand im Gleichgewicht halten konnten. Dann disapparierten sie mit vernehmlichem Knall. Das hatten die Mondtöchter sicher gehört. „Ja, und wir drei Nachtschwärmer apparieren jetzt weniger laut in den Empfangssaal. Von da aus geht es in mein Büro“, wiederholte Antoinette ihre Aufforderung. Julius hielt sich bei ihr fest und wünschte sich, dort anzukommen, wo sie hinwollte. Dann verschlang ihn auch schon jenes schwarze enge Zwischending zwischen Hiersein und Dortsein.
Als sie nach geglückter Ankunft Antoinettes Büro betraten kam auch Hera Matine mit. Nun musste Julius für die beiden Heilerinnen und eine mitschreibende Feder so genau er konnte schildern, was ihm widerfahren war. Damit hatte er kein Problem. Er erwähnte auch, dass die Mondtöchter wohl das Gedächtnis der Erwachsenen verändert hatten, damit diese dachten, sie seien gerade die Zeit hier, um erfolgreich von der Lykanthropie geheilt zu werden. Die beiden Kinder hatten die Mondtöchter wohl aus ähnlichen Gründen wiederverjüngt, weswegen es auch bei den magischen Heilern die Behandlungsmethode Genesungsverjüngung gab.
Zwischendurch trafen wie appariert Notizzettel ein. Hera las einen davon. „Die haben es echt bis einen Tag nach der Geburt zurückgedreht. Das kann der Infanticorpore-Zauber nicht. Die Bauchnabel sind bereits vollständig zugeheilt. Eine Seelenlotung zeigt, dass sie tatsächlich vollständig unbelastet von traumatischen Erlebnissen sind, nicht mal das für natürliche Neugeborene übliche Geburtstrauma ist vorhanden, wie auch?“
„Und du hast nicht gesehen, wie sie das angestellt haben?“ fragte Antoinette. „Von meinem Traum her, wohl gemerkt einem Traum, den die mir geschickt haben, sah es so aus, als wenn sie das nur durch rietuellen Chorgesang hinbekommen hätten“, antwortete Julius.
„Stimmt, Traumbotschaften können manipuliert werden“, wusste Antoinette. „Aber schon sehr beachtlich, wo deine Pflegehelferausbilderin berichtet hat, dass euer neuer Schutzzauber keine bösartigen Zauber durchlässt und dein Haus ja von einem gesonderten Schutzzauber eingefriedet ist.“
„Warum haben sie dich herbeigerufen, Julius?“ fragte Hera Matine. „Wohl weil Mildrid und ich die letzten waren, die bei ihnen eine ganze Nacht zugebracht haben und weil Mildrid gerade unsere beiden nächsten Kinder trägt“, wusste Julius die Antwort.
„Gehst du davon aus, dass die Mondtöchter dich weiterhin in deinen Träumen kontaktieren werden?“ fragte Antoinette Eauvive. „Ich sehe zum jetzigen Zeitpunkt keinen Grund dafür, kann dies jedoch nicht grundsätzlich ausschließen“, erwiderte Julius. Die zwei Heilerinnen nickten über diese gekonnte Antwort.
„Gut, dann werde ich dieses Protokoll für das Ministerium sichern. Ich danke dir für die gewünschten Aussagen.“ Sie griff schnell nach der nun auf weitere Worte lauernden Schreibfeder und pflückte sie vom Pergament. „So, noch was außerhalb des Protokolls, Julius. Das Werwolfkontrollamt wird wohl nicht begeistert sein, drei wichtige Zeugen aus dem Umfeld der Mondgeschwister zu verlieren. Falls die finden, dir irgendwas deshalb an beide Beine hängen zu müssen schick die Herren oder Damen zu mir!“
„Ja, werde ich tun, Madame la Directrice“, sagte Julius. Dann fragte er noch, warum Antoinette überhaupt in den Bergen appariert war. „Weil ich heute Nacht Notrufbereitschaft habe. Das mache ich alle vier Wochen einmal, um die Bodenhaftung zu behalten und nicht zu sehr in den hohen Sphären zu schweben, in die mich die Zunft gehoben hat, weil unter anderen diese Dame dort noch keine Ambitionen hat, meinen bevorrechteten Posten zu übernehmen.“
„Da wo ich bin bin ich so richtig, wie eine Hebamme sein kann, die auch die nachgeburtliche Betreuung ernstnimmt, Antoinette.“
„Jetzt aber raus hier, alle beide!“ blaffte Antoinette. „Gute Nacht, Antoinette!“ wünschte Julius noch und winkte. „Einsatzausgang Morgentau!“ rief Antoinette. Es knisterte in der Luft. Julius kannte das selbst vom Zaubereiministerium, wenn ein kurzfristiger Apparierdurchlass geöffnet wurde. Hera ergriff Julius beim Arm und zog ihn ohne große Ansage mit sich. Sie landeten vor dem Apfelhaus.
„Da hätte ich auch alleine reinapparieren können, Madame Matine“, sprach Julius.
„Nicht frech werden, Jungchen. Ich will das mit deinen zwei großen Mitbewohnerinnen noch abklären. Die ältere von denen hat mich nämlich geweckt und mir zugedacht, dass du wohl bei den Mondtöchtern bist. Ich sollte weit genug weg sein, um nicht erfasst zu werden aber nahe genug, um auf magischen Hilferuf sofort bei dir zu sein. Ich konnte nicht wissen, dass die gute … Ah!“
Die Tür ging auf, und zwei vollständig bekleidete Damen im letzten Schwangerschaftsdrittel blickten hinaus. „Bitte leise eintreten. Die Kinder sind gerade erst wieder eingeschlafen“, wisperte Millie. Dann führten sie und Béatrice den rechtmäßigen Eigentümer des Hauses und die erste Heilhexe von Millemerveilles ins runde Haus.
Im Klangkerker-Musikzimmer durfte Julius noch einmal alles erzählen. Da er durch die Unterredung mit Antoinette schon Übung in der Formulierung hatte ging ihm das ganz gut über die Lippen. „Flavine und Phylla haben dein Plopp gehört. Du warst schön leise. Aber für die warst du noch zu laut“, meinte Millie mit einer Mischung aus Tadel und Erheiterung. „Dann wurden natürlich auch alle anderen wach, einschließlich Trices und meine zeitweiligen Bauchturnerinnen. Da konnte ich es Béatrice gleich sagen, was dich hinausgetrieben hat, und sie hat ihre Kollegin auf den Posten geschickt.“
„Ja, und nur weil ich weiß, wo die Mondburg liegt und dass man mindestens einen Kilometer davon entfernt sein muss, um nicht den Argwohn der Bewohnerinnen zu erregen“, sagte Hera. „Du hättest das Ballett der drei Tragen also durchaus auch so dirigieren können, dass du bei mir vorbeigekommen wärest. Dann hätten wir das mit dem Notruf nicht gebraucht. Aber gut, wenn Antoinette gerne Bereitschaftsdienst machen will …“
„Es tut mir leid, dass jetzt alle wach wurden. Aber ich hoffe, für die fünf aus der Burg hat sich das gelohnt.“
„Na ja, für die schon. Die werden wohl in einem sicheren Haus untergebracht, solange dieser irrwitzige Krieg noch tobt“, sagte Hera. Béatrice ergänzte: „Ja, und du hast es richtig gemacht. Die vom Ministerium hätten erst versucht, die Erinnerungen der drei Erwachsenen zu erforschen und sonst noch was angestellt. So hat die gute Antoinette jetzt die Hand über den fünfen. Danke, Hera, dass du ihn zurückgebracht hast“, sagte Béatrice. „Das ist meine Pflicht, Kollegin Latierre. Ja, und als deine ausgewählte Hebamme und auch die deine, Pflegehelferin Mildrid Latierre, ordne ich jetzt an, dass ihr euch dringend wieder bettfertig umzieht und die noch verbleibenden vier Stunden zu schlafen versucht, auch wenn die werten Damen unter euren Herzen gerade sehr wach sind. Aber das werden wir gleich haben.“ Béatrice und Millie ließen es sich gefallen, dass Hera vor ihren runden Bäuchen mit dem Zauberstab herumkreiselte, bis sich darin nichts mehr regte. „So, die schlafen jetzt bis mindestens zum Frühstück. Gute Nacht, ihr drei!“
Julius geleitete die späte Besucherin leise zur Tür hinaus, winkte ihr nur zu und verschloss die Tür wieder von innen.
„So, ich hoffe mal, solche Sondereinsätze bleiben jetzt erst mal aus“, grummelte Millie. Julius wollte sich schon für die Ruhestörung entschuldigen. Doch sie legte ihm die Hand auf den Mund und machte Schsch! Dann wisperte sie: „Hauptsache, die fünf können jetzt frei von dieser Seuche weiterleben. Ja, und für die Kinder ist es wohl besser, die fangen noch mal ganz von vorne an. Nacht!“
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Die Ministerin hatte endgültig beschlossen, einen Krisenrat zu bilden, der sich aus den Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern für Internationale magische Zusammenarbeit, Gesetzesüberwachung, Erfassung und Verwaltung magischer Wesen und der Leitung der Desumbrateure zusammensetzte. Von der Abteilung für magische Wesen wurden zudem die Leiter der Vampirüberwachungsbehörde, des Werwolfkontrollamtes und der Geisterbehörde mit einbezogen. Monsieur Chaudchamp, der wegen der Geringfügigkeit seiner Mitschuld beim versuchten Sanguis-Purus-Umsturzversuches auf zehnjähriger Bewährung war überließ es seinem Stellvertreter Dupont, mit den anderen Krisenratsmitgliedern zusammenzusitzen, nachdem sich alle anderen Mitglieder dafür ausgesprochen hatten, dass der Leiter des Überwachungszentrums für elektronische Nachrichten, Julius Latierre, an diesen Sitzungen teilnahm. So bekam dieser alle neuen Beschlüsse mit und übermittelte diese in Form verschlüsselter E-Mails durch das vom restlichen Internet entkoppelte Netzwerk, das seine Mutter eben als arkanes Netzwerk, kurz Arkanet bezeichnet hatte.
Was Julius außerhalb der Dienstzeiten noch tat hätten ihn einige der Krisenratsmitglieder vielleicht als Illoyalität vorgehalten. Doch er sah es als zu seinem Auftrag und zum Schutz aller Mitmenschen gerechtfertigt. Er korrespondierte mit den Sonnenkindern auf deren kleiner Insel irgendwo im Südpazifik. Diese waren nicht untätig geblieben. Sie tauchten immer wieder dort auf, wo sich größere Massen an Nachtschatten einstellten und vernichteten diese mit ihren Sonnenlichtkeulen. Dabei reichte es völlig aus, dass ein mittlerer Nachtschatten eine Zehntelsekunde lang mit jenen futuristisch anmutenden Strahlenwerfern beschossen wurde, um in einem weißen Licht zu vergehen. Oganduramiria, die neue Rechnerexpertin der Sonnenkinder, wies in nur für Julius verständlichen Worten darauf hin, dass sie eine Vorrichtung hatten, um die Konzentration dunkler Kräfte an jedem Ort der Welt zu orten und darauf zu reagieren. Er begriff, warum sich die Nachtschatten darauf verlegt hatten, nicht mehr in großen Truppen, sondern gerade mal drei oder vier Einzelwesen anzugreifen. Er schickte den Sonnenkindern die in die Hochsprache Altaxarrois übersetzte Warnung der Schattenkaiserin zu und setzte darunter, dass er diese Drohung sehr, sehr ernstnahm. Darauf erfolgte nur eine Stunde später die Antwort: „Wir auch, Julius.“
Von Spionen der Légion de la Lune erfuhr der Krisenrat, dass es eine Kapitulationsaufforderung an die sogenannte Mondbruderschaft gegeben hatte und dass die Bruderschaft offenbar in zwei Untergruppen zersplittert war, weil „jemand“ wohl verraten hatte, dass sie sich auf einer Kanareninsel zu einer Aussprache treffen wollten. Julius musste sich sehr stark beherrschen, keine Regung zu zeigen. Also hatte er indirekt mitgewirkt, dass sich die einst so weltweit vereinte Mondbruderschaft ungebärdiger Werwölfe in mehrere Lager aufgeteilt hatte und somit noch verwundbarer war. Beruhigen konnte ihn diese Nachricht nicht. Denn bekanntermaßen gab es nach einer Mutter, die ihre Kinder verteidigte nichts gefährlicheres als ein verwundetes Raubtier. Im Fall Lunera Tinerfeño, der blonden Lykanthropin, kam sogar beides in Frage. Sicher ließ die noch nach ihrer Tochter suchen. Die konnte nicht wissen, dass Lykomeda nicht mehr existierte oder besser, neu zu leben anfing. Er erfuhr, dass die drei Ex-Lykanthropen in einem fidelius-bezauberten Haus untergebracht worden waren. Wer der Geheimniswahrer war erfuhr Julius nicht.
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Es gelang den gepanzerten Kriegern Gooriaimirias fünfmal, den ihrer harrenden Sonnenlichtkugeln das Licht zu nehmen und somit freie Bahn zu erhalten. Die Zauberer und Hexen hatten die Forschungslabore nicht mit weiteren Zaubern absichern können, um die dort arbeitenden Geräte nicht zu stören. Daher war es für die Gepanzerten kein Problem, die dort tätigen Wissenschaftler einzusammeln und in den neuen großen Tempel zu bringen. Mittlerweile hatten Gooriaimirias technisch kundige Gefolgsleute auch Bausätze für Computer und Laborgeräte aus Fabriken oder Lagern entwendet oder unter falschem Namen ganz dreist per Überweisungen gekauft. Doch als Gooriaimiria den Befehl gab, die gefangenen Forscher zu wecken und sie zu ihren treuen Gefolgsleuten zu machen geschah etwas, womit die Göttin der Vampire nicht gerechnet hatte.
Als die Zellen aufgesperrt wurden, um die ersten Forscher aufzuwecken, verschwanden jene, die sie zuletzt geholt hatten in grünen Lichtspiralen. Dafür erschienen übergangslos gläserne Kugeln, die auf dem Boden aufschlugen und zerbarsten. Violetter Qualm entströmte diesen. Die Wächterinnen und Wächter erstarrten in einer Sekunde. Sie schafften es noch, die Göttin anzurufen. Doch dann verloren sie die Besinnung. So bekamen sie nicht mit, wie andere Menschen in weißen, blauen und rosaroten Strampelanzügen mit babyhaft riesigen Köpfen auf den Schultern aus grünen Lichtspiralen erschienen und sich ungeachtet der violetten Schwaden in den Gängen und Räumen verteilten. Die vor den Zellen zurückgebliebenen schrumpften die Wissenschaftler ein, um sie in einem Durchgang mitnehmen zu können. In sowas hatten sie Übung, konnte jeder sehen, der bei Besinnung war.
„Wer vampirifiziert ist bleibt. Alle anderen zum Ablieferungspunkt“, klang eine Kleinmädchenstimme in den Ohren aller hier herumlaufenden. „Neh, die sind noch Menschen. Offenbar wollte die Abgöttin die erst in ihre Sekte aufnehmen, wenn sie alle beisammen und alle nötigen Geräte parat hatte“, erwiderte ein in weißem Strampelanzug steckendes Riesenbaby.
„Seht zu, dass ihr wegkommt, bevor die ihre neuen Paladine schickt“, trieb die in allen Ohren gleichzeitig quäkende Kleinmädchenstimme zur Eile. „Alle Mitbringsel abgeliefert? Dann alle Phaser auf Überlast!“ schrillte der offenbar noch nicht ganz ausgewachsene Jüngling in weißem Strampelanzug. Dann tippte er eine quaffelgroße goldene Stachelkugel an. Diese begann erst auf mittlerer Tonlage zu summen. Der Ton glitt höher und höher, das Summen ging in ein Sirren über. „Alle Mitbringsel in Kraft, Heimsprung!“ rief der in weiß, als alle ihre lebende Fracht sicher aufgenommen hatten. Alle verschwanden im wabernden violetten Dunst in grünen Lichtspiralen. Zurück blieben jene goldenen Stachelkugeln, die immer höher und lauter sirrten. Dann zerbarsten sie in grellblauen Glutbällen, die so hell waren, dass die Mittagssonne dagegen wie der Vollmond gewirkt hätte. Das gleißende Licht und die Hitze von fünf Stunden angesammeltem Sonnenlicht entlud sich in nur einer halben Sekunde und äscherte alles im Umkreis von zweihundert Metern ein oder ließ es zu gelbglühender Lava schmelzen, die pladdernd und klatschend in sich zusammenstürzte. Alle im neuen Tempel befindlichen Vampire waren auf der Stelle getötet worden.
Gooriaimiria hatte den gleichzeitigen Todesschrei von hundert Seelen vernommen, nachdem sie zuvor jede Verbindung mit den Tempelinsassen verloren hatte. Sie fühlte, wie die hundert Seelen ziellos durch den Raum schwirrten und dabei waren, sich aus dem stofflichen Universum zu lösen. Sie schaffte es nur, 40 Seelen einzufangen. Die restlichen sechzig verschwanden aus der Welt. So erfuhr sie zwar, dass Zwanzig zuletzt eingefangene Wissenschaftler in grünen Lichtspiralen verschwunden waren und wie postwendend Dutzende von Glaskugeln erschienen waren, doch ab da wussten die geborgenen Seelen nichts mehr, bis es sie abrupt aus den Körpern hinausgerissen hatte.
„Verrat! Wir sind verraten worden!“ wutbrüllte Gooriaimiria. „Wer war das? Wer hat den Standort des Tempels verraten? Tod den Verrätern!“
Als sie sich endlich wieder beruhigte und mal wieder den von ihr aufgeweckten Giriainaansirian hatte einlullen müssen schickte sie drei gepanzerte Kundschafter in die Nähe des Tempels. Doch was sie sah war nur noch ein glühender, in seinen Tiefen brodelnder Krater. Außerdem vibrierten die Rüstungen, als müssten sie noch eine feindliche Magie zurückdrängen. „Ich kriege den, der das gewagt hat. Niemand kann mich verraten. Niemand außer … ihr. Zur Mittagssonne, wenn die das war werde ich sie in kleine Scheibchen schneiden lassen“, gedankenknurrte Gooriaimiria. Sie dachte keine Sekunde daran, dass sie selbst den Tempel verraten hatte, als sie völlig im Rausch der Überlegenheit zwanzig Wissenschaftler hatte entführen lassen, die nicht wussten, dass sie seit Tagen eine kleine Kapsel in ihrer linken Pobacke trugen, die einen besonderen Peiler enthielten, der weder von Nichtmagiern noch Vampiren erkannt werden konnte.
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„Jetzt ist sie garantiert sauer“, meinte ein sehr vergnügt grinsender Teenager zu einem rein körperlich gerade zwei Jahre und bald zwei Monate alten Mädchen.
„Ja, soll sie. Es wird ihr zumindest bis auf weiteres den Appetit auf magieunfähige Lebenspfuscher verderben. Falls nicht, jagen wir eben noch ein paar ihrer Stützpunkte in die Luft, solange wir genug von diesen Riesensonnenkugeln haben.“
„Ja, aber um das Gold ist es schade, Lucille“, sagte Perdy. „Zumindest kann sie hier keinen von ihren Leuten reinschicken, selbst wenn sie wüsste, wo wir sind. Öhm, Karuussell Nummer vier ist am ersten Oktober fertig. Soll dann Dornröschen offiziell beendet werden?“
„Das kleine Mädchen blickte den fast wieder erwachsen gewordenen Jungen aus ihren wieder meergrün gewordenen Augen an und sagte: „Halloween ist doch ein viel besserer Stichtag. Das hat doch mehr Stil, da die neue Arbeit an neuem magischen Leben zu beginnen, Perdy.
„Neues leben? Stimt, Eartha wollte mir noch erzählen, ob sie auch wieder wen neues von mir austrägt. Als halbwüchsiger Liebe zu machen ist echt berauschend.“
„In dreizehn Jahren krieg ich das nächste Kind von dir, Süßer, auch wenn Eartha dich bis dahin für sich sicher hat“, sagte das kleine Mädchen zu dem körperlich fünfzehn Jahre und bald vier Monate alten Jungen.
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Julius erhielt am 22. Oktober einen ausführlichen Bericht über versuchte Erstürmungen von jenen schwarz gepanzerten Vampiren. Diesen teilte er dem Krisenrat mit. Wie üblich wollte Monsieur Charlier seinen Bericht erst nicht so recht zur Kenntnis nehmen, sprach von mutwilliger Übertreibung. Dann rief ihn seine eigene Vorgesetzte zur Ordnung. Anschließend sagte sie:
„Also, wo Sonnenlichtzauber wirken können diese schwarzen Strudel sich nicht ausbilden.“ Julius nickte. „Außerdem haben sie in den Gängen des MAKUSAs Mondspiegel, die bei der zweithöchsten Gefahrenstufe die sicherheitsrelevanten Zugänge verschließen. Deshalb ist der Angriff gescheitert. Was mich jetzt mehr interessiert ist, warum diese Angreifer erst nach der Ankunft und unmittelbar vor ihrem Verschwinden an nicht so abgeriegelten Orten mit offenem Visier dastanden. Kann es sein, dass ihre unheimlichen Schutzpanzer nur dann den vollen Rundumschutz bieten, wenn die Visiere auch geschlossen sind und dass dieser Rundumschutz den Transportvorgang in jenen schwarzen Strudeln vereitelt?“
„Diese Vermutung deckt sich mit einer Bemerkung meiner Korrespondenzpartnerin im LI, Mrs. Merryweather. Sie schreibt, dass es laut Augenzeugenberichten an die drei Zehntelsekunden dauerte, bis die gepanzerten Vampire ihre Visiere schlossen, als sie ankamen und mindestens drei Zehntelsekunden vor dem Verschwinden die Visiere wieder öffneten, auch wenn sie dadurch Gefahr liefen, noch von einem Sonnenspeer oder anderem Zauber getroffen zu werden. Aber drei Zehntelsekunden sind für Menschen offenbar noch zu kurz, um zu reagieren, vor allem einen passenden Fluch auszurufen oder in Gedanken zu formulieren. Dennoch sollte dieser Umstand weiterhin überdacht werden, so Mrs. Merryweather.“
„Ja, und unverzüglich an den Einsatzort geschaffte Sonnenlichtkugeln blockieren die schwarzen Spiralarme“, erwiderte Charlier. „Also können wir uns dagegen absichern.“ Alle stimmten zu. Es galt halt nur, je zwei Sonnenlichtkugeln für jeden wichtigen Bereich zu beschaffen, damit eine Licht gab, während die andere aufgeladen wurde. Da zum Aufladen aber genausoviel Zeit benötigt wurde, wie die Lichtabgabe dauern sollte, maximal fünf Stunden, war es wohl sogar nötig, drei oder vier Sonnenlichtkugeln zu beschaffen, um zwei für die Nachtstunden bereitzuhaben. Ja, am Ende brauchten sie die doppelte Anzahl, um eine ununterbrochene Lichtversorgung zu gewährleisten. Das würde ziemlich teuer sein, sahen alle hier anwesenden ein. Immerhin halfen die Mondspiegel, die wohl auf Grund der Erfahrungen während des Sanguis-Purus-Sturmlaufes das französische Zaubereiministerium geschützt hatten. Die waren zwar auch teuer in der Anschaffung, wirkten dafür aber dauerhaft.
„So oder so muss was ge- oder erfunden werden, um diese Rüstungen zu durchdringen“, stellte Monsieur Charlier aus der Vampirüberwachungsbehörde fest. Auch das sahen alle hier anwesenden genauso.
„Das Problem ist, dass wir eine vollständige, intakte Rüstung bräuchten, um ihre Schwachstellen zu finden und auszunutzen“, knurrte Belenus Chevallier verbittert. „Nur zu wissen, dass die Rüstungen wohl auch aus diesen vermaledeiten Dunkelkristallen gemacht werden, mit denen auch schon diese grauen Vampire imprägniert wurden und für die mehr als zweihundert Menschen auf einmal umgebracht werden müssen reicht nicht.“
„Leider wahr“, seufzte Julius Latierre. Denn er wusste besser als alle anderen hier, dass die Rüstungen wohl von niemand geringerem als Iaxathan, dem Erzdunkelmagier und König der Mitternachtsfolger aus dem alten Reich ersonnen worden waren. Dass die Vampirgötzin sie nun für ihre eigenen Leute nachbauen lassen konnte bewies, dass sie Zugriff auf dieses Wissen hatte. Da nutzte es auch nichts, das die Sonnenkinder die so gepanzerten mit konzentriertem gesammelten Sonnenlicht aus ihren Strahlenwerfern schwächen konnten. Denn die sich dabei stauende Lichtnenge und Hitze war für Normalmenschen tödlich und wirkte auf die unmittelbare Umgebung zerstörerisch genug, um das nicht dauernd anzuwenden. Auch zu wissen, dass Nachtschatten davon zurückgeprellt wurden war kein Trost. Offenbar waren die Rüstungen genau zu diesem Zweck ersonnen worden.
„Es bleibt uns also nur, alle für diese Blutsaugersekte interessante Ziele mit Sonnenlichtzaubern abzusichern, damit diese schwarzen Strudel nicht entstehen können. Aber wenn die zu Fuß dorthin laufen hilft das nicht viel, weil Mondspiegel nicht mal eben im Laden um die Ecke gekauft werden können. Außerdem können wir nicht unendlich hohe Kredite bei den Kobolden aufnehmen. Die nutzen das gnadenlos aus, dass wir wieder mit ihnen Geschäfte machen müssen, nachdem das mit dem angeblichen Verschwinden von Verliesinhalten aufgeflogen ist“, schnaubte Charlier. Dem widersprach hier niemand.
Als Julius wieder im Apfelhaus war und „seine Stunde“ für den Rechner nutzte fragte er die Sonnenkinder, ob sie wussten, wie die dunklen Rüstungen überwunden werden konnten außer mit massivem Sonnenlichtbeschuss. Doch wohl auch wegen des Zeitunterschiedes kam keine sofortige Antwort. Sollte es denn echt nötig sein, dass er, Julius Latierre, sich mit den Abgrundstöchtern unterhielt, um einen schnellen, kostengünstigen und wirksamen Weg zu finden, um gegen die neue Bedrohung vorzugehen?
Zwei Tage nach dem erwähnten Angriffsversuch auf den MAKUSA erhielt Julius eine Antwort, die ihm nicht gefiel:
Hallo Julius!
Auch wenn dir unsere Antwort nicht gefällt – wie auch uns nicht -, hat unser Rat beschlossen, euch das wenigstens mitzuteilen. Die Rüstung ist aus einer Mischung aus Unlichtkristall, Silber und Eisen. Unsere Fachleute für helle und dunkle Zaubergegenstände nennen es Mitternachtseisen. Es kann nicht wie purer Unlichtkristall durch die Berührung von Kinderhand oder Schreie von Säuglingen von Neugeboren bis ein Jahr alt zerstört werden. Dass wir sie nur mit massivem Sonnenlichtbeschuss soweit abschwächen konnten, dass den Trägern nur noch die Flucht zu Fuß blieb, bis sie in Schattenstrudeln verschwanden wisst ihr ja. Nach unseren sehr schwerwiegenden Erfahrungen mit Dementoren sehen wir es so, dass die Rüstungen die Wirkungskraft von Dementoren auf engem Raum verdichtet nachahmt. Das erklärt, warum von gepanzerten Nachtkindern berührte Menschen ohnmächtig wurden und danach von albtraumhaften Rückbesinnungen auf angstvolle oder schmerzvolle Erinnerungen berichteten. Diese Rüstungen sind, wer hätte es gedacht, konzentrierte, geschmiedete dunkle Magie, die sich im wesentlichen auf den vielfachen gewaltsamen Tod anderer Menschen gründet. Wir können und wollen es selbst nicht anwenden. Aber wir kennen die Wirkung des Liedes der längsten Nacht, den mächtigsten Fluch überhaupt. Ihr habt ihn unter Sardonias Kuppel zu spüren bekommen. Iaxathan hat damit sein mächtigstes Behältnis aufgefüllt, weswegen dessen Zerstörung wohl unglaubliche Mengen dieser Kraft als dunkle Welle um die Welt geschickt hat. Wir kennen keinen Weg, diese Rüstungen schnell und ohne größere Gefahr für die Umgebung zu entkräften, zu durchdringen oder gar zu zerstören. Unsere Erzfeindin, die große Mutter der Nacht, hat wahrhaftig eine mächtige Waffe erhalten, erst einmal nur zur Verteidigung. Aber wenn sie Zugriff auf Iaxathans Wissen hat müssen wir uns auch Angriffswaffen dieses Ausmaßes vorstellen.
Der einzige Schutz davor ist euch ja auch bekannt, freigesetztes Sonnenlicht oder vielleicht das, was meine Mutter Patronus nennt, weil der gegen Dementoren wirkt. Wenn wir auf unserer Weltpatrouille wieder einen von denen finden probieren die die den können ihn aus, hat meine Mutter erwähnt.
Ich hoffe, wir finden noch was. Vielleicht müssen wir dafür auch Leute fragen, denen wir nicht über den Weg trauen oder bei denen wir fürchten müssen, dass sie dafür eine unerträgliche Gegenleistung einfordern können.
Oganduramiria
„Vielleicht müssen wir das echt“, dachte Julius unwillig. Ein Angebot in dieser Richtung hatte er ja schon bekommen. Vielleicht konnte er aber auch mit Anthelia/Naaneavargia reden. Der konnte es ja auch nicht egal sein, dass Vampire mit einer derartigen Superrüstung herumliefen und demnächst auch noch gleichartige Schwerter, Lanzen oder Rammböcke zur Verfügung bekamen. Er dachte auch an die Berichte über die sogenanntenVierschatten, durch dunkle Magie aus vier Menschenseelen erschaffene Schattengebilde, die von ihrem Schöpfer gegen lebende Ziele geschickt werden konnten.
Als er ins Apfelhaus zurückkehrte traf er dort neben seiner Frau und Béatrice auch Sandrine Dumas. Sie wirkten so, als habe er ihnen bereits erzählt, was er gerade erst gelesen hatte. Doch er musste es wissen.
„Hallo Sandrine! Was führt dich zu uns?“ fragte er. Sandrine sah ihn an und sagte: „Wir, also die Eltern aller Kinder der zweiten Klasse, haben eine offizielle Einladung zu einem Elternabend am ersten Samstag im November erhalten. Ein paar Damen und Herren der älteren Nachbarschaft haben eine gewisse Besorgnis wegen Mademoiselle Hellersdorf geäußert, weil ihnen zu Ohren kam, dass sie ein unstatthaftes Leben führen soll und, jetzt kommt’s, unsere Kinder dazu verleiten könnte, dieses als hinnehmbar zu betrachten. Ich habe mit Maman drüber geredet, was das soll, wo eigentlich jeder hier im Ort weiß, dass Laurentine, also Mademoiselle Hellersdorf, Louiselle zu sich hat ziehen lassen, damit sie mit ihrem Kind nicht alleine ist. Was bitte soll der Unsinn?“
„Das frage ich mich jetzt allerdings auch“, schnaubte Julius. „Was wollen denn die achso besorgten älteren Damen und Herren? Wollen sie, dass Laurentine die Anstellung aufgibt? Wollen sie, dass sie auf biegen und brechen wen findet, den sie heiraten kann, damit sie ein statthaftes Leben führt? Oder würde es ihnen schon reichen, wenn sie Louiselle und Lucine vor die Tür setzt, damit das idyllische Spießerparadies wieder in Frieden leben kann? Offenbar geht es uns hier in Millemerveilles doch zu gut, dass um sowas so ein Ding gemacht wird.“
„Ja, stimmt, da draußen schwirrt ja auch gar nichts herum, was uns gefährlich werden kann“, hakte Millie ein.
„Also, damit ihr nicht meint, Maman würde in dasselbe Horn stoßen wie wohl einige ältere Herrschaften. Sie hält Laurentines und Louiselles Wohngemeinschaft für unorthodox, was immer das Wort heißt. Aber sie meint, dass sie mit unorthodoxen Sachen gut leben und arbeiten kann. Ihr drei lebt doch auch zusammen.“
„Dann will ich mal nicht wissen, wer sich schon über uns die Mäuler zerreißt“, grummelte Millie. Julius nickte ihr zu. Dann sagte er: „Unorthodox heist wortwörtlich außerhalb des anerkannten, richtigen Glaubens, also außerhalb des gewohnten, vereinbarten, üblichen. Ja, wenn sie damit arbeiten kann beruhigt mich das. Ich muss da immer mit arbeiten, wenn ich im Ministerium bin.“ Bei den letzten Worten konnte er sich sogar ein Grinsen abringen.
„Auch wenn ich das nicht wollte, ich fand es richtig, euch von diesem Elternabend zu erzählen. Die Eulen werden wohl morgen ganz amtlich herumgeschickt“, sagte Sandrine.
„Danke für den Hinweis“, meinte Millie dazu. „Ach ja, zumindest hat Maman Laurentine gebeten bis zur Klärung möglicher Missverständnisse erst einmal keinen außerschulischen Kontakt zu Schülerinnen und Schülern zu haben.“
„Oh, da wird Claudine aber traurig sein“, gab Julius einen bissigen Kommentar ab. Millie stimmte ihm wortlos zu. „Ich sage es ja, Unsinn“, knurrte Sandrine.
„Haben die Herrschaften, die sich Sorgen machen, denn noch schulpflichtige Kinder hier?“ fragte Béatrice. „Das weiß ich nicht, weil Maman dazu nichts sagen wollte“, erwiderte Sandrine.
„Ich würde sagen, im Moment nicht mehr oder noch nicht. Aber in drei Jahren frühestens“, vermutete Julius. Millie nickte wieder. Sie sah Béatrice und dann Julius an und sagte: „Das sind wohl welche, die es bis heute ziemlich übelnehmen, dass Vita Magica sie dazu gezwungen hat, Kinder zu kriegen und dann noch wen zu heiraten. Die denken wohl, wenn sie jetzt alles unorthodoxe ablehnen bekämen sie ihre heile Welt von vor der Dämmerkuppel wieder.“
„Ganz auszuschließen ist das nicht, Millie“, schritt Béatrice ein, „und du möchtest bitte nicht so abfällig darüber reden, weil wir vier, wie wir hier stehen, das mitbekommen haben, wie sehr es vor allem die unfreiwillig mit Drillingen oder mehr Kindern schwanger gewordenen Hexen verletzt hat, nicht nur körperlich, weil sie was eingenommen haben, was sie nicht wollten, sondern auch seelisch, weil jemand außenstehendes sich angemaßt hat, ihnen etwas aufzuzwingen und dafür bis heute nicht entlarvt und bestraft worden zu sein. Ja, und Julius‘ Mutter hat ja ähnliches durchgemacht, als sie die Drillinge bekommen hat.“
„All zu wahr“, grummelte Julius. „Gut, Sandrine, wir warten dann auf die höchstoffizielle Einladung.“
Da Sandrines Zwillinge mit Aurore und den anderen Kindern im Garten spielten lud Julius sie, Estelle und Brian ein, mit ihnen zu Abend zu essen. Doch Sandrine lehnte dankend ab, da sie am Abend noch Verwandtenbesuch bekämen. „Grandmaman Rose Amélie ist auf einer Frankreichrundreise und möchte ein paar Tage bei uns zubringen, weil sie sich hier wirklich sicher fühlt“, gab Sandrine Auskunft. Julius erinnerte sich an Gérards Großmutter väterlicherseits. Deshalb konnte er sich denken, dass es ihr vor allem darum ging, zu sehen, wie es Gérards Kindern ging.
Sandrine verließ mit Estelle und Brian das Grundstück des Apfelhauses und flog auf ihrem Familienbesen davon.
„Als wenn echt nichts anderes wäre als ob zwei Hexen und ein Kleinkind zusammen in derselben Wohnung wohnen“, grummelte Julius. „Erinnere dich, wie angepiekst Belisama gewesen ist, als wir die letzte Runde vom trimagischen damals gesehen haben und Laurentine da innig mit Claire getanzt hat. Julius raunte ihr zu: „Apropos Belisama, dein Traum von damals wird sich wohl doch nicht erfüllen.“
„Du meinst den von Cassandre?“ fragte Millie. „Mmmhmm“, entgegnete Julius.
Nach dem Abendessen erzählte er Millie und Béatrice, was er von den Sonnenkindern erfahren hatte und welchen unangenehmen Vorschlag die gemacht hatten.
„Kannst du dafür nicht in die Stadt und da fragen?“ wollte Millie wissen. „Das leider nicht, Millie. Du kennst doch deren Regel, dass nur die, denen man dort auch zustimmt das aus ihrem Fachgebiet verraten und unterrichten, aber keiner was über Stärken und Schwächen der gegnerischen Gemeinschaft aussagen darf. Sonst hätte ich mir längst den Stein genommen und wäre da hingereist, allein schon um zu fragen, wie wir diese Schattenkaiserin davon abhalten können, die halbe Welt zu zerlegen.“
„Drachendreck, du hast ja recht“, knurrte Millie. Auch sie kannte die als Orichalkregel bezeichnete Vereinbarung der alten Meister Altaxarrois, nichts von den Vorhaben und Schwächen der im früheren Leben feindlichen Seite zu verraten. Das Madrashmironda diese Regel einmal halb umgangen hatte, um ihm den Weg nach Garumitan zu verraten wollte er besser nicht erwähnen. Sicher wurden sie auch weiterhin beobachtet, und vor allem die Altmeister der dunklen Seite amüsierten sich köstlich über diesen Krieg der Werwölfe, Vampire und Nachtschatten.
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Es war am 25. Oktober, als mehrere Meldungen durch das Arkanet gingen. Die eine informierte über ein Rudel Dementoren, dass auf dem Weg durch Afrika eine Ortschaft entvölkert hatte. Die nächste Handelte von einem Vierertrupp jener neuartig gepanzerten Vampire, die in ein Lagerhaus für nichtmagische Arzneiprodukte eingedrungen seien und die dort installierten VBR-Kristalle überladen und zersprengt hatten. Die Meldung endete mit:
Nach Ankunft von LI-Einsatztruppe sieben unbefugte mit Patronus-Zauber konfrontiert. Patronus konnte Feinde sichtbar in Bewegungen beeinträchtigen, aber nicht besiegen. Feinde darauf mit Hilfe von Verdunkelungszauber gegen Sonnenlicht und bekanntem Schattenstrudeleffekt geflüchtet.
Die dritte Meldung handelte von weiteren Gepanzerten, allerdings in England. Auch hier war der Patronus-Zauber als „teilwirksame“ Maßnahme zum Einsatz gelangt. Jedenfalls seien auch diese Eindringlinge mit Hilfe einer Verdunkelungszauberei entwischt. Was erwähnenswert war: An den Orten, wo die gepanzerten Vampire aufgetaucht waren fanden die gegen sie ausgeschickten Zauberer einen mit Blut geschriebenen Zettel:
Die Schwerter und Schilde der erwachten Göttin bereiten den Boden für das erhabene Reich ohne Grenzen. Vivat Nocturnia!
„Nocturnia“, seufzte Julius. „Das Reich ohne Grenzen“. Sie wollte es also wieder errichten, diese falsche Gottheit. Das mit den Schwertern und Schilden der Göttin klang wie in seinen alten Kerker-und-Drachen-Zeiten. Aber so ließen sich ja auch die Taliban in Afghanistan oder die laut George W. Bush mit ihnen verbündeten Terroristen von Al-Qaida bezeichnen, dachte Julius missmutig. Leute, die für ihren Gott oder dessen selbsternannte Stellvertreter kämpften und sogar ihr Leben gaben. Das paste wirklich.
Julius druckte alle Meldungen in mehrfacher Kopie aus und bat um eine Sitzung des Krisenrates. Er wusste, dass Pina in London, Bärbel in Berlin und Kyle Benson in Canberra das wohl auch taten, sobald sie diese Meldungen erhalten hatten. Jetzt war die Katze aus dem Sack, und es war klar, dass bald was gegen die magischen Rüstungen gefunden werden musste, wenn die nicht arglose Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entführen und zu Ihresgleichen machen sollten, wie es die erste Version von Nocturnia getan hatte und die falsche Gottheit es schon früher versucht hatte, allerdings bisher an den vorsorglich angebrachten VBR-Kristallen gescheitert war.
Was die Dementoren anging, so bangte Julius, dass sie wahrhaftig der Schattenkaiserin dienten. Doch was sollten sie in Afrika? War da etwas, was sie angreifen sollten? Oder ging es dieser von Wallenkron erschaffenen Dämonin, in der die von dunkler Macht verdorbenen Seelen zweier ebenfalls argloser Frauen vereint worden waren darum, das eigene Hoheitsgebiet abzusichern, damit jeder Gegenschlag verpuffte? Denn irgendwo musste sie eine Art Hauptquartier haben, in das keiner hineinsollte. Stand vielleicht eine Art Endkampf bevor, wie in den Star-Wars-Filmen oder dem „Herrn der Ringe“? Julius war sich nur in einem sicher: Wer immer diesen Kampf gewann würde die Menschheit tyrannisieren bis in alle Ewigkeit.
Als er dem Krisenrat alle eingegangenen Meldungen vorgelegt hatte sagte Boris Charlier von der Vampirüberwachung: „Na endlich. Jetzt haben wir es sprichwörtlich amtlich, dass hinter all dem jene Vampirin steckt, die uns damals so beunruhigt hat, jene, die dieses Reich Nocturnia errichten wollte. Sie will es offenbar immer noch oder jetzt wieder. Vorschläge von Ihrer Seite nehme ich heute gerne an.“
Julius meinte, sich zu verhören. Charlier, der sonst immer darauf bestand, dass sich niemand in seine Zuständigkeiten einmischte, wollte Vorschläge hören? Alle hier machten Vorschläge, wie sie gegen den offenbar gegen die Sonnenkugeln entwickelten Finsterniszauber angehen konnten. Barbaa Latierre griff die Information auf, dass der Patronus-Zauber eine gewisse Wirkung hatte. „Sollten die bei uns auftauchen gilt, sie aus allen Richtungen zugleich mit vollgestaltlichen Patroni zu bedrängen, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Damit können wir sie wenigstens in die Flucht schlagen.“ Belenus Chevallier ergänzte, dass es dann mindestens vier pro aufgetauchtem Panzerkrieger sein müssten. Da Julius zu denen gehörte, die einen höchst imposanten Patronus hervorbringen konnten war er sich sicher, dass sie ihn für solche Einsätze einteilen würden. Doch wie viel würde es bringen, die Gegner nur handlungsunfähig zu machen? Sie mussten die Rüstungen zerstören. Denn wenn das mit dem mehrfachen Patronus bei den Vampiren durch war würde deren falsche Gottheit nicht drei, nicht vier, sondern zehn oder mehr gepanzerte Krieger an einen Ort schicken. Ja, und wo dann achtzig oder mehr Einsatzzauberer gebunden waren konnte sie mit ihren ungepanzerten Helfern anderswo Schaden anrichten. Sollte er das einwerfen? Er wartete noch, bis alle ihre Vorschläge gemacht hatten. Dann brachte er seinen Einwand vor. Er begründete ihn damit, dass in vielen Kriegen groß angelegte Angriffe begonnen wurden, die sich dann als Ablenkungsmanöver erwiesen hatten. „Auch wenn mir das selber nicht gefällt, wir müssen davon ausgehen, dass jene Möchtegerngöttin solche Geschichten auch kennt und von dieser Taktik Gebrauch macht, sobald Vierertrupps alleine nichts ausrichten können.“
„Ich warte noch auf Ihren Vorschlag, Monsieur Latierre“, sagte Charlier mit lauerndem Unterton. Jetzt ahnte Julius, worauf er hinauswollte. „Ich kann nur vorschlagen, dass jede und jeder hier in diesem Raum alle kundigen Kontakte befragt, die Zugang zu Wissen über starke helle und dunkle Zauber haben, ob es noch eine Alternative zum Patronuszauber oder dem Mondspiegel oder dem schwarzen Spiegel gibt. Natürlich werde ich ebenfalls alle mir bekannten Kontakte befragen und hoffe, dass der eine oder andere einen nützlichen oder gar entscheidenden Vorschlag machen kann.“ Am Gesicht des Vampirüberwachungsbüroleiters sah er, dass er richtig vermutet hatte. Denn Charlier grinste überlegen. Offenbar spekulierte er im Angesicht der Notlage darauf, dass die Kinder Ashtarias ihr gehütetes Wissen preisgaben. Adrastée Ventvit begrüßte diesen Vorschlag, selbst wenn er keine sofortige Lösung bot.
Julius kehrte in den Rechnerraum zurück. Seit der Sache mit den Neumondwölfen hielt er sich fast nur noch hier auf. Er grübelte darüber nach, wen genau er fragen wollte. Er konnte alle Kinder Ashtarias nach der Rüstung fragen. Womöglich wirkten die Heilssterne auch irgendwie dagegen. Vielleicht konnten sie mit der Vereinigung der Kräfte ihrer Heilssterne sogar einen oder gleich mehrere Panzerkrieger überwältigen. Töten durften sie jedoch keinen davon. Konnte er vielleicht mit den Worten der reinigenden Erde etwas ausrichten? Er erinnerte sich, dass die gepanzerten Krieger nach ihrer Ankunft nicht geschwebt waren, sondern richtig über den Boden gingen. Zusammen mit dem Heilsstern würde es sicher gelingen, die Schwerter und Schilde der Blutgötzin aufzuhalten. Doch er war neben womöglich Naaneavargia der einzige, der diese Formel kannte. Außerdem hatte Madrashainorian gelernt, dass diese mächtige Anrufung der Erde nur von Erdvertrauten gekannt und benutzt werden durfte. Am Ende kassierte ihn Ashtardarmiria, die in einer vier meter großen goldenen Androidin wiederverkörperte Meisterin aus Garumitan ein, weil er gegen die Vereinbarung mit den Altmeistern verstoßen hatte. Wie schnell das ging hatten Adrian Moonriver und Silvester Partridge unfreiwillig bewiesen. Nein, er musste einen Weg finden, den alle gehen konnten, ohne gegen Ashtarias Gebote und gegen die der Altmeister zu verstoßen. Er würde mit seiner „neuen Verwandtschaft“ reden, aber nicht den Sternträgern, weil vor allem Jophiel Bensalom seinen Mitbrüdern vom blauen Morgenstern genauso verbunden war wie Julius seiner eigenen Familie. „Julius, versuche sie nicht erst. Sie würden eine Gegenleistung fordern“, hörte er unvermittelt Temmies Gedankenstimme. „Die haben gesagt, sie hätten was zu diesen Rüstungen zu sagen“, schickte Julius zurück. „Ja, zu sagen, aber nicht unbedingt, wie sie unschädlich gemacht werden können“, erwiderte Temmie. „Aber jetzt, wo es darauf ankommt, euch alle und dich im besonderen nicht in einen dunklen Sturm hineingeraten zu lassen sage ich dir, dass es auf das rechte Gegengewicht ankommt. Die Schattenrüstung, eine von Iaxathans großen Erfindungen des Verderbens, schwächt durch ihre Zusammensetzung und Bezauberung Leiber und Seelen von Blut und Gedanken erfüllter Wesen. Doch sie nähren sich vom Leid und Tod. Das Leben ist für sie ein Gift, aber nicht jenes, von dem sie so viele nehmen müssen, um sie zu erschaffen. Die Worte von Schutz und Leben können sie erstarren lassen. Doch dann würden sie wohl entfliehen. Sie zu zerstören, ohne die darin geborgenen zu töten, bedarf der Fülle stofflichen Lebens. Verstehst du, nicht auf Fleisch und Blut gründendes Leben, nicht zu klaren Gedanken befähigtes, aber ausdauerndes Leben, junges Leben.“
„Woher weißt du das?“ fragte Julius. Zur Antwort erhielt er eine Vision. Er sah sich auf dem Rücken eines weißen Pferdes durch einen urwüchsigen Wald reiten. Viele Bäume trugen bereits Herbstlaub. An Eichen und Buchen hingen die Samenkapseln, bereit, auf den Boden zu fallen.
Ohne Vorwarnung sprengten zehn schwarze Pferde aus einem schmalen Seitenweg. Darauf saßen gepanzerte Krieger in völlig lichtschluckenden Rüstungen. Ihre Körper und die der Pferde wurden von rußschwarzem Dunst umhüllt. „Halt an, Bote der Verachteten. Gib dich gefangen und folge uns in die Festung unseres Königs!“ bellte einer der zehn dämonischen Ritter.
„Niemals wird mich der König der Mitternacht in seiner Festung sehen, Korunaanbaruyan. Auch die von ihm ersonnene und von seinen seelenlosen Schmieden nachgeformte Rüstung der Schatten und der hundert Tode wird mich nicht hindern, dich und die deinen zurückzuschlagen.“
„Du wagst es, gegen das Gebot unseres Königs aufzubegehren, wo du außer deinem Ross und deinem Kraftausrichter nichts mitführst, um uns alle zehn niederzuwerfen. Lacht ihn aus, Getreue!“ Ein vielstimmiges, blechernes Lachen erklang. „So werden wir dich mit der uns gebotenen Gewalt ergreifen und vor den Thron des obersten Dieners der alles beendenden Nacht bringen, auf dass er da selbst über dein armseliges Leben urteilen mag. Urrarti Iaburanin! Voran, ihr Krieger der Nacht!“
Er, der offenbar gerade als Bote der Lichtkönigin Darxandria unterwegs war, rief einen Zauber, der zwischen sich und den Feinden eine strahlendweiße Mauer aus Licht erzeugte. Die Gegner ritten los. Der Dunst um Rosse und Reiter wurde dichter. Dann stürmten sie gegen den Lichtwall an. Es erfolgten dumpfe, metallisch und hohl hallende Schläge. Die Lichtwand erzitterte und warf Wellen. Doch noch hielt sie. Der reitende Bote wusste jedoch schon, dass die Wand des reinen Friedens die Gegner nicht lange aufhalten konnte. Wieder erbebte sie mit dumpfem Pong. Sie beulte sich nach außen und sprang in ihre Ausgangsform zurück. Doch sie war ein wenig dunkler geworden. Julius, der Bote, wusste, dass er gerade nicht weiterreiten durfte. Er musste was tun, um die Gegner endgültig aufzuhalten, ohne sie zu töten. Da sah er über sich einen mächtigen Ast aus einem Eichenbaum ragen. An diesem wuchsen viele Zweige, die mit goldenem Laub und prallen Eicheln behangen waren. Was hatte seine Königin gesagt? „Diese dunklen Wehren nähren sich vom Tod der von Blut und Gedanken erfüllten. Lebendiges, das weder Blut noch Gedanken enthält kann dagegen wirken, wenn es jung ist.“ Er zielte mit seinem Kraftausrichter nach oben und sandte einen ungesagten Zauber aus, der den Ast heftig schüttelte und ihn dazu brachte, seine reifen Früchte abzuwerfen. Raschelnd rutschten die Eicheln zwischen den trockenen Blättern hindurch, fielen herunter und trafen auf den Anführer Korunannbaruyan, was gnadenlos Unbezwingbarer hieß.
Es quietschte und knirschte, als der Helm unter grünen Lichtentladungen eingedellt wurde und das Visier verbogen wurde. Es sah so aus, als wolle die getragene Rüstung den niederregnenden Eicheln ausweichen. Doch sie konnte es nicht. Wo eine pralle Eichel traf, erzeugte sie eine grau schimmernde Delle in Helm und Körperpanzer. Als Korunaanbaruyan seine ebenfalls geharnischte Hand hochriss, um den Hagel abzuwehren trafen Eicheln seine Finger. Grüne Lichtblitze zuckten über seine Hand. Der Panzerhandschuh bekam immer mehr graue Flecken. Dann knirschte er. Die mit schützenden Ringgelenken verstärkten Handschuhe wurden grauweiß und zerbrachen dann, als eine besonders große Eichel traf. Ebenso erging es jedem Helm, auf den mehr als zehn Eicheln schlugen. Auch der Dunst um die Pferde verblasste und zerstreute sich mehr und mehr. Dann brach einem das Visier. Ein mittelheller, grüner Blitz zuckte über seine Rüstung. Diese platzte mit lautem Klirren von ihm ab. Die Bruchstücke schwirrten durch die Luft. Wo sie den weißen Wall trafen zersprangen sie zu weißgoldenen Funken. Wo sie auf Baumstämme trafen prallten sie
Julius wiederholte den Schüttelzauber und löste einen weiteren Regen aus Eicheln aus. Die noch gepanzerten Krieger erschraken und wollten auf ihren Pferden umkehren. Doch ihr Anführer rief ihnen zu, zu gehorchen. Da drehten sie sich um und kamen wie Zombies in schwarzen Rüstungen dreinschauend angeritten. So widerfuhr auch ihnen, dass ihre so unbesiegbar erschienenen Rüstungen von herabfallenden Eicheln getroffen wurden und erst ihre magische Aura und ihre tiefschwarze Färbung und dann ihren Zusammenhalt verloren. So geschah es, dass alle zehn Widersacher des Botens am Ende mit fast entblößten Körpern auf ihren Pferden hockten, die nun, wo der Zauber der Rüstung von ihnen gewichen war, vor der noch immer bestehenden Lichtwand scheuten und sich herumwarfen. „Versagen ist Verrat. Verrat ist der Tod!“ hörte der Bote den nur noch in einem Lederschurz steckenden Anführer rufen. Da schossen blaue Flammen aus seinem Körper. Ebenso erging es seinen Spießgesellen. Die blauen Flammen vereinten sich zu einer Walze aus blauer Lohe. Der weiße Wall erbebte und glühte nun in einem immer dunkleren Rot. Der Bote fühlte, wie die Traurigkeit in ihm erwachte. Er wollte niemanden töten. Doch als Rosse und Reiter im blauen Feuer vergingen hätte er am liebsten das eigene Leben hergegeben, um all das umzukehren. Dann endete die Vision.
„Der Bote, der mir diese seine Erlebnisse in meinen Geist und damit auch für meine Krone des Friedens übergab überwand die vom schlechten Gewissen angeregte Trauer. Ich konnte ihm damals gut zureden, dass nicht er, sondern der gnadenlose Wille Iaxathans die zehn Wegelagerer getötet hatte. Ja, mir war nach dem Bericht auch klar, dass sie deshalb sterben mussten, weil sie sonst weitergegeben hätten, wie die so mächtigen Schutzpanzer ihres Herren zu zerstören waren. Hätte in den Rüstungen schon ihr Tod gesteckt, sie wären mit ihren Rüstungen vergangen und nicht erst, als ihr doch nicht so unbezwingbarer Anführer die Worte der letzten Bestimmung ausgerufen hatte“, hörte Julius nun Temmies Gedankenstimme. „Seitdem tauchten die Gepanzerten nur noch dort auf, wo kein in Frucht stehender Baum in der Nähe war. Ja, und die auf Gründung eines Reiches aus Blut und Finsternis ausgehenden Krieger taten dies bisher auch nicht, richtig?“ Julius bestätigte das. Die Gepanzerten tauchten immer nur dort auf, wo Gebäude waren, entweder davor oder darin. Die grünen Kinder der großen Mutter, der du dich zu Ianshiras Bedauern anvertraut hast, überwinden viele Tode von Blut und Gedanken erfüllter. Sie wachsen mehr als zwei oder drei Lebenszeiten eines Menschen und geben im Tode von ihrer Kraft an ihre Mutter zurück. Nichts als das hätten dir Lahilliota und ihre Töchter erzählen können, weil es das einzig wahre ist, was es über die Schattenrüstungen zu erzählen gibt.“
Julius bedankte sich bei Temmie für diese wichtige Botschaft und auch, dass sie ihn vor der Versuchung bewahrt hatte, die Abgrundstöchter zu fragen. „Es mag eines Tages nötig sein, etwas zu erfragen, was nur sie wissen. Aber dieser Tag mag gerne fern bleiben“, erwiderte Temmie mit ihrer wie ein sanft angestrichenes Cello klingendenStimme.
Als Julius wieder ganz bei und für sich war stellte er fest, dass fünf Minuten vergangen waren. Die anderen, die an ihren Rechnern arbeiteten waren mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt.
„Camille, mir ist ein sehr interessanter Gedanke gekommen. Wie viel Rapicrescentus-Tropfen habt ihr vorrätig?“ gedankenfragte er die Hüterin der grünen Gasse von Millemerveilles.
„Zum ersten, welcher Gedanke und zum zweiten ein Standardfass. Wozu?“ empfing er die Antwort. Er schilderte es ihr.
Am späten Nachmittag schickte er noch ein Memo an den Krisenrat. Außerdem sendete er Arkamails an alle im Arkanet bestehenden Kontakte.
Barbara Latierre zitierte ihn umgehend in ihr Büro. Dort wartete auch Nathalie Grandchapeau zusammen mit dem mal wieder gut versteckten Demetrius. Er berichtete, was er bei seiner „Recherche“ herausgefunden hatte. Einer seiner Kontakte hatte wahrhaftig eine brauchbare Lösung angeboten. Das war noch nicht einmal gelogen. Denn wer genau das war behielt er einstweilen für sich. _________>
Die Nachricht ging per Eulenpost, Kontaktfeuer und Arkanet durch die höchsten Ränge der Zaubereiverwaltung. Jene, die sie lasen oder zu hören bekamen und darüber bestimmen durften legten fest, dass die Nachricht auf der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe eingeordnet wurde. Jemand mit „einem großen Interesse an unverseuchten Hexen und Zauberern“ hatte sämtliche gefangenen Wissenschaftler aus ihren Zellen befreit und alle ohne Ausnahme auf einer der Kanalinseln zwischen Britannien und Frankreich abgelegt. Dabei hatten sie eine Botschaft zurückgelassen, dass bald wieder mehr von „ihnen“ zu hören sein würde und jene, die sich bis dahin verweigert hätten ihre Pflichten zu erfüllen hatten. Damit stand fest, dass jene Untergrundorganisation für die gewaltige Licht- und Hitzeentladung in der Atakamawüste verantwortlich war, die darauf ausging, möglichst viele magische Menschen auf der Erde zu haben.
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Gooriaimiria, die keine Kontakte in eines der Zaubereiministerien hatte – was sie selbst sehr bedauerte -, musste neu planen. Erstens wusste sie gerade nicht, ob sie einer bestimmten Mitstreiterin weiter voll vertrauen konnte. Zweitens hatte sie aussichtsreiche Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Virusherstellung verloren und wusste auch, dass das Unglück der Atakamawüste jederzeit wieder passieren konnte, weil „man“ wusste, dass sie nichtmagische Naturwissenschaftler jagte. Erst wollte sie sich für die Sache mit dem violetten Gas rächen und das britische Zaubereiministerium und seine Außenstellen mit Stumpf und Stiel ausrotten und alle wichtigen Mitarbeiter dort in ihren Orden hineinholen. Dann würde sie sich mit der Verdächtigen Nyctodora befassen. „Nachthimmel“ sollte anlaufen, wenn sie wusste, wie Nyctodora den Verrat verübt hatte. Danach würde sie eine neue Liste machen, um aussichtsreiche Kandidaten einzufangen. Die Rüstungen waren unaufhaltsam. Selbst die ihr zunächst gefährlich erscheinenden Incantivacuum-Kristalle hatten versagt.
Sie wollte zunächst Unruhe in den Staaten stiftenund auch die ihr lästig fallenden Nachtschatten und Werwölfe dezimieren. Immerhin konnten die Schattenwesen nicht durch die magischenDunstschleier der Rüstungen dringen, und die Mondanheuler konnten ihren Panzerkriegern mit ihren verwünschten Sonnenzaubergeschossen nicht mehr gefährlich werden.
Ihre Ausrüstungsstelle, die zum Glück nicht im neuenTempel gewesen war, verzeichnete noch zwanzig Dosen des Sofortverdunkelungspulvers. Das reichte für das britische Zaubereiministerium und einige Aktionen gegen die amerikanische Zaubererwelt aus. An Halloween wollte sie dann London heimsuchen und das wertvollste zerstören, was die magischen Menschen rund um die Welt hüteten, das Zaubereigeheimnis.
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Gooriaimiria bereitete den Großangriff auf London vor. Sie wusste noch aus dem Gedächtnis Griselda Hollingsworths, wo die Winkelgasse war. Dort wollte sie mit ihrer Streitmacht eine Schlacht mit dem Ministerium anzetteln und dann mehrere von denen an einen Ort schaffen, wo ihre treuen Diener sie in den Orden hineinholen sollten. Doch um von London abzulenken wollte sie erst in Nordamerika Chaos anrichten. Danach wollte sie sich noch einmal mit Akasha befassen, die ihrer Informationen nach versuchte, alle afrikanischstämmigen Menschen zu ihren neuen Kindern zu machen. Wenn sie es schaffte, ihre besonders starke Seele zu unterwerfen gehörten ihr schon drei Erdteile.
Sie setzte drei der bewährten Vierertrupps mitten in großen Städten ab, New York, Los Angeles und Philadelphia. Sie hatte erst gedacht, auch Washington anzugreifen und sich diesen rachsüchtigen Cowboy George W. Bush zu holen. Doch bei dem argwöhnte sie gerade einen besonders großen Aufwand an Sicherheitszauberern. Also Ablenkung!
Durch die Augen aller zwölf Getreuen sah sie, dass sie auf die belebtesten Plätze zugingen, die Streubüchse mit dem Sofortverdunkelungspulver bereithaltend. Viele der Passanten, die sie sahen riefen laut „Hallo, ist denn schon Halloween?“ Da die Gepanzerten nur ihre behandschuhten Hände als Waffen einsetzen konnten war sie froh, dass ein kurzes Streicheln reichte, um die Vorwitzigen wortwörtlich herunterzukühlen. „Uööörg, was seid ihr denn für Frostbeulen“, bibberte ein junger Mann, bevor er von dem Arm eines Ordenskriegers der Göttin wie beiläufig davongeschleudert wurde. „Lass das Visier unten. Du darfst nur wertvolles Blut trinken!“ gedankenrief die Göttin über das plötzlich aufgekommene Panikgeschrei hinweg. Denn der junge Bursche, der sich gerade spöttisch über die vier gepanzerten in New York geäußert hatte krachte soeben mit Urgewalt gegen eine Wand. Die Göttin fühlte, wie dabei sein Leben erlosch. Sie wusste nicht, wer es war. Doch wichtig war der jedenfalls nicht.
„Reißt die Laternen aus den Haltern und schlenkert mal damit. Das bringt noch mehr Stimmung!“ befahl die Göttin. Ihre Diener gehorchten, ob in New York, Los Angeles oder Philadelphia.
Wie sie es gewollt hatte geschah es. Kaum legten die zwölf ausgeschickten Paladine so richtig mit Verwüstungen los, tauchten Schwärme von Zauberstabträgern auf, sowohl auf dem Boden als auf fliegenden Besen. Sie warfen Sonnenlichtkugeln aus. Doch die zwölf Wütenden streuten das Pulver und erzeugten unvermittelte Finsternis. Das war ihr Element, ihre Welt. Viele in Panik schreienden erstarrten erst, weil sie nichts mehr sahen. Sie wussten nicht, ob sie blind waren oder es nur ein Stromausfall war. Die Sonnenkugel wenigstens glomm nur noch für die gepanzerten Diener der Göttin in einem schwachen Rot. „Draufhalten, nur Mondfriedens- und Ungierzauber!“ hörte sie eine befehlende Stimme in New York. In Los Angeles tönte eine Frauenstimme: „Nicht einschüchtern lassen. Das Pulver verfliegt unter freiem Himmel schnell wieder. Nur die Autos runterbremsen, Leute!“
„Stimmt, die kann man auch umwerfen“, dachte Gooriaimiria und wollte gerade einen ihrer Panzerkrieger auf einen großen Wagen ansetzen, der gerade noch am Straßenrand anhalten konnte, als von irgendwo oben etwas kleines, eiförmiges, wild vibrierendes herunterfiel und dem Krieger voll auf den Helm schlug. Sofort fühlte dieser die unbändige Kraft nicht mehr. Sein Kopf brummte wie ein Hornissennest. Drei Sekunden hielt das vor. Dann war es vorbei. Gleichzeitig bekam Gooriaimiria mit, wie einer ihrer Panzerkrieger in Philadelphia von etwas wild vibrierendem am Oberkörper getroffen wurde und das wie einen den ganzen Körper durchdringenden Stoß verspürte. Dann kullerte das etwas genau zwischen die Beine des Kriegers. Dieser konnte auf einmal seine Füße nicht mehr von der Stelle bewegen. Dann wurde er von etwas angehoben, das in rasender Geschwindigkeit in die höhe schoss. Gleichzeitig hörte Gooriaimiria über die Ohren der anderen mit, wie der Straßenbelag wegplatzte. Sie konzentrierte sich jedoch auf den Krieger, der untätig von irgendwas angehoben wurde und dabei immer mehr Kraft verlor. Dann geschah das unerwartete.
Die Rüstung erzitterte wild. Dann knirschte sie, um dann mit lautem Klirren und Krachen von ihrem Träger wegzuplatzen.
Als der völlig entblößte Krieger nach einem kurzen Wurf nach oben wieder landete fand er sich im immer noch weiter ausgreifenden Wipfel eines hyperschnell wachsenden Baumes. Er und seine Herrin konnten es nicht fassen. Doch seine Göttin bekam längst mit, dass auch die anderen Krieger mit diesen unheimlichen Geschossen bombardiert wurden, bis zwei von denen festen Boden berührten und sich darin eingruben, um innerhalb von Sekunden zu mächtigen Bäumen emporzuschießen. Dabei verloren die Rüstungen der Panzerkrieger alle Kraft, ja ihre feste Struktur und platzten weg wie überstark aufgeblasene Luftballons. „Visiere auf, ich hol euch da weg!“ gedankenrief Gooriaimiria. Doch die Krieger hörten sie nicht, weil andauernd etwas gegen ihre Köpfe und Körper prallte und jedesmal den Rüstungen Kraft wegnahm, bis dann wie zu einem besonders abwegigen Finale, weitere Panzerkrieger auf aus dem Boden schießenden Bäumen nach oben gehoben wurden und ihre Rüstungen verloren. Die Göttin begriff nicht, was da geschah. Wieso zerplatzten die bis dahin so unzerstörbaren Rüstungen, nur weil sie von einem überschnell wachsenden Baum angehoben wurden?
„Genau aus dem Grund, ungehorsames Weibsstück“, hörte sie die leicht schadenfroh klingende Stimme von Giriainaansirian aus den Tiefen ihres geistigen Körpers.
„Zur Mittsommermittagssonne. Das darf doch nicht sein! Wieso passiert das? Rede!“
„Weil es das blutlose Leben ist, junges, pralles grünes Leben“, schnarrte die Gedankenstimme des in ihr eingeschlossenen Geistes, der einst selbst Herr aller Wesen und Geister werden wollte. „Am besten holst du alle Gepanzerten Krieger nach Hause, bevor sie denWald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen können, meine achso beharrliche Trägerin“, spöttelte die Gedankenstimme Giriainaansirians.
„Das kann nicht sein! Gut, bevor diese rotblütigen Halunken das als Erfolgsmeldung weitergeben“, schnaubte Gooriaimiria und ergriff die Gedanken der noch bereitstehenden Panzerkrieger. Dann musste es eben jetzt schon London sein.“
In zehn schnellen Etappen beförderte sie 28 Panzerkrieger in die Winkelgasse. Dort erregten sie das gewünschte Aufsehen. Doch zugleich wurden ihre Krieger in den Staaten mit neuen Sonnenkugeln traktiert und riefen ihre Herrin um Hilfe. Diese konnte sie nicht ergreifen, solange dieses grelle Licht schien. Die entblößten Krieger schrien, weil sie zu verbrennen drohten. Da rief eine Stimme laut: „Pax!“ Unvermittelt erlosch die künstliche Sonne. Die Schmerzen ebbten bis auf das Gefühl halbverbrannter Haut ab. Sofort holte die erwachte Göttin die wehrlosen Krieger fort. Dabei bekam sie mit, wie ihre größere Streitmacht von gleich zehn Sonnenkugeln empfangen wurde. Dann bemerkte sie, wie den ausgeschickten Panzerkriegern Dutzende schwächende Geschosse gegen die gepanzerten Köpfe, Brüste und Beine schlugen bis nicht so wuchtige Geschosse zwischen die Füße der Ordenskrieger gerieten und diese dann nach oben hoben. Sie riefen die Göttin um Hilfe, weil sie wussten, dass sie nichts mehr tun konnten. Da platzten die Rüstungen weg. Gooriaimiria erkannte mit maßloser Wut und Enttäuschung, dass ihre achso großartige Geheimwaffe gerade mit lautem Getöse zu Staub zerfiel. Bevor das ihren Kriegern widerfuhr musste sie sie zurückholen. Doch die hingen nun hilflos und vor Schmerzen schreiend in den Astgabeln der wiedernatürlich schnell aus dem Boden geschossenen Bäume. Die Göttin hörte einen Passanten rufen: „Jetzt ist die Winkelgasse eine richtige Allee.“
„“Pax!“ erklang nun in London eine befehlende Stimme. Die gesammelte Sonnenlichtzeit endete vorerst. Gooriaimiria konnte die über einenGroßteil ihrer Haut verbrannten Nachtkinder zurückholen und an einen Ort bringen, wo sich die mit Heilzaubern auskennenden Söhne und Töchter der Nacht warteten.
„“Gleich bin ich frei. Dann zahle ich dir den Hurenlohn, den ich dir schuldig bin“, knurrte Giriainaansirian. „Nix da, Süßer, du hast eine ganze lange Nacht bestellt und gehst erst nach Hause, wenn ich alles von dir habe, was du mir dafür zahlen wirst“, keuchte Gooriaimiria und schaffte es, den wilden Kampf des ungebärdigen Geistes zu beenden. Als sie ihre Wut niedergerungen hatte und Bestandsaufnahme machte erkannte sie, dass sie den entscheidenden Fehler begangen hatte, diesen Wicht da in ihren innersten Regionen nicht gefragt zu haben, ob er eine Schwachstelle an der Rüstung kannte. Sie wusste nur, dass sie nur noch zehn davon hatte. Doch was nützten die, wenn jeder kleine Zauberstabschwinger ihr nur eine mit einem Schnellwachszauber aufgepumpte Eichel oder einen Kirschkern entgegenwerfen musste. Sie erkannte, dass sie in sehr kurzer Zeit drei schmerzvolle Niederlagen eingesteckt hatte, erst die mit den Nachtschatten, die ihre eigenen Kinder gejagt hatten, dann die mit den Wissenschaftlern, die sie hundert ihrer Kinder auf einen Schlag gekostet hatte und jetzt noch die, dass sie eine als großartige Abwehrwaffe gegen Feinde angepriesene Vorrichtung als wahren Schwachpunkt ihrer Krieger enthüllt hatte. Sollte sie neue Rüstungen schmieden lassen? Nein, ihr fiel ein, dass sie dafür Unlichtkristalle brauchte. An die kam aber nur Nyctodora heran. Dann wurde es nichts damit, sie zu züchtigen, erkannte Gooriaimiria. Das ärgerte sie noch mehr.
Sie beschloss, sich bis auf weiteres zurückzuziehen und mindestens über den Winter zu überlegen, was sie noch anstellen konnte. Ihre noch lebenden Kinder sollten solange in einen Überdauerungsschlaf versenkt werden. Denn ihr war bewusst, dass die Zaubereiministerien dieser Welt keine Vampire mehr leben ließen, die es gewagt hatten, sich zu Herren der Welt aufzuschwingen.
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Dieses Jahr würde es für alle Menschen dieser Welt ein besonderes Halloweenfest geben, dachte die Kaiserin der wahren Nachtkinder. Doch es spukten ihr noch zu viele Gruselgestalten auf der Erde herum. Heute, am Tag, der bei den Menschen der 27. Oktober 2007 war, sollte es sich entscheiden, ob sie einen weiteren Machtgewinn einstrich oder es zu einem Remis kommen mochte. Eine Niederlage, ja ihre eigene Vernichtung, sah sie nicht.
Die Nacht brach an, als eine gewaltige, pechschwarze Wolke über hundert Meter hoch über unbesiedeltes Wüstenland dahinglitt. Laut jener, die der Kaiserin ihr ganzes Wissen überlassen musste, würden sie noch vor Mitternacht den Berg erreichen, früh genug, um noch genug Zeit in der Dunkelheit zu haben und weit genug nach der Abenddämmerung, um jeden auf sie lauernden Sonnenlichtzauber zu schwächen.
Unterwegs dachte sie auch daran, was einer ihrer Kundschafter berichtet hatte, dessen Lykanthropischer Unterpfand an sogenannte Zaubererweltzeitungen herankam. Die Zauberstabträger hatten doch ernsthaft ein wirksames Mittel gegen die Schattenrüstungen gefunden, einfach, billig und doch durchschlagend. Das erheiterte die ohne ihren kristallinen Uterus im Leib durch die Luft jagende Mutter aller Nachtschatten. Doch sie sollte es unbedingt als Warnung verstehen, dass neben den bereits all zu bekannten Waffen noch andere, ebenso einfache und schnell verfügbare Mittel gegen sie und Ihresgleichen erfunden werden mochten. Doch die, gegen die es nun ging, sollte nichts mehr davon haben.
„Ich sehe den Berg“, vermeldete einer ihrer weit vorauseilenden Kundschafter. „Da ist eine grelle Lichtglocke drum herum. Das ist ganz sicher ein Sonnenlichtzauber, der genau gegen uns wirken soll.“
„Gut, Zurückfallen lassen und die Führer der Angriffseinheiten einweisen. Wir schicken die Ritter der Nacht in die Schlacht. Angriff aus allen Richtungen zugleich. Und passt auf die roten Ameisen auf, die im Berg wohnen!“
„Rote Ameisen?“ kreiste die verwundert klingende Frage durch die Reihen der wahren Nachtkinder. „Mehr als menschengroße, mit besonders magieabweisenden Panzern umhüllte Mensch-Ameisen-Züchtungen. Die können euch zwar nichts anhaben, aber auch nicht so einfach aus dem Weg geräumt werden, wenn die sich erst einmal zu lebenden Sperrwänden verhaken“, schickte die Feldherrin an ihre Truppenführer. „Aber dafür haben wir ja unsere wackeren, eiskalte Dunkelheit verbreitenden Recken in unseren Reihen“, ergänzte sie aufmunternd.
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Üblicherweise erfüllte ein leises Singen und Sirren jene gewaltige, kugelförmige Halle, an deren nahtloser Innenwand über tausend menschenlange Glaszylinder angesetzt waren. Ebenso war es hier üblich, dass in allen Zylindern ein gleichbleibendes silberweißes Licht leuchtete. Doch an genau diesem Zwölfteltag des gegenwärtigen Jahres war das leise Singen zu einem beinahe unhörbaren Summton abgesunken, und das silberweiße Licht füllte nur den halben Rauminhalt der Zylinder aus. Das lag daran, dass all die hier in reiner Geistesform überdauernden ehemalig lebenden Männer und Frauen gespannt auf etwas blickten, was sich weit außerhalb der Kugelhalle zutrug. Es bahnte sich ein Kampf an, dessen Ausgang darüber entscheiden mochte, wie die Wirdzeit der lebenden Menschen beschaffen sein würde.
Die hier gespannt auf jenes ferne Ereignis blickenden hatten unterschiedliche Ansichten, was das Ende dieses Kampfes anging. Die einen, die sich Diener von Licht, Liebe und Leben nannten, bangten darum, dass es zu einem weltweiten Feldzug gegen alles fühlende Leben kommen würde. Die Anhänger der Kraft der Gestirne wussten nicht, ob der Kampf nicht nur die gegenwärtige Menschheit bedrohte, sondern vielleicht auch die Weltenkugel, von der sie alle stammten. Ja, und die hier überdauernden, die in ihrem Leben dem Prinzip des gnadenlosen Machtstrebens und der Machtausübung mit allen Mitteln körperlicher, geistiger und magischer Gewalt verbunden waren und sich als Mitternachtsfolger oder Diener der längsten Nacht bezeichneten, hofften auf den Sieg der selbsternannten Kaiserin. Denn sie hatten für sich beschlossen, dass ihr fortwährendes Dasein auch dann bewahrt bleiben würde, wenn es nur noch jene schattenhaften Wesen gab und dass die Lichtfolger und die Anhänger der vier großen Naturkräfte und die von Sonne und Mond dann hilflos in ihren Überdauerungsgefäßen darben mussten, weil nichts und niemand mehr ihr überragendes Wissen benötigte, sie aber auch nicht erlöschen konnten.
Zur letzteren Teilgemeinschaft gehörten die Zwillingstöchter Kaliamadra und Iaighedona, die in auch räumlich gleich nebeneinander angebrachten Überdauerungsgefäßen weilten und wie alle anderen den einen Ort betrachteten, auf den gerade eine vor herrlich dunkler Zaubermacht strotzende Streitmacht zustrebte.
„Das wird jetzt sehr lehrreich, Schwester. Die von Kanoras‘ Machtfunken entbrannte Lichtlose weiß, dass sie sicher erwartet wird. Doch sie muss es jetzt durchkämpfen, wenn sie keinen Angriff auf ihre eigene Festung hinnehmen will“, bemerkte Iaighedona. Kaliamadra erwiderte mit leisen Gedanken:
„Ja, und die anderen wissen, dass sie das Wissen und die Kräfte der vertilgten Schwester in sich hat. Auch sie müssen die Entscheidung finden, wollen sie nicht ebenfalls verschlungen werden. Du würdest ja auch kämpfen, um den zu vernichten, der mich ausgelöscht hat, oder?“
„Du kennst die Antwort auf diese Frage, Schwester“, erwiderte Iaighedona. Dann teilte sie ihrer Schwester etwas mit, dass diese erstaunen ließ. Doch als sie es selbst nachprüfte musste sie erkennen, dass Iaighedona rechthatte. Ja, und was sie beide herausfinden konnten vermochte auch jede und jeder andere hier zu erkennen. Ja, es würde eine sehr spannende und geschichtsträchtige Auseinandersetzung sein, mehr als der schon fast niedlich zu bezeichnende Kampf der Vaterlosen um die eigene Mutter und womöglich auch mehr als der Entscheidungskampf Sardonias gegen die Macht Ashtarias oder das Erwachen der letzten vier Krieger Sharanagots alias Skyllian.
Die verfeindeten Kräfte stehen kurz vor dem Kampf“, hörten sie beide die kleinkindhafte Gedankenstimme von Madrashtagayan. Auch der von den beiden zum Dasein als ewiger Ungeborener verwünschte, der erst kurz vor dem Tod der Mutter aus ihrem Leib hinausgelangt war und danach immer ein Säugling bleiben musste, erkannte, welche Auseinandersetzung sich da anbahnte.
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Die Ritter der Nacht stürmten vor und drangen in die für sie scheinbar unschädliche Absperrung aus verdichtetem Sonnenlicht ein. Mit ihrer Ausstrahlung völliger Dunkelheit und Eiseskälte brachen sie sich ihren Weg frei. Grelle Blitze zuckten nach oben weg und in die Erde hinein. Zwei von Birgutes nichtstofflichen Kämpfern vergingen in einem solchen Blitz, ohne noch einen geistigen Schrei tun zu können. Die von ihr gelenkten Dementoren schoben sich aus allen Richtungen auf den Berg zu. Sie hätte einen keilförmigen Angriff befehlen können. Doch dann hätten sich wohl alle im Berg lebenden Ameisenungeheuer auf die Abriegelung dieses Ganges besonnen. Nein, sie wollte die dort drinnen wartende Streitmacht möglichst von der Brutkammer ihrer Königin weglotsen, damit sie und ihre Kämpfer ohne nennenswerte Gegenwehr dorthin vordringen konnten.
„Lasst erst die Feststofflichen vor, die mit der Dunkelheit wirken können!“ befahl die Kaiserin ihren Kindern und treuesten Untertanen.
Die ihrem Willen unterstehenden Dementoren setzten ihre Einschnürungsbewegung fort. Sie schafften es, durch immer breitere Breschen zu dringen. Der Sonnenzauber wankte. Dann löste er sich unvermittelt auf. Doch Birgute wusste von Thurainilla, dass das kein Etappensieg war, sondern eine Falle. „Alle Kinder zu mir!“ rief sie und breitete ihrerseits einen weiten Mantel aus Dunkelheit aus. Ihre zweihundert Kinder sprangen förmlich durch die Luft in diesen Schutzmantel hinein, der sie eigentlich hätte abstoßen oder aufzehren können. Doch gerade bot er ihnen den nötigen Schutz.
Armdicke, gleißende Glutbahnen schossen tosend aus den Bergflanken und durchbrachen den Ring aus Dementoren. Da wo die Strahlen trafen quoll leicht rötlich glimmender Rauch auf und entwich wie die Überdruckfontänen aus einem Dampfventil in den dunklen Nachthimmel. Zwei Salven kosteten dreißig Dementoren ihre Existenz zwischen Leben und Tod. Die sich anbietendenÖffnungen waren die Mündungen jener rein magisch betriebenen Energiestrahlgeschütze.
„Kriegen wir die noch ausgezehrt oder kommen wir nicht weiter?“ fragte einer der neueren Untertanen die Kaiserin, während sie die von ihr ausgebreitete Schutzkugel an der Oberfläche verdichtete, um die Ausläufer der Vernichtungsstrahlen abzuhalten. Es sah nicht danach aus, dass der Beschuss enden musste. Dann fiel ihr ein, dass die Festung zwar Sonnenlichtmagie verwendete, aber diese durchaus mit einer anderen, ebenso beständigen Feuerquelle in Gang halten konnte, dem Kernfeuer der Erde. Lahilliota, die heutige Endgegnerin, hatte das mal angedeutet, es als lodernde Liebe zwischen dem Himmelsfeuer und dem Schoß der großen Mutter bezeichnet. Also ging es so nicht.
Die Hälfte der Dementoren fiel trotz ihrer eigenen dunklen Auren dieser mörderischen Machtdemonstration. Da kam Birgute eine andere Idee: „Saugt euch an der Dunkelheit satt und macht euch dann so klein es geht. Dann jagt ihr schneller als der Schall durch alle bestehenden Öffnungen in den Berg hinein. Die Lichtstrahlkanonen sind auf große Gegner ausgerichtet“, schickte sie einen geistigen Rundruf an die bei ihr weilenden Schattenkinder. Dachte sie da gerade noch den Begriff „Todesstern“ oder war es einer ihrer mitgereisten Söhne? Wie dem auch sei. Auch wenn sie die Dementoren eigentlich für was anderes brauchte mussten diese gerade wortwörtlich als Kanonenfutter herhalten. Doch die hatten mittlerweile gelernt, sich aus der Zielausrichtung der Energiegeschütze zu halten. Ihre Verluste gingen merklich zurück.
Die Nachtschattentruppe Birgutes schwirrte wie eine Ladung Schrot aus einem nachtschwarzen Luftballon davon und überwand die Entfernung zum Berg der ersten Empfängnis in einer halben Sekunde. „Wir sind dring und haben kleine Ritzen gefunden, durch die wir weiterkönnen, Herrin und Mutter“, frohlockte einer der ausgesandten. „Fühlt, wo die Königin ist. Nur um sie geht’s. weicht den anderen Lebensquellen aus!“ befahl ihre mächtige Gebieterin.
„Achtung, Fallööööuuu!“ Der Warnruf eines wohl schon weiter vorgedrungenen sackte in der Tonhöhe und Lautstärke ab. „Von wo kam das genau?“ wollte Birgute wissen, als noch an die zwanzig weiteren ihrer Kinder wie heruntergebremste Tonbänder eine Warnung vor einer Falle ausstießen. Ihr fiel nun ein, dass Lahilliota einen Zauber „Gefrorene Dunkelheit“ verwendete, etwas, dass Thurainilla selbst noch vor dem Kampf mit der Kaiserin eingewirkt hatte. Natürlich war ihr klar, dass der irgendwo lauern musste. Aber sie war davon ausgegangen, dass die extrem starken Sonnenlichtzauber diesen Dunkelheitszauber überlagerten. Da hatte sie sich wohl geirrt. Sie erkannte auch, dass ein Jahr ausreichte, um alle bestehenden Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern und zu ergänzen. Sie hatte es ja nicht anders gemacht, als sie ihre eigene Residenz ausgebaut hatte, nur dass die dort verwendeten Kräfte ausschließlich gegen lebende Wesen und deren Geist abzielten.
„Die keinen angeborenen Ortungsschutz besitzen“, wisperte es in ihrem Bewusstsein. Es war eine Erinnerung von Thurainilla. Jetzt wurde ihr erst recht bewusst, dass sie hier und jetzt die Entscheidung herbeiführen musste, um nicht gleich morgen einen „Gegenbesuch“ der Vaterlosen Töchter zu erhalten. Dann fiel ihr wieder was ein, um die Fallen gegen Nachtschatten zu umgehen oder unschädlich auszulösen. „An alle, die noch frei wirken können, abwarten, bis lebende Quellen in eurer Nähe sind und dann bis auf halbe Fingerbreite davon entfernt mitbewegen, Berührungen vermeiden, weil Rückprallkraft möglich!“
Es dauerte einige Minuten. Die noch verbliebenen zweihundert Dementoren hatten auf Befehl der Kaiserin den Rückzug angetreten. In einem Kilometer entfernung hörten die Energiegeschütze auf zu feuern. Dann meldete einer der Schatten: „Habe im Lebensquellschein einer der Wächterinnen Nähe der Königin erreicht, ohne eine Falle auszulösen.“
„Standort mitteilen!“ befahl die Kaiserin. Als sie ihn von gleich zehn weiteren „Ameisenreitern“ erfahren hatte konnte sie einen Direktsprung wagen. Sie holte sich hundert Dementoren, die im Wirkungsbereich ihres ausgebreiteten Dunkelheitsfeldes ihre eigene Ausstrahlung anpassten und so zu einer fast kompakten Kugel aus magischer Finsternis verschmolzen. Dann jagte die Kaiserin der Nachtschatten und Trägerin von Thurainillas Erinnerungen den konzentrierten Wunsch durch ihren Geist, dort anzukommen, wo ihre Diener waren.
Es war, als flöge sie durch einen Gewittersturm der Stärke zwölf mit grellen blauen, roten, weißen und gelben Blitzen aber ohne Donnerschlag. Sie fühlte, wie etwas sie zurückzudrängen versuchte. Doch sie imitierte die Ausstrahlung Thurainillas und wandte ihre Dunkelheitszauber an, um die vorausgeschickten Nachtschatten als Gegenpol zu verwenden. Auf diese Weise bohrte sie einen Tunnel quer durch alle den Berg sichernden Zauberfallen. Für eine Sekunde meinte sie, alles in umgekehrter Lichtausstrahlung zu sehen und fürchtete schon, davon verbrannt zu werden oder wie beim dunklen Pharao alle ihre unnatürliche Substanz einzubüßen. Dann befand sie sich vor einer gewaltigen Steinplatte. Die mit ihr gereisten Dementoren prallten gegen die Wände, vereisten diese und gerieten in einen wilden Nahkampf mit hier aufgestellten Wachtrupps aus menschengroßen Ameisen.
„Sie ist da drin“, o Herrin und Mutter“, freute sich einer der Ameisenreiter und deutete auf die leicht flimmernde Tür. Birgute sah, wie die mitgebrachten Dementoren die Ameisen vereisten. Als sie keine Gegner mehr hatten wies sie auf die Tür und befahl: „Runterkühlen, bis die Tür spröde genug ist, um sie einzuschlagen!“ Natürlich kannte sie als ursprünglich aus der rein technischen Welt stammende den Effekt, den flüssiger Stickstoff oder flüssiges Helium auf jedes organische Material hatte. Die Tür da war sicher nicht nur aus Stein, und selbst wenn, in Stein war oft Wasser eingeschlossen. Genau darauf baute sie nun.
Tatsächlich wurde die Tür immer mehr zu einem Eisblock. Als Entsatztruppen der Werameisen angerannt kamen durchbrachen fünf Dementoren die porös gewordene, alles andere als stabil gebliebene Tür. Es krachte heftig, als eine Entladung von grünen und blauen Blitzen durch den Gang zuckte und von den gerade tiefgefrorenen Ameisen reflektiert wurde. Das überlud den letzten Abwehrzauber der Tür. Mit einem lauten dumpfen Knall verpuffte er. Die Tür wurde regelrecht pulverisiert.
„Nur drei von euch begleiten mich. Alle noch frei wirkenden Untertanen sichern den Rückzug!“ befahl Birgute und schloss sich wieder in jene kompakte Kugel aus Dunkelheit ein, die, wenn sie wollte, einen Radius von zweihundert Metern erreichen konnte.
Sie schwebte wie ein übergroßer schwarzer Luftballon durch die freigebrochene Türöffnung. Ja, da war sie, die mehrere Meter große, geflügelte Königin der hier herumlaufenden Ameisen, Lahilliota. Doch sie war nicht allein.
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„Bei der längsten Nacht, die ist doch schneller weitergekommen als ich dachte und hat dabei nur ein Drittel ihrer Körpergröße eingebüßt“, gedankenzischte Kaliamadra ihrer Schwester zu. Diese erwiderte: „Das war eine überragende Eingebung, die vorausgeschickten Schattengeister zu einer Auffangkraft zu machen und so einen regenwurmgleichen Durchgang durch Raum, Zeit und Abwehrzauber zu bohren. Ja, das Gipfeltreffen der Herrinnen beginnt“, spöttelte Iaighedona. Doch sie verriet ihrer Schwester nicht, auf wen sie jetzt wetten mochte.
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„Mir war klar, dass dich dein Weg zu mir führen muss, selbsternannte Königin der Nacht“, hörte Birgute die vor ihr aufragende Ameisenkönigin mit der Stimme einer verärgerten, aber auch entschlossenen Frau denken. „Ich muss zugeben, dass du schneller und weiter gekommen bist als ich eigentlich wollte. Aber jetzt bist du hier bei mir. Möchtest du dich für die Entleibung und Gefangennahme meiner Tochter Thurainilla entschuldigen?“
„Deine kleine Tochter Thurainilla möchte gerne wieder mit dir zusammen sein, Rotameise. Ich weiß, dass du in dem Zustand nicht von fremden Zauberkräften berührt oder verletzt werden kannst. Aber wie du sicher von deinen treuen Dienerinnen und Dienern mitbekommen hast können meine kräftigen Ritter der Nacht sie bewegungslos machen. Ich gebe dir eine einzige Gelegenheit, dich mir hinzugeben und in mir vereint das große Werk zu vollenden, die Herrschaft der ewig weiblichen Kraft über alle kurzlebigen.“
„Schattenkönigin, da du schon lange keinen lebenden Körper mehr hast bist du nur noch im Geiste ein weibliches Wesen, hast aber keine Vorstellung mehr davon, wie das Weibliche das Leben erhält und bestärkt. Daher gebe ich dir eine einzige Gelegenheit, meine von dir einverleibte Tochter Thurainilla und ihr gesamtes Wissen wieder auszustoßen, ob aus deinem Schoß, wie du das mit den armen Seelen da hinter dir getan hast, aus dem Mund wie einen unverdaulichen Auswurf oder durch schlichte Abspaltung von dir, das überlasse ich dir“, erwiderte die Ameisenkönigin.
„Kleines Tierchen, du meinst, mich dazu verleiten zu können, meine größte Kraftquelle aufzugeben. Sie ist in mir und bleibt da, eingewobenen in mein Sein, in meine Kraft, ihr Sein und ihre Kraft für mich bereitstellend. Also, lass mich deine achso erfahrene Seele zu mir nehmen und dich erkennen, wie wohl sich Thurainilla jetzt fühlt.“
„Vergiss es, sogenannte höchste Königin aller Schattengeister. Kanoras der Schattenträumer wird nicht durch dich erreichen, was er in seinem eigenen Dasein nie geschafft hat“, erwiderte Lahilliota.
„Dann werde zum Eisblock, auf dass du mit deinem widerwärtigen Geist darin gefangen bleibst“, knurrte Birgute und winkte drei Dementoren zu sich. Dann hörte sie ein merkwürdig in sich nachhallendes Kommando in einer Sprache, die sie nur kannte, weil Thurainilla in ihr eingeschlossen war: „Ans Werk, meineTöchter!“
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„Wie viele Sekunden hat die Ameise noch zu leben?“ fragte Kaliamadra ihre Schwestr. „Ich nehme darauf keine Wette an, Kaliamadra“, erwiderte Iaighedona.
„Ahahaha, du haderst immer noch mit unserer letzten Wette wegen der Brut der Skyllianri“, lachte Kaliamadra. Dadurch verpasste sie fast den Fortgang der Auseinandersetzung.
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Ohne Vorwarnung standen sie in der großen Brutkammer, vier makellos schöne Frauen in aufreizender Bekleidung. Die eine, mit an den unbedeckten Stellen milchkaffeefarbener Haut, trug einen wasserblauen Bikini. Die dunkelhäutige Frau mit der Naturkrause trug einen himmelblauen, mit weißen Wolkenmustern bedruckten Fallschirmspringeranzug. Die Frau mit der bronzefarbenen Haut und den nachtschwarzen Haaren und Augen trug ein rubinrotes Kurzkleid mit schmalen Trägern und tiefem Ausschnitt. Die vierte, mit besonders heller Haut, stahlblauenAugen und korallenroten Haaren trug einen alle Formen hervorhebenden schwarzen Gummianzug mit kurzer Hose und halbhohen Stiefeln aus etwas, das schwarzes Leder oder Gummi sein mochte.
Birgute erkannte sie alle. Die mit den schwarzblauen gewellten Haaren war die Wasser- und Eisbändigerin Itoluhila. Die im blauen Fallschirmspringeranzug war Ilithula, die bereits einmal wiedergeboren worden war und die Kräfte der Luft beherrschte. Die im roten Kleid war Ullituhilia, die sich mit Erdzaubern auskannte und die im schwarzen Gummianzug war Eranilithanila, die sich mit allem auskannte, was sich tief unter jeder Oberfläche befand, ob Meer oder unterirrdische Höhlen. Sie waren alle gekommen, um die Entscheidung zu suchen. Gut, dann sollte es eben so sein, dachte Birgute. „Ans Werk meine Töchter. Schützt unser aller Leiber und Leben!“ hörte Birgute noch einmal die Gedankenstimme der in der Ameisenkönigin steckenden Urmutter dieser vier Schönheiten und der in der Kaiserin selbst eingeschlossenen.
„Friert sie alle ein. Aber nicht töten, ich will ihre Seelen!“ rief Birgute. Die Dementoren sprangen vor, und prallten auf eine plötzlich entstandene Wand aus dunkelblau flirrendem Stoff, der zum Boden hin grünlich-rot schimmerte. Die Dementoren versuchten, diesen unverhofften Abwehrwall zu durchdrücken. Doch ihre Hände federten zurück, und eine Wolke aus schwarzen Schneeflocken umwirbelte sie. Birgute erkannte, dass diese Wand für die feststofflichen Diener gerade undurchlässig war. Sie erzeugte jene weit ausgreifende, völlige Dunkelheit, die laut thurainillas Wissen Körper zu Eise erstarren lassen und Seelen in tiefste Verzweiflung stürzen konnte. Die bei ihr schwebenden Dementoren verstärkten diese Kraft. Doch in dem Moment, wo die Dunkelheit auf Boden, Decke und Wände traf, glühte alles in einem violetten Licht auf, das zu einem sonnengelben Licht wurde. Birgute merkte, dass ihre eigene Kraft von einer genau darauf abgestimmten Gegenkraft abgeschwächt wurde und dass sie deshalb an eigener Kraft verlor, wenn sie die weit ausgreifende Dunkelheit, den Mantel des Seth, nicht sofort widerrief. Also zog sie den Rest an Dunkelheit in ihre Nähe zurück. Das sonnenhelle Leuchten erlosch.
„Denkst du, wir wüssten nicht, dass du unserer Schwester die Kraft des dunklen Mantels weggenommen hast, Schattenspielerin?“ rief die Tochter des schwarzen Felsens hinter der flirrenden Wand.
„Und trotzdem kriege ich euch“, schrie Birgute. Doch so ganz zuversichtlich klang es nicht. Das lag daran, dass die Kaiserin der Nachtschatten merkte, dass ihr Angriff mit Körper und Seelen gefrierender Dunkelheit ihr Körpersubstanz gekostet hatte. Denn waren die vier Schwestern da hinter der Wand eben nur ein Sechstel so groß wie sie gewesen waren sie jetzt ein Drittel so groß wie die Kaiserin der wahren Nachtkinder.
Entschlossen und zugleich sehr wütend hielt Birgute ihre Hände so, als umfasse sie damit etwas. Dann hielt sie ein mächtiges Zweihandschwert in ihren Fingern. Es war nur aus ihrer eigenen Substanz und ihrer Vorstellung entstanden. Mit übermenschlicher Schnelligkeit und Kraft hieb sie damit auf die magische Absperrung ein. Es klirrte, prasselte und spotzte, als die gebündelte dunkle Kraft mit der aus drei Elementargewalten geschöpften Wand zusammenstieß. Die Wand flackerte, stabilisierte sich jedoch sofort wieder. Da hielt sie das Schwert so wie einen Stoßspeer. Sie ruckte anund raste mit dem Schwert voran auf die Wand zu. Als das Schwert die Wand berührte und durchstieß fühlte sie, wie es in ihren Händen erzitterte und gleichzeitig Kraft entzog. Dann berührte ihr restlicher Körper den magischen Wall. Es kribbelte in ihr. Dann meinte sie, etwas rege sich, nicht in ihrem Unterleib, sondern in jeder Faser ihrer körperlichen Empfindung. Dann durchstieß sie den Wall, wobei sie einen lauten Aufschrei aus ihrem Inneren hörte. „Ans Werk meine Töchter! Schützt unsere Leiber und unser Leben!“ dröhnte es unvermittelt in Birgutes Schädel. Offenbar hatte die Wand diesen Befehl in sich eingeschlossen. Nein, nicht die Wand. Etwas in ihr regte sich nun überdeutlich, in ihrem ganzen Körper. „lass mich raus, du fleischloses Flittchen!“ gröhlte unvermittelt eine ihr bekannte Frauenstimme. Dabei sah sie die vier vaterlosen Töchter, die sich bei den Händen hielten und die jeweils außenstehenden beschwörende Gesten ausführten, um die magische Wand zu erhalten. Die Schattenkaiserin erkannte, dass ihr Schwert verschwunden war und dass sie schon wieder um einiges kleiner geworden war. Doch sie gab nicht auf.
Birgute schnellte ihre rechte für sie selbst rotgolden schimmernde Hand nach vorne und bekam den freien Arm Eranilithanilas zu fassen. „Dann eben so!“ rief Birgute und fühlte, wie das Leben der so mächtigen Widersacherin zu ihr hinströmte. Da schwieg die in ihr eingeschlossene Thurainilla.
„Gleich habe ich deine Seele, Krakenkönigin“, dachte Birgute. Da flog ihr etwas entgegen, ein kleiner, durchsichtiger Gegenstand, wie ein eiförmiger Glastropfen. Er schlug auf ihren Körper und verging. Sie fühlte, wie etwas anderes in sie einströmte und sich schlagartig in ihr ausbreitete. „Nein, Gnade!“ rief eine Männerstimme, bevor sie in einem wilden Rauschen verging. Da kam noch eine solche Kapsel angeflogen und entlud ihren Inhalt beim Durchfliegen der Schattenkaiserin.
Sie verlor für einen Moment die Konzentration. Das reichte, um ihr einen gehörigen Kraftschauer durch den Körper zu jagen. Gleichzeitig war ihr, als würde ein Teil von ihr abgesprengt. Sie sah einen orangerot leuchtenden Kopf, den Hals und dann den Oberkörper einer nackten frau, die sich aus ihr, Birgute, herausstrampelte wie aus einem lästigen Kleidungsstück. „Tut weh, hä?!“ rief die ihr gerade auf sehr schmerzvolle und sehr drastische Weise entschlüpfende. Dann kam sie ganz frei. Für einen winzigen Augenblick sah die gerade wild erbebende Birgute die orangerot leuchtende Thurainilla, die in diesem Licht erst doppelt so groß wurde wie die anderen Frauen hier. Dann erkannte Birgute, dass sie in diesen wenigen Sekunden, wo sie den Wall durchbrochen hatte, auf gerade einmal zwei Meter zusammengeschrumpft war und jetzt, wo Thurainilla ihr entsprungen war noch einmal einen Gutteil der Körpergröße eingebüßt hatte. Nun fiel die orangerot leuchtende Geistererscheinung in sich zusammen und wurde zu einer kompakten Kugel aus violettem Licht, die wie an einem zurückschnarrenden Gummiband auf den Körper Ullituhilias zusprang und regelrecht darin einschlug. Die körperliche und wohl auch geistige Erschütterung sprengte die Verbindung, die Birgute gerade mit Eranilithanilas Arm hatte. Da wurde ihr klar, dass sie sich gerade das Eigentor des Monats geschossen haben musste, die Lebenskraft aller Schwestern zugleich in sich aufzunehmen, ohne sie dosiert zu verdauen wie sonst üblich. Ja, und Thurainilla war dabei wiederbestärkt worden. Sie war nie wirklich in ihr zerflossen, sondern nur willenlos und halbohnmächtig gewesen, wie jemand, der unter starken Wahrheitsdrogen jede gestellte Frage wahrheitsgemäß beantwortet. Dann erschrak sie noch heftiger. Thuranilla hatte ihr all ihr Wissen überlassen, aber auch ihr ganzes Wissen mitbekommen.
„Birgute Hinrichter! stelle alle deine Angriffe gegen uns ein!“ riefen die vier Frauen im Chor. Die Erwähnung ihres wahren, von ihr nach der Entstehung angenommenen Namens war wie ein Schwertstreich von Kopf bis hinunter zum Unterleib. Die Kaiserin erstarrte wie versteinert. „Birgute Hinrichter, stelle alle deine Angriffe auf uns ein!“ riefen die vier Schwestern. oder waren es sogar fünf?
„Rückzug. Alle zurückziehen und zurück ins Freie!“ quälte sich die mit ihrem wahren Namen angesprochene einen geistigen Befehl ab. Sie wiederholte ihn, weil erst nicht alle ihr folgen wollten. Einige mochten vielleicht erkennen, dass sie unter Zwang handelte. Doch ihr Zwang auf allen anderen überwog die Bedenken. Dann spürte sie, wie auch der Halt zu den Dementoren erlosch, als hätte es ihn nie gegeben. Die noch um den Einlass in den Berg kämpfenden Ritter der Nacht erstarrten erst und schwirrten dann in alle Richtungen davon. Die noch im Berg verbliebenen Nachtschatten, die gerade nicht in den Fallenzaubern feststeckten jagten mit höchster Geschwindigkeit hinaus aus dem Berg. Einige davon verglühten in den letzten Salven der Sonnenlichtbündel. Dann waren sie alle fort.
„Birgute Hinrichter, befiehl deinen Dienern, aufs Meer hinauszufliegen und dort auf dich zu warten!“ riefen die vier Schwestern. Die Macht des wahren Namens und die gebündelte Geistesmacht der vier vaterlosen Töchter rang jeden Widerstandsgedanken nieder. Sie befahl es ihren Nachtschatten. Die Dementoren selbst gehorchten ihr schon nicht mehr. Die, die noch im Berg waren suchten sich nun einen Weg, um an sie heranzukommen, wohl um sich für die Unterdrückung zu rächen.
„Schwestern, bringen wir sie nach Hause!“ hörte Birgute durch alle ihre Gedanken lähmende Kraft Ullituhilias Stimme sagen. „Birgute Hinrichter, kehre in den Raum deiner Herrschaft zurück, hier und jetzt sofort!“ befahlen die vier wieder.
Als wenn der Befehl ein Ortswechselzauber an sich war fand sich Birgute unvermittelt in jenem großen, von Eis ausgekleideten Saal wieder und erkannte, wie heftig sie wieder geschrumpft war. Sie sah den auf dem Thron ihrer achso großartigen Herrschaft liegenden birnenförmigen Körper, den Anker ihres Daseins und dem, was vor wenigen Minuten noch ihre ganze Macht gewesen war. Dann fühlte sie, wie etwas in ihrem Körper angespannt und schlagartig entlastet wurde. In dem Moment wusste sie, dass sie nicht mehr allein hier war.
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„Unterschätze niemals die Bindung zwischen Schwestern“, stellte Iaighedona klar, als alle überdauernden Altmeister in eine wilde Aussprache verfielen, was genau geschehen war. Etliche von ihnen wollten sich den Hergang der Ereignisse noch einmal nachbetrachten.
„Das hat diese eigentlich vielversprechende Frau jetzt wohl begriffen. Nur schade, dass sie nichts mehr damit anfangen kann“, erwiderte Kaliamadra. „Sag das nicht, meine geliebte Schwester“, entgegnete Iaighedona. Dann bekamen sie beide und auch alle anderen, die noch das gegenwärtige Geschehen beobachteten mit, wie es ausging.
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„Aha, doch ein Uterus!“ hörte Birgute wie durch Watte die Stimme Itoluhilas. „Aber aus Mitternachtston, geeignet, um Lebenskraft und Geisterwesen zu binden“, sagte Ullituhilia.“
„Ist wie unser Lebenskrug“, meinte die sichtlich ausgelaugte Eranilithanila.
„Dann soll sie darin schlafen, bis sie wieder gebraucht wird“, sagte Ullituhilia scheinbar mit zwei Stimmen sprechend. „O, sie ist noch wach?“ fragte Ilithula. „Bis das hier hier vollendet ist ja“, hörte Birgute die wild entschlossene, dumpf klingende Stimme Thurainillas. „Bevor die, die mich aufgefangen hat für mich atmen und essen will, will ich diesen schändlichen Abschnitt meines letzten Lebens beendet wissen, auch wenn ich durch die da jetzt wieder mit Riutillia vereint bin.“
„Ja, gut, bevor du mir ohne Körper entsteigst und dann doch im Nichts verwehst, kleine Schwester“, sagte Ullituhilia. Dann sagten die vier oder gar fünf Schwestern: „Birgute Hinrichter, befiehl allen deinen im freien herumsuchenden Schatten, solange im freien zu warten, bis du sie wieder zu dir hinrufst!“
Die gerade von ihrem Thron gestürzte Kaiserin der Nachtkinder schaffte es nicht, dagegen aufzubegehren. Sie rief laut in Gedanken: „An alle meine suchenden Dienerinnenund Diener, bleibt unter freiem Himmel wo ihr gerade seid und wartet, bis ich euch mit meiner Stimme wieder zu mir hinrufe! Bleibt dort, wo ihr gerade seid, bis ich euch wieder zu mir hinrufe!““
Sie fühlte, wie sich von den gerufenen her Widerstand zu regen begann. Doch nachdem sie ihren Befehl noch einmal in die Weite Welt hinausgerufen hatte erstarb der Widerstand. Das merkten offenbar auch die vier Schwwestern, die sich immer noch an den Händen hielten.
„Nun, Birgute Hinrichter, krieche in das Gefäß deiner Kraft und Geborgenheit hinein und schlafe, bis unsere Stimmen dich wieder aufwecken! Schlafe, bis unsere Stimmen dich wieder aufwecken!“
Birgute fühlte, wie sie sich verformte, zu einer langgezogenen Rauchfahne wurde und wie ein orientalischer Dschinn durch den starren Hals der kristallinen Gebärmutter einströmte und dann darin selbst wieder ihre Form annahm. Gleichzeitig fühlte sie, wie sie erstarrte. Ihre Gedanken wurden langsamer und schwächer. Das letzte, was sie hörte, war ein leicht gehässiges Lachen, dass aus allen Richtungen zugleich erklang, das Lachen eines Mannes, den sie vor über einem Jahr dazu verdammt hatte, in diesem steinernen Schoß zu bleiben. Dann verschwammen ihre Gedanken. Sie verfiel in den gleichen tiefen Schlaf, den sie beinahe neun Monate lang geschlafen hatte. Nur diesmal war es kein Notfall, sondern auferlegter Zwang.
„Warum wolltet ihr sie nicht vernichten?“ fragte Ilithula. Darauf bekam sie gleich von Ullituhilia, Thurainilla und Itoluhila eine Antwort: „Sie ist stark und mächtig. Sowas bringt man nicht um, wenn es sich lenken lässt wie ein williges Pferd oder ein ergiebiger Liebhaber.“ Dann sprach Thurainillas Geistesstimme: „Das wäre auch zu gnädig gewesen, sie zu vernichten. Wenn ich Ullituhilias warmen, nährenden Bauch wieder verlassen habe soll sie meine ganz persönliche Dienerin werden, wenn es darum geht, gegen neue Gegner anzutreten. Sie soll fühlen, wie das ist, unterdrückt und ausgeforscht zu werden. So, und jetzt werde auch ich schlafen.“
„Noch nicht, meine zukünftige Tochter“, widersprach Ullituhilia. „Deine Kraft muss uns erst hier herausbringen.“ „Ja, aber vorher stopfe ich diesen ausgelagerten Mutterschoß zu, dass nicht wer anderes meint, sie da vor uns wieder herauszuholen“, sagte Itoluhila. Sie vollführte mehrere magische Gesten. Das im Raum befindliche Eis bewegte sich und formte einen dicken Pfropfen, der passgenau in die Öffnung des kristallinen Uterus hineinglitt und darin steckenblieb. Das Eis färbte sich tiefschwarz. Dann senkte Itoluhila ihre Hände wieder. „So, außer mir kann das keiner wegmachen, höchstens jenes widerliche Flammenschwert, dass die schwarze Spinne hat.“
„Dann sollten wir zusehen, dass sie nicht weiß, wo Thurainillas neue Kammerzofe schläft“, spottete Ilithula. „Sehr witzig, Ilithula“, hörten sie Thurainillas Stimme, die nicht mehr so sanft wie früher klang. Ja, sie war wirklich verstärkt worden.
In einer von Ullituhilias Unterleib ausgehenden dunklen Rauchkugel verschwanden die vier sichtbaren und die unsichtbare Tochter Lahilliotas. Die hier im Raum und im Berg wartenden Nachtschatten waren alleine. Unter jenen, die noch im Berg verblieben waren, waren auch die Mehrlingsgeschwister Ganor Reeko und Remurra Nika. Sie würden das große Erlöschen überstehen, dass die Feindinnen der Kaiserin der Nacht heraufbeschworen hatten.
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Die Neumondwölfe fielen dort wie gefällte Bäume um, wo sie gerade waren. Eine volle Stunde lang waren sie besinnungslos. Als sie erwachten dachten sie, alles nur geträumt zu haben. Die Hitze, die durch ihren Körper jagte, das dem Mond unterworfene Blut, das sich gerade wieder auf die übliche Mondphase umstellte, verriet ihnen, dass sie das alles nicht geträumt hatten.
Zu jenen wieder freikommenden Werwölfen gehörte auch die Familie Herder. Sie befand sich gerade in Südspanien, dort wo vor zwei Jahren ihr Leben eine neue Wendung erhalten hatte. Als sie von Zauberern und Hexen der spanischen Sicherheitstruppen gefunden wurden erfuhren sie, dass wohl jemand den dunklen Zwang aufgehoben hatte, dem sie unterworfen worden waren. Da sie in Deutschland registriert waren brachte eine kleine Truppe von Sicherheitszauberern die Herders mit einem Portschlüssel zurück nach Hanover, wo sie ihr Leben vor der Schattenpfändung fortsetzen sollten.
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Tief im Atlantik fühlte Gooriaimiria die heftigen Erschütterungen der dunklen Kräfte. Sie erkannte, dass weit von hier jemand mächtiges mit einem anderen Feind gekämpft hatte. Sie dachte an die selbsternannte Schattenkaiserin. War diese vernichtet worden, nachdem sie ihr wieder an die hundert Diener weggenommen hatte? Doch so recht freuen konnte sie sich nicht. Denn ihr Vorhaben mit den Schattenrüstungen war ja ebenfalls ein Fehlschlag auf der ganzen Linie gewesen. Sie erkannte, dass die kurzlebigen Menschen mit und ohne Magie in einer bedrängenden Lage immer wieder einen Ausweg fanden.
Ihre sieben Priesterinnen und Halanocturna lebten noch. Doch ohne viele Gefolgsleute war nicht viel mit ihrem Göttinnenstaat Nocturnia. Doch sie existierte noch, und auch dieser widerspenstige Geist da in ihrem tiefsten inneren hatte noch genug zu erzählen, um ihr einen neuen Weg zu zeigen, vielleicht einen ohne diese mit purer Lebenskraft zu schwächenden Unlichtkristalle. Dass sie selbst in einem Steckte gefiel ihr im Augenblick auch nicht so richtig. Das einzige, was sie im Moment schützte waren mehrere tausend Meter Wasser bis zum Meeresspiegel, tiefste Dunkelheit und das Geheimnis wo ihr eigenes Gefäß der Macht auf dem Grunde des Meeres verborgen war, womöglich sogar unter einer hohen Schlammschicht begraben.
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Es war am 28. Oktober, an dem Julius eine Flut von Nachrichten aus dem Arkanet empfing und weiterleitete. Die Schattenrüstungen waren wahrhaftig unter der Einwirkung von mit Rapicrescentus-Tropfen geimpften Eicheln zerborsten, sobald die Eicheln den Boden berührten. Es war, so Martha Merryweather, wie grünes Elmsfeuer, dass sich innerhalb weniger Sekunden durch die Rüstungen fraß und sie dann abplatzten. Die darunter steckenden Vampire waren dann den Sonnenlichtkugeln ausgesetzt. Da Julius darum gebeten hatte, sie nicht zu töten hatten die vom LI und anderen Einsatzgruppen einen einsilbigen Inaktivierungsbefehl darin eingewirkt, nicht Stop, nicht Nox und nicht Halt, sondern „Pax“, das lateinische Wort für Frieden. Die Vampire kamen so mit leicht angebrannter Haut davon und dem Wissen, dass ihre neue Superabwehr doch zu knacken war.
Was er gefühlsmäßig nicht so recht einordnen konnte waren die Meldungen über selbstzerstörerische Nachtschatten, die frei in der Luft schwebten und förmlich darauf warteten, gefunden und mit Sonnenspeeren zerschossen zu werden. Bärbel Weizengold hatte sogar einen Bericht weitergegeben, dass ein solcher starr wie ein natürlicher Schatten eines Festkörpers an einer Wand hängende Nachtschatten stundenlang gewartet hatte, bis die Sonne aufging und ihr natürliches Licht den Schatten innerhalb weniger Sekunden ausgebleicht und ausgelöscht hatte. Die getarnten Zeugen dieses Vorganges wollten in den letzten zwei Sekunden dieses Selbstvernichtungsaktes einen erleichterten Aufschrei vernommen haben, der wie in die Ferne rasend leiser und verwaschener klang. Wer hatte denn die Macht, die Nachtschatten zur Selbstvernichtung aufzufordern? Diese eine Frage überwog die Erleichterung, dass die Nachtschatten eine für Menschen unschädliche Massenselbstvernichtung durchführten. Denn irgendwer musste ihnen das befohlen haben. Julius dachte keine Sekunde daran, dass ihre Herrin und Gebieterin das getan hatte. Die war doch auf einem sicheren Weg, zur Beherrscherin aller Nachtwesen aufzusteigen.
Als der Krisenrat die neuen Meldungen erhalten hatte sagte Adrastée Ventvit von der Geisterbehörde: „Ich denke, was diese Nachtschattenkaiserin angeht, so wollte die durch eine meterdicke Wand und könnte daran zerbrochen sein. Solche Vorfälle kenne ich von wütenden Geistern, die versucht haben, sich für das ihnen angetane Unrecht mit Gewalt, also Telekinese, Schlafstörungen und Handauflegen zu rächen und dabei an überstarke Gegner gerieten, die ihnen die Wahl ließen, wie versklavte Dschinnen in einer Flasche zu verbleiben oder die betroffenen Menschen in Frieden zu lassen. Die konnten sich dann in eine Art Überdauerungsschlaf in einer für Menschen unzugänglichen Erdhöhle versenken und über hundert Jahre so zubringen, bis ein vorher festgelegtes Wecksignal erfolgte, die Annäherung von Tieren, ein Erdbeben oder tatsächlich menschliche Laute. So wurde einmal ein solcher Überdauerungsspuk, wie wir das nennen, bei Bergarbeiten vor 150 Jahren in seiner Kammer entdeckt. Der Geist zog dann los, um seine Rache zu vollenden, was zum Schluss dazu führte, dass unsere Behörde ihn einfing und in der Höhle der verbannten Seelen unter den Vogesen wegsperrte, wo andere unbelehrbare Geister ihre Ewigkeit absitzen müssen. die Nachtschattenkaiserin ist ungleich mächtiger als solche rastlosen Seelen. Deshalb muss was immer sie dazu getrieben hat, ihre Untertanen in die Massenauslöschung zu treiben noch mächtiger sein. Es kann auch einfach sein, dass jemand von ihren vielen Feinden den bei ihrer Entstehung zugelegten und damit wahren Namen herausgefunden und wie ein Bannwort gegen sie verwendet hat. Das wissen nämlich viele von uns nicht, dass Nachtschatten, deren wahren Namen man kennt, beschworen werden können, wie Dämonen in Sagen oder erdichteten Gruselabenteuern. Das werde ich mit den Kollegen in anderen Geisterbehörden durchsprechen, was da eher zutrifft und vor allem, ob es noch Auftritte von Nachtschattentruppen und Schattenlosen gibt. Besser ist das sicher.“
„Wo Sie von einer meterdicken Wand sprechen, Madame Ventvit“, ergriff Julius das Wort, „dann sicher die, die von den Abgrundstöchtern errichtet wurde. Ich erwähnte ja, dass diese ihr das mit ihrer Schwester nicht verzeihen und sie dafür erledigen wollen. Öhm, auch dass sollten wir sehr ernstnehmen, Messieursdames. Einzeln sind die schon sehr mächtig. Im Rudel sind sie wohl eine Urgewalt aus allen Elementarkräften.“
„Gut, das müssen wir Ihnen wohl glauben“, bestätigte Barbara Latierre, bevor Boris Charlier was dazu sagen konnte. Der durfte sich aber freuen, dass es wenigstens klappte, die Mitglieder der Vampirsekte zurückzudrängen.
„Ach ja, wo wir schon hier zusammen sind“, sagte Gerome Lemmond, der Leiter der Sondergruppe Légion de la Lune. „Meine Amtskollegin Tessa Highdale teilte mir mit, dass es ihr gelungen sei, Verbindung mit einer Gemeinschaft namens „Kinder des freien Mondes“ aufzunehmen. Diese bitten darum, als ordentlich registrierte Lykanthropen Schutzrecht zu erhalten, gegen die Vampire, gegen die Nachtschatten, gegen die spanischsprachige Mondbruderschaft. Dafür bieten Sie Informationen über die nicht unter Fidelius-Zauber stehenden Stützpunkte außerhalb Englands und eine Liste ranghoher Mondbrüder und -schwestern. Offenbar geht denen der Hintern auf Grundeis, weil diese Neumondwölfe doch ziemlich bedrohlich sind.“
„Und, was sagen Ms. Highdale und ihr offizieller Vorgesetzter Amos Diggory?“ fragte Barbara Latierre. „Diggory ist nur bereit, diese neue Gemeinschaft anzuerkennen, wenn alle ihre Mitglieder gelistet und registriert wurden. Ob sie sich darauf einlassen müssen die noch beschließen. Da sie offenbar in einem eigenen Fidelius-bezauberten Versteck vor den blauen Mondstrahlen in Deckung liegen kann die britische Lykanthropenüberwachung sie nicht zwingen.“
Am Abend fand Julius noch eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter:
„Danke, dass ihr die Finger von der schwarzen Dame gelassen habt, die unsere Schwester um alles gebracht hat. Wir konnten sie zur Ordnung rufen und sichern, dass sie bis auf Widerruf von uns nichts mehr anstellt. Unsere Schwester ist jetzt erst mal zu mir gezogen“, hörte er Ullituhilias Stimme, die er noch von der Sache mit dem Superdibbuk Otschungu kannte. Dann sprach jene, die er unter dem Namen Loli kennengelernt hatte: „Ja, und auch wenn wir beide uns nicht umarmen können, weil unsere Tante dir ihren abstoßenden Geruch aufgeprägt hat kannst du gerne mal in meinem Unterhaltungsbetrieb vorbeikommen, falls es dir langweilig werden sollte. Sag einfach, dass du mein Vetter aus London bist. Dann gibt’s sicher Rabatt. Besito!!“ Es folgte ein auf das Mikrofon aufgeschmatzter Kuss. Dann war die Nachricht beendet.
„Selber Schmatz, Chiquitita“, grummelte Julius. Doch dann fand er zum Ernst zurück. Sie interessierten sich immer noch für ihn. Lief da auch noch ein Racheplan wegen Ilithula und Hallitti? Oder meinten die das echt ernst mit dem Burgfrieden, weil die Vereinigung der sieben Heilssterne Lahilliota aus der Dauergefangenschaft in einer riesigen Ameisenkönigin teilbefreit hatte? Das Angebot dieser besonderen Bordellbetreiberin Itoluhila alias Loli war eine einzige Frechheit. Wie kam die darauf, ihn in ihr Bordell einzuladen? Dachte die, er langweile sich? Was das anging hatte er garantiert keinen langweiligen Abend, auch wenn die zwei, mit denen er zusammenlebte gerade für wen anderes atmen, essen, trinken und zur Toilette gehen mussten.
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León del Fuego war einerseits erleichtert, andererseits verärgert, als er am Tag vor Halloween erfuhr, dass jemand die Nachtschatten besiegt hatte. Er fragte sich, ob das nicht einen Monat früher hätte geschehen können, dann hätte er noch seine stolze Hacienda. So musste er nun mit allen ehemaligen Bewohnern auf der Mondlichtungsinsel bleiben, weil die Zaubereiministerien weiterhin seine Mitstreiter jagten und nun noch mehr Freiraum hatten.
Ein Lichtblick war die Geburt seines Sohnes Victor Leonardo am 30. Oktober. Bocafina hatte zusammen mit der auf der Mondlichtungsinsel weilenden Heilerin vier Stunden gebraucht, um den kleinen Jungen ans Licht der Welt zu bringen. Doch welche Zukunft würde der kleine Junge haben? León erkannte, dass es nicht so leicht sein würde, eine neue Weltordnung zu erschaffen, wenn selbst übermächtige Feinde wie die Vampirgötzin und die Nachtschattenfürstin unterliegen konnten. Doch er wollte weitermachen, allein um zu zeigen, dass er nicht umsonst der Anführer war. Er würde es schaffen, Lunera zur Anerkennung seines Führungsanspruches zu bekommen, auch ohne Lykomeda und Alejandro. Er musste nur einen neuen Plan fassen.
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„Und ihr wollt wirklich darauf eingehen, mit diesen Verrätern und Hintertreibern zusammenzuarbeiten?“ grollte der alte Lawrence Winterborn, als Tara McRore ihm das Schreiben einer gewissen Tessa Highdale vorgelesen hatte. „Werter Mr. Nightheart, Sie und Ihre Familie können sich unserem Angebot anschließen und auf eine friedlichere Zeit hinarbeiten oder weiterhin das einsame Rudel geben, das allein gegen alle steht. An der Vereinbarung bezüglich des LNT wird sich nichts ändern.“
„Mister mich nicht, Mädchen!“ knurrte der alte Winterborn. „Wir leben seit Jahrhunderten damit, dass wir ständig von diesen Eingestaltlern gejagt werden. Jetzt, wo wir den Trank haben, können wir unser freies Leben noch besser verteidigen. Daher werden wir uns diesem schafsgleichen Einknicken vor diesen besserwisserischen Eingestaltlern nicht anschließen. Ja, und noch was: Solltet ihr das mit uns laufende Abkommen vergessen, weil diese Tessa Higghdale – mögen ihre Knochen im Mond ausbleichen – das von euch verlangt, heißt das Krieg mit den wahren Nachtsöhnen.“
„Was, du drohst mir, Lawrence Winterborn?“ entrüstete sich Tara McRore. „Denk mal daran, dass die Eingestaltler mittlerweile Geräte haben, um uns aufzuspüren. Aber gut, den Blaulichtbanditen kann es ja auch egal sein, ob ihr mit uns zusammengeht oder nicht. Wenn die finden, euch umbringen zu wollen werden die es tun. Nur mit dem Unterschied, dass wir unseren Stützpunkt gegen die Aufspürvorrichtungen abgesichert haben und ihr nicht. Aber bitte, deine Leute machen, was du willst. Wir haben abgestimmt und beschlossen, friedlich mit den Eingestaltlern umzugehen, jetzt, wo die Nachtschattenkaiserin offenbar erledigt ist und die wieder mehr Zeit haben, uns zu jagen.“
„Dann seht zu, uns nicht ins Gehege zu kommen, Tara McRore!“ knurrte Lawrence Winterborn. Danach rief er seine beiden auf Gut Glenfield Brooks wohnenden Blutsverwandten Mitch und Malcolm zu sich und befahl ihnen, mit ihm „diesen Ort der Schwachheit“ zu verlassen. Fünf Minuten später disapparierten sie außerhalb des abgesicherten Grundstückes.
Tara McRore erzählte der Gemeinschaft, dass sich die Winterborns nicht an einem Friedensabkommen beteiligen wollten und daher keinen Anspruch mehr auf Schutzrecht hatten. Das einzige, was sie noch bekamen war der Lykonemisis-Trank.
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Die Nachrichten über den Teilsieg gegen die Vampirgötzin und ihre schwarzen Ritter sowie die Massenauslöschung von Nachtschatten eilte in mehreren Wellen um die Welt. Nur die höchsten Ränge der Zaubereiverwaltung, sowie die Mitglieder geheimer Schutzorganisationen wie dem Laveau-Institut oder der Sociedad contra herencias tenebrosas y bestias peligrosas erfuhren was zum Sturz der Nachtschattenkaiserin geführt hatte. Die magische Öffentlichkeit erfuhr nur, dass es gelungen sei, die großen Feindesgruppen zurückzuschlagen und dass bis auf weiteres keine Übergriffe zu befürchten seien, die Sicherheitstruppen jedoch weiterhin wachsam bleiben würden.
Versuche, mit den Mondbrüdern und -schwestern in Verbindung zu treten scheiterten daran, dass diese sich offenbar so gut versteckt hatten, dass keine Nachricht zu ihnen hinfand. Daher galt für den MAKUSA, das kanadische und das mexikanische Zaubereiministerium weiterhin erhöhte Wachsamkeit.
Was die noch existierenden Anhänger der Vampirsekte anging schlossen sich die nordamerikanischen Zaubereiadministrationen dem Vorschlag der internationalen Zaubererweltkonföderation an, alle Vampire, die sich nicht registrieren ließen, automatisch für Todfeinde zu halten und auf Sicht zu töten. Diese politische Haltung wurde als „Kein Blut für Vampire“-Gesetz in die wieder in Kraft getretene magische Verfassung der USA aufgenommen. Demnach sollten sich alle Vampire, die registriert werden wollten, bis Dezember in den Niederlassung der Vampirerfassunggs- und -betreuungsbehörde in jeder größeren magischen Ansiedlung oder den Zaubererweltstraßen der Großstädte der USA melden. Die sogenannten Nachtbüros, weil sie erst nach Sonnenuntergang öffneten, sollten die Antragstellenden auf ihre Gesinnung und bisherige Lebensführung prüfen und ihnen dann die Registrationsarmbänder anlegen, damit sie überall zu finden waren. So machten es auch schon die Briten, die Deutschen und die Spanier. Die Franzosen sezten noch immer auf eine friedliche Koexistenz und begründeten das damit, dass es auch solche Vampire gab, die ihren Blutdurst gut unter Kontrolle hatten und daher ein gewisses Lebensrecht zuerkannt bekommen sollten, sofern sie sich registrieren ließen und Fangzahnabdrücke hinterlegten, anhand derer sie identifiziert werden konnten, wenn es doch zu Übergriffen kam. Ansonsten galt, dass nach dem ersten Dezember unregistriert gebliebene Vampire entweder in einen auf 100 Jahre festgelegten Überdauerungsschlaf einzutreten hatten oder auf Sicht erlegt werden durften.
Auf die Frage, was passierte, sollte die Vampirsekte wieder ein Mittel in Umlauf bringen, dass arglose Menschen ohne Biss zum Vampir mutieren ließ sagte Cartridges Sicherheitsadministrator Marlon Irongate: „Die vom Laveau-Institut entwickelten und von der Heilerzunft nachgezüchteten Vampirblutresonanzkristalle haben sich schon als Vampirwerdungsunterdrücker erwiesen. Sollte irgendwo eine Epidemie von Neuvampiren bekannt werden werden diese mit diesem Verfahren entweder geheilt oder exterminiert, je danach, wie weit die Vampyrogenese vorangeschritten ist.“
Um an Halloween nicht zwischen lauter als Vampiren verkleideten Feierlaunigen echte Vampire zu verstecken wurden von den residenten Heilern Feierzonen freigegeben, wo mindestens ein VBR-Kristall zur Anwendung kam.
Am Morgen des 31. Oktobers begann Roddy Krueger, der spitzzüngige Moderator von VDSR 1923 seine Sendung mit den Worten: „Hallihallo Halloween. Wir dürfen dieses Jahr mit ausdrücklich nachgemachten Vampiren in die wilde Nacht gehen. Denn überall da, wo die ganz großen Sausen summen und brummen schwingen auch gut platzierte Vampirblutresonanzkristalle mit, also die von allen Langzähnen gefürchteten Blutaufheizersteinchen, die bei zu großer Nähe einen unerlaubten Vampir kabumm gehen lassen. Wie das sich mit der Heilerethik verträgt hat sweet Klio Sweetwater ja gestern noch unsere residente Heilerin Chloe Palmer gefragt. Ja, und die Dame, die zeitgleich mit meiner geliebten Mom zu aller erst meine so treffliche Stimme zu hören bekam hat gesagt, dass Vampire nur dann noch als schützenswerte Wesen zu gelten haben, wenn sie aufhören, sich über allen anderen Wesen erhaben zu fühlen. Daher gelte es, die unbelasteten Menschen vor ihnen zu schützen. Eine Vorwarnung sollte ja schon reichen, um denen zu zeigen, wo es für sie gefährlich wird.
Ja, und solltet ihr heute beim Feiern doch einem Vampir oder einer wilden Vampirin über den Weg laufen: Knoblauch hilft dagegen. Aber dann meckert nicht, wenn euch vielleicht keiner näher als zwei Schritte an sich heranlassen will!
Jetzt schon mal ein Vorgeschmack auf die großen Superhits, die heute abend sicher auf verschiedenen Parties laufen: Old Firehat Felix und seine wilden Lassospringer mit den Geisterreitern am Himmel. Yipppieieieie!!“
„Und, mitbekommen, die Damen und der Herr Latierre?“ fragte Brittany Brocklehurst, die die ganze Zeit ihr besonderes Armband in Richtung ihres großen Wohnstubenradios gehalten hatte. „Och, joh, kennen die das Lied auch in der Zaubererwelt?“ fragte der als räumlich schwebendes Abbild sichtbare Julius Latierre. Brittany nickte. „Na dann, Britt. Wir feiern ja gleich schon. Ihr habt ja noch einen Tag vor euch“, sagte er noch. Brittany bejahte das.
ENDE des 2. Teils