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    MILLIES OMA UND ANDERE

    Claire ist nicht mehr da. Vor zehn Sonnen haben sie ihren toten Körper aus dem Steinbau geholt und in dieser roten Knallkugel aus Kraft wegtragen lassen. Dann sind alle ein paar Sonnen später nachgezogen, aber wiedergekommen, bevor die Sonne in ihrem Loch verschwunden ist, das ich bis heute noch nicht gefunden habe. Julius kam eine Sonne später zurück. Er ist unsicher, was er machen soll. Ich fühle, daß er mich braucht. Aber ich habe Junge im Bauch und will nicht, daß sie sterben, wenn ich zu ihm an der Wand entlangspringe. Aber warum kommt er dann nicht zu mir. Ich habe ihm doch immer geholfen, wenn er aufgeregt war oder Angst hatte. Außerdem kann ich ihm zeigen, welches der anderen Weibchen für ihn gut ist, damit er, wenn er in Stimmung kommt, nicht durcheinanderkommt und sich in Gefahr bringt. Ich muß wohl noch einmal zu ihm hin, aber die Jungen in mir werden immer schwerer und fangen an, sich zu bewegen. Ich muß auf sie aufpassen. Aber ich muß auch auf Julius aufpassen. Ohne mich gerät er doch immer in Gefahr. Daß Claire, die ja doch irgendwie seine Schwester war, nicht mehr da ist, macht ihm wohl Angst und macht ihn uninteressiert an anderen Weibchen. Die wollen ihn wohl auch nicht mehr haben. Die Menschen sind schon merkwürdig. Wenn einer nicht mehr lebt ist für die alles nicht mehr so wichtig wie vorher. Doch es muß doch irgendwie weitergehen. Wenn meine Jungen da sind, werde ich ihn wieder besser beschützen und ihm helfen, weiterzuleben.

    __________

    „Die Spieler sind alle in der Luft und schon zeigt sich die Haushohe Überlegenheit der Mannschaft Rot“, rief Ferrdinand Brassu mit magisch verstärkter Stimme. „Latierre am Quaffel und bekommt freie Bahn bis … Tooor! Zehn zu null für die Mannschaft des roten Saales. Ein Klatscher von Montferre, welcher auch immer, blockiert Marceau, eine Hoffnung der gelben … die sich offfenbar heute nicht erfüllen soll. Heidenreich hat den Quaffel! Gibt ab auf Latierre … Tooor!! Zwanzig zu null für die Roten. Aber die sind schon wieder hungrig, wollen innerhalb der ersten Minute schon weit davonziehen. … Na diesmal nicht so einfach.“ Millie wollte gerade den Wurf aus dem Torraum vor ihrem direkten Gegner abfangen, doch der von Lavinius Bonfils, einem bohnenstangengleichen Treiber der Gelben gespielte Klatscher zwang sie zum Abbruch des Manövers. So konnten die Gelben eine schnelle Staffette vor das Tor der Roten spielen. Doch dort war für sie erst einmal Schluß, weil eine der Montferres den Millie abdrängenden Klatscher gegen die Jäger der Gelben drosch und ihre Schwester den zweiten Klatscher so spielte, daß der zum Torwurf ansetzende Jäger fast vom Besen geschossen wurde. Dabei ging der Quaffel verloren und landete bei Brunhilde Heidenreich, die lospreschte, um das dritte Tor in der ersten Minute zu machen. Sie warf, doch Midi im Tor der Gelben war diesmal auf der Hut und prellte den Ball zurück ins Feld, wo Millie Latierre pfeilgerade zwischen den Beinen der Jägerin Arnica Dulac hindurchsauste, den Quaffel bekam und ansatzlos ins Tor beförderte.

    „Die Sache ist für die Roten in trockenen Tüchern“, meinte Hercules Moulin, nachdem Brassu den neuen Spielstand ausgerufen hatte. „Millie, Brunhilde und Apollo sind denen berghoch überlegen.“

    „Die wollen wieder auf Schnatzfang in der ersten Viertelstunde hinspielen“, vermutete Julius. „Aber das können die diesmal vergessen, wenn die sich so einmachen lassen. Kuck dir mal an wie Millie herumzirkelt!“

    „So haben die Roten im Spiel gegen die weißen auch die hundertzwanzig Punkte Vorsprung rausgespielt. Da hat den Weißen der Schnatzfang nix gebracht.“

    „Ihr habt im Sommer zu gut trainiert“, feixte Hercules an Julius‘ Adresse. „Hast du nicht mit denen zusammen gespielt?“

    „Die hätten auch ohne mich trainiert“, knurrte Julius leicht ungehalten. Die Zeit im Sonnenblumenschloß der Latierres gehörte für ihn zu den gefühlsintensivsten Tagen seines Lebens, wegen seiner Mutter, wegen Orions verfluchtem Buch, der damit zusammenhängenden Stunde mit Béatrice Latierre und nicht zu letzt wegen der aufgekommenen Schwierigkeiten mit Claire. Claire! Es war ihm doch schwerer gefallen, die Welt ohne sie als seine neue Wirklichkeit anzusehen. Zwar hatte die aus ihr und ihrer Großmutter entstandene Ammayamiria ihn eindringlich gebeten, nicht traurig zu sein. Doch hier in Beauxbatons erinnerte jedes Möbelstück an sie. Zwar hatte Professeur Faucon nach der ersten vollständigen Schulwoche verfügt, die Schüler möchten sich anders setzen, damit der leere Platz in ihrer Klasse nicht mehr so ins Auge stach. Doch wenn Julius nicht gerade vollkonzentriert an die Schularbeiten heranging oder Quidditch trainierte übermannten ihn die Erinnerungen an die schönen Zeiten, die er im letzten Jahr hatte und die doch so viel besser weitergehen sollten. Seiner Neugier verdankte er es einzig und allein, daß Claire nicht mehr bei ihm war. Doch eigentlich Schuld an ihrem körperlichen Tod waren Zauberer, die aus übergroßer Angst ihre Verwandten und sie angegriffen hatten, nur um Julius in ihre Gewalt zu bekommen, weil sie fanden, daß damit der Grund für ihre Angst, die Auswirkung irgendeiner uralten Prophezeiung, verschwinden oder gar nicht erst Wirklichkeit werden mochte.

    „Arbrenoir macht das fünfte Tor ohne Gegentreffer!“ Kommentierte Brassu. Julius nahm es zur Kenntnis, daß die Gelben diese Partie wohl ohne Punkte beenden würden.

    „Wenn die so weitermachen ist der Pokal für uns dieses Jahr nicht drin“, knurrte Hercules, dem schwante, daß die Roten in diesem Jahr besser waren als vorher.

    „So ist sport“, erwiderte Waltraud, die neben Julius in der Reihe der Spieler aus dem grünen Saal saß.

    „Sei froh, daß du bei uns mitspielen darfst“, schnaubte Hercules. Julius meinte dazu:

    „Hercules, sie hat aber recht. Wenn wir trotz Superleistungen den Pokal nicht kriegen können, bringt uns das nicht gleich um. Oder hat Professeur Faucon sowas angedeutet, Virginie?“

    „Ich fände es schon schön, wenn wir den Pokal noch mal holen, wenn ich mit der Schule fertig werde“, sagte die Kapitänin der Grünen. Hercules meinte dazu noch:

    „Ich will das echt nicht haben, daß diese roten Idioten den Pokal kriegen. Auch wenn sie da nicht mitspielt lege ich’s nicht drauf an, daß Bernie mich von oben her vollabert.“

    „Nur weil du mit der nichts mehr zu schaffen haben willst mußt du hier nicht meinen, wir würden krepieren, wenn wir den Pokal nicht holen“, warf Giscard Moureau ein, dem Hercules‘ eigentlicher Grund für die Abneigung, die Roten mit dem Pokal zu sehen sichtlich auf die Nerven ging.

    „Bernie spielt da nicht mit, Hercules“, sagte Virginie kühl. Währenddessen machten die Roten das achte Tor ohne Gegentreffer perfekt.

    „Spielen die überhaupt mit?“ Fragte Waltraud sich und die anderen, weil es so aussah, als wollten die Gelben gar nicht gewinnen.

    „Dieses Jäger-Trio ist zu gut“, sagte Giscard auf die Roten deutend.

    Die Partie llief gerade erst drei Minuten, als die Roten das vierzehnte Tor schossen. Doch als Millie ansetzte, ihr siebtes Tor der Partie zu machen, tauchte Maurice Dujardin wie ein herabstoßender Greifvogel nach unten und bekam den kleinen goldenen Ball mit vier silbernen Flügeln zu fassen, der gerade über dem Anstoßkreis dahinflitzte.

    „Ich glaube es nicht!“ Rief Hercules gegen den Jubel der Leute aus dem gelben Saal und des Stadionsprechers an. „Das gibt’s nicht wirklich!“

    „Maurice Dujardin bewahrt seine Mannschaft erneut vor einer höchst erdrückenden Niederlage und reißt das Spiel noch einmal herum!“ Kommentierte Ferdinand Brassu. „Somit gewinnt seine Mannschaft ein hoffnungslos erscheinendes Spiel mit zehn Punkten Vorsprung.“

    „Kuck es dir an, wie sie auf ihren eigenen Sucher einstürmen“, feixte Hercules, als die Roten sich zu einem immer engeren Ring um ihren neuen Sucher Laertis Brochet bildeten. Der athletisch gebaute Drittklässler mit den schwarzen Locken und den dunkelblauen Augen trug das schwere Erbe Janine Duponts und hatte heute sein zweites Spiel als Stammsucher gemacht. Doch Julius fürchtete, daß er demnächst wohl nur noch als Reservesucher eingesetzt würde, weil er schon zum zweiten Mal den Schnatzfang verpatzt hatte, weshalb die Roten nicht bereits mehr als fünfhundert Punkte Vorsprung vor allen anderen hatten. Tatsächlich sah es wohl so aus, als müßten die Spieler der roten Mannschaft ihren erfolglosen Sucher vor dem Ansturm der übrigen Saalkameraden schützen.

    „Komm, wir gratulieren den Gelben“, sagte Waltraud zu Julius. Hercules steckte noch in der Gefühlswoge fest, die ihn bei Dujardins Schnatzfang getroffen hatte. Die Roten hatten nur einhundertvierzig Punkte holen können, obwohl es für sie so eindeutig nach einem satten Punktezuwachs für die Tabelle aussah.

    Zusammen mit Virginie, Monique Lachaise und Agnes Collier stiegen Waltraud und Julius die Tribüne hinunter und trieben in der Flut der glücklichen Gelben aufs Spielfeld.

    „Den solltest du ausrangieren, Brunhilde, bevor der uns jedes Spiel versaut“, hörte er einen Sechstklässler der Roten zur Kapitänin seiner Hausmannschaft sagen. Diese antwortete:

    „Erst einmal richtig fliegen lernen und es dann besser machen!“

    „Hallo, Julius“, hörte er dann Sandrine Dumas, die mit ihren Klassenkameraden ihrer Hausmannschaft gratulieren wollte.

    „Da habt ihr aber eine tonnenschwere Sau gehabt, daß euer Sucher den Schnatz gekriegt hat“, meinte Julius zu seiner Pflegehelferkameradin.

    „Brochet war wohl abgelenkt, weil er den roten Furien beim Toreschießen zugesehen hat“, grinste Sandrine und deutete auf den Ring der Roten, die ihren Sucher abschirmten.

    „Gegen Agnes hat er aber keine Chance“, sagte Julius. „Die hat uns bis auf einmal im letzten Jahr immer den Schnatz geholt.“

    „Dann warte mal ab, ob das dieses Jahr wieder klappt“, erwiderte Sandrine verschmitzt grinsend. Maurice war ihr Lieblingsspieler, wußte er nicht erst seit seinem Wechsel nach Beauxbatons.

    „Die Jäger der Roten haben euren Hüter regelrecht überrannt, Sandrine“, sagte nun Waltraud. „Wenn ihr euch nur auf den Sucher verlaßt werdet ihr demnächst im Spielfeld verbuddelt.“

    „Von euch?“ Fragte Sandrine herausfordernd.

    „Habe ich noch nicht überlegt. Aber danke für den Tipp“, erwiderte Waltraud amüsiert. Dann konnten sie den siegreichen Spielern der gelben Mannschaft gratulieren. Sandrine stürmte gleich auf Dujardin zu, während Julius sich mit Arnica Dulac unterhielt, einer schlanken Brünetten mit hellgrauen Augen aus der fünften Klasse.

    „Nächste Woche habe ich Geburtstag und der Zehner ist dann bei mir“, sagte sie zu Julius, der als einziger seiner Mannschaft den überragenden Ganymed 10 flog. „Dann hört das auf mit der Ballwurfbude der Akademie.“

    „Dafür haben wir ’ne gescheite Sucherin“, erwiderte Julius unbeeindruckt. „Ihr hattet heute nur Glück, weil Brochet meinte, die Kiste könne auch ohne ihn zugemacht werden. Vielleicht fand er es auch anregend, daß Millie dich gefegt hat.“

    „Ich hätte sie mal eben einklemmen sollen. Aber nachher hätte ich mir das Geschnatter von den anderen Roten und meinen Leuten anhören müssen, daß ich auf Millie stehe und ihren rotblonden Flusenkopf gerne zwischen den Beinen hätte. Die bestimmt nicht.“

    „Keine Sorge, so ist die echt nicht gestrickt“, grinste Julius, der es wohl wissen mußte. Im Moment war diese Welt ohne Claire kein Problem für ihn. Er redete über Quidditch und ließ sich sogar hinreißen, über andere Mitschülerinnen zu tratschen, wenn es auch nichts nennenswertes war.Aber ihm fiel dabei wieder ein, daß Millie seit Claires körperlichem Tod ihm gegenüber zurückhaltender geworden war. Dennoch blieb er in einer gelösten Stimmung. Daß die Gelben gewonnen hatten freute ihn nämlich aus drei Gründen: Zum einen hatten die Roten durch Dujardins Schnatzfang keinen so immensen Punktezuwachs erzielt, was für den Pokalkampf sehr wichtig war. Zum zweiten empfand er es als sehr schön, wenn auch die vermeintlich unterlegenen Mannschaften gewinnen konnten, was Quidditch für ihn immer noch sympathisch machte. Zum dritten hielt ihn dieser unerwartete Sieg der Gelben von der ihn umschleichenden Trübsal ab, die immer wieder versuchte, ihn zu packen. Denn Spiele wie das gerade beendete machten die Welt um ihn interessant genug, um in ihr weiterzuleben.

    „Das weiß ich, daß Millie Latierre nicht so gestrickt ist“, sagte Arnica Dulac. Dann sah sie drei ihrer Mitbewohnerinnen auf sie zukommen. Julius gratulierte noch einmal und ging zu Horatio Lombardi, dem Kapitän der Gelben, der jedoch von einem Pulk von Mädchen aus den UTZ-Klassen umringt wurde, darunter auch einigen Weißen. Dujardin hingegen wurde von vielen Mädchen aus den Klassen zwei bis fünf angehimmelt, darunter Sandrine Dumas. So beschloß Julius, kurz zu den Roten hinüberzugehen, sofern die sich nicht belagert fühlten. Tatsächlich tauchten noch die beiden Rossignol-Zwillinge auf, die Freunde der Montferres und feixten in Richtung der rothhaarigen Zwillingsschwestern:

    „Also mit Brochet als Sucher solltet ihr die nächsten Spiele ohne Schnatz spielen, Bine und San.“

    „Das war erst sein zweites Spiel“, knurrte Sabine Montferre gereizt, während Brunhilde sich demonstrativ neben Laertis Brochet aufgebaut hatte. Millie Latierre sah Julius und zwinkerte ihm zu. Er wandte sich ihr zu und ging hinüber, wobei er fast mit ihren jüngeren Verwandten zusammenstieß, die im Geschwindschritt von der Tribüne herabgeeilt waren, als der erste Ansturm auf die Mannschaft abgeebbt war.

    „Tja, hast viele Tore geschossen, Millie“, sagte er, während Callie neben ihm stand und überlegen grinste.

    „Hätten ruhig ein paar mehr werden können“, erwiderte Mildrid und reichte ihm die Hand.

    „Den Schnatz hätte Tante Pat bestimmt besser fangen können“, lästerte Pennie Latierre. „Warum können Erstklässler nicht schon mitspielen. In Hogwarts geht sowas doch auch.“

    „Sei du mal ganz ruhig, Küken“, knurrte Laertis Brochet sehr ungehalten. „Abgesehen davon sind wir hier nich‘ in Hogwarts.“

    „Keinen Zank anfangen“, schnitt Professeur Fixus‘ Stimme wie mit einem Schwerthieb jedes weitere Wort ab. Dann deutete sie zum Palast hinüber und befahl sehr eindringlich: „Alle Schüler meines Saales umgehend in den Gemeinschaftsraum!“ Sofort war Ruhe. Die aufgebrachten Jungen und Mädchen aus dem roten Saal trollten sich wie begossene Pudel und marschierten schnurstracks zum Palast hinüber. Millie winkte Julius aus der Ferne kurz zu. Professeur Fixus ging wie ein Schäferhund die Reihen ihrer zugewiesenen Schülerinnen und Schüler entlang und bugsierte mit raschen Gesten alle Roten in die richtige Richtung.

    „Oha, das stinkt nach Standpauke“, dachte er und kehrte zu seinen eigenen Kameraden zurück.

    „Fixie ist aber ziemlich gut angenervt, oder?“ Fragte Hercules sichtlich schadenfroh. „Könnte es sein, daß sie nicht weiß, ob sie der Mannschaft nun fünfhundert Strafpunkte aufladen soll oder sie vor dem restlichen Gesocks aus dem roten Saal schützen muß?“

    „Im Gegensatz zu ihr kann ich keine Gedanken lesen“, sagte Julius barsch. Was kümmerte es ihn, ob die Roten von ihrer Saalvorsteherin runtergeputzt wurden? Aber Hercules schien jetzt wirklich gegen alle Roten was zu haben, seitdem er mit Bernadette schlußgemacht hatte. Ihn selbst beunruhigte eher, daß er jetzt viel Zeit bis zum Mittagessen hatte, die er irgendwie ausfüllen mußte. Früher hatte er sich immer mit Claire zusammengesetzt oder war mit ihr am Strand entlang gelaufen. Doch Claire war nicht mehr da. Also mußte er für sich selbst entscheiden, wo er jetzt hingehen sollte. Ihm fiel ein, daß er noch einmal mit Professeur Faucon über dieses Buch sprechen wollte, daß sich mit Ashtaria befaßte, der Schwester Lahilliotas und einer mächtigen Magierin der hellen Kräfte, welcher er, Julius, dieses Leben zu verdanken hatte. So ging er ruhig durch den Palast. Es wäre einfach gewesen, zu Professeur Faucons Büro zu wandschlüpfen. Doch er wollte die Zeit nutzen, um sich die genaue Begründung für seinen Antrag zu überlegen. Er dachte daran, daß Ashtaria ja die Schwester Lahilliotas war, daß ihre Ansichten vollkommen anders lagen und daß Ashtarias Kinder ja auch gegen die Abgrundstöchter, die von Lahilliota ohne männliches Zutun ausgebrütet worden waren kämpften, sogar bis in diese, seine zeit.

    Vor dem Büro von Professeur Faucon angekommen traf er Corinne Duisenberg, die Kapitänin und Sucherin der blauen Mannschaft. Die kleine, kugelrunde Junghexe, die dieses Jahr die ZAG-Prüfungen machen würde, sah ihn aus ihren graugrünen Augen an. Über ihre ein Jahr jüngere Tante Patrice, die zu den Pflegehelfern gehörte, hatte er auch oberflächlichen Kontakt zu ihr. Da sie obendrein Gefühle anderer Lebewesen erfassen konnte, eignete sie sich auch gut als Trainingshilfe für Occlumentie. Immerhin sollte er diese Kunst weiterlernen, jetzt erst recht.

    „Hallo, Corinne. Ist da noch jemand drin?“ Begrüßte Julius die junge Hexe, die mit ihren etwas zu kurz wirkenden Armen und Beinen nicht gerade den Eindruck großer Gewandtheit vermittelte, was jedoch ein Trugschluß war.

    „Professeur Tourrecandide ist bei ihr. Die beiden wirken nicht gerade wie welche, die zum Kaffeetrinken zusammenkommen wollen.“

    „Hat Professeur Faucon einen Klangkerker gemacht?“ Fragte Julius. Corinne nickte. Ihm juckte es in den Fingern, sein Langziehohr herauszuholen und es unter der Tür hindurch in das Büro zu schicken. Doch wo Corinne dabei war wollte er das besser nicht ausprobieren.

    „Dann gehst du rein, wenn Professeur Tourrecandide rauskommt“, meinte Julius. Corinne fragte ihn, ob sein Anliegen nicht wichtiger sei. Er meinte:

    „Ich hätte sie nur gefragt, ob ich ein bestimmtes Buch ausleihen darf. Könnte aber sein, daß sie dann nicht gerade in der Stimmung ist, mir das zu erlauben.“

    „Welches Buch?“ Fragte Corinne neugierig.

    „Och, eins über uralte Magier, die so mächtig waren, daß die Normalmenschen die für Götter gehalten haben“, sagte Julius. „Ich mache ja mit den Montferres das Referat über Vampire und andere Zauberwesen, die Leuten Lebenskraft aussaugen, namentlich Kreaturen wie Hallitti und ihre Schwestern.“

    „Und da mußt du dir eine Erlaubnis holen?“ Fragte Corinne. „Ich denke, die meisten Sachen über die sind frei zugänglich, von den Büchern abgesehen, die über die genauen Fähigkeiten dieser Biester handeln.“

    „Da brauche ich echt kein Buch mehr zu lesen, die kenne ich“, schnaubte Julius sichtlich verbittert. Dann konzentrierte er sich, um seinen Geist besser zu verschließen. Corinne sah ihn an und meinte:

    „Kann man das lernen, was du gerade machst oder kommt das wegen deiner Herkunft?“

    „Das darf ich dir nicht sagen“, erwiderte Julius leise. Corinne sah ihn etwas ungehalten an und meinte dann:

    „Ich werde dann wohl warten, bis du da wieder rauskommst. Sonst müßtest du bis zum Mittagessen warten.“

    „Ups, so heftig?“ Fragte Julius.

    „Professeur Pallas meinte, ich sollte mich mit deiner Saalvorsteherin unterhalten, wie das im Unterricht weitergehen soll. Aber das betrifft dich ja nicht sonderlich. Hast bestimmt genug eigenen Stress um die Ohren, insbesondere … na, lassen wir’s besser.“

    „Stress und Quidditch sind im Moment die einzigen Sachen, an denen ich mich gut festhalten kann, um nicht in ein tiefes Loch reinzufallen“, sagte Julius leise. Corinne nickte mitfühlend. „Immerhin möchte ich jetzt, wo das mit Claire passiert ist genug lernen, um sowas in Zukunft verhindern zu können.“

    „Gegen diesen Fluch konntest du nichts machen“, warf Corinne ein. „Wenn ich das richtig mitbekommen habe, hat sich Claires Oma mit irgendwelchen Leuten angelegt. Aber lassen wir’s wirklich besser.“

    Julius verzog das Gesicht. Jetzt sollte es Aurélie Odins Schuld sein, daß Claire nicht mehr bei ihm war? Doch er hatte ja mit den Lehrern hier das Abkommen, daß nichts von den wahren Gründen für Claires Tod ans Licht kommen sollte.

    „Ich denke, ich gehe besser so in die Bibliothek und lese mich für Bellart noch etwas in Materiebeeinflussungszaubern schlau.“

    „Du machst Witze, Julius. Mit denen bist du doch schon supergut dabei, sagt meine kleine Tante. Sie hat mir das mit eurer Übung mit gleich warm bleibenden Behältern erzählt.“

    „Gibt noch so einiges, wovon ich mir mehr anlesen muß“, sagte Julius. Er wollte gerade auf dem Absatz kehrt machen, als die Tür zu Professeur Faucons Sprechzimmer aufging und die Inhaberin desselben zusammen mit einer erhaben auftretenden Hexe mit weißblonden Locken heraustrat.

    „Sie kommen am besten zu uns herein, Monsieur Andrews, das betrifft durchaus auch die Angelegenheiten, mit denen Sie in den letzten Monaten konfrontiert wurden“, schnarrte Professeur Faucon und machte eine unumstößlich fordernde Geste von ihm in ihr Sprechzimmer hinein. Er nickte und winkte Corinne kurz zu, die ihm zunickte und sich auf einen der bereitstehenden Wartestühle setzte, wobei ihre Füße nun mehrere Zentimeter über dem Boden hingen.

    „Mademoiselle Duisenberg, ich weiß, Sie wurden von meiner Kollegin Professeur Pallas instruiert, mich aufzusuchen. Es könnte mit Ihrem Schulkameraden etwas länger dauern. Daher bitte ich Sie, sich in einer Stunde wieder hier einzufinden und bis dahin den Vormittag sinnvoller als mit Warten zu verbringen“, sagte Professeur Faucon zu Corinne. Diese nickte erneut, stand wieder auf und winkte Julius kurz zu, bevor sie den Gang entlanglief und um die nächste Biegung verschwand. Julius betrat nun das Sprechzimmer.

    Als die Tür geschlossen und ein neuer Klangkerker errichtet worden war, begrüßte Julius Professeur Faucon und ihre Vorgängerin und Lehrerin, die heute das sonnengelbe Rüschenkleid trug, das sie im letzten Schuljahr als Mitglied der Prüfer getragen hatte.

    „Setzen Sie sich bitte hin, Monsieur Andrews“, übernahm Professeur Tourrecandide das Kommando. „Es trifft sich sehr gut, Sie nicht auffällig herzitieren zu müssen.“

    „Um was geht es bitte?“ Fragte er vorsichtig. Professeur Faucon, die im Moment ebenso unterwürfig wirkte wie Julius, sagte leise:

    „Es geht um die Affäre, die zum tragischen Verlust von Mademoiselle Claire Dusoleil führte.“

    „Das ist doch alles bekannt“, sagte Julius voreilig, bevor der warnende Blick Professeur Tourrecandides ihm verdeutlichte, daß sie wohl mehr mitbekommen hatte als das, was allen anderen bekanntgemacht worden war. Eher aus Reflex als beabsichtigt wendete er seine antrainierten Occlumentiekünste an, weil die wesentlich ältere Lehrerin den Blickkontakt mit ihm suchte.

    „Junger Mann“, setzte Professeur Tourrecandide sehr bedrohlich klingend an, „ich bin durchaus darüber orientiert, daß es sich bei dem angewandten Blutrachefluch, der wohl auf Madame Odin gelegt wurde, um die Reaktion auf etwas handelt, in das Sie mehr oder weniger aktiv verwickelt waren. Da wir, also die Liga gegen die destruktiven Formen der Magie, nach jener unrühmlichen Angelegenheit, der Ihr Vater zum Opfer fiel beschlossen haben, nicht mehr auf ministerielle Verlautbarungen und / oder Ersuchen und Bitten zu reagieren, sondern uns von ministeriellen Institutionen noch freier und ungebundener zu betätigen, sehe ich als führendes Mitglied der französischen Sektion keinen dringenden Bedarf, dem Zaubereiminister Bericht zu erstatten, was mir und anderen Mitgliedern über teilweise sehr verschlungene Pfade zugetragen wurde. – Wagen Sie es jetzt ja nicht, alles als pure Gerüchte abzutun! Die mir zufließenden Informationen stammen aus sehr zuverlässiger Quelle. Dieser Information nach drangen Sie mit Hilfe eines für eine frühere Angelegenheit auf Sie abgestimmten Intrakulums in eine geheime Niederlassung der orientalischen Zaubererbruderschaft blauer Morgenstern ein, wo Ihnen offenbart wurde, daß bisherige Erlebnisse und Aktionen Ihrerseits indizierten, Sie seien ein seit sehr langer Zeit per prädiktionem angekündigter Erbe alten Wissens jener von vielen als mythisch bezeichneten Herrscherin des alten Reiches. Mir kam ebenso zu Ohren, daß Sie als dieser Erbe bestätigt wurden, worauf einige Mitglieder jener besagten Bruderschaft in Angst gerieten, weitere Details jener uralten Vorhersage mögen eintreten, die ein wahrhaft apokalyptisches Szenario beschreiben, sobald der Erbe wahrhaftig erschienen sei. Sie mußten fliehen, um nicht in angeblich bester Absicht in lebenslänglichem Gewahrsam jener Zaubererbruderschaft zu verbleiben, worauf man Madame Odin heimsuchte und sie entführte. Ab da fehlt mir jedes weitere Detail. Also bitte schildern Sie mir, was sich genau zugetragen hat!“

    „Ja, daß ich durch den Corpores-Dedicata-Zauber mit Claire verbunden war und sie und mich dieser Fluch genauso getroffen hat wie alle anderen weiblichen Blutsverwandten Madame Odins“, sagte Julius sehr schnell. Wut und Verlustschmerz machten ihn sichtlich aggressiv. Wieso wußte diese Hexe da vor ihm mehr als alle wissen durften?

    „Vorsicht, junger Mann, mich zu verärgern wagen nur einfältige Hexen und Zauberer, und ich habe nicht den mindesten Eindruck, Sie zu diesen Leuten rechnen zu müssen“, sagte Professeur Tourrecandide mit unmißverständlich warnendem Unterton. Sie sah Julius sehr drohend an und straffte sich wie vor einem Kampf. Professeur Faucon sah Julius an und sagte ihm ruhig:

    „Sie wird es Minister Grandchapeau nicht weitersagen, Monsieur Andrews. Berichten Sie ihr bitte, was Sie erlebt haben, und zwar alles!“

    „Auch auf die Gefahr hin, daß Madame Maxime und Sie dann vielleicht doch …?“ Fragte Julius. Seine Hauslehrerin nickte energisch. So atmete er tief durch, dachte einige Sekunden seine Selbstbeherrschungsformel, wobei er den Blick der altehrwürdigen Austère Tourrecandide mied und berichtete dann in allen ihm wichtigen Einzelheiten von seinem bisher heftigsten Abenteuer, das mit Gregorians Bild begann und mit seiner Rückkehr aus dem astralenergetischen Körper Ashtarias endete. Nur die Blumenwiese, auf die Claire ihn kurz vor der Verschmelzung mit ihrer ebenfalls körperlos gewordenen Großmutter geführt hatte ließ er aus, da ihm das doch zu privat war, um einer Vertreterin der Liga gegen die dunklen Künste erzählt zu werden. Diese hörte sich ruhig an, was Julius von sich aus erzählte. Als Julius damit seinen Bericht beendet hatte fragte Professeur Tourrecandide:

    „Dieses Artefakt Ashtarias, ging es in dieser mächtigen Beschwörung auf oder blieb es erhalten?“

    „Es blieb erhalten“, sagte Julius ruhig. „Ich habe es Madame Odins Erben weitergereicht.“

    „Was heißt, daß Ashtaria gegebenenfalls erneut beschworen werden kann“, vermutete die Hexe im gelben Rüschenkleid. Julius nickte. „Das ist sehr beruhigend zu wissen, daß Ashtarias Erbe nicht verlorenging. Sie haben mir natürlich nicht erzählt, was aus Madame Odin und Mademoiselle Dusoleil geworden ist, junger Mann. Das brauchen Sie auch nicht, weil ich weiß, daß die Zweiseelenzeugung eine der großen Gaben Ashtarias war, um geliebte Angehörige und Freunde nach dem Tode zu einem mächtigeren Dasein sowohl in der für uns unbegreiflichen Existenzform entleibter Seelen als auch in der uns umgebenden und durchdringenden physischen Welt zu verhelfen. Insofern gehe ich stark davon aus, daß sie Ihrer Verlobten und ihrer Großmutter ein solches Geschenk machte, bevor Sie im Vollbesitz ihrer Stofflichkeit Ashtarias transvitalen Körper verlassen konnten. Das erklärt Ihre Gefaßtheit während der Beisetzung Mademoiselle Dusoleils. Nur wer genau weiß, daß eine geliebte Person gut aufgehoben ist kann sich derartig ruhig, ja Gelöst von der sterblichen Hülle dieses geliebten Mitmenschen verabschieden.“

    „Woher wollen Sie das wissen, Professeur? Waren Sie dabei? Ich habe Sie da nicht gesehen“, entfuhr es Julius ärgerlich. Dann sah er Professeur Faucon an, die sehr tadelnd zurückblickte und sagte:

    „Von mir hat sie es nicht erfahren.“

    „Wäre auch sehr anmaßend gewesen, jemanden wie einen Spion zu beauftragen. Sie konnten mich nicht sehen, weil ich der Veranstaltung unter einem Tarnumhang beiwohnte“, sagte Professeur Tourrecandide. Sowohl Julius als auch Professeur Faucon verzogen das Gesicht, wagten jedoch nicht, irgendwas zu sagen. „Das erachtete ich als legitim, also angebracht und richtig, da ich zunächst vermutete, jemand, der für Madame Odins und Mademoiselle Dusoleils Tod verantwortlich sei würde sich erdreisten, dieser Zusammenkunft beizuwohnen oder entsende jemanden, der durch den Abwehrdom um Millemerveilles dringen konnte. Ich mußte auch davon ausgehen, daß die Angelegenheit von Minister Grandchapeau persönlich ins Rollen gebracht wurde. Wie gesagt sind wir von der Liga nach jener unglückseligen Affäre um Ihren Vater sehr mißtrauisch geworden, was amtierende Zaubereiminister angeht.“

    „Glauben Sie nicht, daß es unverschämt ist, sich bei einer Beerdigungsfeier einzuschleichen, um nach dem Mörder zu suchen?“ Fragte Julius. „Immerhin treten Muggelpolizisten, die genau das vermuten, daß der oder die Mörder von jemandem, der beerdigt wird hingeht und sich das ganze sozusagen als Bestätigung für seinen oder ihren erfolg reinzieht.“

    „Ich bin ein wenig zu bekannt, um einfach unter den Trauergästen zu sitzen und wie nebenbei mitzuverfolgen, worüber gesprochen wird oder ob jemand verdächtiges unter den Anwesenden ist“, rechtfertigte Professeur Tourrecandide ihr Vorgehen. Julius ärgerte sich über diese kaltschnäuzigkeit. Andererseits hatte er mehr oder weniger gezielt das Gespräch von Ammayamiria abgelenkt. Professeur Faucon sagte dazu noch:

    „Sie dürfen es dem Jungen nicht verübeln, daß er sich nun unrechtmäßig ausgekundschaftet fühlen muß, nachdem Sie ihn nun zu alledem, was seine Verwicklung in diese tragische Angelegenheit angeht vernommen haben. Ich entsinne mich gut, daß Sie seinerzeit ähnlich ungehalten reagierten, als Sie zu dem Verlust Ihres Bruders befragt und ausgekundschaftet wurden.“

    „Blanche, das mußte jetzt nicht sein“, schnaubte Professeur Tourrecandide sichtlich verärgert. Dann atmete sie tief ein und aus und sagte wesentlich ruhiger zu Julius: „Ich verstehe, daß Sie sich nun verdächtigt fühlen mußten, am Tod, beziehungsweise der Entkörperung Ihrer Verlobten schuldig zu sein und natürlich nicht froh darüber sind, daß ich Sie derartig befragt habe. Aber Sie besitzen die Intelligenz, zu erkennen, daß meine Vorgehensweise, so unverschämt Sie Ihnen anmuten muß, notwendig war, um aufgekommene Fragen, die uns alle betreffen mögen, eindeutig zu Klären. Ich versichere Ihnen, daß unsererseits keine weiteren Ermittlungen mehr gegen Sie stattfinden werden, nun, wo ich alles von Ihnen erfahren habe, was dazu nötig war.“

    „Ui, soll mich das jetzt beruhigen?“ Fragte Julius sarkastisch. „Wer Immer Ihnen das erzählt hat, ich hätte was mit Claires Tod zu tun könnte es auch anderen stecken, dem Minister zum Beispiel oder anderen, echt fiesen zeitgenossen. Wundere mich jetzt echt, daß das nicht in der Zeitung stand.“

    „Ist schon in Ordnung, Monsieur Andrews“, versuchte Professeur Faucon, den Jungen zu beruhigen, der es offenbar darauf anlegte, sich mit Professeur Tourrecandide anzulegen. Diese sah ihn mit steinerner Miene an und sagte kühl:

    „Ich kann Ihren Unmut sehr wohl verstehen, Monsieur Andrews. Ich kann Sie aber dahingehend beruhigen, daß wir, also die Liga gegen die destruktiven Formen der Magie, keine Ambitionen haben, derartig brisante Dinge der Presse zugänglich zu machen oder das Privatleben von Flüchen oder anderen Erscheinungsformen böswilliger Zauberei betroffener Hexen und Zauberer zum Gegenstand öffentlichen Geredes zu machen. Auch wird Minister Grandchapeau von uns nicht informiert, solange es keinen Anlaß gibt, daß Ihre Erlebnisse das Allgemeinwohl der französischen Zaubererwelt gefährden. Denn auf Grund einer bisher nur ansatzweise eingetretenen Prophezeiung mit vagen Andeutungen Alarm zu schlagen würde eine unnötige Panik erzeugen, Sie endgültig zu einer Person öffentlicher Spekulationen machen und uns der Gefahr aussetzen, zu paranoiden Phantasten erklärt zu werden, weil wir uralten Hirngespinsten mehr Beachtung schenken als erwiesenen Tatsachen. Ich weiß, ähnlich mag auch der ehemalige Zaubereiminister der vereinigten Staaten Nordamerikas argumentiert haben. Doch ihm waren genug Hinweise bekannt, die auf das Wirken jener Kreatur hindeuteten, der Ihr Vater zum Opfer fiel und damit eine Serie brutaler Morde beginnen konnte. Wir würden sofort reagieren, wenn genug Hinweise vorlägen, daß jemand mit böswilligen Absichten oder durch böswilligen Zauber hervorgebracht und angetrieben die Welt heimsucht. Deshalb mußte ich es hier und jetzt klären, was an den Behauptungen dran sei, die sonst sehr ehrbaren Brüder des blauen Morgensterns hätten Madame Odin mit jenem verachtenswürdigen Fluch belegt und damit ihren so wie den Tod all ihrer weiblichen Blutsverwandten in Kauf genommen.“

    „Sie halten mich für intelligent, sowas zu kapieren“, erwiderte Julius nun sehr kühl. „Sicher verstehe ich das, wenn irgendwo erzählt wird, daß da was ganz heftiges im Gange war, daß dem nachgegangen werden muß, damit das, was meinem Vater passiert ist, nicht noch mal passiert. Nur wie Sie und Ihre Kollegen das machen finde ich nicht gerade mitfühlend. Aber offenbar muß ich das ganze als rein logisch richtig ansehen, damit ich mich nicht andauernd drüber aufrege, wenn jemand heimlich hinter wem herforscht, ob ich das bin oder sonst wer. Solange der Zweck die Mittel heiligt ist alles richtig, was das richtige Ergebnis bringt.“

    „Wie gesagt verstehe ich Ihren Unmut, Monsieur Andrews. Gerade deswegen möchte ich mich bei Ihnen bedanken, daß Sie mir behilflich waren, die ausstehenden Fragen zu klären“, sagte Professeur Tourrecandide.

    „Moment, Professeur, Sie sprachen von den Artefakten Ashtarias, als wüßten Sie, wer alles welche hat. Stimmt das?“

    „Nun, wir wissen, daß es in der Welt einige Hexen oder Zauberer mit solchen Gegenständen gibt. Ich hörte sogar, daß jemand in der Muggelwelt einen solchen Gegenstand besessen haben soll, jedoch bei einem Unfall mit einem dieser Motorwagen umkam. Insofern können wir nicht mit sicherheit sagen, ob es nur ein Gerücht war oder Tatsache.“

    „Moment, ein Muggel hat einen dieser Gegenstände gehabt? Dann muß der doch gefunden worden sein. Soviel ich mitgekriegt habe wurden diese Artefakte doch unzerstörbar gemacht, daß sie weder eingeschmolzen, noch verbrannt noch von Säure zersetzt oder zerschlagen werden können.“

    „Oh, natürlich“, knurrte Professeur Tourrecandide, während Professeur Faucon Julius zunickte. „Dann wäre es entweder wirklich nur ein Gerücht gewesen oder jemand hat diesen Gegenstand nach dem tödlichen Unfall an sich genommen, was wiederum bedeuten würde, daß dieses Unglück absichtlich herbeigeführt wurde, um entweder diese Person zu töten und / oder den besagten Gegenstand zu rauben.“

    „Es gäbe da sogar noch eine andere Möglichkeit“, dachte Julius bei sich und mied Professeur Tourrecandides Blick. Laut sagte er nur: „Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß ein Muggel so einen Gegenstand hatte. Entweder hätte das dann sonst keiner mitgekriegt oder die Zaubererwelt wäre in heller Aufregung gewesen, wenn so ein mächtiger Gegenstand bei einem Nichtmagier gewirkt hätte.“

    „Wie dem auch sei, Monsieur Andrews, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wir wissen, daß es diese Artefakte gibt und kennen einige Personen, in deren Besitz sie sind. Sie wissen ja, daß diese Gegenstände nur in den Händen oder am Körper derer wirken, für die sie durch Blutsverwandtschaft und selbstlose Liebe der Erblasser bestimmt sind. Deshalb sagte ich, daß es gut ist, daß dieses Erbe weiterbesteht.“

    „In meinen Händen hat Madame Odins Heilsstern aber auch gewirkt“, warf Julius ein.

    „Durch den Corpores-Dedicata-Zauber“, erwiderte Professeur Tourrecandide. „Dann kam noch die Aura Darxandrias dazu, mit der Sie wohl nun versehen sind. Ashtaria war wohl eine ihrer direkten, wenngleich über mehrere Generationen entfernten Nachkommen. Aber das wissen Sie doch bereits.“ Sie sah Julius sehr ungehalten an, als wolle sie ihn gleich wegen irgendwas maßregeln. Julius wich ihrem Blick aus und konzentrierte sich darauf, sein Bewußtsein von allen Gedanken zu entleeren.

    „Er hat lediglich bemerkt, daß es auch Ausnahmen dieser Grundregel gibt“, sprang Professeur Faucon ihrem Schüler bei. Dann fragte sie noch, ob Julius noch länger befragt werden solle. professeur Tourrecandide verneinte es und antwortete noch, daß sie sein Geheimnis nicht an die Öffentlichkeit weiterreichen würde und er sich keine Sorgen machen müsse, weiterhin beobachtet zu werden, solange er nicht von sich aus einen Anlaß dazu liefere. Julius sagte dazu nur:

    „Danke für den Hinweis, professeur Tourrecandide.“ Danach verabschiedete er sich von den beiden Hexen und verließ das Sprechzimmer. Er fühlte sich nicht sonderlich beruhigt, ja spürte einen gewissen Ärger in sich kochen. Dieses Interview hatte alles wieder hochgespült, was er gerade als abgehakt und bedauerlich in seinem Gedächtnis ablegen wollte. Er ärgerte sich über diese Dreistigkeit der Erwachsenen, alles als richtig und notwendig hinzustellen, was andere traurig oder wütend machte. Andererseits war er in einigen Punkten nicht viel besser, ja schon gut auf diese Art zu leben eingestimmt, weil er es als notwendig angesehen hatte, Sachen für sich zu behalten, über die er doch so gerne mit anderen gesprochen hätte. Wenn der Zweck die Mittel heiligte, dann war es doch egal, ob es jemandem weh tat oder ihn wütend machte, oder? Wenn man ein Leben opferte, um tausende zu retten, dann war das doch gerechtfertigt, eine ganz rationale Transaktion oder sowas. Andererseits konnte er sich der dahinterstehenden Logik nicht verschließen, daß bestimmte Dinge im verborgenen ablaufen mußten, um einen verheerenden Schaden von allen anderen abzuwenden. Er selbst hatte das ja bei seinem ersten Ausflug in die Bilderwelt nicht anders gesehen, hätte dafür ja sein eigenes Leben geopfert, um Voldemort daran zu hindern, durch Slytherins Galerie des Grauens mehr Macht zu gewinnen. Also, warum regte er sich jetzt über Professeur Tourrecandide auf? An und für sich nur deshalb, weil sie ihn heimlich beobachtet hatte, ob er anständig trauerte oder ob er nicht im Grunde froh darüber war, Claire los zu werden. Ja, daß sie ihm bei der Beisetzungsfeier nicht ganz offen entgegengetreten war und mit ihm das Gespräch gesucht hatte, das ärgerte ihn. Sie hatte ihn beobachtet, ohne daß er das mitkriegen konnte, ihn wie einen Bazillus unter dem Mikroskop untersucht, wie er sich bewegte und was er so anstellte, ohne daß er davon was mitbekam. Nicht nur ihn hatte sie so ausgeforscht, sondern Claires Eltern, Schwestern und Freunde, die ganzen Schüler der Akademie inklusive den Lehrern. Wenn Professeur Faucon das für richtig hielt, so heimlich beobachtet zu werden. Ihn ärgerte es, daß er zu einem großen Kreis der Verdächtigen gehört hatte, ohne darauf hingewiesen zu werden, daß man gegen ihn ermittelte. Doch das, so erkannte er, lag ja nur daran, daß er trotz Ammayamirias und anderer guten Zusprachen immer noch daran glaubte, Claires körperlicher Tod sei nur wegen seiner Neugier passiert.

    „Ey, renn mich nicht um!“ Knurrte jemand vor Julius. Er war so tief in Gedanken gewesen, daß er Laertis Brochet nicht gesehen hatte, der zusammen mit Brunhilde Heidenreich aus einem Seitengang vor ihm auftauchte.

    „‚tschuldigung!“ Versetzte Julius nur und blieb stehen, damit die beiden vorbeigehen konnten. Im Gesicht des glücklosen Suchers der Roten konnte Julius eine große Anspannung erkennen. Offenbar hatte Brochet arge probleme, weil er den Schnatz nicht geholt hatte.

    „Kuck besser hin, wo du langläufst!“ Knurrte Laertis.

    „Das gilt auch für dich“, entgegnete Julius. „Siehst so aus, als wäre wer hinter dir her.“

    „Ey, geht dich nix an“, knurrte Laertis. Brunhilde räusperte sich und wandte sich Julius zu:

    „Nimm’s ihm nicht zu übel, Julius. Das Dujardin ihm den Schnatz weggefangen hat hat ihn bei unseren nichtsportlichen Kameraden nicht gerade beliebt gemacht. Aber wir kriegen das hin, wenn wir gegen die Blauen spielen.“

    „Das ist dem doch recht, wenn ich den Schnatz nicht krich“, fauchte Laertis Brochet und rückte an, um weiterzugehen. Brunhilde folgte ihm ohne weiteres Wort. Julius dachte sich, daß es schon stimmte, daß die Grünen es schön fänden, wenn der Sucher der Roten nie den Schnatz fing und damit 150 Punkte weniger pro Spiel abräumte. Außerdem wußte er nicht, wie der neue Sucher jetzt in seinem Saal angeschrieben war. Vielleicht hatte er sogar geglaubt, durch das Spiel in der Mannschaft mehr Sympathiepunkte bei seinen Leuten sammeln zu können und hatte bisher danebengelegen. Doch es stimmte auch, daß ihn das nicht betraf. Er hatte genug andere Sachen um die Ohren, so daß er sich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute reinhängen mußte.

    er ging in die Bibliothek, wo er das lesen wollte, worüber er mit Corinne Duisenberg gesprochen hatte. Er sah die Montferre-Schwestern, die gerade leise aber angeregt mit Madame D’argent diskutierten. Als Sabine ihn sah winkte sie ihm zu, er solle herüberkommen.

    „Hallo, ihr beiden“, sagte er leise. Madame D’argent sah ihn sehr mißbilligend an. Er dachte zunächst, ihr gefile es nicht, daß er sie nicht gegrüßt habe und holte es sofort nach. Doch der Ausdruck großen Mißfallens wollte nicht aus ihrem Gesicht weichen.

    „Könnte es sein, daß Sie die beiden Damen hier angestiftet haben, mich wegen des Buches über Ashtaria anzusprechen?“ Fragte die Bibliothekarin.

    „Och, sucht ihr das?“ Fragte Julius erheitert. „Das kriegt ihr doch bestimmt, wo ihr schon volljährig seid.“

    „Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Monsieur“, knurrte die Hüterin der vielen Bücher hier.

    „Wir müssen dafür eine schriftliche Ausleihempfehlung von Professeur Faucon haben“,sagte Sabine Montferre.

    „Ich habe den beiden nichts über das Buch gesagt“, sagte Julius ruhig. „Wäre aber schon schön, wenn wir daraus was für unser Referat lesen könnten.“

    „Die Regeln sind eindeutig“, sagte die Bibliothekarin. „Diese Schriften darf nur einsehen, wer eine Ausleihempfehlung von Professeur Faucon hat. Und diese werden Sie wohl nicht kriegen.“

    „Sie ist im Moment in ihrem Sprechzimmer“, sagte Julius. „Ich könnte sie mal eben fragen.“

    „Ich denke, Sie werden diese Erlaubnis nicht erhalten“, beharrte Madame D’argent auf ihrer Meinung.

    „Wir kommen mit“, sagte Sandra Montferre. Julius nickte. Vielleicht gelang es den beiden Schwestern, die Ausleihgenehmigung zu kriegen. Dann konnte er sich was daraus abschreiben und vor allem etwas mehr über jene überragende Magierin lernen, deren überirdische Daseinsform ihm das Leben wiedergegeben hatte und die Mutter Ammayamirias war.

    Mit den Montferres machte er sich auf den Weg zurück ins Sprechzimmer seiner Saalvorsteherin. Unterwegs fragte er sie, wie sie auf die Idee gekommen waren, sich über Ashtaria zu informieren.

    „Maman hat das uns gesagt, als wir bei Claires … Abschiedsfeier waren“, sagte Sabine. „sie hat mal irgendwas gehört, Madame Odin habe mit Leuten zu tun gehabt, die diese Ashtaria erforschten, die eine Schwester Lahilliotas gewesen sein soll. Daß wir da in ein solches Wespennest stechen, haben wir nicht gewußt.“

    „Was für’n Wespennest?“ Fragte Julius, den dieses Wort unangenehm an das alte Sanderson-Haus erinnerte.

    „Das es wohl einiges darüber gibt, was aber längst nicht jeder wissen soll“, erwiderte Sabine. Julius konnte sich denken, daß da was dran war.

    Professeur Faucon war zwar noch in ihrem Sprechzimmer, aber das Schild an ihrer Tür zeigte an, daß sie im Moment nicht gestört werden wollte

    „Corinne ist wohl drin. Die habe ich vorhin gesehen, als ich schon mal hier war, auch wegen dieses Buches“, flüsterte Julius.

    „Dann warten wir hier“, sagte Sabine.

    „Hmm, Corinne hat mir gesagt, bei ihr würde es wohl länger dauern“, antwortete Julius.

    „Dann gehen wir wieder zurück in die Bib und reden drüber, was wir alles haben. Madame Maxime wollte uns ja noch mitteilen, wann wir genau dran sind. Aber zunächst kommt ja Millie mit ihren Zwergenvortrag.“

    „Stimmt, nachdem wir die Hauselfen jetzt durchhaben“, erinnerte sich Julius, daß sie in der Zauberwesen-AG nun wesentlich selbständigere Zauberwwesen besprechen würden.

    „Na, da bin ich ja mal gespannt“, sagte Sandra dazu.

    Unterwegs zurück zur Bibliothek begegneten sie Klassenkameraden der Montferres, die sichtlich verbittert waren. Als sie Julius sahen blieben sie wie angewurzelt stehen und schienen nicht mehr zu wissen, was sie machen sollten. Julius kam es vor, als habe jemand sie mit einem Bewegungsbann belegt, bis einer von ihnen den Mund bewegte und leise sagte:

    „Habt ihr es von dem Quidditchspiel heute morgen? War der größte Mist, den Brunhilde sich da geleistet hat, Brochet reinzunehmen.“

    „Beschwer dich bei Brunhilde“, erwiderte Sabine trocken. „Wir werden jetzt keinen Krach innerhalb der Mannschaft anfangen.“

    „Klärt ihr das gerade mit Andrews, ob der den Pokal noch mal halten darf?“

    „Warum sollten wir das vorher abklären?“ Fragte Sandra, während Julius da stand wie zum Kampf bereit. „Wenn wir gegen die grünen Spielen klären wir das, nicht vorher, oder meint ihr, wir hätten die Sache schon ausgemacht?“

    „Für uns sah das heute morgen so aus, Sannie“, erwiderte der zweite Bursche aus Sabines und Sandras Klasse.

    „Mädels, bevor hier noch der Eindruck entsteht, ihr würdet mit uns den Pokal auskungeln …“, setzte Julius an. Sabine griff ihn am Arm und hielt ihn so davon ab, sich davonzumachen. Dann sagte sie:

    „Ihr beiden habt es echt nötig euch zu beschweren. Könnt gerade auf einem Besen sitzen und mosert über die Mannschaft. Wir halten unsere Knochen hin, damit ihr was zum feiern kriegt, auch wenn das nicht immer so klappt wie ihr das wollt. Daß Brochet heute langsamer war als Dujardin ist Pech, aber kein Weltuntergang. Gegen die Blauen kriegen wir alle möglichen Punkte zusammen.“

    „Klar, wo dein Süßer im Moment nicht fliegen darf“, grinste ihr Klassenkamerad feist.

    „Das klären wir später“, knurrte Sabine doch nun verärgert. Dann sagte ihre Schwester noch:

    „Wenn ihr auch in die Bib wollt, dann sollten wir weitergehen, andernfalls bis später.“

    „Wir müssen noch Sachen für Fixie zusammenschreiben, damit wir die nächste Stunde nicht dumm aussehen. Bis später, Mädels!“ Die beiden Jungen schoben ab.

    „Und der Pokal bleibt grün“, knurrte Julius verächtlich hinterher. Sabine lachte darüber nur und meinte:

    „Barbara ist nicht mehr bei euch, und Monique muß sich noch gut anstrengen, um sie zu ersetzen. Da kommst du dann auch mit dem Zehner nicht weiter, wenn unsere Jäger die Tore schießen. Aber wir wollten uns bestimmt nicht über das Endspiel unterhalten.“Julius sah das ein. Was die Mannschaften wert waren würde sich ja dann zeigen, wenn sie gegeneinander spielten.

    In der Bibliothek wollten sie sich in den kleinen Leseraum zurückziehen. Doch dort saßen bereits Millie, Sandrine und Belisama, Julius‘ Pflegehelferkameradinnen. Eine Sekunde stand er da und meinte zu träumen. Für einen winzigen Augenblick sah er sich auf jener weiten Blumenwiese, die Claire ihm vor ihrer Wiedergeburt als Ammayamiria gezeigt hatte. Doch dann kehrte sein Verstand in die Wirklichkeit zurück. Das mochte was mit der morgen stattfindenden Pflegehelferkonferenz zu tun haben, und die drei aus unterschiedlichen Häusern stammenden Mädchen wollten sich darauf vorbereiten.

    „‚tschuldigung, braucht ihr den Raum noch lange?“ Fragte Sandra. Mildrid sah Sandrine und Belisama an. Dann schüttelten die drei ihre Köpfe und standen auf.

    „Wir sind hier fertig“, sagte Millie und winkte ihren Kameradinnen. „Man sieht sich dann morgen, Julius“, wandte sie sich noch an ihn und verließ den Raum. Als Belisama die Tür von außen geschlossen hatte setzten sich die Montferre-Schwestern und Julius und besprachen das anstehende Doppelreferat über Vampire und die Abgrundstöchter. Julius hätte zu gerne noch eingebracht, was er über Ashtaria wußte, wollte jedoch selber nicht, daß die beiden Montferres zu viele Fragen stellten, woher er das alles wußte.

    „Also, dieser riesige Krug hat geleuchtet, als Hallitti mit euch in der Höhle war“, erinnerte Sabine sich daran, was Julius schon einmal erzählt hatte. Er nickte und beschrieb noch einmal den an die zwei Meter hohen Metallkrug, der erst rötlich und dann hell golden erstrahlt war.

    „Hast du irgendwie mitbekommen, wie dieses Geschöpf die Höhle gebaut hat? Ich meine, hat sie dir das erzählt?“ Wollte Sandra wissen.

    „Nein, hat sie nicht“, sagte Julius. „Der ging’s nur drum, meinen Vater loszuwerden und mich an seiner Stelle zu haben. Aber ich möchte nicht ständig darüber reden, nur dann, wenn ich das ganze vor den anderen noch einmal ausbreiten soll“, sagte er ruhig, wenngleich in ihm die Gefühle Karussell fuhren, weil die Begegnung mit Hallitti ihm Wut, Angst, bedingungsloses Verlangen, Wollust und Abscheu bereitet hatte, ja und auch Trauer, weil sein Vater dieser Kreatur zum Opfer gefallen war und damit sein ganzes Leben verpfuscht wurde, ganz zu schweigen von den brutalen Morden, die er im Bann dieser Bestie verübt hatte. Sabine und Sandra sahen das ein, wußten sie ja, daß er durch dieses Zusammentreffen eine Zeit lang Probleme mit rothaarigen Frauen gehabt hatte. Warum er die jetzt nicht mehr hatte erklärten sie sich damit, daß er durch die Zeit im Schloß der Latierres jeden Tag mit ihnen zu tun gehabt hatte.

    „Als ich mich über die Dunkelmondler schlau gelesen habe, hat mir die D’argent noch einen Zeitungsartikel empfohlen, der von dem wahrscheinlichen Tod eines Hirudazo aus Spanien handelte. Dem Artikel nach habe dieser Vampir sich zusammen mit seinen Artgenossen eine Schlacht mit einem Zauberer in Andalusien geliefert, bei dem dessen Behausung abgebrannt sein sollte. Das spanische Zaubereiministerium war jedoch nur mit den Sachen herausgerückt, die von jedermann nachgeprüft werden konnten, wie der abgebrannten Ruine der Burg, die von einem Graben voll magisch im Fluß gehaltenem Wasser umfaßt wurde. Offenbar war dieser Typ, Espinado, auf einen Angriff von Vampiren eingerichtet. Aber wie es dann zu dem Feuer gekommen war wollen die nicht rauslassen“, sagte Sabine, als sie Julius den Zeitungsartikel zum nachlesen zeigte.

    „Wahrscheinlich haben die Vampire was gedreht, daß der Wasserkreislauf unterbrochen wurde. Da soll’s ein Pulver zur sofortigen Vereisung von Gewässern geben, hat Bernadette in der vorletzten Alchemie-AG erzählt“, erwähnte Julius. Sabine nickte.

    „Na klar, wenn dieser Hirudazo wußte, daß Espinado seine Burg mit einem Graben voll fließendem Wasser umgeben hat … Das Bernie nicht nur Zaubertrankbücher frißt ist ja hinlänglich bekannt.“

    „Kennt ihr diese Hellmondvampire, die Madame Maxime einladen will?“ Fragte Julius.

    „Können die Sangazons sein, die vor fünfzig Jahren schon einmal in Beaux gewesen sein sollen“, sprach Sandra eine Vermutung aus. Ihre Schwester nickte beipflichtend. Julius fragte, ob die beiden mehr über diese Vampire wußten. Sabine berichtete:

    „So viel ich nachlesen konnte sind diese beiden Hellmondler seit wohl einhundert Jahren Vampire. Éclipsian hat seine Gefährtin, die vorher Lucille hieß durch die sogenannte Vampirhochzeit zu einer Artgenossin gemacht. Sie heißt seit dem Voixdellalune, weil sie den Berichten nach sehr schön singen kann und zu ihrer Zeit als Menschenfrau eine Opernsängerin gewesen sein soll. Gerüchte wollen wissen, daß sie zu den üblichen Vampirkräften mit ihrer Stimme eindringliche Befehle erteilen kann, die so stark wirken wie Imperius.“

    „Oh, wenn die dann zu uns kommt sollten wir uns also vor ihrer Stimme in Acht nehmen“, vermutete Julius.

    „Wäre schon sehr heftig, wenn sie uns damit kommt. Dann wären nämlich alle abnehmbaren Schutzartefakte wertlos, wenn sie uns befehlen könnte, sie einfach abzulegen. Im Grunde ist das ähnlich wie bei den Sabberhexen. Aber über die kriegen wir ja dann was von denen, die sich damit beschäftigen sollten“, sagte Sandra.

    „Im Zweifel müßte der Sonovacuus-Zauber helfen“, sagte Julius. „Nur wie der geht haben wir bei Bellart noch nicht gelernt, weil der einer der UTZ-Zauber ist.“

    „Wie, den wollten die dich noch nicht lernen lassen?“ Wunderte sich Sabine. „Dann sollten wir dir den beibringen, falls diese Voixdelalune uns wirklich mit ihrem Gesang betören will.“

    „Ich weiß nicht, ob ihr das dürft“, wandte Julius ein. Sandra meinte dazu:

    „Wir sind doch in der Zauberkunst-AG. Du lernst doch da eh schon alles mögliche, was ihr in der vierten Klasse noch nicht im Unterricht kriegt. Hast du Zeit?“

    „Im Moment habe ich nichts anderes zu tun“, sagte Julius.“Gut, dann versuchen wir mal, ob du den Sonovacuus-Zauber auch schon bringen kannst“, sagte Sabine. „Aber hier drinnen dürfen wir ja nicht zaubern, so die Schulregel. Weißt du einen Ort, wo so schnell keiner hinkommen wird, einen für alle erreichbaren abschließbaren Raum?“

    „ja, weiß ich“, sagte Julius und erwähnte den Pavillon im östlichen Park. Wehmütig dachte er daran, daß er sich dort mit Claire ausgesprochen und dann mit ihr den Corpores-Dedicata-Zauber gewirkt hatte. Er setzte schon an, den Vorschlag zurückzunehmen, doch ihm fiel ein, daß die beiden Schwestern ja nicht wissen konnten, was an diesem Ort so für ihn wichtiges passiert war. Außerdem würden vielleicht andere Paare diesen Ort als ihren Pavillon ausgewählt haben oder das noch tun. So sagte er nichts und folgte den beiden rothaarigen Schwestern aus der Bibliothek und übernahm vor dem Palast die Führung, bis sie den Ostpark erreicht hatten und den kleinen, runden Pavillon vor sich hatten. Julius überwand die Wehmut, die ihn zu überwältigen versuchte und führte die beiden hinein.

    „Ach, neh, in dem hat Martine sich damals zum ersten Mal mit Eddie getroffen“, meinte Sandra grinsend. „Ich weiß das, weil Bine und ich einen Lauf durch den park gemacht haben und Eddie ziemlich rot an den Ohren aus dem pavillon rausgeguckt hat. Martine meinte danach, wir sollten ja niemandem was sagen, weil Eddies Eltern wohl was zu meckern hätten, wenn er sich mit einer von uns einließe. Na ja, hat ja eh nicht bis zum Ende durchgehalten, euer Mogeleddie.“

    „Echt, der hat sich mit Martine hier getroffen?“ Fragte Julius, der unvermittelt von bedröppelt zu sehr amüsiert wechselte. Also war dieser Pavillon ein ganz hundsordinärer Bau, in dem sich alle Nase lang junge Paare trafen. Aber daß Claire und er ausgerechnet den Pavillon für ihre magische Verlobung benutzt hatten, den Martine und Edmond Danton benutzt hatten war schon komisch.

    „In Ordnung, Sandra und Julius. Hier kommt um diese Jahreszeit wohl keiner Mehr für irgendwelche Plauderstunden her. Fangen wir also mit den Übungen an!“ Julius holte Pergament und Schreibzeug hervor, was er eigentlich für Notizen aus dem Buch über Ashtaria verwenden wollte und schrieb sich kurz die Grundlagen des Zaubers auf, denen nach zwei kreisförmige Zauberstabbewegungen gemacht werden mußten, eine waagerecht und eine senkrecht.

    „Also, da du uns allen ja immer wieder gezeigt hast, daß du mit den nonverbalen Zaubern keine Probleme mehr hast, kriegst du die Auflösung des Zaubers bestimmt nach dem zweiten Ansatz hin“, sagte Sabine. Sandra nickte beipflichtend. „Die Tücke des Sonovacuus-Zaubers ist ja, daß er, sobald er aufgerufen wurde, jedes Geräusch von innen und außen auslöscht. Du wirst das Gefühl haben, absolut taub zu sein, selbst den eigenen Herzschlag und das Rauschen deines Blutes kannst du nicht mehr hören, wenn du selbst den Zauber aufrufst. Du mußt dann erst aus dem bezauberten Bereich herausgehen. Anders ist es, wenn du nicht der Auslöser bist und von außen hineingehst. Dann hörst du die in dir selbst erzeugten Geräusche als einziges um dich herum. Das hat uns Professeur Bellart lang und breit erklärt, weil es schon vorkam, daß Schüler, die Sonovacuus Ausprobiert haben in Panik gerieten, weil sie wirklich nichts mehr gehört haben.“

    „Und was ist mit mir, wenn ich aus dem bezauberten Raum rausgehe und wieder reinkomme?“ Fragte Julius. „Höre ich dann wieder absolut nichts?“

    „Wenn du den Zauber aufgerufen hast ja“, antwortete Sabine, die wohl gerade die Rolle der Aushilfslehrerin übernommen hatte. Sandra hörte nur ruhig zu.

    „Danke für die Warnung“, sagte Julius. Dann sprach er die beiden wichtigen Formeln vor, die zum Aufbau und Abbau des Sonovacuus-Zaubers benötigt wurden und machte die Gesten ohne Zauberstab. Als er zwanzigmal die beiden Formeln laut vorgesprochen hatte, befand Sabine, er möge jetzt ausprobieren, ob er den zauber anwenden könne. Er holte seinen Zauberstab hervor und vollführte erst eine waagerechte Kreisbewegung im Uhrzeigersinn, wobei er „Totus Sonitus devoratus!“ Rief, den ersten der beiden Teile der Formel. Dann vollführte er eine über seinem Kopf ansetzende Senkrechtkreisbewegung gegen den Uhrzeigersinn und rief: „Hic Vacuum sonitorum!“ Schlagartig verstummte jedes Geräusch. Nicht einmal ein Echo des letzten Zauberwortes drang noch zu ihm durch. Totenstille, ja mehr als diese, umgab und erfüllte ihn. Er öffnete den Mund und formte die Worte „Sabine“ und „Sandra“. Doch er fühlte nur wie sein Kehlkopf vibrierte. Die Worte selber hörte er nicht. Tatsächlich hatte ihn eine solche Stille erfaßt, die er nie zuvor im Leben erfahren hatte. Er hörte nicht das ganz leise Rauschen seines Blutes, das er in stillen Nächten durch seine Ohren strömen hören konnte, auch das sachte Pochen seines Herzens, das er wohl schon seit dem es zu schlagen begonnen hatte bei totaler Stille hatte hören können war verschwunden. Die leise Musik seines lebenden Körpers, die ihn ständig begleitet hatte, war verstummt. Er fühlte eine leichte Beklommenheit in sich aufsteigen. Was wenn er diesen Zauber nicht wieder aufheben konnte? Doch er brauchte dazu doch nur aus dem Pavillon hinauszugehen. Anders als bei einem Klangkerker würde der Zauber wirken, auch wenn die Türe des damit erfüllten Raumes geöffnet und wieder geschlossen wurde, bis der, der ihn aufgerufen hatte oder jemand noch zaubermächtigeres ihn wieder aufhob. Er machte einen Schritt nach vorne, stampfte mit dem rechten Fuß auf. Doch er fühlte nur den harten Widerstand des Bodens in seinem Fuß und sah ihn aufsetzen. Der totale Stummfilm, dreidimensional, mit Geruchseindrücken und in Farbe, dachte Julius. Dann besann er sich darauf, daß er den Zauber auch wieder aufheben wollte. So vollführte er schnell eine unten ansetzende Senkrechtkreisbewegung im Uhrzeigersinn, wobei er „Reinflatos Sonitos“ dachte, um dann fast übergangslos eine gegen den Uhrzeigersinn verlaufende Waagerechtkreisbewegung des Zauberstabes anzuknüpfen, bei der er konzentriert „Hic totus sonabilis sonato“ dachte. Doch es geschah nichts. Kein Ton drang an seine Ohren. Wenn das stimmte, was er gelernt hatte mußte der Zauber sofort verfliegen, wenn die zweiteilige Formel und Zauberstabführung beendet war. Er vollführte noch einmal die Aufhebungsbewegungen und dachte noch konzentrierter die Gegenformeln. Diesmal schaffte er es, die in ihm selbst erzeugten Geräusche wieder zu hören. Doch als er mit dem Fuß aufstamfte hörte er nur ein dumpfes Pong, das irgendwo aus ihm selbst zu kommen wirkte. Er öffnete den Mund und gab einen Ton von sich. Doch er hörte ihn so, als habe er sich die Ohren verstopft und könne ihn nur im eigenen Kopf hören. Noch einmal versuchte er die Gegenformel und die Zauberstabbewegungen. Als er zum dritten Mal „Hic totus sonabilis sonato!“ dachte, brach ein Höllenlärm über ihn herein. Zumindest dachte er es in der ersten Sekunde, als schrilles Vogelgeschrei, laut wummernde Basstrommeln und dampfkesselartige Zischlaute an seine Ohren drangen. Dann ebbten diese Geräusche ab und wurden zum hier üblichen Klanggefüge der hier noch zwitschernden Vögel und entfernter Stimmen.

    „Immerhin nach dem dritten Mal“, kommentierte Sabine den Ausgang des versuchs. „Bei deinem zweiten Aufhebungsversuch habe ich mein Herz wie eine meterdicke Basstrommel gehört und fast zu atmen aufgehört, weil das so laut war wie ein Wasserfall.“

    „Also, ich muß an dem noch arbeiten, wenn wir den gegen diese Madame Voixdelalune anwenden wollen. Andererseits könnten wir die doch auch mit dem Sprechbann oder dem Silencius-Zauber stummschalten“, wandte Julius ein, der über den Ausgang des ersten Versuches nicht sonderlich begeistert war.

    „Vampire sind gegen den Sprechbann immun und können alle nicht mit Licht wechselwirkenden physikalischen Zauber, die direkt gegen sie gerichtet werden wie verbrauchte Luft ausatmen. Da gehen nur direkte Flüche der bekannten Sorten oder die Schutzzauber“, sagte Sandra.

    „Dann könnte die uns glatt fertigmachen“, sagte Julius.

    „Kinder, ich denke nicht, daß Madame Maxime zuläßt, daß eine besonders begabte Vampirin in ihrer Schule machen kann was sie will“, sagte Sandra sehr überzeugt.

    „Sicher, Maman“, erwiderte ihre Schwester frech. Dann fragte sie Julius, ob er noch eine weitere Runde mit dem Sonovacuus-zauber ausprobieren wolle. Er nickte. Wenn er den konnte, hatte er einen mehr drauf, den er womöglich einmal benutzen konnte. So rief er ihn auf, was reibungslos klappte und schaffte es nach zehn Sekunden Stille im zweiten Annlauf, ihn aufzuheben. Diesmal stürzte kein Höllenlärm auf ihn ein, als die Geräusche wieder ungeschluckt zu ihm durchdrangen.

    „Na bitte, geht doch schon besser“, sagte Sabine. Da öffnete sich die Pavillontür, und Professeur Tourrecandide trat ein.

    „Verleiten Sie den jungen Mann hier zum Übermut, Mesdemoiselles?“ Fragte sie leicht ungehalten. Sabine und Sandra erröteten so sehr, daß ihre Gesichter fast die Farbe ihrer Haare annahmen. Julius sah die frühere Lehrerin von Professeur Faucon leicht verlegen an und meinte:

    „Die beiden Damen haben mir erzählt, im Rahmen unserer Zauberwesen-AG könnten wir mit einer Vampirin bekannt gemacht werden, die mit ihrer Stimme Macht über Menschen ausübt, wie Saruman oder die Sirenen aus der Odysseus-Sage. Da habe ich sie gebeten, mir den geräuschlosen Raum zu erklären und zu helfen, ihn zu errichten.“

    „Nehmen Sie immer die Schuld für alles um sich herum auf sich, Monsieur Andrews?“ Fragte Professeur Tourrecandide ungehalten. Nun errötete Julius ebenfalls. Dann meinte er:

    „Die beiden haben mich nicht dazu gedrängt, den zu lernen. Ich wollte das, und sie haben mir geholfen.“

    „Ich fürchte, das Talent, Fragen zu beantworten, ohne die auf die Frage erwartete Antwort zu geben haben Sie wohl sehr gut verinnerlicht. Aber lassen wir es. Sie haben diesen Zauber erfolgreich aufgerufen. Andernfalls hätten Sie hören müssen, wie ich nach Ihnen gerufen habe. Sowas mag ich nicht, wenn ich meine Stimme über die Maßen belasten muß, Mesdemoiselles et Monsieur. Also führen Sie ihn mir noch einmal vor!“

    „Öhm, dürfen Sie sowas befehlen?“ Fragte Sabine leicht verunsichert.

    „Möchten Sie lieber eine Meldung an Ihre Saalvorsteherin und eventuelle Strafpunkte erhalten?“ Fragte Professeur Tourrecandide. Dann wandte sie sich zu Julius hin und sagte noch: „Ich weiß, daß Sie vieles nonverbal zaubern können. Ich bitte Sie darum, mir vorzuführen, wie rasch Sie Ihnen bis dahin fremde Zauber verinnerlichen und anwenden können.“

    Julius nickte und vollführte die beiden nötigen Bewegungen für den geräuschlosen Raum, wobei er die zweiteilige Aufrufformel sprach. Sofort war wieder absolute Stille um ihn und in ihm. Nach ungefähr zehn Sekunden schaffte er es wieder im zweiten Ansatz, den bezauberten Raum zu entzaubern.

    „Sie kennen den räumlichen Widerstand, Monsieur Andrews. In dem fall gilt, je bei verdoppelung des Rauminhalts verachtfacht sich die aufzuwendende Kraft zur Errichtung und Zerstreuung des Zaubers“, dozierte professeur Tourrecandide. „Insofern wäre ein Besenschrank vielleicht für den Anfang günstiger gewesen als dieser Pavillon. Andererseits finde ich es immer noch sehr erstaunlich, was Sie lernen können, wenn man Ihnen die Gelegenheiten dazu an die Hand gibt, Monsieur Andrews. – Aber ich kam nicht zu Ihnen, um Ihnen fortgeschrittene Zauberkunst zu erläutern. Dafür ist meine Kollegin Bellart zuständig. Mir ging wohl der Besen durch, hier an diesem Ort wieder etwas wissenswertes und lebenspraktisches zu vermitteln. Warum ich eigentlich zu Ihnen wollte, Monsieur Andrews: Sie baten mich vor einiger Zeit um Hilfe zur Vorbereitung eines Referates über die neun, öhm, acht Töchter des Abgrunds. Falls Sie möchten, können wir uns nach dem Mittagessen in Professeur Faucons Sprechzimmer weiter darüber unterhalten, sofern die beiden jungen Damen beabsichtigen, Ihnen weitere Zauber über ZAG-Niveau beizubringen, sofern sie ungefährlich und sittlich einwandfrei sind.“

    „Woher wußten Sie, wo Julius ist?“ Fragte Sandra. Die ehemalige Lehrerin deutete zur Antwort auf Julius‘ rechtes Handgelenk. Er zog reflexartig den blaßblauen Ärmel seines Umhangs zurück und entblößte das Pflegehelferarmband. Er nickte. Natürlich konnte jeder, der ihn suchte und dazu befugt war Schwester Florence fragen, wo er war.

    „Ich denke, das mit dem geräuschlosen Raum haben wir jetzt weit genug geübt“, sagte Sabine Montferre. „Oder wissen Sie noch einen wirksamen Zauber gegen Voixdelaalune Sangazon?“

    „Nun, falls Madame Maxime sie tatsächlich für ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe einläd und keine unmittelbare Gefahr für sie besteht wird Mademoiselle Lucille Gaspard ihre erworbene Begabung nicht gegen Sie verwenden“, knurrte Professeur Tourrecandide überaus mißmutig. Julius überkam der Eindruck, daß diese altgediente Hexe nicht gut auf die Vampirin zu sprechen war.

    „Öhm, kannten Sie diese Frau, bevor sie eine Vampirin wurde?“ Fragte er vorwitzig. Professeur Tourrecandide funkelte ihn an, atmete hörbar ein und aus und schnaubte dann:

    „Ja, sehr gut, und wenn Sie sie wahrhaftig zu sehen bekommen sollten … aber lassen wir das. Über unbehebbare Fehler zu lamentieren ist reine Zeitverschwendung. Ich gehe davon aus, Sie möchten ausgiebig mittagessen. Ich bitte meine Kollegin Professeur Faucon darum, daß Sie um drei Uhr nachmittag mit mir in ihrem Sprechzimmer über das sprechen können, was Sie nicht durch eigene Erfahrungen herausbekommen haben. Einen schönen Tag noch, die Damen!““

    Als Professeur Tourrecandide den Pavillon verlassen hatte flüsterte Sandra:

    „Also ist doch mehr dran an dem Gerücht. Bine, das wird bestimmt interessant, wenn die Sangazons uns besuchen kommen.“

    „Solange wir dabei nicht selbst zu Vampiren werden“, knurrte Sabine.

    „Das wäre wohl nicht im Sinne Madame Maximes“, erwiderte Julius sehr betreten. Jetzt, wo Claire innerhalb der Akademie ihr körperliches Dasein verloren hatte würde Madame Maxime sehr genau darauf achten, daß sich ähnlich tragische Vorfälle in den nächsten Jahren, bestenfalls bis zum Ende ihrer Dienstzeit, nicht wiederholen mochten. Sandra Montferre schien seine Gedanken erfaßt zu haben, weil sie ihm sehr bestimmt zunickte und ergänzte:

    „Könnte sogar sein, daß die Sache mit den Vampiren nur theoretisch behandelt wird, Bine. Die große Madame wird nach dieser Blutrachefluch-Sache wohl kein Risiko mehr eingehen, daß irgendwem von uns noch was passiert, bevor er oder sie nicht aus der Schule raus ist und die gute, alte Maman Beauxbatons ihn nicht mehr umsorgen muß.“

    „Wäre eigentlich schade, wenn das Zauberwesenseminar nur noch ein Debattierclub ist, nachdem wir Corrie und Servatio als Gesprächspartner hatten“, sagte Sabine. Dann schlug sie vor, sie mögen nun zum Mittagessen gehen. Julius fragte noch, ob man mit dem Sonovacuus-Zauber nicht die Auswirkung von Heulern abwehren konnte. Sabine grinste und antwortete:

    „Das haben schon viele gedacht. Blöd nur, daß die Lautverstärkungsmagie eines Heulers den geräuschlosen Raum aufhebt. Das klingt erst wie ein lauter Piepton, habe ich mal gelesen, und dann kommt die ganze Lärmerei des Heulers trotzdem bei allen an, und der Sonovacuus-Zauber ist aufgehoben. Außerdem müßtest du vor dem Öffnen eines Heulers einen ganzen Raum bezaubern, was ja durch die Raumwiderstandsregel immer schwerer geht, wie Professeur Tourrecandide erzählt hat. Vergiss es also, den Zauber im Speisesaal zu bringen, wenn du einen Heuler kriegst! Würde sich echt nicht lohnen.“ Julius nickte. So mußte er sich was anderes Ausdenken, um eine Heulerabwehr oder Heulerfalle zu bauen, um die gefürchteten Schimpfbriefe zu entschärfen oder wirkungslos verpuffen zu lassen. Er stimmte dann zu, daß sie nun zum Mittagessen gehen mögen.

    Nachmittags um drei fand sich Julius alleine vor dem Sprechzimmer Professeur Faucons ein. Die Leiterin des grünen Saales winkte ihn herein, als er nach dem ordentlichen Anklopfen die Tür öffnen durfte. Professeur Tourrecandide saß bereits an dem freigeräumten Schreibtisch, auf dem eine große Kanne und drei Teegedecke bereitstanden.

    „Ich errichte einen abschließenden Wandschirm, innerhalb dessen ein Klangkerker errichtet werden kann, damit ich meine Termine wahrnehmen kann“, sagte professeur Faucon und beschwor eine zerbrechlich wirkende spanische Wand herauf, die vom Boden bis zur Decke reichte und durch einen Stubser mit dem Zauberstab mit den Wänden abschloss. professeur Tourrecandide errichtete einen Klangkerker, der tatsächlich den vom Wandschirm umgrenzten Raum erfüllte und mehr nicht. Dann bat sie Julius, Schreibzeug herauszuholen, worauf er seine Flotte-Schreibefeder und mehrere Pergamentbögen bereitmachte.

    „Ich war zugegebenermaßen skeptisch, daß meine amtierende Nachfolgerin hier in der Akademie es anregte, Sie möchten einem Vertreter der Zaubererweltpresse ausführlich berichten, was Ihnen widerfahren ist. Andererseits zeigte sich ja, daß jene femininen Monstren, die im allgemeinen „die Töchter des Abgrunds“ genannt werden, durchaus kein Mythos und auch kein längst vergangenes Ungemach sind“, begann sie zu sprechen. „Leider, so stelle ich auch in meinem relativen Ruhestand fest, neigen viele ehemalige Besucher und Besucherinnen der Beauxbatons-Akademie dazu, das hier gelernte zu verdrängen, sobald sie in einen trügerisch ruhigen Alltag mit beruflichen und familiären Verbindlichkeiten eingetreten sind. Insofern war Ihre öffentliche Stellungnahme sicherlich gerechtfertigt, zumal es ja schon wilde Gerüchte gab. Ich erfuhr ja aus erster Hand, was Sie während dieser Konfrontation und davor erfahren haben. Da Sie jetzt auch mit der anderen Seite dieser sehr alten Geschichte zu tun bekamen, und meine Kollegin erwähnte, Sie würden im Zauberwesenseminar Madame Maximes dazu einen Vortrag halten, erklärte ich mich einverstanden, Ihnen noch mehr zu diesen Unwesen zu vermitteln, allerdings nur jenes, was Sie vor anderen Mitschülern preisgeben dürfen. Wie ich Ihnen ja während Ihrer gesonderten Jahresendprüfung erläuterte, sind einige sehr sensible Informationen nicht für den Schulunterricht geeignet. Was ich Ihnen aber durchaus weitergeben kann, daß sind die bisherigen Auftritte jener Geschöpfe, was dabei für Charaktereigenschaften nachgewiesen werden konnten und wo sie bisher am häufigsten auftraten. Sicherlich haben Sie auch darüber gelesen, daß die unrühmliche Matriarchin Sardonia einst selbst gegen eine von diesen Kreaturen angegangen ist und ihre beiden Kinder an dieses Geschöpf verloren hat.“

    Julius überlegte. Dann nickte er. Das stand in dem Buch, das Catherine ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Demnach, so bestätigte er der altgedienten Expertin für Verteidigung gegen die dunklen Künste, habe Sardonia mit einem Zauberer namens Cyrus zwei Kinder gehabt, einen Sohn namens Mauro und eine Tochter namens Antigone.

    „Soweit alles wie authentisch belegt, Monsieur Andrews“, bestätigte Professeur Tourrecandide. „Ja, und als Sardonia in ihrem Größenwahn daran ging, sich die alten Abgrundsschwestern Untertan zu machen, kam es zu einem lange schwehlenden Kampf mit der in Frankreich hausenden Ilithula, der sogenannten Tochter des schwarzen Windes. Diese näherte sich Mauro und unterwarf ihn sich auf die Ihnen leider zu bekannte Weise und zehrte ihn langsam bis zum Tode aus, was für Sardonia eine unhinnehmbare Schmach war. Als dann noch ihre Tochter, die versucht hatte, diese Kreatur zu vernichten, von ihr mit einem hochgradig vergifteten Messer niedergestochen wurde und im Angesicht des Todes ihren Geist aus dem Körper löste, bevor Ilithula ihr die Seele entreißen konnte, kam es zur Entscheidungsschlacht 1639, wobei Ilithula gegen den damals schon bestehenden Abwehrdom um Millemerveilles anrannte und sich zu sehr erschöpfte und von Sardonia in den Ihnen ebenso bekannten langen Schlaf versetzt werden konnte. Allerdings währte dieser Schlaf wohl gerade ein Jahrhundert. Denn so weit mir heute bekannt ist hat sich Ilitula Ende des 18. Jahrhunderts wieder unter den Menschen neue Opfer gesucht und sich dabei in Richtung arabische Halbinsel zurückgezogen. Dort soll sie wohl ab und an von sich hören lassen, auch wenn die Bruderschaft des blauen Morgensterns darum bemüht ist, ihre neue Zuflucht ausfindig zu machen und ihr den Garaus zu machen. Leider wurden diese Anstrengungen von heftigen Rückschlägen überschattet.“ Dann erwähnte Professeur Tourrecandide noch die zweite wache Schwester, die Itoluhila heiße und als Tochter des schwarzen Wassers bekannt sei. Julius erinnerte sich, kurz über sie in dem Buch aus der Bibliothek des Laveau-Institutes gelesen zu haben. Sie galt als sehr behutsam vorgehende der neun und sei daher nicht in den magischen Tiefschlaf versetzt worden, weil sie sich zwischen ihren Beutezügen immer viele Jahre Zeit ließ oder ihre Unterworfenen, von denen solche Wesen durchaus mehr als einen haben konnten, sehr sachte ausgezehrt habe, ja diese wie Woll- oder Milchvieh kultiviert habe, immer genug, um sie nicht zu schwächen Lebensenergie von ihnen einverleibte. So sprach sie noch über das, was im Mittelalter über die übrigen sechs jetzt noch schlafenden bekannt wurde und endete damit, daß die Letzgeborene von Ihnen wohl übermächtig sei, weil sie die unermeßlichen Tiefen des Kosmos und der menschlichen Seele manipulieren und dadurch über große Entfernungen wirken konnte.

    „Weiß man, wo sie schläft?“ Wollte Julius wissen.

    „Man weiß das ungefähr und ist froh, daß kein Mensch mit unweckbarer Zauberkraft nahe genug an sie herankommen kann“, sagte die ehemalige Fachlehrerin. „Einige, wohl solche, die Kontakt zu den Unheilsgeschöpfen hatten, behaupteten, die älteren Schwestern hätten ihre Kräfte gebündelt, um die übermächtige jüngste Schwester zu überwältigen und in den langen Schlaf zu versenken, da diese danach trachtete, sich die Kräfte ihrer Schwestern anzueignen. Man kann sogar behaupten, diese letzte der neun ist das einzige, wovor die anderen eine gewisse Angst haben. Deshalb verrate ich dir besser nicht den Namen dieser Kreatur. Denn sollte jemand außerhalb der Akademie, der nicht als Experte wider die bösartigen Formen der Magie ausgebildet wurde, mit einer der nun noch wandelnden Abgrundstöchter konfrontiert werden und diesen Namen im Gedächtnis haben, könnte ihm das sehr schlecht bekommen. Auch wird behauptet, dieses letzte der Unheilsgeschöpfe aus dem Schoß Lahilliotas könne von selbst erwachen, wenn genug lebendige Menschen ihren Namen kennen. Daher können Sie sich sicher vorstellen, daß die noch wachen oder nicht ganz so übermächtigen Monstren jeden umbringen, der den wahren Namen dieser letztgeborenen Bestie kennt.“

    „Wenn ich dieses Dämonenweib nicht selbst getroffen und mitgekriegt hätte, was die anrichten kann, würde ich das jetzt für die Grundlage eines Horrorfilms halten“, erwiderte Julius zwischen Beklommenheit und Belustigung.

    „Mir ist bekannt, daß Muggel diese merkwürdige Freude an Angst- und Schreckensfiktionen umtreibt“, knurrte Professeur Tourrecandide. „Als ob die Welt, in der sie leben nicht schon mit Schreckensnachrichten überfrachtet sei. Aber wie Sie sagten, diese Kreaturen sind kein Ausbund einer Phantasie, die darauf abzielt, geneigten Zuhörern oder Lesern das blanke Entsetzen einzujagen. Deshalb hoffe ich, Ihnen für Ihren Vortrag genug nützliches Hintergrundwissen mitgegeben zu haben.“ Julius nickte ihr zu und sortierte die von der magischen Feder mitgeschriebenen Notizen. Dann tranken sie beide noch von dem Tee, den Professeur Tourrecandide gekocht hatte und sprachen, weil der Klangkerker ja noch hielt, über die Eindrücke, die Julius von den Morgensternbrüdern, der alten Festung oder der Erscheinung Darxandrias gehabt hatte. Er fragte sie einmal, ob sie glaube, daß er wieder von der alten Herrscherin träumen würde. Sie meinte dazu nur:

    „Nun, das Objekt, welches Sie als Zeichen der Erbschaft erhalten konnten, wird nur dann seinen Verwendungszweck erfüllen, wenn Ihnen von irgendwoher eine Unterweisung erteilt werden mag, wie Sie es benutzen sollen. Was diese Stadt angeht, die Sie durch das Intrakulum erreichen konnten, so mutmaße ich genau wie Sie, daß es eine natürliche Vorlage von ihr gab. Allerdings bin ich mit den Berichten über das alte Reich nicht so gut vertraut, zumal vieles auf unzulänglichen Berichten basiert, deren Wahrheitsgehalt mit äußerster Vorsicht zu genießen ist. Es ist aber wohl keine Fehlinformation, daß es auf der Welt beinahe vergessene Gegenstände geben mag, die ihren Besitzern große Macht einbringen mögen. So hoffen wir darauf, daß keiner dieser Gegenstände in die Hände macht- und zerstörungssüchtiger Hexen und Zauberer gerät.“

    „So Leuten wie Voldemort oder diesen Hexen, die mich aus Hallittis Höhle geholt haben?“ Fragte Julius. Professeur Tourrecandide verzog das Gesicht. Dann mußte sie nicken.

    „Genau diese Sorte Zeitgenossen meine ich.“

    Als Professeur Tourrecandide den Wandschirm verschwinden ließ waren anderthalb Stunden vergangen. Julius hatte mehrere Bögen Pergament mit Notizen zusammenbekommen und bedankte sich noch einmal artig für diese weiterführende Information. Immerhin hatte er noch einmal bestätigt bekommen, daß Lahilliota eine ältere Schwester hatte, die nicht wie sie nach Macht über Lebende trachtete, sondern Macht zum Schutz des Lebens angehäuft und sieben ordentlich gezeugte Kinder zur Welt gebracht hatte, deren Namen jedoch keiner mehr kannte. Aus diesem zusammengetragenen Wissen galt es nun einen zwanzigminütigen Vortrag zusammenzufassen, was bestimmt nicht leicht war.

    Abends unterhielt er sich mit den Jungs aus seiner Klasse noch einmal über das Quidditchspiel vom Vormittag. Sie waren sich darüber einig, daß Brochet wohl aus irgendeiner Gefälligkeit Sucher der Roten geworden war. Julius warf sogar ein, daß Laertis mit Brunhilde geschlafen haben mochte, um den Platz in der Mannschaft zu kriegen.

    „Ey, glaub mir, Julius, wenn der gegen Corinne Duisenberg auch den Schnatz verpaßt gibt das Ärger mit den anderen aus dem roten Saal, und dann könnte das rauskommen, ob Laertis was mit der Heidenreich angefangen hat oder nicht“, sagte Hercules Moulin.

    „Ihr seid doch durchgeknallt, allesamt“, grummelte Gaston, dem das Gerede über Brochet zu blöd war. „Was interessiert euch, wen die Roten in die Mannschaft holen und warum? Wenn dieser Typ andauernd pennt oder danebengreift kann euch das doch gerade recht sein, Julius und Hercules. Dann holt ihr den Pokal eben wieder vor dem letzten Spiel.“

    „Entschuldigung, Monsieur Perignon, daß wir Ihre Aufmerksamkeit durch so blödes Jungsgeschwätz beansprucht haben“, versetzte Hercules spöttisch grinsend. „Aber ich möchte schon gerne wissen, wieso wer in einer Mannschaft drin ist, gegen die ich mal spielen muß, besonders wenn’s die Roten sind, die uns als einzige richtig gefährlich werden können.“

    „Gefährlich, wie das klingt“, erwiderte Gaston verbittert. „Das ist nur ein Spiel.“

    „Beid dem du dir leicht alle Knochen brechen kannst“, konterte Hercules. Doch dann sah er es ein, daß weiteres Gerede um Brochet und ob der als Sucher noch länger zu halten war nichts einbrachte.

    Nach der Bettkontrolle kehrte rasch Ruhe im Schlafsaal der Viertklässler ein. Julius hatte das Kissen mit seinen Duftspuren auf die äußere Fensterbank gelegt. Doch Goldschweif kam in den letzten Tagen nicht mehr zu ihm. Die voranschreitende Trächtigkeit hielt sie wohl davon ab, den nicht ganz ungefährlichen Weg an der Palastwand entlang zurückzulegen. Doch Julius wollte seiner vierbeinigen Vertrauten weiterhin zeigen, daß er noch an sie dachte. Obwohl sie nüchtern betrachtet nur ein Tier mit beschränkter Auffassungsgabe war, hatte er großen Respekt vor ihren Instinkten und daraus erwachsenen Verhaltensweisen. Doch irgendwie wußte er nicht so recht, was er tun würde, wenn sie die neuen Jungen hatte und sich wieder mehr um ihn kümmern würde. Würde sie ihm wirklich eines der Mädchen aussuchen, mit dem er dann eine neue Beziehung anfangen mochte? Er wollte nicht daran denken. Das mit Claire war so einzigartig gewesen, daß er nicht so recht daran glaubte, je wieder sowas erleben zu können. Über diese leicht resignierende Vorstellung schlief er ein.

    __________

    Am nächsten Tag sprach Belisama Lagrange ihn nach der Pflegehelferkonferenz an, als nur noch sie, Sandrine und Millie in Madame Rossignols Besprechungsraum waren.

    „Gloria fragt sich, ob sie nicht mit uns Mädchen aus dem weißen Saal eine improvisierte Halloweenfeier machen könne, weil das ja doch irgendwie wichtig sei. Estelle hat dann gemeint, daß wir das hier nicht groß beachten würden und statt dessen die Walpurgisnacht feiern würden. Dann kam ich drauf, daß du ja auch mal dieses Halloweenfest gefeiert hast und ob wir das nicht saalübergreifend machen könnten, zumindest bis zehn Uhr abends.“

    „Die letzte Halloweenüberraschung, an die ich mich erinnern kann hat mir vier Tage in Belles Klamotten eingebracht“, erwiderte Julius leicht verbittert. Sicher, diese vier Tage nach Halloween waren sehr interessant gewesen und hatten ihm eine für andere Jungs unerreichbare Erfahrung beschert. Aber deshalb mit der Ministeriumstochter wie Zwillingsschwestern in weniger als zehn Schritt Entfernung zusammen herumlaufen und alles gemeinsam unternehmen zu müssen hatte ihn auch geärgert.

    „Tja, wenn das diesmal wer darauf anlegen würde müßte dieser jemand ja dann erst einmal auswählen … Na ja, du möchtest wohl auch nicht gerade ein Fest feiern, wo das mit Claire …“, erwiderte Belisama sehr betreten. Julius schluckte. Dann atmete er tief ein und aus und antwortete so gefaßt wie er konnte:

    „Belisama, ich bin mir sicher, daß Claire sofort zu mir gesagt hätte, ich solle mit dir, Gloria und was weiß ich noch wem feiern … zumal sie da bestimmt hätte mitmachen wollen, um zu erleben, wie Halloween geht. Aber eigentlich geht die Party von Sonnenuntergang bis Mitternacht, ähnlich wie Walpurgis.“

    „Ich weiß, Gloria hat bei Pallas einen kurzen Vortrag über das Fest gehalten und fünfzehn Noten- und fünfzig Bonuspunkte dafür eingefahren“, erwiderte Belisama. Sandrine fragte vorsichtig:

    „Wenn du saalübergreifend sagst, wie viele denn dann, Belisama?“

    „Öhm, wenn das eigentlich länger gehen soll als bis zehn geht’s eh nicht, oder?“

    „Och, um ein paar ausgehöhlte Kürbisse mit Kerzen vollzustellen und ein paar gruselige Schaueinlagen zu bringen reicht bis zehn doch voll aus“, warf Mildrid ein, die offenbar schon beschlossen hatte, das Fest könne stattfinden und sie wäre dann garantiert dabei.

    „Also saalübergreifend heißt ja wohl, daß wir weißen aus der vierten Klasse, weil Gloria bei uns ist Leute einladen, jeder einen, wären also höchstens zwanzig.“

    „Derlei Feste müssen dann von Madame Maxime genehmigt werden“, schaltete sich nun Madame Rossignol ein. „Ich fürchte, das könnt ihr in dieser Art vergessen.“

    „War nur eine Frage, Madame“, erwiderte Belisama abbittend. Julius meinte noch dazu:

    „Ich denke nicht, daß Madame Maxime da mitmacht. Sie hat ja in Hogwarts Halloween mitbekommen, als das trimagische Turnier losging. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie sonderlich beeindruckt war, und die Leute von Beauxbatons empfanden das wohl auch nicht als den großen Bringer.“

    „Ja, weil die nicht wegen Halloween nach Hogwarts geflogen sind“, warf Millie ein. „Wenn ich das von dem Getuschel der älteren mitbekommen habe, dann wußten die erst einmal nicht, was für ein Laden Hogwarts war, nur daß es da kälter ist als hier und daß die wohl weniger klare Vorschriften haben. Dann kamen die an und saßen in einem Raum ohne Teppiche wo ausgehöhlte Riesenkürbisse mit Kerzen drin und lebende Fledermäuse unter der Decke als Festschmuck herhielten. Kann mir vorstellen, daß Fleur und Grandchapeaus Kronprinzessin nicht sonderlich beeindruckt waren. Zumindest gab’s wohl genug zu essen da, weil César sich bei keinem ausgeheult hat, er sei vom Fleisch gefallen oder sowas.“

    „Mildrid, du bist manchmal unmöglich“, zischte Sandrine. „Marlene hat uns mal geschrieben, daß die in Hogwarts nur keine geregelten Freizeitkurse hätten. Immerhin haben die einen schönen Tanzabend organisiert. Daß César nur ans Essen denkt sieht man dem ja an. Wäre nur was gewesen, wenn da nicht genug zu essen aufgetischt worden wäre.“

    „Manchmal unmöglich heißt immer unmöglich oder niemals unmöglich“, erwiederte Mildrid schlagfertig. „Aber irgendwie stimmt das wohl, daß an Halloween nicht viel los ist. Immerhin gab es keinen Besenflug.“

    „Weil Halloween den Winteranfang bezeichnet, den Übergang vom Leben zum Tod“, warf Belisama ein. „Hat Gloria uns zumindest so erzählt.“

    „hat professeur Pallas ihr den Vortrag aufgedrückt, den sie mir letztes Jahr schon empfohlen hat?“ Fragte Julius verhalten grinsend. Belisama sah ihn leicht verstimmt an, mußte dann aber nicken.

    „Wir von den Weißen waren ja letztes Jahr kaum dabei, als du den Vortrag gehalten hast. Da hat Professeur Pallas die Gelegenheit genutzt, weil Gloria als englische Gastschülerin ja was drüber erzählen konnte.“

    „Ey, wenn dafür fünfzig Bonuspunkte rausspringen ist das aber fies, wenn sowas nur die Gastschüler erzählen dürfen“, warf Millie nicht ganz so ernst gemeint ein. Julius sah sie an und erwiderte:

    „Neh, zur Walpurgisnacht hat Laurentine einen Vortrag gehalten, auch darüber, wie Muggel dieses Fest sehen.“

    „Die hat’s drauf, die was ackern zu lassen, die auf dem Gebiet die einzigen sind, die Ahnung haben“, grinste Millie. Dann fragte Sandrine ungeduldig:

    „Was ist nun mit diesem Halloweenfest hier? Soll das jetzt gefeiert werden oder besser nicht?“

    „Wenn ihr das saalübergreifend machen wollt muß das von Madame Maxime genehmigt werden“, wiederholte Madame Rossignol ihren Einwand.

    „Dann besser nicht“, sagte Sandrine. „Wenn sie echt nicht sonderlich begeistert von dem Fest in Hogwarts war …“

    „Ich habe mich daran gewöhnt, daß wir das hier nicht haben“, log Julius. Immerhin hatte er im letzten Jahr an einunddreißigsten Oktober einen starken Anflug von Heimweh und Einsamkeit verspürt und hatte nur deshalb keine wirkliche Trübsal erlitten, weil die Jungen und Mädchen seines Saales wohl auf Anweisung der Saalsprecher ein Beschäftigungsprogramm für den Halloweennachmittag durchgezogen hatten. Dann fiel ihm noch was ein. Dieses Jahr würde Halloween auf den Dienstag fallen, wegen des Schaltjahres. Aber am Dienstag war das Seminar Zauberwesen. Wahrscheinlich würde Madame Maxime da irgendein zu Halloween passendes Zauberwesen besprechen, Vampire oder Sabberhexen. Das sagte er auch. Belisama schien über diese Erwähnung verlegen zu werden. Dann meinte sie:

    „Deshalb hat Gloria was von nach zehn Uhr gesagt, und das nur wir Mädchen in unserem Schlafsaal eine kurze Feier abhalten könnten. Habe ich ganz vergessen, daß ihr abends ja diesen Zauberwesenkurs habt.“

    „Ich nicht“, grinste Millie überlegen. „Besonders weil an dem Abend meine Oma väterlicherseits zu uns kommen und uns über ihre Zeit bei den Zwergen erzählen will.“

    „Och, jetzt hast du mir die Überraschung vermasselt“, feixte Julius. Millie strahlte ihn an und meinte:

    „Als wenn du nicht damit gerechnet hättest. Bei wirklich gefährlichen Zauberwesen hätte Madame Rossignol bestimmt schon was erwähnt.“

    „Vorsicht, Mademoiselle, nicht so frech!“ Maßregelte die Schulheilerin Mildrid. „Immerhin muß ich darüber orientiert sein, wenn Wesen wie Werwölfe oder Vampire in die Schule kommen, und sei es nur für eine Stunde.“

    „Gilt das auch für Riesen und Sabberhexen?“ Fragte Millie gehässig.

    „Ganz bestimmt“, knurrte Madame Rossignol. „Aber ich werde euch nicht Madame Maximes Planung für die Vorführung beziehungsweise das Kennenlernen solcher Wesen verraten. Aber Julius hat schon recht, daß ihr beide am Halloweenabend wohl schon gut verplant seid.“

    „Schade, daß wir das Fest nicht feiern können“, seufzte Belisama. „Na ja, dann eben nicht.“

    „Dafür ist ja Walpurgis da“, btröstete sie Sandrine. „Das ist zumindest ein Fest des Lebens.“

    „Gut, nachdem das wohl geklärt ist, könnt ihr nun in eure Säle oder wo auch immer hin“, sagte Madame Rossignol. Julius verließ zunächst per Wandschlüpfsystem den Krankenflügel, um seine Klassenkameraden zu suchen, um mit denen zu klären, was er mit dem restlichen Tag anfangen konnte. Etwas betrübt stellte er fest, daß er seit Claire nicht mehr da war nur zwischen Lernen oder Langeweile pendelte. Sicher, Claire hatte ihm geraten, sich bald eine neue Freundin zu suchen. Aber, verdammt noch mal, das konnte er doch nicht so einfach machen! Als er feststellte, daß alle seine Klassenkameraden wohl irgendwelchen anderen Sachen außerhalb des grünen Saales nachgingen, überlegte er schon, weiter an der Zusammenfassung seines Referattextes über Succubi zu arbeiten. Da sah er Ninette Dulac, eine schwarzgelockte Sechstklässlerin, wie sie ein Heft schwenkend auf ihn zueilte. Erst glaubte er, das Mädchen wolle ihm mit dem bunten Magazin eins überbraten. Doch dann blieb Ninette ruhig vor ihm stehen und fragte ihn:

    „kennst du Minimuffs, Julius?“

    „Öhm, nicht direkt. Habe nur mal gehört, daß Fred und George Weasley aus Knuddelmuffs irgendwelche kleinen Flauschebällchen gezüchtet haben, die besonders bei Mädchen gut ankommen sollen, sagt Gloria.“

    „Ja, die wollen die wohl auch in Frankreich verkaufen. Aber offenbar hat die Tierwesenbehörde die Sendung abgefangen und befunden, daß dieses „Flauschebällchen“ hier nicht erlaubt ist. Meine Cousine Julie, die im roten Saal wohnt, wollte dieses Tierchen haben. Hier im Prospekt wird beschrieben, was das für Geschöpfe sind, wie sie zu beschaffen und vor allem zu halten sind.“

    „Das Kreuzungsverbot von 1965 oder so“, vermutete Julius. „Skamander, der das in allen europäischen Zaubereischulen verbreitete Buch „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“ geschrieben hat, hat doch durchgedrückt, daß keine neuen Tierarten mit oder ohne magische Eigenschaften mehr gezüchtet werden dürfen.“

    „Wenn nicht vorher angemeldet wird, welcher Art die Kreuzung ist und zu welchem Zweck sie vorgenommen wird“, sagte Ninette. „Wenn diese Minimuffs nicht erlaubt wären, hätten die den Leuten, die sie gezüchtet haben schon längst eine heftige Strafe aufgebrummt. Also dürfen sie die kleinen Tierchen wohl züchten und verkaufen.“

    Julius nahm das Magazin „Bezaubernde Hausgenossen“, das sich vordringlich mit kleineren magischen Tierwesen und bewegungsfähigen, wenn auch ungefährlichen Zauberpflanzen befaßte. Einmal hatte er das mal gelesen, um zu sehen, ob was über Kniesel drinstand und danach beschlossen, mit dem, was er von und über Goldschweif und aus dem Buch „Das Wesen des Kniesels“ wußte, gut genug bedient zu sein. Er blätterte durch die Seiten, die über Crubs, Mimblius mimbletonia und Niffler handelten und fand einen Artikel über die Minimuffs mit der Überschrift: „Der Minimuff, dein ständiger Begleiter in allen Lebenslagen.“ Er fand ein Bild eines rosaroten, wie ein rundes Knäuel Angorarwolle aussehenden Geschöpfes ohne Glieder oder Sinnesorgane, das bereits eine dreifache vergrößerung der eigentlichen Größe darstellte. Er las dazu, daß vor kurzem die Züchtung kleinerer Ausgaben der ohnehin schon beliebten Knuddelmuffs gelungen sei und die Minimuffs sehr genügsame Haustiere seien, deren leises Gurren jede trübselige Stimmung vertreibe und gerade für Kinder und Jugendliche die idealen Kameraden seien. Sie seien für zehn Galleonen pro Exemplar bei Weasleys Wunderhexenprodukten in London, England zu bestellen und würden von Kekskrümeln bis Mehl- oder Brotresten alles krümelige essen. Da sie wie ihre großen Verwandten keine festen oder flüssigen Ausscheidungen absetzen würden könne man sie problemlos immer bei sich tragen, ohne sich schmutzig zu machen oder auf Krankheitserreger gefaßt zu sein.

    „Na und?“ Fragte Julius, nachdem er Ninette das Heft zurückgereicht hatte. „Die Tierwesenbehörde hier will die nicht ins Land lassen, weil sie aus England kommen. Einfacher Protektionismus, bei dem sie sich auf das Kreuzungsverbot berufen.“

    „Da steht doch drin, daß sie nicht neu gekreuzt sondern klein gezüchtet worden sind“, erwiderte Ninette. „Wie genau das ging steht da aber nicht, wohl als Betriebsgeheimnis oder sowas.“

    „Eben, und da könnte die Behörde sich dran aufhängen, weil die Weasleys nicht rausrücken wollen, wie sie die kleinen Flauschebällchen gemacht haben. Ist genau wie mit den Besen. Ausländisches Zeug darf nicht benutzt werden.“

    „Ja, aber dann sollten die meiner Cousine das Geld wiedergeben“, knurrte Ninette. „Zehn Galleonen ist nicht gerade wenig.“

    „Stimmt schon. Falls die von der Tierwesenbehörde nicht befinden, daß das genau die Summe ist, die jemand abzudrücken hat, der ausländische Zaubertiere ins Land holt.“

    „Ich frage Hercules noch mal, wenn der von seiner Besenflugübung wiederkommt. Hoffentlich ist der heute nicht wieder so grummelig drauf.“

    „Seitdem er mit Bernie nicht mehr zusammen ist …“, setzte Julius an und erkannte, daß jedes Wort darüber wie ein Bumerang auf ihn zurückfallen mochte. So sagte er nur: „Aber das ist sein Ding, wie er seine Zeit verbringt. Also ich wüßte nicht, warum jemand diese Minimuffs sonst nicht ins Land lassen sollte.“

    „Klingt auf jeden Fall so, als könnte das stimmen“, sagte Ninette verbittert und bedankte sich bei Julius, daß er ihr ein paar Minuten gewidmet hatte.

    „Hat Gloria nicht erzählt, Pina wolle sich wohl auch so’n Flauschebällchen zulegen?“ Fragte sich Julius. Er dachte daran, das im nächsten Brief an Pina zu schreiben. Denn noch stand eine Antwort von ihr aus, wie sie das mit Claires körperlichem Tod und der Beerdigung aufgenommen hatte. Vielleicht würde sie ihn auch wütend angehen, weil er nicht sofort an sie oder Kevin geschrieben und sie nicht gefragt hatte, ob sie bei Claires Beerdigung dabei sein könne. Doch er wollte nicht zu viel über die Gedanken anderer nachgrübeln. Wenn die Jungen schon irgendwo auf dem Gelände unterwegs waren war der Schlafsal wohl frei. Er konnte sich also da hinsetzen und in aller Ruhe an seinem Vortrag arbeiten. Dann fiel ihm noch etwas ein, was bestimmt nicht so unwichtig war. Konnte er seinen Patronus noch beschwören, jetzt, wo die bis dahin so nützliche erinnerung an den Gewinn der goldenen Tanzschuhe im letzten Jahr von der Erinnerung an Claires Opfer eingetrübt war? Er hatte es seit seiner Rückkehr aus der Festung des alten Wissens nicht ausprobiert, einen Patronus zu rufen. Er wußte, daß gerade dieser Zauber so ungemein wichtig war, da die Dementoren nun wie herumstreunende Raubtiere auf der Suche nach Beute durch das Land streiften. Zwar waren seid dem 28. Juli keine mehr in Frankreich aufgetaucht, aber das hieß nicht, daß sie nicht jederzeit wieder zuschlagen konnten. So entschied er sich, den Patronus-Zauber zu üben anstatt sein Referat weiter vorzubereiten. Er würde wohl noch früh genug erfahren, wann er es halten sollte.

    Im Schlafsaal der Viertklässler war es totenstill. Julius überkam für einen Moment das Gefühl großer Einsamkeit und Nutzlosigkeit. Doch nein, er war nicht nutzlos. Daß er lebte war wichtig, wichtig für Claires Eltern und ihre Freunde, für Catherine Brickston und seine Mutter. Nutzlos würde er erst, wenn keiner mehr da sein würde, dem er wichtig war. Doch davor konnte er in der gebotenen Zeit neue Freunde, neue Aufgaben und Ziele finden. So dachte er seine Selbstbeherrschungsformel, die ihm in vielen ähnlichen Situationen den nötigen Halt gegeben hatte. Als er sich sicher war, die unangenehme Stimmung überwunden zu haben, konzentrierte er sich auf die glücklichsten Momente seines Lebens. Doch diese hingen alle mit Claire zusammen, der Sommerball vor einem Jahr, das erste Mal, wo sie sich küßten, der Corpores-Dedicata-Zauber und dessen alle Sorgen vertreibende Geborgenheit. Jedesmal probierte er den Patronus-Zauber aus. Doch jedesmal schossen lediglich silberne Dunstschleier aus seinem Zauberstab. Dann beschloss er, andere, nicht unmittelbar mit Claire zusammenhängende Momente zu nehmen. Was hatte ihm vor Hogwarts das glücklichste Erlebnis eingebracht? Komisch, diese Zeit war für ihn wie eine längst zurückgelassene Welt, als sei er von seinem Heimatplaneten auf einen anderen, ganz anderen Himmelskörper umgezogen. So kehrte er zu den Erinnerungen zurück, die er mit Hogwarts und Beauxbatons verband. Er dachte an das Quidditchspiel, bei dem klar wurde, daß sein Saal den Pokal gewonnen hatte. Doch er brachte nur eine für zwei Sekunden wabernde Wolke aus silbrigweißem Licht zu Stande, nicht mehr den stolzen Sternenritter.

    „Abgesehen davon, daß die Schlafsäle eigentlich nicht für Zauberübungen vorgesehen sind“, hörte er Viviane Eauvives Stimme hinter sich über seinem Bett, „wirst du deinen Patronus nicht wieder erschaffen können, wenn du dich nicht ohne trübselige Gedanken auf die Erinnerung an dein bisher glücklichstes Erlebnis einläßt.“

    „Seit wann bist du in Auroras Bild?“ Fragte Julius und sah die Gründungsmutter des grünen Saales in dem ansonsten leeren Bild von Aurora Dawn. Dessen eigentliches Motiv war wohl wieder unterwegs, vielleicht bei seinem natürlichen Vorbild in Australien.

    „Seitdem ich festgestellt habe, daß du weder im grünen Saal noch an einem anderen öffentlichen Platz der Schule bist. Da das Wetter wohl sehr ungemütlich ist, habe ich vermutet, du könntest hier sein“, sagte Viviane Eauvive. Auf ihrer rechten Schulter reckte sich Goldschweif I. und blickte Julius mit ihren smaragdgrünen Augen an. „Wenn du das, was du früher als geistige Grundlage für den Zauber benutzt hast nicht mehr uneingetrübt in dein Bewußtsein rufen kannst, mußt du entweder warten, bis du ein Erlebnis mit ähnlich starkem Glücksgefühl hast oder ein Traumbild mit vergleichbarer Wirkung bemühen. Es ist nämlich nicht immer so, daß nur Erinnerungen an tatsächliche Erlebnisse die ausreichende Wirkung haben, sondern auch sehr intensive Vorstellungen, die den Charakter von erinnerten Erlebnissen haben. Sicher, wenn du etwas hast, was du erlebt hast und woran du dich sehr gerne zurückerinnerst, dann ist das schon sehr hilfreich, aber längst nicht die einzige Möglichkeit.“

    „Träume die ich hatte haben mir entweder Angst gemacht oder waren merkwürdig. Die einzigen Träume, die sowas wie Glücksgefühle in mir ausgelöst haben … Aber lassen wir das!“ Erwiderte Julius mit leicht geröteten Ohren.

    „Liebeslust ist auch eine Form von Glückszustand, Julius. Falls du bereits durch anregende Träume solche Stimmungen erlebt hast, würde ich das mal als Auslöser für den Patronus ausprobieren“, sagte Viviane ganz ruhig, als sei dieses Thema für sie weder peinlich noch unanständig. „ich kenne viele meiner Nachfahren, vor allem Hexen, die die größte erlebte Liebeswonne als Grundlage ihres Patronus gebrauchten, unabhängig davon, ob der dazugehörige Partner noch bei ihnen war oder nicht.“

    „Ich habe doch nur wenige Male …“, setzte Julius an, bevor ihm einfiel, daß er nicht nur davon geträumt hatte. Doch wie er das erlebt hatte war ja auch nicht so, wie es in seiner angeborenen Natur lag. Dann fiel ihm noch etwas ein: Als er mit Belle vor ziemlich genau einem Jahr vier Tage zusammengeflucht war und sie ihre stärksten körperlichen Empfindungen miteinander geteilt hatten, hatte er in Professeur Faucons Unterricht einen Patronus beschworen, der eine Zusammenballung aus ihrem und seinem Glücksgefühl war, das jedoch eher ein anregender, beinahe rauschartiger Zustand gewesen war. Belle hatte das als erotisierend bezeichnet. Der Patronus war tatsächlich überragend groß ausgefallen, allerdings nicht in der Gestalt, die er sonst beschworen hatte. War das denn so abwegig? Empfand er es vielleicht als abartig, weil sie ihm immer gesagt hatten, an sowas zu denken sei unanständig? Dann fiel ihm ein, daß es für Jungs wie ihn eher normal sei, sich mit sowas zu befassen. Ja, Hercules‘ miese Stimmung mochte daher kommen, daß die Beziehung mit Bernadette nicht auf gegenseitiges Verlangen hinausgelaufen sein mochte. Er beschloß, es darauf anzulegen. So schloß er die Augen und dachte an seinen ersten leidenschaftlichen Traum, wie Martine ihn umklammerte und sich an ihn drückte, bis sie beide miteinander vereinigt waren. Tatsächlich fühlte er, wie sich in ihm was regte und sachte Bewegungen in seinem Unterleib hervorriefen. Dann dachte er daran, wie es war, als Béatrice Latierre und er Orions Fluch wortwörtlich ausgetrieben hatten. Er fühlte die für einen Mann fremde Berührung, die ihn jedoch immer stärker in einen wohltuenden, immer wilder und euphorischer werdenden Rausch versetzte und bekam die Erinnerung an den Höhepunkt des körpervertauschten Geschlechtsaktes zu fassen, hörte sich mit Béatrices Stimme die absolute Lust hinausschreien und fühlte die Wellen der höchsten Befriedigung durch den gerade von ihm besessenen Körper fluten. Das unter seinem Umhang etwas darauf reagierte fühlte er nur beiläufig. Er holte sich diesen Moment immer und immer wieder ins Bewußtsein, bis er allein von den Gedanken daran erregt „Expecto Patronum!“ Ausrief! Als er seine Augen öffnete, um zu sehen, ob es funktioniert hatte stand vor ihm eine silbern glänzende Erscheinung, nicht der Sternenritter von Antares, sondern eine Frauengestalt, die Ähnlichkeit mit Camille Dusoleil hatte und doch ganz anders auf ihn wirkte: Ammayamiria, unbekleidet und darüber so unbekümmert wie ein kleines Kind, das ganz selbstverständlich aus einer Badewanne klettert und durch die Wohnung läuft, auch wenn die Eltern gerade Besuch haben. Die Erscheinung blieb vier volle Sekunden bestehen, die Julius im durch seine Gedanken herbeigeführten Wohlgefühl noch bestärkte. Dann löste sie sich auf.

    „Ich gehe davon aus, du bist mit diesem Ergebnis zufrieden“, sagte Viviane Eauvive aus Auroras Bild heraus. Julius sah sie verdutzt an und fragte, warum sein früherer Patronus nicht erschienen sei.

    „Patroni können sich verändern, wenn das Gemüt derer, die sie aufrufen wollen durch ein prägendes Erlebnis oder ein starkes, alles durchdringendes Gefühl verändert wurde. Außerdem hängt es auch von der Grundlage ab, wie ein vollgestaltlicher Patronus aussieht. Bei vielen sind es Tiere, die mit ihren inneren Stärken zu tun haben, bei anderen Heldengestalten, Wunschliebhaber oder verehrte Personen, deren Stärke oder Zuneigung man erfahren hat. Ich gehe davon aus, daß diese patrona, die du gerade gerufen hast, genau diesen Beschreibungen entspricht.“

    „Ist das jetzt mein neuer Patronus?“ Fragte Julius.

    „In dem Moment, wo du unbewußt diese Erscheinung als Ausdruck deines Glücks und deiner Zuversicht projizierst und eine entsprechend wirksame Erinnerung oder Wunschvorstellung in den Zauber einfließen läßt ja“, antwortete Viviane sehr überzeugt. Julius fragte sich, ob die Erinnerung an den körpervertauschten Sex mit Béatrice Latierre zu dieser Erscheinung Ammayamirias geführt hatte und ob er, wenn er die erste körperliche Liebe als Mann erlebte sein früherer Patronus wiederkommen würde. Doch das war völlig unwichtig, erkannte er. Er wollte wissen, ob er noch einen Patronus rufen konnte und war heilfroh, daß er es schaffte. Daß Ammayamirias Abbild, ja vielleicht ihr in ihm hinterlassener Erinnerungsabdruck erschienen war, war doch auch sehr schön, wenngleich mancher beim Anblick einer nackten Frau aus silbernem Licht vielleicht meinen könnte, er sei ein unersättlicher Chauvie. Aber wenn gerade dann mehrere Dementoren um ihn herumschlichen sollte das ganz bestimmt egal sein. Ja, er fühlte, wie die beim Betreten des Schlafsaals über ihn gekommene Einsamkeit und Nutzlosigkeit in einem Gefühl der Geborgenheit verschwand. Claire war tatsächlich noch bei ihm, wenngleich sie als Verschmelzung mit ihrer Großmutter nicht mehr das junge Mädchen war, das sich vor ihm ausgezogen hatte, um ihm zu zeigen, daß es bei ihm sein wollte, das ganze Leben lang. Dieses Gefühl bewog ihn, noch einmal einen Patronus zu rufen. Wieder stellte er sich die immer leidenschaftlichere Stunde mit Béatrice Latierre vor, fühlte, wie sie, die seinen körper angenommen hatte, in allernächster Nähe mit ihm zusammenlag, wie sie sich miteinander bewegten, um sich gegenseitig zur höchsten Lust zu treiben und wie diese dann in ihm freigesetzt wurde. Aus dieser Erregung heraus rief er: „Expecto Patronum!“ Wieder erschien Ammayamirias silbernes Abbild, wieder so scharf konturiert wie eine greifbare Gestalt. Wieder blieb sie vier Sekunden lang bestehen, bevor sie übergangslos verschwand. Julius nickte. Dann stand er auf und fühlte, daß diese Art von Erinnerung auch seinen Körper betraf. Etwas Verlegen beugte er sich leicht vor, so daß sein Umhang die starke Ausbuchtung in seinem Unterleib verschwinden ließ und wartete, bis sich alles in ihm wieder auf Normalmaß zurückgeregelt hatte. Dann verließ er den Schlafsaal, zufrieden und erleichtert, daß er die wirksame Waffe gegen Dementoren noch benutzen konnte, ja, daß dieser Patronus womöglich noch stärker war als der Sternenritter, weil in diesem Ammayamirias Kraft mitschwingen mochte. Er kehrte in den Gemeinschaftsraum zurück, um an seinem Vortrag für das Zauberwesenseminar zu arbeiten.

    __________

    Am nächsten Morgen beim Frühsport in der Nähe des Quidditchstadions fragte ihn Calie Latierre: „Kennst du Minimuffs, Julius?“

    „Komisch, hat mich gestern schon wer nach gefragt“, erwiderte Julius Andrews amüsiert. Pennie Latierre sagte dann:

    „Bernie Lavalette hat wohl von Caroline so’n Prospekt in die Hand bekommen, wo diese Dinger angeboten wurden. Die beiden haben welche Bestellt, auch Brunhilde Heidenreich. Dann kam gestern eine Eule vom Tierwesenbüro, in dem es hieß, daß man die kleinen Flauschebällchen an der Grenze einkassiert habe und solange in ihrem Lager für noch zu prüfende Geschöpfe zurücklegen wolle, bis raus sei, ob die in Frankreich so einfach verkauft werden dürfen. Maman hat da wohl mit Kollegen geredet, ob die kleinen Dinger gefährlich oder anders schädlich sind.“

    „Die kommen aus England, Calie und Pennie. Alles was von da kommt muß erst mal durchgecheckt werden, damit es die Leute hier nicht auf falsche Ideen bringt“, erwiderte Julius sarkastisch. Er erinnerte sich noch an die kurze Unterhaltung mit Ninette über die Einfuhrbeschränkungen.

    „Soso“, lachte Pennie. „Aber vielleicht ist das, weil viele junge Hexen in England sich sowas zugelegt haben. Jetzt haben Forcas‘ formidable Verrücktheiten die Züchter in England gebeten, in Lizenz diese Tierchen zu verkaufen. Kennst du diese Leute, Wiesellie oder so ähnlich?“ Wollte Pennie wissen.

    „Klar, die kenne ich. Zwillingsbrüder, die ziemliche Scherzbolde sind und es chaotisch mögen. Die haben wohl vor ungefähr einem halben Jahr die Schule im letzten Jahr abgebrochen, weil die Direktrice in Hogwarts einfach nicht mehr auszuhalten war und die eh keinen Bock mehr aufs Lernen hatten und da schon volljährig waren und deshalb die Kurve kratzen konnten. Die verkaufen ähnliches Zeug wie Forcas. Könnte sein, daß Forcas mit denen zusammenkam, weil einer meiner Schulkameraden bei meinem Geburtstag zwei Sachen von denen vorgeführt hat, wo einer von Forcas‘ Laden gerade in Millemerveilles war“, sagte Julius und verfiel in einen lockeren Trab, um nicht auszukühlen. Die beiden Zwölfjährigen hielten locker mit und atmeten dabei ganz ruhig, während die Montferres und andere, die einen Dauerlauf machten ansetzten, sie zu überrunden.

    „Ach, das mit dem Sumpf aus dem Sack?“ Fragte Calie. „Caro hat das Millie bei Jeannes Hochzeitsfeier erzählt“, sagte Pennie Latierre amüsiert. Dann fragte sie Julius noch: „Meinst du, diese Minimuffs sind nur was für Mädchen, oder warum sollen die nur von jungen Hexen gekauft werden?“

    „Manche könnten sagen, daß Kniesel was für Mädchen sind, und ich habe Goldschweif“, erwiderte Julius belustigt. Dann sagte er noch: „Aber ich kann mir vorstellen, daß Jungs diese kleinen Flauschebällchen langweilig finden, weil die nicht hinter Sachen herjagen oder Kunststücke machen können. Zum herumwerfen sind die großen Vorläufer besser geeignet.“

    „Weil wir’s nicht kapieren, warum Maman was dagegen haben könnte, daß die hier verkauft werden, wenn die doch harmlos sind.“

    „Vielleicht haben die Weasleys bei der Züchtung die Kreuzungsbestimmungen nicht eingehalten oder die Tierchen vermehren sich, wenn man sie zu sehr füttert“, feixte Julius.

    „Neh, ich denke eher, Maman will die nicht im Land haben, weil sie ja unsere Latierre-Kühe nicht in andere Länder verkaufen darf, ganz einfach“, sagte Pennie. Julius grinste und erwiderte:

    „Genau das wird’s sein. Wenn sie Demies Geschwister nicht anderswo verkaufen darf dürfen keine ausländischen Neuschöpfungen in Frankreich eingeführt werden.“

    Sabine Montferre eilte von hinten heran und bremste auf das Tempo der Latierre-Zwillinge und Julius herunter, während ihre Schwester Sandra ihre Geschwindigkeit beibehielt.

    „Habt ihr’s von diesen rosaroten Fellkügelchen, die von Forcas‘ Laden in Lizenz verkauft werden sollen? Zehn Galleonen für sowas rauszuhauen ist ein wenig viel, finde ich“, meinte Sabine leicht außer atem. Julius widersprach, daß ja Angebot und Nachfrage den Preis bestimmten und wenn diese Minimuffs so begehrt wären die Züchter wohl deshalb mehr verlangten, um nicht zu schnell alle Exemplare auszuverkaufen.

    „Mag sein, daß deshalb der ganze Zirkus gemacht wird“, sagte Sabine. Dann forderte sie Julius auf, wieder mehr Tempo zu machen. Seitdem Barbara Lumière, die jetzt van Heldern mit Nachnamen hieß, nicht mehr in Beauxbatons war, hatten die Montferres es übernommen, Julius‘ Kraft- und Ausdauertraining zu überwachen. Er hatte es hingenommen und es bisher nicht bereut, was die beiden rothaarigen Hexen ihm abverlangt hatten. Innerlich hatte er sogar daran gedacht, daß eine gute Kondition für bestimmte Sachen sehr wichtig war, was sich ja beim Kampf um Aurélies und Claires Leben all zu sehr bewahrheitet hatte.

    Die Latierre-Zwillinge hielten das Tempo locker mit, das Sabine vorgab. Julius fühlte, daß er bald schon an seine Leistungsgrenze herankam.

    „Wenn ihr so gut in Form bleibt schickt Brunhilde euch gegen die Blauen ins Spiel“, meinte Sabine nach mehreren Runden schnellen Laufens. Calie strahlte sie überlegen an und meinte:

    „Oder gegen die Grünen.“

    „Neh, gegen die werden San und ich noch einmal spielen“, widersprach Sabine entschieden. Julius meinte dazu nur:

    „Vielleicht sollte Calie Sucherin werden, damit ihr mal wieder einen Schnatz fangt.“

    „Du nicht auch noch“, knurrte Sabine. „Schon schlimm genug, daß Brochet unsere Mannschaft um so wichtige Punkte gebracht hat. Aber Brunhilde will davon nichts hören, einen anderen Sucher zu nehmen, obwohl sich drei andere angeboten haben.“

    „Agnes wird für uns den Schnatz schon holen, wenn wir gegen euch ran müssen“, sagte Julius sehr sicher.

    „Oder du wirst Sucher. Mit dem Zehner könntest du das ganz bestimmt auch“, sagte Sabine. Doch Julius erwiderte nur, daß er lieber mit anderen zusammenspielte, und das ginge als Jäger immer noch am besten.

    Als die Frühsportler sichtlich geschafft in den Palast zurückkehrten und sich tagesfertig machten dachte Julius daran, wie stark die Latierre-Zwillinge waren. Die als Treiberinnen in den nächsten Jahren zu haben würde für die Gegner ziemlich knifflig werden. Das sagte er auch Hercules, als er ihn nach der nötigen Dusche und Ankleiden zum Frühstück begleitete.

    „Dann sollte unser Kapitän das bei Dedalus, Fixie und den anderen wichtigen von hier durchdrücken, daß die Mädels diese Riesenkuhmilch nicht mehr trinken dürfen“, erwiderte Hercules. „Dann gilt nämlich das allgemeine Verwendungsverbot kraftfördernder Tränke und Zauber. Dann werden die blöd kucken. Vielleicht bauen die dann sogar ziemlich gut ab, was die Form angeht.“

    „Noch spielen die ja nicht offiziell“, sagte Julius.

    „Nun, der Pokal bleibt eh grün, wenn die Heidenreich Brochet unbedingt als Sucher halten will.“

    „Wenn der nicht in den nächsten Spielen heftig besser wird“, sagte Julius. „Vielleicht wird der dann der Held der Saison, wenn wir nicht aufpassen und den Pokal doch noch vergeigen.“

    „Deshalb müssen wir jedes Spiel mit so vielen Punkten wie möglich gewinnen“, sagte Hercules.

    Während des Frühstücks ging es im wesentlichen nur um die anstehenden Stunden. Diesen morgen wollte Armadillus ihnen nicht all zu weit verbreitete Tierwesen vorführen.

    „Japanische Bonsaidrachen wären doch genial“, sagte Robert. „Die werden nur einen Meter groß und lassen sich gut mit lauten Kommandos zu Kunststücken anhalten.“

    „Haha, die kleinen Drachen sind nicht ohne, Robert. Die widerstehen allen natürlichen Giften, Feuer und Säuren. Wenn einer von denen es schafft, aus seinem Käfig auszubrechen kann der eine ganze Wohngegend verwüsten wie ein großer Drache, nur mit dem Unterschied, daß die kleinen Biester sich gut verstecken können und pfeilschnell davonfliegen können. Die bringt Armadillus bestimmt nicht im Unterricht“, sagte Hercules. Er mußte es ja wissen, wo sein Vater in der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe arbeitete.

    „Ey, stimmt, das gab ja vor drei Jahren diesen heftigen Vorfall, wo so’n Minidrache aus seinem Käfig abgehauen ist und beinahe eine Muggelsiedlung bei Kyoto plattgemacht hat, weil der alles angezündet hat, was nicht schnell genug weglaufen konnte“, erinnerte sich Gérard an etwas, von dem Julius noch nichts wußte. In seinem Drachenbuch stand nur drin, daß in Japan an kleineren Drachensorten geforscht wurde, um sie möglicherweise zu kontrollierbaren Nutztieren zu machen. „Dieser Drache konnte ganz schmale Stichflammen spucken, die zehnmal so weit reichten wie der selbst lang war, Feuerbälle produzieren oder breite Flammenstöße machen, je wie der lustig war. Außerdem konnte der mit vierhundert Stundenkilometern fliegen und hätte fast einen dieser Schraubenflügler der Muggel vom Himmel gepustet. Die Zaubertierexperten haben den wohl erlegen müssen.“

    „Wäre was für Babette“, warf Julius feist grinsend ein. „Die will unbedingt einen Drachen als Haustier haben.“

    „Ui, das gäbe Spaß, wenn die in ihrer Muggelsiedlung so’n Feuerflitzer hätte, ne, Culie?“ Nahm Robert den von Julius gespielten Ball auf.

    „Eben gerade deshalb werden die vom Tierwesenbüro ihr keinen erlauben, weil es eben doch ein Drache ist“, sagte Hercules. „Wer will auch schon einen Drachen halten, egal wie groß?“

    „Hagrid“, wußte Julius die Antwort. „Das ist ein Typ, der so groß wie Madame Maxime ist und in Hogwarts Pflege magischer Geschöpfe gibt.“

    „Vielleicht bringt Armadillus auch Argentinische Goldfellhasen. Die sind auch selten“, sagte Hercules.

    „Aber irgendwie langweilig“, erwiderte Robert. „Deren Pelz glitzert zwar schön, und die können schön weit springen oder schnell laufen, aber sonst sind die langweilig.“

    „Vielleicht hat er Babs Latierre aber auch rumgekriegt, eines ihrer Schätzchen anzubringen“, sagte Robert. „Aber dann hätten Julius und Millie einen unfairen Vorteil.“

    „Ich glaube, daß hätten die Zwillinge von der mir schon aufs Brot geschmiert“, sagte Julius ruhig.

    „Anstatt euch das Maul über die Viecher bei Armadillus zu zerreißen sag mir lieber noch mal einer, wie dieser Gleichwarmbleibezauber geht“, nölte Gaston. Julius und Hercules erklärten es ihm kurz.

    Als nach dem Frühstück die Schüler für Magizoologie des Ggrünen Saales zum Vorbereitungszimmer gingen, hörte Julius von weitem Mildrid mit Bernadette debattieren. Bernadette sagte gerade:

    „Ich habe deiner blöden Tante gerade noch ’ne Eule geschickt, daß ich meine zehn Galleonen wiederkriegen will. Die bei Forcas wollen das Geld ja nicht rausrücken, weil sie die Ware ja ordentlich bestellt und an mich weitergeleitet hätten und die Tierwesenbeamten die eingesackt haben.“

    „Weißt du, daß mir das sowas von egal ist, ob du so’n rosa Plüschbällchen kriegst oder nicht. Ich hab’s Caro gesagt, daß sie sich noch keinen bestellen soll, weil Tante Babs erst prüfen will, ob die nicht doch was an sich haben. Außerdem hat sie gemeint, es sei ja irgendwie verdächtig, daß Mädels diese Minikugeln haben wollen und würde das überprüfen, ob ihr Verdacht gerechtfertigt sei.“

    „Ey, was bitte für einen Verdacht?“ Knurrte Bernadette, gerade als Julius und Hercules in normale Hörweite kamen. Caro Renard und die anderen Mädchen aus dem roten Saal hörten interessiert zu, wie sich die Streberin und die direkt heraus lebende Schwester der ehemaligen Saalsprecherin Martine zankten. Daß Millie und Bernadette sich nicht grün waren wußte Julius zu gut. Hercules ließ sich strategisch zurückfallen. er war mit Bernadette fertig und wollte nicht, daß sie ihn wegen seines Wissens um magische Tiere noch einmal behelligen konnte.

    „Nun, daß du das fragst erstaunt mich jetzt aber“, feixte Millie und sah Bernadette herausfordernd an, deren Ohren leicht gerötet waren. „Gerlinde hat dich doch drauf gebracht, weil sie meinte, die wären gerade für alleinstehende Mädchen ziemlich gut geeignet.“

    Bernadette errötete nun auch an den Wangen. Julius grinste. Bei ihm war der Groschen gefallen, was Millie meinte. Ob das nun stimmte wollte er besser nicht hinterfragen. Aber möglich war’s.

    „Das kann der doch völlig egal sein, warum jemand ein harmloses Zaubertier haben will. Abgesehen davon fragt die ja auch keinen, ob sie sich noch ein Kind zulegen soll oder nicht, genau wie deine Mutter. Also sollen die sich nicht so aufregen. Die wollen doch nur nicht, daß wir neue und einfach zu haltende Zaubertiere haben dürfen“, sagte Bernadette. Millie sah Julius und winkte ihm zu. Doch er blieb wo er war. Sich jetzt in dieses Gezänk reinziehen zu lassen war er nicht bereit.

    „Oh, jetzt werden wir wieder persönlich“, feixte Millie überlegen lächelnd. „Habe ich also doch richtig getippt.“

    „Wer böses denkt, der böses tut, Millie Maulheldin“, knurrte Bernadette. Millie genoss es, Bernadette noch einen mitzugeben und sagte sehr selbstsicher:

    „Hätte einen Vorteil, Bernadette, du müßtest dich nicht mehr nach wem zum Knuddeln und besserem umschauen und könntest sogar in Ruhe büffeln, ohne Unterbrechung.“

    „Sei froh, daß ich mir die Hände gerade gewaschen habe und sie nicht an dir Schmutzig machen will“, knurrte Bernadette und zog sich zurück, wobei sie Millie mit einem Ausdruck anstarrte, der große Gefahr verhieß. Caroline grinste kurz. Als Millie sie ansah drehte sie sich jedoch weg.

    „Deshalb macht ihr so’n kindisches Gewese um diese rosa Fellkugeln“, bemerkte Waltraud Eschenwurz angenervt. „Wer das braucht …“

    Julius ging nun darauf ein, zu Millie hinüberzugehen, wich aber zurück, als sie ihn in eine lockere Umarmung schließen wollte. Sie nickte und sagte ruhig:

    „Ich wollte dich bestimmt nicht ärgern, Julius. Aber sich so zu begrüßen ist nichts böses.“ Julius nickte und sagte:

    „Das geht auch nicht gegen dich, Millie. Ich will deiner netten Gesprächspartnerin nur keine neue Munition liefern.“

    „Die denkt eh was sie will“, raunte Millie unwirsch. „Macht die mich an wegen dieser rosa Plüschkugeln. Da mußte ich ihr jetzt was zu sagen, und du hast es ja sehen können, offenbar habe ich den Quaffel punktgenau reingemacht.“

    „Könnte sogar hinkommen“, flüsterte Julius, wobei er jetzt ein wenig näher an Millie heranging. Sie grinste überlegen.

    „Ich habe Tante Babs nach den Angaben über diese Tierchen gefragt. Wie die Großen so die Kleinen, eben halt nur, daß die eben nur ein fünftel so groß sind wie die großen Knuddelmuffs.“

    „Mildrid, es reicht!“ Fauchte Bernadette, die sich angeschlichen hatte, um zu hören, wie Millie über sie ablästerte. Dann sah sie Julius an und meinte:

    „Lass dir von diesem Balg nicht diesen Mist auftischen, daß die Minimuffs eigentlich für was … ganz anderes gedacht sind. Die sind klein, niedlich und leicht zu halten.“

    „Flauschig halt, Mädchenspielzeug“, sagte Julius und legte nach: „Wie Kaninchen und Meerschweinchen, Quiek-quiek-quiek!“

    „Was ist dann bitte Jungsspielzeug?“ Knurrte Bernadette. Julius tat so, als müsse er sehr gründlich nachdenken und antwortete dann:

    „Was Gegenstände angeht ein schneller Besen, ein Quaffel oder Quod, ein Vielzwecktaschenmesser und ein Drachenhautpanzer gegen unnötige blaue Flecken. Was Tierwesen angeht sind Abraxarieten und Hippogreife nicht schlecht, Kniesel sind aber auch gut. Oder Millies Tante gibt mir einen Latierre-Stier. Damit könnte man garantiert gut angeben.“

    „Wenn du auf der Linie dieser Gossenhexe läufst wäre deine Goldschweif ja auch zu verbieten, weil … Ich spreche es besser nicht aus. Bin ja doch eine Dame.“

    „Goldi ist zwar flauschig, aber hat auch krallen und würde sich Sachen, die du gerade andenkst auch nicht gefallen lassen“, erwiderte Julius völlig unbeeindruckt.

    „Wenn du mit Latierre-Kühen arbeiten willst, Julius, mach doch bei Tante Babs auf dem Ferienhof mit, den sie alle zwei Jahre für interessierte Schüler von Beaux aufmacht“, sagte Millie.

    „Klar, um geistig unterbemittelte Jungen und Mädchen auszubeuten“, erwiderte Bernadette. Millie straffte sich und schnaufte zweimal. Bernadette sah sie herausfordernd an und stichelte:

    „Na, traust du dich, Pflegehelferin. Madame Rossignol macht dich fertig, wenn du wem was tust.“

    „Stimmt, das bist du nicht wert“, grummelte Millie und drehte ihr den Rücken zu. Julius zog es vor, sich wieder zurückzuziehen, wo gerade Waltraud und Gloria über die möglichen Geschöpfe sprachen, die drankommen mochten. Da kam auch schon Professeur Aries Armadillus um eine Ecke. Hinter ihm rollte ein Leiterwagen, auf dem fünf Käfige standen, in denen jeweils ein eiförmiges Geschöpf mit rotem, weichen Fell hockte. Julius sah, daß die Wesen keinen klar erkennbaren Kopf besaßen, dafür aber vier Beine am unteren, runden Ende besaßen und zwei kurze Ärrmchen aus dem oberen Körperbereich herausragten. Sie gaben kurze Töne von sich, die wie mit feuchten Fingern angestrichene Weingläser klangen. Hinter dem Leiterwagen kam noch eine kleine, braungetönte Hexe mit schwarzem, glatten Haar im rot-weiß-grünen Wollumhang heran.

    „Bitte aus dem Weg bleiben!“ Kommandierte Armadillus laut und machte ausladende Armbewegungen, um sich freie Bahn bis zur Tür zu verschaffen.

    „Was sind das denn für Geschöpfe?“ Fragte Gaston Perignon irritiert.

    „Darüber werden Sie und Ihre Mitschüler gleich ausgiebig unterrichtet“, antwortete Professeur Armadillus schroff und schloß die Tür zum Vorbesprechungsraum auf. Als alle eingetreten waren rollte der Leiterwagen herein, und die fremde Hexe im dreifarbigen Wollumhang betrat den Klassenraum, ohne ein Wort zu sagen. Alle sahen sie an, als sei sie das Objekt der heutigen Unterrichtsstunde und nicht die eiförmigen Wesen in den kleinen Käfigen, die gerade ansetzten, einen Dreiklang zu summen. Armadillus wies mit der rechten Hand auf einen Stuhl in der vorderen Reihe. Julius fühlte sein Herz zusammenkrampfen. Da hatte vor nicht einmal drei Wochen Claire noch gesessen. Die Unbekannte nickte Armadillus zu und sagte nur: „Grazie, Signore Professore!“ Damit war den meisten Schülern klar, daß sie wohl aus Italien stammte, vielleicht gar nicht oder sehr wenig Französisch sprach und wohl nur wegen dieser Lebewesen auf dem Leiterwagen bei ihnen war. Nach dem schulüblichen Begrüßungsritual mit Aufstellen der Sanduhr setzten sich alle hin. Der Lehrer für magische Tierwesen deutete auf den Leiterwagen, auf dem nun alle fünf dieser rotfelligen Wesen einen klaren, anhaltenden Ton von sich gaben. Dann pfiff er kurz auf den Fingern, worauf die fünf Kreaturen wie von einem heftigen Stoß getroffen durcheinanderpurzelten. Die Fremde sah den Lehrer leicht mißgestimmt an und wechselte mit ihm einige kurze Sätze in italienischer Sprache. Armadillus schien dabei nicht sonderlich gut wegzukommen, weil er immer wieder abbittend auf seine ausländische Besucherin sah und schließlich mit einer reuevollen Miene die fünf Geschöpfe ansah, die sich gerade wieder auf ihre vier Beinchen stellten und leise einander zuwimmerten, als müßte jedes dem anderen Mitgeschöpf versichern, nicht alleine zu sein.

    „Nun, da wir alle zusammensitzen, möchte ich Ihnen allen meine Kollegin Signora Diana Moretti vom italienischen Zaubereiministerium vorstellen, die dort in der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe in der Tierwesenverwaltung tätig ist, wo sie Vordringlich Haltung und Verbreitung von Geschöpfen der Einstufung XXXX überwacht. Nur unter ihrer Aufsicht, so mußte der für Frankreich zuständige Beamte im Tierwesenbüro zubilligen, kann ich Ihnen heute diese fünf exotisch anmutenden Geschöpfe präsentieren. Seit dem es 1985 bei einer Überführung von Malta nach Deutschland zu einem Zwischenfall kam, besteht eine Übereinkunft zwischen dem griechischen, maltesischen und italienischen Zaubereiministerium, diese Wesen nur noch unter Aufsicht ihrer dafür ausgebildeten Experten zu transportieren und / oder bei öffentlichen Veranstaltungen oder im Schulunterricht vorzuführen.“

    Die Hexe im grün-weiß-roten Umhang nahm die Begrüßungsworte mit einem stark akzentlastigen „Danke schön“ entgegen und schwieg dann wieder. Céline zeigte auf und bekam das Wort:

    „Diese Wesen in den Käfigen, sind die so gefärhlich?“

    „Nicht im Sinne, daß Sie Ihnen körperlichen Schaden zufügen könnten, Mademoiselle Dornier“, sagte Armadillus. „Die Klassifizierung XXXX besagt ja nicht ausschließlich, daß ein damit bezeichnetes Geschöpf eine Gefährdung von Zauberern darstellt, sondern auch und vor allem, daß die Zucht und Erhaltung, die Nutzung und eventuelle Ausbildung sehr schwierig ist und nur zertifizierten Experten vorbehalten bleiben soll. – Aber ich habe Ihnen ja noch gar nicht erzählt, um welche Geschöpfe es sich handelt. Mesdemoiselles et Messieurs, hier haben wir die zur Zeit vollständige Gruppe adulter Harmonovons, die auf Sizilien existiert. Allerdings, so wies mich Signora Moretti hin, stünde die physische Fusion bei dreien dieser Wesen unmittelbar bevor.“

    Armadillus erläuterte nun, daß die eiförmigen Wesen vor dreihundert Jahren entstanden seien, als man die damals schon beliebten Knuddelmuffs dazu bringen wollte, wohlklingende Melodien zu summen. Durch Kreuzungen mit den im Unterricht bereits durchgenommenen Singschnauzen seien in Verbindung mit den unausgebrüteten Eiern von Kanarienvögeln die Harmonovons entstanden, die nicht nur vorgespielte oder gesungene Melodien nachsingen, sondern eigene mehrstimmige Melodien erschaffen konnten. Sie pflanzten sich dort fort, wo regelmäßig Musik erklang, weshalb sie in geheimen Kellern unter Konzerthäusern gehalten würden. Das Problem mit diesen Wesen sei jedoch, daß sie nach zwei Jahren den Drang verspürten, sich zusammenzufinden und eine große äußerlich leblose Kugel zu bilden, die jedoch die Eigenschaft besitze, alle in ihrer direkten Umgebung lebenden Musiker oder Sänger zum fortwährenden Spielen oder Singen zu treiben, ohne Sinn und Verstand. Daher sei die Gesamtzahl aller Harmonovons auf weltweit dreißig Stück begrenzt worden und der Handel mit diesen Wesen unter Strafe gestellt, die von einer Geldbuße von mindestens 500 Galleonen pro illegal verkauftem Exemplar bis zu vier Jahren Gefängnis reichen würde. „Diese überaus heftige Bestrafung rechtfertigt sich durch die gesellschaftlichen Auswirkungen, die die zur starren Kugel fusionierten Harmonovons hervorrufen“, führte Armadillus weiter aus. „Stellen Sie sich bitte einmal vor, was passiert, wenn in einem Haus nur noch Musik gemacht wird, nicht gegessen und nicht geschlafen werden kann, von liegenbleibender Arbeit ganz zu schweigen. Es hat schon Fälle gegeben, wo Menschen, nicht nur Hexen und Zauberer, die über ein gewisses musikalisches Grundpotential verfügten, von Mitarbeitern eines Zaubereiministeriums gewaltsam aus der Einflußsphäre einer Harmonovonkugel entfernt werden mußten, zumal die Gefahr bestand, daß die ausführenden Beamten selbst dem Zwang zum permanenten Musizieren unterliegen konnten, weshalb für derlei Aktionen musikalisch völlig untalentierte Mitarbeiter gesucht werden.“ Hercules und Julius warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie würden für diese Arbeit also absolut ungeeignet sein, wie es auch Claire gewesen wäre. Julius fühlte bei diesem Gedanken wieder eine gewisse Trübsal, die immer wieder um ihn herumschlich wie eine zum Beutefang bereite Katze. Doch er konzentrierte sich auf das, was Armadillus sagte und auf die fünf Harmonovons. Der Lehrer erwähnte noch, daß man diese Geschöpfe eigentlich nur durch einen Schwingschlauch zum schweigen bringen könnte, der die von ihnen erzeugten Töne unrein nachmachte. Doch wenn man sie für längere Zeit vom gemeinsamen Singen abhalten wolle, genüge ein schriller Pfiff. Das würde aber dazu führen, daß die Wesen dabei körperliche Schmerzen erlitten und sich nur schwer wieder zum Singen anregen ließen.

    Die restliche Zeit der heutigen Doppelstunde vermaßen sie die Geschöpfe mit Maßband und Waage, brachten sie dazu, kurze Melodien zu singen und ließn drei einzeln durch das Klassenzimmer laufen, um zu beobachten, wie die Fortbewegungsorgane funktionierten. Mit den dünnen Ärmchen versuchten die herausgelassenen Harmonovons, ihre Artgenossen aus den Käfigen zu befreien. Doch das gelang nicht. Als alle fünf Geschöpfe wieder in ihren Einzelkäfigen saßen fragte Bernadette Lavalette:

    „Kann man diese Wesen wirklich nicht davon abhalten, zu einer Kugel zu werden, wenn man sie nicht in Einzelkäfigen hält?“

    „Bis heute ist das noch keinem Gelungen“, sagte Armadillus. „Leider gehen viele Zauberer davon aus, daß die harmlosen Knuddelmuffs jede Art von Kreuzung mit anderen Ordinärtieren zu einer pflegeleichten oder kontrollierbaren Neuschöpfung führen. Das Beispiel Harmonovon zeigt, daß Eingriffe in die Natur nicht immer zu gewünschten Ergebnissen führen. Bei jenem Vorfall 1985 kam es zu einer physischen Fusion vierer Harmonovons, die nicht in Einzelkäfigen sondern einem Transportkorb befördert wurden. Die Folge war, daß die den Transport durchführenden zauberer zwischen Freiburg und Greifennest festsaßen und zwölf Stunden lang alle ihnen bekannten Trink- und Wanderlieder, Opernarien und Kantaten sangen, die ihnen je beigebracht worden waren. Seitdem dürfen die Harmonovons nur noch unter Aufsicht eines Experten transportiert und präsentiert werden.“

    „Ja, aber wenn Sie sagen, daß diese Wesen nur bei guter Musik gedeien“, wandte Hercules ein, nachdem er brav darauf gewartet hatte, daß Armadillus ihm das Wort erteilte.

    „Genau das ist die weitere Schwierigkeit. Sobald die KugelForm gebildet wird, sind alle halbwegs ausgebildeten Musiker und Sänger Virtuosen auf ihrem Instrument, die keinen einzigen Falschen Ton mehr hervorbringen, solange sie sich im Einflußbereich der Kugel aufhalten. Welchem magizoologischem Bedürfnis das entspricht ist immer noch ungeklärt, zumal Versuche mit Menschen gegen die internationalen Richtlinien zur Unterbindung nicht zur Erforschung von Heil- und Schutzmitteln dienlicher Experimente an Menschen verstoßen würden. So bleibt also nur, die physische Fusion zu verhindern oder die entstehenden Endformen möglichst rasch an einen abgeschirmten Ort zu bringen, wo niemand mit musischen Fähigkeiten wohnhaft ist. Die bisher entstandenen Kugelformen wurden deshalb in stillgelegten Bergwerksstollen eingelagert. Da sie nach den üblichen Kriterien für lebendige Wesen tot sind werden sie wohl dort Jahrhunderte zubringen, sofern es nicht zu einer organischen Zersetzung kommt. Doch die ältesten Kugelformen sind zweihundert Jahre alt und immer noch unversehrt. Da sie obendrein noch feuerunempfindlich und für Säuren und Gifte unangreifbar sind, werden sie entweder weiter dort lagern oder eines Tages in der Tiefsee versenkt.“

    „Dann können sie die gleich mit dem Atommüll der Muggel zusammen endlagern“, dachte Julius bei sich. Allerdings wußte man in der Zaubererwelt so gut wie nichts von der Radioaktivität, wußte Julius von seinen Besuchen in Millemerveilles und der Pflegehelferausbildung. Daher war völlig unklar, ob diese Kugeln nicht doch davon verändert werden konnten.

    „Sie sprachen an, daß nicht immer gewünschte Ergebnisse herauskommen, wenn Kreuzungen zwischen Molligloboidis domesticus und anderen Tieren oder magischen Tierwesen durchgeführt werden“, sagte Bernadette, als Armadillus ihr Sprecherlaubnis erteilte. „Sicherlich haben Sie von Miniaturformen von Molligloboidis Domesticus gehört, die gerade auf den britischen Inseln auf dem Markt sind. Diese sind doch völlig ungefährlich.“

    „Nun“, begann Professeur Armadillus, „ich werde mich nicht darauf einlassen, auf die gerade im Gange befindliche Diskussion im Tierwesenbüro einzugehen, ob diese Neuzüchtungen in Frankreich gehandelt und gehalten werden dürfen. Nur so viel, und das gilt als Grundsatz für meinen ganzen Unterricht: Wenn Sie aus welchem Grund auch immer mit welchen Ordinärtieren und / oder magischen Tierwesen Kreuzungen durchführen und dabei neue Lebensformen kreieren, so können Sie niemals mit Bestimmtheit ausschließen, daß diese Geschöpfe unerwünschte Eigenschaften besitzen oder durch den Umgang mit ihnen schädliche Verhaltensweisen entwickeln. Ihr muggelstämmiger Mitschüler“, wobei er auf Julius deutete, „asoziierte im letzten Jahr die Exemplare der Knuddelmuffs mit fiktiven Tieren eines anderen Planeten, die an sich ungefährlich und gar sehr possierlich sind, aber bei übermäßiger Nahrungsaufnahme zur explosionsartigen Vermehrung neigen, weil diese Tiere wohl nicht unter ihrer Art gemäßen Bedingungen gehalten wurden. Ob dieses oder ähnliches bei Neuschöpfungen auftreten kann oder gar ernsthaft gefährliche Ausprägungen entstehen, die aus den verwendeten Grundformen nicht zu ersehen waren, kann niemand sofort erkennen. Daher gilt ja das Statut zur größtmöglichen Beschränkung magischer Kreuzungen, das in den späten sechziger Jahren international vereinbart wurde. Was diese sogenannten Minimuffs angeht, so kann unabhängig von der Diskussion um Handel und Haltung gesagt werden, daß viele Magizoologen sehr irritiert sind, daß zwei in der Materie nur grundwissensmäßig vorgebildete Zauberer derartige Kreaturen erschufen und gleich damit auf den Markt gingen. Da in Großbritannien jedoch keine Intervention gegen diesen Handel unternommen wurde, haben wir jetzt gerade diese Diskussion in der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe.“

    Gloria Porter zeigte auf. Armadillus nickte ihr zu, daß sie sprechen durfte. Sie sagte:

    „Was diese Minimuffs angeht, so hat es wohl eine kurze Untersuchung vom Tierwesenbüro gegeben. Einige Exemplare wurden wohl zu Studienzwecken beschlagnahmt und einen Monat lang unter ständiger Beobachtung gehalten. Da die Ministerialbeamten im Moment weitaus größere Probleme haben als neue, höchstwahrscheinlich völlig ungefährliche Zwergzüchtungen bereits als absolut ungefährlich eingestufter Tierwesen. Zwei Bekannte in Hogwarts haben sich auch solche Tiere besorgt. Sie schreiben mir regelmäßig. Falls Sie möchten, Professeur, kann ich Ihnen gerne die mich nicht persönlich betreffenden Stellen aus den Briefen abschreiben und Ihnen zukommen lassen.“

    „Hört hört!“ Grummelte Bernadette, während Caroline Gloria leicht abschätzig ansah. Beide Mädchen hielten sie wohl für eine Streberin, wobei Bernadette wohl um ihre hohe Rangstellung in dieser Hinsicht fürchtete.

    „Nun, dies ist sehr nett von Ihnen, Mademoiselle Porter, aber ich fürchte, meine Kollegen könnten mir vorwerfen, Sie würden sich zu sehr auf mein Fach konzentrieren und die übrigen Schulfächer daher vernachlässigen. Vielen Dank für das Angebot! Da ich jedoch selber Bekannte in England habe, in deren Familie solche Wesen hineingeholt wurden, erhalte ich bereits regelmäßige Kurzberichte, seitdem ich mein Interesse an diesen neuen Geschöpfen bekundet habe“, wies Armadillus das Angebot zurück. Gloria nahm es hin, ohne daß man ihr ansah, ob sie sich nun enttäuscht, beleidigt oder zufrieden fühlte. Julius wußte es zu gut, daß Gloria ihre Gesichtszüge ausgezeichnet kontrollieren konnte. „Nun, hat noch jemand Fragen im Bezug auf die Harmonovons, die meine Kollegin Signora Moretti beantworten möchte?“ Fragte Armadillus noch. Natürlich gab es noch einige Fragen zu den rotfelligen Wesen, die gerade wieder anstimmten, eine mehrstimmige Melodie zu singen, die wie die Musik aus himmlischen Sphären klang. Armadillus übersetzte die Fragen für die italienische Besucherin und deren mit ausladenden Gesten untermalten Antworten für seine Schüler. Julius erkannte, daß mehrere Sprachen zu können sehr praktisch war. Als die Stunde vom Läuten der Pausenglocke beendet wurde gab der Lehrer noch auf, zur nächsten Doppelstunde über eurasische Feuerraben nachzulesen, die in den Büchern „Sprachbegabte Tierwesen“ von Winston Gabble und „Meilensteine der Magiornithologie“ von Hugo Dawn beschrieben wurden.

    „Dawn, ist der mit Aurora Dawn verwandt?“ Fragte Hercules Julius, als sie die Klasse verließen.

    „So viel ich weiß ist das ihr Vater“, sagte Julius, der hart darum kämpfen mußte, durch das Thema der Hausaufgaben nicht in diese Trübsal zurückzufallen. Wieder hatte ihn etwas berührt, daß alle Saiten zu Claires Leben anklingen ließ. Er sah diesen roten Vogel, der aus einem übergroßen, runden Käfig herausflog und sich in einer Baumkrone im Garten der Dusoleils niederließ, während Julius Claire begrüßte. Madame Odin hatte dieses Feuerrabenweibchen, Mademoiselle Rubinia, besessen. Bisher hatte er sich nicht zu fragen getraut, was aus dem Tier und dem restlichen Besitz von Clairres mit ihr zu Ammayamiria verschmolzener Großmutter geworden war. Gut, wahrscheinlich hatte Monsieur Tiberius Odin alles geerbt. Doch ob dieses Tier bei ihm wohnte und wie es ihm nun ging wußte er nicht. Er wußte, daß Feuerraben eine Kreuzung aus Phönix und Kolkrabe waren. Phönixe galten als lebenslang treue Gefährten von Hexen oder Zauberern. Er hatte mit Monsieur Odin nie darüber gesprochen, was aus Mademoiselle Rubinia würde, weil er sich nicht mit Vermächtnissen und dergleichen befassen wollte. Ammayamirias Entstehung und die ihr vorausgegangene Aufforderung Claires, er solle sein Leben in Freude weiterführen und nicht um sie trauern, ja sich so bald es ging mit einer anderen Hexe befreunden, halfen ihm schon darüber hinweg, daß Claire in ihrer bisherigen Form tot war. Nun, wo er sich mit dem Tier ihrer gleichfalls für tot erklärten Großmutter befassen mußte, bröckelte die von Ammayamiria, den Dusoleils und ihm errichtete Fassade der guten Gewißheit ein wenig, und wie von Ruß und Abgasen durchsetzter Nebel drang diese Trübsal zu ihm vor. Doch Hercules holte ihn eine Sekunde später mit seiner nächsten Frage in die Gegenwart zurück:

    „Hast du ihre Eltern schon mal getroffen?“

    „Wessen Eltern, Hercules?“ Fragte Julius. Da merkte Hercules, daß Julius wohl gerade abgeschweift war.

    „Die Eltern von Aurora Dawn, Julius. Hast du irgendwas?“

    „Hercules, das war jetzt wirklich die dümmste Frage, die du stellen konntest“, knurrte Céline Dornier hinter ihm. „Wir sollen über Feuerraben nachlesen. Na, und wer, den du auch schon mal gesehen hast hat so ein Tier gehabt, und was könnte Julius dann also haben?“

    „Ey, Moment, Céline, was soll die Kacke denn jetzt?!“ Schnaubte Hercules. Julius witterte einen unnötigen Streit und sagte rasch:

    „Nein, Hercules, ich habe Auroras Eltern noch nicht getroffen. Das hätte ich zwar vor zwei Jahren fast geschafft, wo ich bei ihren Verwandten in Cambridge gewohnt habe, aber Aurora hatte eine Einladung für mich, sie nach Millemerveilles zu begleiten, wo wir die Sparks gegen die Mercurios haben spielen sehen können. Céline, es gibt so weit ich mal gelernt habe keine dummen Fragen, sondern nur schlecht gewählte Zeitpunkte, sie zu stellen.“

    „Da hörst du es, Céline“, knurrte Hercules. „‚tschuldigung, Julius. Hätte ich mir echt denken müssen, daß du wegen dieser Tiere an Claire denken mußt und …“

    „Kein Problem, Hercules. Ich muß es wieder reinkriegen, bei der Sache zu bleiben, wenn ich mit jemandem spreche. Nachher sage ich noch aus Versehen Ja, und bin dann mit einer verlobt, mit der ich absolut nix gemeinsam habe, nur weil ich nicht richtig hingehört habe.“

    Hercules mußte lachen. Dann wandte er sich wieder an Céline und fauchte: „Julius hat’s besser raus, mit wem vernünftig zu reden als du. Also häng dich nicht in Sachen rein, die dich nix angehen …“ Unvermittelt trat ihm Céline kräftig vor’s linke Schienbein, holte mit der rechten Hand aus …

    „Mademoiselle Dornier!!“ Bellte Armadillus von hinten. Céline erbleichte noch mehr als sie ohne hin schon war. „Das sind fünfzig Strafpunkte wegen tätlichen Angriffs auf einen Mitschüler. Ich werde das Ihrer Saalvorsteherin melden müssen.“

    „Du hast mir vorgeknallt, ich sei blöd und bringst dann einen noch größeren Klops“, stieß Hercules zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Céline Dornier nahm Abstand von ihm, ohne ihm eine runterzuhauen. Da wußte Julius, daß Céline genauso hart an Claires körperlichem Tot knabberte wie er, nur daß sie nicht wußte, daß ihre beste Freundin nicht wirklich gestorben war. Vielleicht, so überlegte Julius, sollte er es ihr erzählen, wenn sie wirkliche Probleme damit haben würde. Dann erkannte er jedoch, daß es sich für sie wie ein Märchen anhören mußte, um sie zu trösten, wie ja die meisten Menschen davon sprachen, daß ihre verstorbenen Verwandten im Himmel seien und es ihnen sehr gut ginge. Abgesehen davon würde sie ihm dann womöglich die Schuld an Claires Tod geben, ihn womöglich zu hassen anfangen und ihn dazu bringen, sich selbst zu hassen. Doch das war nicht das, was Claire wollte. Außerdem, so dachte Julius, während er wie von einem Autopiloten gesteuert ohne sich konzentrieren zu müssen im Strom seiner Klassenkameraden mitmarschierte, konnte Ammayamiria ja in den Träumen anderer Zauberer auftreten, wie er es in der Nacht vor Claires Beerdigung erfahren hatte.

    In der folgenden Zauberkunstdoppelstunde sollte Julius den Accumulus-Zauber vorführen, der wahllos verstreute Gegenstände auf einem Haufen zusammentragen konnte. Als er ihn erfolgreich verbal gewirkt hatte mußte er ihn noch einmal nonverbal aufrufen. Beides gelang tadellos.

    „Da Ihr Schulkamerad ja ebenfalls in Kräuterkunde und der damit verbundenen Hege von Pflanzen engagiert ist ist dieser Zauber sehr Hilfreich, um abgetrennte Pflanzenstücke oder Klaubholz zusammenzutragen, ohne unnötig herumzulaufen oder sich andauernd bücken zu müssen, wie es bei den bedauernswerten Angehörigen der nichtmagischen Welt zur Gartenarbeit gehört“, erläuterte Professeur Bellart. Julius hatte sich derweil damit abgefunden, daß er immer wieder aufkommende Erinnerungen ignorieren mußte, die mit Claire oder ihrer Familie zu tun hatten. Denn Accumulus hatte er zum ersten Mal von Madame Dusoleil gezeigt bekommen, als sie Professeur Faucons großen Garten gepflegt hatte.

    Nach Geschichte der Zauberei, dem dritten Fach am Montagvormittag, ging es zum Mittagessen, wo Julius sich zusammennehmen mußte, sich nicht in die hitzige Unterhaltung zwischen Robert und Hercules hineinziehen zu lassen. Robert warf Hercules vor, seine Freundin dumm angemacht zu haben, worauf Hercules einwandte, sie habe ja angefangen und ihm dann noch vor’s bein getreten und fast noch eine runtergehauen. Robert Machte sich wohl Gedanken darum, daß Céline womöglich am Nachmittag schon Strafarbeiten oder sowas in der Richtung zu erledigen hatte, was Hercules ein gekünsteltes „Oh, das tut mir aber leid“ entlockte. Von da an gifteten sich die beiden Jungen noch mehr an. Julius steckte sich immer so viel Essen in den Mund, daß seine Backen links und rechts hervortraten wie bei einem Hamster. So hatte er eine ideale Ausrede, nichts sagen zu können. Céline tat ihm zwar ehrlich leid. Doch er mußte auch einsehen, daß sie wohl nicht immer die nötige Selbstbeherrschung hatte. Denn einmal hatte er gesehen, wie sie Bernadette eine runtergehauen hatte, weil sie darüber schadenfroh war, wie Professeur Fixus Laurentine vor allen Schülern die Auswirkungen eines verpatzten Zaubertranks ausbaden ließ. Dann war da noch dieser von Millie provozierte Zwischenfall, nachdem herausgekommen war, daß Célines Schwester Constance ein Kind erwartete. Mochte es sein, daß auch Céline rote Eigenschaften besaß wie ihre Schwester oder auch Sandrine und Claire? Dann dachte er daran, daß er sich das wütende Geknurre und Geschnaube seiner Klassenkameraden wohl noch abends im gemeinsamen Schlafsaal würde anhören müssen. Vielleicht sollte er den geräuschlosen Raum zaubern, damit Ruhe war.

    Julius war wieder einmal der erste vor Professeur Laplaces Klassenzimmer. Das lag daran, daß er als Pflegehelfer das Wandschlüpfsystem benutzen und damit die langen Korridore und Treppenhäuser meiden und innerhalb einer Sekunde von einem Ort des Palastes in die Nähe des betreffenden Raumes wechseln konnte. Er stand vor der Tür, als er noch jemanden aus dem Wandstück heraustreten sah, aus dem er selbst gekommen war. Es war Millie.

    „Na, auch schon da?“ Fragte sie locker und trat ruhig auf Julius zu. Er ging auf sie zu und gab ihr die Hand. Sie sagte frustriert: „Sei froh, daß du nicht mit Bernie Lavalette am Tisch sitzen mußt, Julius. Den ganzen Mittag mußte ich mir anhören, was für ekelhafte Streber ihr Engländer doch seid und wie durchgedreht Céline Dornier ist, eben ganz die Schwester und daß die wohl bald aus Beaux rausfliegt, wenn die ihre Hände und Füße nicht bei sich behalten kann.“

    „Ach, hat die angehende Jahrgangsbeste Angst, wir könnten ihr die Tour versauen?“ Fragte Julius abschätzig. „Abgesehen davon kann der das doch jetzt sowas von egal sein, wenn ihr Ex sich mit irgendwelchen Mädchen zankt und mit deren Freunden auch noch. Ich schlafe mit Hercules und Robert im selben Schlafsaal. Das ist bestimmt heftiger als Mademoiselle Bin-perfekts Getön.“

    „Ups, habe ich nicht dran gedacht, Julius. Hätte ich dran denken sollen, daß euer Robert sich deshalb mit Hercules verkracht, wenn seine Freundin womöglich Strafarbeiten machen muß und er dann keine Zeit zum Kuscheln hat“, erwiderte Millie spöttisch. Julius dachte schon daran, sie zu maßregeln, daß sie nicht über seine Schulfreunde herziehen solle. Doch sich noch mit Millie anzulegen hatte er keine Lust drauf.

    „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, Millie. Die sind wohl morgen wieder klar miteinander“, sagte er ruhig. „Und was Bernadette sagt ist mir doch schnurz. Ich weiß, daß Gloria sehr viel für die Schule tut und viel lernen will. Ravenclaw halt. Aber eine echte Streberin wie die Slytherins sie bei sich wohnen haben ist sie nicht und ich auch nicht. Solange ich das weiß kann mir eure Superschülerin nix.“

    „Die wird immer unausstehlicher, Julius. Die lag uns in der Pause vor dem Unterricht bei eurer Saalkönigin andauernd in den Ohren wegen dieser kleinen rosa Flauschebällchen. Offenbar hat Tante Babs da nicht ganz danebengetippt, als sie andeutete, daß die gerade für Mädels so interessant seien.“

    „Ach, dann möchtest du auch einen haben?“ Feuerte Julius eine dreiste Frage ab.

    „Ich denke nicht, daß ich sowas nötig habe, Julius, weder zum angeben noch als eine Art lebendes Spielzeug. Außerdem würde das wohl mit der Zeit langweilig werden“, sagte Mildrid. Julius grinste, was sie als Bestätigung ansah. So sagte sie noch: „Außerdem denke ich, daß ich mit mindestens zweibeinigen Lebewesen mehr Spaß haben kann als mit so’ner kleinen Fellkugel.“

    „Apropos klein, wenn deine Oma morgen zu uns kommt, was muß ich da beachten, um nicht mit ihr Krach zu kriegen?“ Wechselte Julius das Thema.

    „Das du nicht Tochter eines Kobolds oder Koboldmatratze zu ihr sagst. Dann könnte sie dir was ziemlich wichtiges ausreißen, wenn sie dich nicht noch erwürgt. Mit den Kobolden haben reinrassige Zwerge es überhaupt nicht. Aber dazu darf ich ja morgen abend was rauslassen, wenn das ganze Seminar zuhört“, erwiderte Millie. „Ansonsten ist Oma Lutetia genauso umgänglich wie Papa, Martine oder ich, halt eben nur, daß sie eine reinrassige Zwergin ist.“ Julius stutzte bei der Namensnennung und mußte dann grinsen. Millie fragte ihn in einem herausfordernden Ton, was es da zu grinsen gebe.

    „Die heißt echt Lutetia, wie die Stadt in Gallien, die heute Paris heißt? Ist ja heiß. Was geben die Zwerge ihren Mädchen für Namen?“

    „Eben, den Namen hat sie nicht von ihren Eltern und den anderen Zwergen gekriegt. Aber ich denke, das wird sie morgen selbst erzählen, wie sie sich den Namen zugelegt hat. Aber sie wird wohl beeindruckt sein, daß ein Engländer den uralten Namen von Paris kennt.“

    „Och, der wird in mindestens jedem dritten Asterix-Band erwähnt“, tat Julius das als Beiläufigkeit ab, daß er wußte, wie Paris früher mal geheißen hatte. Als Millie dann wissen wollte, was es mit Asterix auf sich habe erzählte er ihr was von Comics der Muggelwelt. Sie lachte nur und meinte, daß in der Zaubererwelt bessere Bilderbücher existierten, worauf er „Winnies wilde Welt“ einwarf.

    „Dieses Buch ist ja wohl der Hammer gewesen. Martine hat sich einmal davon reinziehen lassen und mußte ganze vier Stunden als Winnies Freundin herumlaufen und konnte nur wie eine fünfjährige reden. Danach hat sie es wohl sehr weit in die Ecke gepfeffert. Kaputtmachen ließ es sich damals nicht. Außerdem wußte Martine nicht, ob nicht noch wer darin gefangen gewesen war. Sie hat mir das mal erzählt, daß irgendein Junge aus ihrer Klasse mal diese Sweety gewesen sein soll, Winnies kleine Schwester, die wohl nicht mehr als ein halbes Jahr oder so alt war. Der Junge hat danach erst einmal genug vom Lesen in irgendwelchen Kinderbüchern gehabt“, sagte Millie.

    „mich hätte dieses Winnie-Buch auch fast mal reingezogen. Fies ist ja, daß du dir nicht aussuchen kannst, als wer von denen, die darin vorkommen du dann rumlaufen mußt oder eben nicht.“

    „Tja, behexte Bücher sind schon was gemeines“, sagte Millie und zwinkerte Julius vielsagend zu. Dieser verstand und meinte dazu nur:

    „Deshalb sollte man sie möglichst weit von sich fernhalten oder am besten gleich kaputtmachen.“ Millie grinste verschlagen und sagte:

    „Wenn man keine Angst hat, sich auf abgedrehte Sachen einzulassen. Sei froh, daß ich nicht Tante zu dir sagen muß.“

    „Och, nicht onkel“, stieß Julius sofort zurück, um nicht der Verlegenheit nachzugeben, die ihn ergreifen wollte.

    „Dann wäre dieses Ding wohl noch da und wir alle würden diesem Fluch folgen. Reicht schon, daß Maman wieder was kleines ausbrütet und Tante Babs und Tante Josianne auch noch.“

    „Und Catherine Brickston“, fügte Julius hinzu. Dann hielten sie beide inne, weil leises Gemurmel und Schritte aus der Ferne zu hören waren.

    Belisama kam zusammen mit Gloria und Estelle um die Biegung des Korridors, der vor dem Arithmantik-Klassenraum endete.

    „Hallo, Julius. Gloria hat mir erzählt, ich könne ja mal Pina oder ihre Schwester Olivia anschreiben wegen dieser Minimuffs“, sagte Belisama. Julius nickte.

    „Da hatten wir es auch schon von. Die sind nur was für Mädchen, die nicht wissen, mit wem sie ihre Zeit verbringen möchten“, warf Millie ein. Gloria sah sie sehr ruhig an und erwiederte:

    „Jedem das seine, Mademoiselle Latierre. Ich unterstelle Pina und ihrer Schwester bestimmt nicht das, woran du und deine Verwandten wohl hso häufig denken, daß sie gleich von sich auf andere schließen. Minimuffs sind einfach nur niedliche Tierchen, die gerade von jungen Hexen gerne gehalten werden, die aus dem Puppenalter raus sind und sich keine Katzen oder andere Haustiere halten wollen.“

    „Na klar, Gloria. Am Anfang sind die nur niedlich. Aber weiß man schon, was die später alles anstellen?“ Konterte Millie. „Aber ich denke, meine Tante wird das in die Zeitung setzen, ob diese rosa Flauschebällchen hier verkauft werden können oder nicht. Dann ist ja immer noch zu klären, ob Madame Maxime die hier in Beauxbatons erlaubt, sofern die nicht an unsere Schwatzfratze und die Kniesel verfüttert werden.“

    „Millie, das ist echt fies“, versetzte Belisama mädchenhaft.

    „In Peru essen sie sogar Meerschweinchen“, sagte Julius unerwartet und fing sich von Belisama und Gloria einen bitterbösen Blick ein. Gloria meinte dann noch:

    „Langsam verstehe ich Mels Freundin Brittany, daß wir vielleicht doch davon Abstand nehmen sollten, Tiere zu essen.“

    „Was sollen wir denn dann essen, um in Form zu bleiben, Mademoiselle Porter?“ Fragte Millie. „Von Gemüse und Salat alleine kriegst du nicht die nötigen Eiweiße, um deinen Körper in Form zu halten. Dann würden wir alle so Hungergestelle wie Céline Dornier.“ In dem Moment tauchte Laurentine Hellersdorf auf und funkelte Mildrid wütend an. Julius sagte schnell:

    „Ich habe gegen Brittany Forester Quodpot gespielt, Millie. Die ist dafür, daß sie eben nur Obst, Gemüse und Salat ißt in sehr guter Form.“

    „Lästerst du mal wieder über Leute ab, die nicht anwesend sind, Millie Leichtfuß?“ Knurrte Bébé.

    „Was stimmt stimmt“, verteidigte sich Mildrid ganz entschlossen. „Sie weiß das auch. Sonst wäre sie wohl nicht so ausgerastet, nur weil Hercules ihr was gesagt hat.“

    „Von dem du nicht weißt, worum es dabei ging und daher nicht das Maul aufreißen solltest“, fauchte Bébé wütend. „Also halt dich da bloß geschlossen!“

    „Sonst gibt es was?“ Fragte Millie sehr provozierend.

    „Mindestens einen Sack Strafpunkte von eurer Saalvorsteherin“, erwiderte Laurentine. Millie mußte darüber lachen.

    „Klar, du möchtest deiner spargeldünnen Freundin ja nicht nacheifern und dir an mir die Finger verbrennen, jetzt wo du endlich in der richtigen Spur bist.“

    „Ich zeige dir gleich mal, wie gut ich in der Spur bin“, knurrte Laurentine und machte Anstalten, nach ihrem Zauberstab zu greifen. Belisama sprang ihr jedoch in den Weg und flüsterte sehr energisch auf sie ein.

    „Millie, muß das denn echt sein, dich jetzt mit Laurentine anzulegen?“ Fragte Julius genervt. Millie sah ihn an und sagte ruhig:

    „Sie hat sich mit mir angelegt. Und bevor du es mir wieder um die Ohren haust, daß ich es ja darauf angelegt habe: Ich lasse mir von keiner die nicht älter als ich selbst ist verbieten, meine Meinung zu sagen, klar.“

    „Dann müßtest du dir von mir sagen lassen, was du zu lassen hast“, wandte Gloria ein. „Seit vorgestern bin ich ein Jahr älter als du.“

    „Ja, aber in einem Jahr bist du nicht mehr in Beauxbatons, Gloria“, konterte Millie. Dann wandte sie sich wieder Julius zu und sagte: „Im Gegensatz zu allen anderen hier bin ich eben ehrlich und lüge keinem was vor, nur um irgendwelchen Verhaltensregeln zu entsprechen.“

    „Gut, mag ja sein, Millie. Aber das Wort Hungergestell ist eine Beleidigung für Leute, die eben nicht so viel essen, nur um rundlicher auszusehen. Könnte dir auch passieren, daß du schneller wächst als du an Gewicht zunimmst. Wenn ich deine Schwester und deine Mutter so ansehe, muß das ja irgendwann bei dir auch losgehen.“

    „Gloria ist nicht gerade kleiner als ich“, sagte Millie laut genug, daß Gloria es mitbekam. „Sie sieht aber besser ernährt aus als Céline. Wo ist die eigentlich? In einer Minute geht der Unterricht los.“

    „Wenn sie nicht auf dem Klo ist wird sie wohl noch bei Professeur Faucon sein, um zu klären, was da heute morgen zwischen ihr und Hercules abgelaufen ist. Sie wollte nur Julius helfen, weil Hercules sich wohl irgendwie im Ton vergriffen hat und wurde von dem dumm angemacht“, gab Laurentine mißmutig dreinschauend Auskunft.

    „Er hat sich nicht im Ton vergriffen, Laurentine, sondern nur eine Frage gestellt, die Céline als nicht angebracht empfand“, erzählte Julius seine Version des Vorfalls. „Er hat mich gefragt, ob ich Aurora Dawns Vater, der das Buch über magische Vogelkunde geschrieben hat schon einmal getroffen habe, und weil ich nicht sofort richtig reagiert habe wollte er wissen, was ich hätte. Du hast ja Rubinia gesehen, den Feuerraben von Claires Oma Aurélie, die ja auch durch diesen Mistfluch …. Lassen wir das bitte! Es ist dumm gelaufen und sollte nicht unnötig ausgewalzt werden. Céline hat sich halt nur zu einem Angriff auf Hercules hinreißen lassen. Jetzt wird sie es wohl wissen, daß sowas hier nicht gut ankommt.“

    „Dann geh du am besten nach der Stunde zu Professeur Faucon und kläre das bitte!“ Knurrte Laurentine. Julius sah sie leicht geknickt an und sagte:

    „Als wenn die sich von mir breitschlagen ließe, Céline keine Strafarbeit aufzudrücken. Abgesehen davon bin ich ja nachher eh beim Verwandlungskurs für fortgeschrittene. Vielleicht meint Professeur Faucon, mich noch mal befragen zu müssen. Nur dann werde ich mit ihr reden.“

    „Céline hat es gut mit dir gemeint, Julius“, zischte Laurentine. „Wenn du sie jetzt in der Kiste hängen läßt ist das echt unfair von dir.“

    „Ey, Laurentine, ich habe Céline nicht dazu aufgefordert, sich mit Hercules anzulegen. Was da gelaufen ist wäre in einer Sekunde zwischen ihm und mir ganz vernünftig geklärt gewesen, wenn sie nicht aus einer Mücke einen Elefanten gemacht und sich damit selbst in die Strafarbeit reingeritten hätte. Unterstell mir bloß nicht, ich wäre daran schuld, hörst du!“ Er sah sie sichtlich verstimmt an. Dann sagte er ruhig: „Wir alle haben da noch dran zu knabbern, daß Claire nicht mehr da ist, Laurentine. Aber ich weiß bestimmt, daß sie nicht will, daß wir uns deshalb mit anderen Leuten herumzanken. Ich denke, daß wird Professeur Faucon Céline auch sagen und vielleicht keine Strafarbeit verhängen.“ Laurentine sah ihn erst mißmutig, dann verstehend und beipflichtend an.

    „Gut, du mußt mit Hercules besser klarkommen als Céline, ist Klar. Auch das mit Claire stimmt wohl. Immerhin kriegen Céline und ich das jeden abend immer und immer wieder mit, wenn wir in den Schlafsaal gehen, wo ein unbenutztes Bett steht. Ich weiß nicht, ob das wirklich so geschickt ist, das noch bis zum Jahresende stehen zu lassen. Wir wissen auch so, daß sie nicht mehr wiederkommen wird“, sagte Laurentine und mußte unvermittelt weinen. Julius fühlte, wie ihre Stimmung auf ihn übergriff und stemmte sich dagegen, gleichfalls loszuweinen. Interessanterweise sagte niemand der anderen ein Wort dazu. Millie sah Laurentine leicht verlegen an, eine von ihr seltene Miene, Belisama rang wohl wie Julius um Fassung und Gloria beobachtete Julius mit einem ruhigen Ausdruck im Gesicht. In dieses aus spontaner Traurigkeit geborene Schweigen hinein trafen die noch fehlenden Schülerinnen der Arithmantikklasse ein.

    Céline sah Laurentine an, die immer noch weinte. Dann blickte sie Julius an, der eine konzentrierte Miene aufgesetzt hatte, als führe er gerade eine wichtige Aufgabe aus oder sei mit allen Sinnen bei einem Kampf. Dann erwiderte er ihren Blick und winkte ihr zu. Leise raunte er:

    „Laurentine ist geknickt, weil wir uns wegen der Sache von heute Morgen darüber hatten, daß wir wohl alle noch wegen Claire ziemlich am boden sind.“

    „Und das rote Lästermaul hat die Sache noch angefacht, schätze ich“, zischte Céline und funkelte Millie an, die bis dahin ruhig und leicht verlegen zugesehen hatte, als wolle sie bloß kein falsches Wort verlieren, was, wie Julius es gerade ja erst wieder mitbekommen hatte, ganz gegen ihre Art war. Jetzt aber sagte Millie mit einem sehr ernsten Ausdruck zu Céline:

    „Mädchen, ich weiß genau, daß euch das mit Claire ziemlich zu schaffen macht. Da wäre ich echt fies, wenn ich mich darüber auslassen würde. Also fang jetzt nicht auch noch Krach mit mir an. Das bringt dir doch gar nix.“

    „Man kennt seine üblichen Verdächtigen“, knurrte Céline nicht ganz überzeugt von Millies Unschuld. Da kam aber schon Professeur Laplace um die Ecke, und alle machten ihr Platz.

    „Geht es Ihnen nicht gut, Mademoiselle Hellersdorf?“ Fragte sie Laurentine, die gerade die letzten Tränen fortwischte. Sie sah die Lehrerin an und erwiderte mit belegter Stimme:

    „Doch, Professeur, es geht mir gut. Ist schon alles in Ordnung.“

    „Falls es etwas gravierendes ist, gebe ich Ihnen gerne die Erlaubnis, zu Madame Rossignol zu gehen, um sich untersuchen zu lassen“, sagte die Lehrerin. Doch Laurentine schüttelte den Kopf. Jetzt wegen eines Weinkrampfes die Heilerin zu behelligen und dadurch den Unterricht zu verpassen hielt sie für Schwäche, die sie vor allem Millie nicht zeigen wollte. Da sonst niemand aussah, als habe er oder sie ein Problem, befahl die Lehrerin den Schülerinnen und dem Schüler, in die Klasse zu gehen.

    Nach der Doppelstunde kehrte Julius mit Céline und Laurentine in den Gemeinschaftsraum der Grünen zurück, wo Céline erzählte, daß sie von Professeur Faucon die Strafarbeit aufbekommen habe, am Sonntag morgen zwei Stunden bei ihr nachzusitzen, um die gerade durchgenommenen Verwandlungszauber zu vervollkommnen, mit denen sie im Moment noch große Probleme hatte. Julius verstand es so, daß die Saalvorsteherin tatsächlich gnädig war. Mancher von den Blauen oder anderen Missetätern hatte schon mal die Fußböden im ganzen Palast schrubben müssen. Julius bot ihr an:

    „Wenn du möchtest, kann ich dir bei der Vorbereitung helfen.“

    „Ich denke, ich packe das besser alleine, Julius. Ich weiß, du meinst es gut. Aber ich denke, Professeur Faucon will testen, ob ich nicht nur gut im Jungshauen bin. Da du bei ihr diesen Occlumentiekram lernst, würde sie es rauskriegen, wenn du mir hilfst und dann wohl entsprechend angesäuert sein. Darauf lege ich es nicht an.“

    „Céline, sie darf das, was sie bei mir rauskriegt nicht gegen andere oder mich selbst benutzen, weil sie dann mehr Ärger kriegte als sie dir machen könnte. nach diesem Blutrachefluch wäre sie fast gefeuert worden. Da wird die nicht den Unterricht mißbrauchen, den sie auf eine direkte Forderung meiner magischen Fürsorgerin gibt.“

    „wieso wäre sie fast gefeuert worden?“ Fragte Céline argwöhnisch, weil Julius etwas erwähnte, daß ihr bis dahin nicht bekannt war.

    „Weiß ich von Madame Eauvive und Catherine“, sagte Julius rasch, um den Verplapperer, dessen er sich jetzt bewußt war auszubügeln. „Das war so ähnlich wie bei Madame Rossignol. Als sie ihr nachwiesen, daß sie nichts für Claires Tod konnte, hat Madame Maxime darauf verzichtet, sie zu suspendieren oder gleich zu feuern.“

    „Klar, daß das nicht jeder mitbekam“, flüsterte Céline, die nun zu verstehen glaubte. „Aber trotzdem möchte ich das, was sie mir aufgeladen hat alleine durchziehen, auch und gerade für mich, um zu sehen, ob ich mehr drauf habe als bisher drin war.“

    „Tja, wenn du wirklich mehr kannst mußt du das ab dann immer auf voller Leistung zeigen“, sagte Julius, der sich zu gut entsann, was sie ihm vor der Umschulung hier hin über Beauxbatons und was er hier zu bringen hatte erzählt hatten.

    „Erzähl mir mal was neues!“ Erwiderte Céline leicht verbittert, mußte dann aber grinsen. „Deshalb mußt du ja gleich zum Fortgeschrittenenkurs. Was macht ihr heute?“

    „Im Moment noch mittelgroße Sachen apportieren. Wenn ich das raushaben sollte, bevor der November um ist, will sie mir das Beschwören von kleinen Tieren aus dem Nichts beibringen. Ist heftiger als die Invivo-ad-Vivo-Verwandlung und soll wohl die Vorstufe der Selbstverwandlung sein“, sagte Julius verlegen, weil er wußte, daß das erst nach den ZAG-Prüfungen im Unterricht kommen würde.

    „Hat Constance mir schon erklärt, daß das zeigt, wie gut du deine Gedanken auf einen bestimmten Zauber ausrichten kannst“, sagte Céline. Julius nickte beipflichtend.

    Der Kurs Verwandlung für Fortgeschrittene verlief für Julius anstrengend, weil er sich mit den Aufgaben etwas schwerer tat als mit den Sachen im Unterricht. So sollte er kleinere Tische, Kommoden und komplizierter beschaffene Dinge wie Standuhren oder Flaschenzüge mit fünf Rollen aus dem Nichts heraus beschwören. Die meisten dieser Dinge erschienen entweder viel zu klein, ziemlich ramponiert oder nur zur Hälfte. Einige Versuche endeten mit sofort in sich verflüchtigenden grauen Nebelwolken, die von Professeur Faucon fortgezaubert werden mußten. Die Montferres waren derweil bei ihren Selbstverwandlungsübungen und wurden zu Wasserpfützen, Nebelgestalten oder kleineren Tieren.

    „Nun, Sie werden es wohl erkannt haben, daß zwischen kleineren und größeren Objekten ein Kraftunterschied besteht, der nicht linear zur Größe, sondern kubisch zum eingenommenen Raum ansteigt“, sagte Professeur Faucon, als Julius einen Sekretär heraufbeschwor, der genau zehn Sekunden stabil blieb und dann zu diesem grauen Nebel wurde. „Aber die Tatsache, daß sie zumindest schon temporäre Objekte konjurieren können zeigt, daß Sie kurz davorstehen, die entsprechende Menge Zauberkraft zu konzentrieren. Alles eine Frage der Übung.“

    „Am besten mache ich erst mit kleineren Materialisationen weiter“, sagte Julius etwas erschöpft.

    „Sie haben die Grundformeln für mittelgroße Objektmaterialisationen gelernt und haben mit diesen keine Probleme. Sie weiterhin mit kleineren Materialisationen herumwerkeln zu lassen wäre Zeitvergeudung“, wwies Professeur Faucon Julius‘ Vorschlag zurück. „Zumindest sollten Sie bis zum Ende des nächsten Monats die permanente Materialisation beherrschen. Dann werde ich Ihnen wie den meisten Schülern der sechsten Klasse die Beschwörung lebender Kleintiere auftragen, die anders als die Flüche mit Materialisationskomponenten zehnmal mehr Kraft brauchen, weil dabei permanent existenzfähige Geschöpfe entstehen sollen. Nur damit Sie wissen, daß ich weiterhin an Ihre Fähigkeiten glaube und Ihnen die Erweiterung Ihrer Leistungsgrenzen ermöglichen werde.“

    Abends war Julius sichtlich geschafft. Hercules fragte ihn deshalb scherzhaft:

    „Na, hast du mit Königin Blanche zwei Stunden Samba getanzt oder was?“

    „Neh, Tango, Hercules“, antwortete Julius schlagfertig. Sein Klassenkamerad stutzte erst und mußte dann lachen.

    __________

    Im Vergleich zum Montagnachmittag war der Dienstagmorgen für Julius wie ein Spaziergang. Das einzige Problem war dabei, daß Professeur Fixus mitbekam, daß er ihren Unterricht eher als Erholung ansah und ihm neben dem für alle zu brauenden Gegengifttrank noch eine Lösung zur Unentflammbarkeit von Kleidung und Möbeln abverlangte. Bernadette, die argwöhnisch beobachtete, daß Julius einen zweiten, kleineren Kessel zum Brauen auf ein von ihm heraufbeschworenes Zauberfeuer setzte, winkte Professeur Fixus zu sich und sprach mit ihr. Die Lehrerin sah sie leicht ungehalten an und trug ihr offenbar auf, ebenfalls zwischen den Misch- und Rührphasen des eigentlichen Tranks einen schneller zu brauenden Trank anzusetzen. Kurz vor Läuten der Schulglocke sammelte die Lehrerin Proben der Gebräue ein und sagte der ganzen Doppelklasse aus Roten und Grünen zugewandt:

    „Wie Sie wissen, habe ich in Übereinkunft mit meinen Kollegen Faucon, Trifolio und Bellart beschlossen, Monsieur Andrews‘ weiterreichende Fachkenntnisse zu fordern. Offenbar erschien es Mademoiselle Lavalette ungerecht, einen einzelnen Mitschüler derartig mit Arbeit zu betrauen und wünschte, ihr Können gleichermaßen zu beweisen. Ich kam diesem Wunsch nach und werde sehen, ob und wie ich andere Damen und Herren Ihrer Klasse, sofern sie es sich zutrauen, bereits vorzuarbeiten, zusätzliche Aufgaben erteilen kann. Wer mag möge sich in diese Liste hier eintragen. Ich warne Sie jedoch, daß die Bereitschaftsbekundung sich nicht nur positiv auf meine Notengebung auswirken kann, da auch unbrauchbare Ergebnisse gewertet werden müssen. Außerdem berechtigt eine Bereitschaftserklärung, in meinem Unterricht mehr zu leisten keineswegs dazu, sich in anderen Fächern zu verschlechtern. Den Herrschaften aus meinem Saal lege ich diese Warnung besonders ans Herz, da Sie wissen, daß ich sehr unerbittlich sein kann, was selbstverschuldete leistungsschwächen angeht. Da ich davon ausgehe, daß meine Kollegin Faucon ähnlich über die ihr anvertrauten Schüler und Schülerinnen denkt, mögen die jungen Damen und Herren des grünen Saales es sich ebenfalls sehr gründlich überlegen, ob sie Mademoiselle Lavalettes Beispiel folgen mögen.“ Dabei sah sie Waltraud Eschenwurz an, die ihrem Blick jedoch locker standhielt. Robert Deloire hob die Hand und bat so ums Wort.

    „Sie sagen, wir dürfen es uns überlegen, ob wir mehr bei Ihnen machen als im Unterricht drankommt. Julius haben Sie aber nicht diese Möglichkeit gelassen. Immerhin sind seine Zauberkräfte für die Zaubertrankbraukunst ja nicht so wichtig wie bei Verwandlung, Zauberkunst oder die Abwehr dunkler Kräfte. Ist das dann nicht doch etwas ungerecht ihm und uns gegenüber?“

    „Ich möchte nicht unnötig Ihre und meine Zeit mit Wiederholungen längst bekannter Tatsachen verschwenden, Monsieur Deloire. Aber in den Schulregeln steht drin, daß bei Erkenntnis von fortgeschrittenen Kenntnissen und / oder Zauberkräften der Lehrkörper in einer Zusammenkunft beschließen kann, dem Schüler oder der Schülerin die möglichst beste Förderung dieser fortgeschrittenen Kenntnisse und / oder Kräfte zu ermöglichen, ja ihn oder sie dabei natürlich auch an die bestehenden Leistungsgrenzen zu führen. Das Sie den Mut aufbringen, mir zu unterstellen, dieser Verpflichtung nicht nachkommen zu müssen, da die überdurchschnittliche Begabung Ihres Mitschülers sich auf sein Zaubertalent bezieht, das angeblich nicht für den Zaubertrankunterricht benötigt wird muß ich respektieren, Monsieur Deloire. Jedoch möchte ich Ihnen zum letzten Mal sagen, daß Ihr Mitschüler bereits mehr über Zaubertränke weiß als die meisten Anderen Schüler seines Jahrgangs. – Ich sagte die meisten, Mademoiselle Lavalette.“ Bernadette hatte die Lehrerin verbittert angesehen. Doch diese sah sie mit einem eiskalten Blick an, als wolle sie sie schockgefrieren. „Deshalb habe ich Monsieur Andrews genauso wie meine Kollegen darauf hingewiesen, ihn mehr als die anderen zu fordern, da ich den nicht ganz von der Hand zu weisenden Eindruck habe, er könnte sonst vor Langeweile in meinem Unterricht einschlafen.“ Einige der Roten kicherten, wurden dann schlagartig wieder still, als ihre Lehrerin sie durch ihre goldene Brille mit den ovalen Gläsern anfunkelte. „Um jeder und jedem hier mehr Einsatzmöglichkeiten zu eröffnen, zumal ja viele von Ihnen in meiner Alchemie-AG sind, habe ich beschlossen, jedem, der sich in meine Liste einträgt mehr zu tun zu geben, was auch heißt, zusätzliche Hausaufgaben aufzugeben. Denen, die sich nicht eintragen entsteht daraus kein Nachteil in der Benotung, da ich vordringlich das Pensum des laufenden Schuljahres als Grundlage benutze und bei der Zusatzarbeit das Verhältnis von Qualität und Quantität bewerte. Will sagen, wer das leistet, was dem Lehrplan nach verlangt wird, kann ebenso sehr gute Noten erreichen wie jemand, der Zusatzarbeiten verrichtet, wobei ich da genauer darauf achte, ob die Ergebnisse ohne Gleichen, zu erwarten, akzeptabel oder unbrauchbar sind. Dies wohl noch als notwendige Zusatzinformation für jene, die gerne mehr bei mir arbeiten möchten, weil sie sich dadurch eine bessere Benotung erhoffen.“ Dann legte sie eine Pergamentrolle auf ihren erhöhten Steintisch, auf dem sie gerade die gesammelten Proben aufgereiht hatte. Während sie die kleinen Probeflaschen in ihre gefütterte Drachenhauttasche packte sah sie immer wieder auf ihre Schülerinnen und Schüler. Außer Bernadette Lavalette traute sich nur noch Waltraud Eschenwurz, ihren Namen auf die Pergamentrolle zu setzen. Die anderen dachten wohl nicht einmal daran, sich da einzutragen. Denn Professeur Fixus sagte nach einer Minute, in der nichts weiteres geschah:

    „Nur, damit keiner hier sagt, ich hätte ihr oder ihm nicht angeboten, mehr zu zeigen als ich bisher verlange, was ja schon sehr viel und für die meisten von Ihnen auch genug ist.“ Die Schulglocke läutete. „In Ordnung, es ist Pause. Bis zum nächsten mal, Mesdemoiselles et Messieurs!““

    „Bis zum nächsten Mal, Professeur Fixus!“ Antworteten die Schüler im Chor und verließen den Kerker, in dem die zaubertrankstunden stattfanden.

    „Klar, daß die Lavalette sich da sofort einträgt“, knurrte Céline, neben der Julius die Steintreppe nach oben stieg. „Hoffentlich fällt die dabei mal so richtig auf die Nase.“

    „Das mit der Liste hat professeur Fixus doch nur abgezogen um endlich Ruhe in die Kiste zu bringen“, knurrte Julius zurück. „Mir machen Zaubertränke zwar großen Spaß, und vielleicht will die mich deshalb drangsalieren, damit ich das reinkriege, daß es kein reiner Spaß ist. Aber drum gerissen habe ich mich nicht und hatte das auch nie vor.“

    „Wir wissen es“, fauchte Céline. „Die hat sich nur an den Besenschweif von Faucon und Bellart drangehängt, die meinen, dir mehr abverlangen zu dürfen, weil du mehr Zauberkraft hast als „die meisten von uns“. Wobei sie Fixus‘ Windgeheulstimme immitierte, als sie „Die Meisten“ sagte.

    „ich muß zur Pausenaufsicht, Céline“, sagte Julius rasch und wandschlüpfte zum Pausenhof, wo er gerade auf Professeur Faucon traf, die als Lehrerin die Pausenhofaufsicht machte. Julius ging, wie es bei den Pflegehelfern üblich war, zusammen mit ihr über den Hof und achtete darauf, daß es keine Unfälle gab. Dabei sagte er auf ihre Frage, wie es ihm nach dem anstrengenden Nachmittag gehe:

    „Nun, es wird schon richtig sein, bestimmte Sachen erst in der sechsten oder siebten Klasse dranzunehmen. Aber ich konnte gut schlafen und war daher wieder gut erholt, als der Unterricht weiterging.“

    „Nun, ich bezog mich auf Ihre Gefühlslage. Haben Sie den Eindruck, immer um Ihre Selbstbeherrschung kämpfen zu müssen oder kommen Sie mit der neuen Ausgangssituation zurecht?“

    „Sie meinen wegen Céline und dem, was gestern passiert ist?“ Fragte Julius.

    „Ja genau. Ich hatte den Eindruck, daß der Verlust von Claire Dusoleil nicht nur von Ihnen schwer zu tragen ist. Allerdings darf Trauer oder Verlustangst nicht zu derartigen Ausfälligkeiten führen, wie Mademoiselle Céline Dornier sie gezeigt hat. Sie kommen also mit Ihrer Situation soweit zurecht, daß Sie den an Sie gestellten Anforderungen entsprechen können?“

    „Ob ich das immer kann weiß ich nicht“, sagte Julius. „Zumindest ist das alles hier ein Zwischending zwischen altbekannt und total neu, als wenn ich in ein Paralleluniversum gewechselt wäre, in dem fast alles so ist wie da wo ich herkomme.“

    „In gewisser Weise haben Sie – haben wir – das Universum gewechselt. Besser, das bisherige Universum ist einem neuen gewichen, in dem wir nun leben und nicht alles so vertraut ist wie es vorher war“, antwortete Professeur Faucon, bevor sie entrüstet zu Walltraud und Bernadette Lavalette hinübersah, die sich in einer scheinbar uneinsehbaren Ecke des Pausenhofes gestenreich unterhielten und dabei nicht gerade Freundlichkeiten austauschten.

    „Können und wollen Sie mir verraten, was die beiden jungen Damen derartig aufbringt?“ Fragte die Saalvorsteherin der Grünen. Julius nickte und erwähnte kurz, daß professeur Fixus allen angeboten habe, mehr Aufgaben im Unterricht zu übernehmen, die sich in eine Liste eintrügenund daß Bernadette und Waltraud die einzigen seien, die das Angebot angenommen hätten.

    „Hmm, ich erhielt bereits Kenntnis davon, daß Mademoiselle Lavalette sich selbst unter einen sehr hohen Erfolgsdruck setzt, als wenn unsere Anforderungen alleine nicht ausreichten. Ich sehe jedoch keinen Grund, sich mit einer Mitschülerin über die Wahrnehmung eines zusätzlichen Leistungsangebotes zu streiten.“

    „Ich habe gelernt, daß die Hormone bei heranwachsenden Mädchen heftiger durcheinandergeraten als bei Jungen“, versuchte sich Julius in einer Deutung. Professeur Faucon sah ihn durchdringend an und sagte dann:

    „Zum Teil stimmt das. Aber das alleine reicht nicht aus, um sich in derartige Feindseligkeiten hineinzusteigern.“

    Waltraud wirkte zwar angespannt, schien jedoch die ruhigere der beiden zu sein. Dann sah sie Professeur Faucon, die mit Julius zusammen auf sie zuhielt und winkte ihr.

    „Ich werde dem nachgehen. Beobachten Sie bitte weiter den Pausenhof. Ich erteile Ihnen die Befugnis, bei aufkommenden Rangeleien dazwischenzugehen und notfalls magische Maßnahmen zur Beendigung durchzuführen.“ Julius nickte und fühlte, wie die ihm aufgeladene Verantwortung auf seine Schultern drückte. Er schritt weiter über den Pausenhof. Millie sah ihn alleine, warf dann einen Blick zu Professeur Faucon hinüber, die sich gerade mit Bernadette Lavalette und Waltraud unterhielt und winkte Julius zu sich.

    „Bernie spinnt jetzt wohl voll. Was soll denn das mit eurem blonden Fräuleinwunder?“

    „Wenn du Waltraud meinst, dann ist das das, was bei Muggelmännern als Hahnenkampf oder Territorialkampf bezeichnet wird. Das mit der Liste war für eure Bernie eine Art Kriegserklärung, und jetzt läuft die erste Schlacht. Aber ich muß die Runde alleine machen, um kein Chaos aufkommen zu lassen, wenn die Blauen mitkriegen, daß ihnen keiner zukuckt.“

    „Ich komme mit“, sagte Millie. Julius konnte ihr das nicht grundsätzlich verbieten, weil sie auch eine Pflegehelferin war.

    Zu Julius‘ Erleichterung hatte heute keiner Lust, sich zu prügeln oder einen Zauberscherz loszulassen. Millie teilte Julius mit, daß ihre Tante Barbara heute ein Interview für den Miroir geben würde, in dem sie über die Minimuffs reden würde.

    „Hoffentlich ziehen die eure Familie nicht durch den Kakao, weil so viele von euch gleichzeitig schwanger sind“, sagte Julius leicht besorgt. Immerhin könnte es den Reportern einfallen, die Sache mit Orions Fluch auszugraben und sensationell auszuschlachten.

    „Du glaubst doch nicht ernsthaft, daß meine Verwandten sich von einem X-beliebigen Reporter befragen ließen, wo wir mit Gilbert Latierre einen von uns beim Miroir haben, der auch noch aus dem Ministerium berichtet.“

    „Wohl dem, der seinen Klüngel hat“, sagte Julius leicht abfällig. Millie grinste und meinte, daß er mit seinen Beziehungen es besonders nötig habe, sowas zu sagen. Um nicht den Eindruck zu machen, sie könne ihn sprachlos machen sagte er rasch: „Nur daß ich mir die Kontakte nicht ausgesucht oder herangezüchtet habe. Wie ist denn der Typ mit dir verwandt?“

    „Es ist der Cousin meiner Mutter, der zweite Sohn meiner Großtante Cynthia. Den hast du bei uns nicht gesehen, weil Großtante Cynthia mit ihren Kindern nur dann ins Schloß kommt, wenn echte Familienfeiern anstehen, weil sie der Sache mit diesem Fluch nicht über den Weg traut, der auf Château Tournesol lag.“

    „Da geht dir wohl einer ab, was, Millie? Hast du vergessen, daß Martine die ganzen Tage um mich herumgelaufen ist?“

    „Gelaufen ist?“ Konterte Millie. „Sie fragt mich ständig in Briefen danach, wie es dir jetzt geht und ob du sehr tief geknickt bist, weil das mit Claire passiert ist und das sie hofft, daß du wieder Spaß am Leben finden wirst.“

    „Soso, wieso schreibt sie mir das nicht?“ Fragte Julius und kämpfte um seine Selbstbeherrschung.

    „Oh, hätte ich wohl besser nicht erzählen sollen“, knurrte Millie leicht verärgert. „Aber auf deine Frage zurückzukommen, Julius: Wenn abgehen heißt, daß es mich irgendwie richtig toll glücklich macht, dann muß ich sagen, daß mir da nichts und niemand abgeht, wenn ich daran denke, daß du fast mit meiner Schwester im Bett gelandet wärest, und wenn das mit dem Fluch tatsächlich so gelaufen wäre, wir alle wie rammeldolle Kaninchen übereinander hergefallen wären, ohne uns den Partner auszusuchen. Hui, Bernie schiebt ab“, sagte Millie, als sie sah, wie Bernadette sich wie ein begossener Pudel trollte.

    „Dann wird Professeur Faucon gleich wieder bei mir sein, Millie. Nett, daß du sie vertreten hast“, sagte Julius mit fiesem Grinsen.

    „Ich denke nicht, daß sie mich jemals so frei herumlaufen ließe wie dich“, erwiderte Millie etwas verstimmt. Dann wünschte sie ihm noch viel Vergnügen beim Unterricht und eilte davon, bevor Professeur Faucon wieder bei Julius war, der ihr meldete, daß nichts vorgefallen sei.

    „Das habe ich gesehen, Monsieur Andrews, Mademoiselle Latierre hat sich ja bereitgefunden, sie bei der Begehung des Pausenhofes zu begleiten“, sagte Professeur Faucon kühl. Julius nickte nur bestätigend. Aber er sagte nichts dazu. „Offenkundig gilt einigen Schülern der Akademie das Prestige, das sie durch gute Benotung und eine herausragend positive Erwähnung erwarten mehr als kameradschaftliches Miteinander“, grummelte Professeur Faucon einige Sekunden später. Julius setzte schon an, sie zu fragen, ob das nicht das Ziel sei, möglichst gute Noten zu erreichen als sie ihm leise zuraunte: „Positive Rückmeldung auf Grund hervorragender Leistungen ist eine wichtige Motivationshilfe innerhalb der Akademie. Aber das allein macht keinen gut ausgebildeten Zauberer oder eine gut ausgebildete Hexe aus. Natürlich verlangen meine Kollegen und ich von jedem die ihm und ihr möglichen Höchstleistungen. Aber das heißt zumindest für mich auch, daß gesellschaftlich korrektes Miteinander erlernt und gepflegt werden soll. Das merken Sie sich bitte, da mir Madame Rossignol häufig mit dem Einwand kommt, Sie vordringlich zu schulischen Höchstleistungen erziehen zu wollen.“

    „Ich habe keine Probleme damit, daß andere Leute bessere Noten in Schulfächern haben“, sagte Julius. „Ich verstehe den Krach nicht, den Leute wie Bernadette Lavalette machen.“

    „Nun, ich fürchte, da geht es Ihnen teilweise wie mir. Andererseits sind Sie nicht in der Bredullie, der Mademoiselle einerseits zu weniger Ehrgeiz raten zu müssen, ihr aber andererseits wie allen anderen auch die bestmöglichen Leistungen abzuverlangen“, seufzte Professeur Faucon. Dann sah sie, wie Jacques Lumière von den Blauen sich regelrecht vor den beiden Latierre-Schwestern flüchtete und auf dem Weg zum Palast war. professeur Faucon lief los, Julius hinter ihr her. Er staunte, daß die Lehrerin noch einen so guten Antritt hatte. Denn innerhalb von nur fünf Sekunden war sie bei Jacques, der gerade durch die Seitentür schlüpfen wollte.

    „Monsieur, während der großen Pause haben sich alle Schülerinnen und Schüler, sofern sie nicht im Krankenflügel oder wegen dringender Bedürfnisse unterwegs sind auf dem Pausenhof aufzuhalten. Müssen Sie dringend wohin?“

    „Jaja, Professeur Faucon, sehr dringend“, schnaubte Jacques und öffnete die Tür. Professeur Faucon hielt ihn zurück.

    „Ich fürchte, Sie beschwindeln mich, Monsieur. Wenn Sie wirklich ein derartiges Anliegen hätten, wären Sie gewiß bei Pausenbeginn an den entsprechenden Ort geeilt. Könnte es sein, daß Sie sich bedrängt fühlen und das Heil in der Flucht suchten?“

    „Und wenn?!“ Blaffte Jacques. „Ich habe es nicht nötig, mich von diesen überdrehten Küken verfolgen und dumm anlabern zu lassen, Professeur Faucon. Sie können mir gerne hundert Strafpunkte aufladen, wenn Ihnen das Spaß macht. Aber ich bleibe nicht mehr auf dem Pausenhof …“

    „Ey, Jacques, haben die beiden Landmädels dich geärgert?“ Fragte ein Klassenkamerad Jacques‘ mit feistem Grinsen. professeur Faucon machte eine fortscheuchende Handbewegung. Dann sagte Sie:

    „Was für ein erwachsener Mann wollenSie einmal werden, wenn Sie nicht lernen, unerwünschte Situationen vor Ort zu klären anstatt vor ihnen davonzulaufen?“

    Julius sah sich um und erblickte die Zwillinge von Barbara Latierre, die jedoch äußerst respektvollen Abstand zu Professeur Faucon hielten. Er hielt es für richtig, zu ihnen hinzugehen, wobei er Professeur Faucon im Auge behielt und sagte ihnen:

    „Mädels, ich denke, der will nix von euch. Außerdem müßte er sich ja dann für eine von euch entscheiden.“

    „Wir wollten doch nur wissen, ob bei dem Kältewiderstandstrank Salamander- oder Feuerkrabbenblut verrührt werden muß. Wegen Professeur Faucons Hausaufgaben kamen wir nicht zur Vorbereitung der nächsten Stunde“, sagte Callie Latierre mit unschuldsvoller Miene.

    „Ach, und diese Frage hat Jacques so angenervt, daß er meinte, schnell wieder in den Palast zurückrennen zu müssen?“ Wunderte sich Julius. Pennie sagte:

    „Er meinte, das wäre unser Pech, wenn Fixie uns dafür reinrasseln ließe und wir ja eben dann rausflögen, wenn wir das nicht auf die Reihe bekämen und er sich freuen würde, wenn’s soweit ist. Als Callie ihn dann fragen wollte, was dieser Blödsinn jetzt solle, hat er sie nur zurückgeschupst und ist weggegangen. Das haben wir uns natürlich nicht bieten lassen und wollten ihm nach.“

    „Soso“, erwiderte Julius nicht so ganz überzeugt.

    „Monsieur Andrews, ich denke, dieses Verhör obliegt mir“, sagte Professeur Faucon etwas ungehalten. Julius zog sich sofort zurück und beließ es dabei, den Hof weiter zu beobachten, wo Jacques mit seinen Klassenkameraden redete, die ihn teils schadenfroh teils mitfühlend ansahen. Zu Julius‘ Erleichterung hielt professeur Faucon ihm keine Standpauke und gab ihm auch keine Strafpunkte, weil er sich was herausgenommen hatte. So verstrich die Pause ohne weitere Ereignisse.

    Der restliche Unterricht war die übliche, anstrengende Routine. Julius erledigte zusammen mit Céline, Robert und Hercules die angefallenen Hausaufgaben, bevor er sich für das Zauberweesenseminar bereitmachte.

    „Was kommt bei euch heute dran?“ Fragte Hercules.

    „Zwerge“, erwiderte Julius. „Millie will uns was über die Lebensweise der Zwerge erzählen. Dann soll wohl ihre Oma väterlicherseits noch zu uns kommen. Bin ja echt gespannt auf die. Ich habe noch nie ’ne Zwergenfrau gesehen.“

    „Ich auch nicht“, sagte Robert. „Aber das liegt wohl daran, daß die männlichen Zwerge ihre Weibchen im Haus halten und da auch noch nackt herumlaufen lassen.“

    „Bitte was?“ Fragte Julius amüsiert.

    „Lass Millie ihm und den anderen das erzählen, Robert!“ Forderte Céline ihren Freund auf. „Immerhin hat sie ja dafür ackern müssen, um einen Vortrag über dieses Volk zusammenzukriegen“, fügte sie mit bösartiger Betonung hinzu.

    „Komm, Céline, du tust jetzt gerade so. als wenn Millie faul oder dumm wäre“, erwiderte Hercules. Julius fügte dem noch hinzu:

    „Oh, falls du das echt denkst unterschätzt du die aber heftig. Ich glaube nicht, daß millie keine Ziele hat, für die sie ranklotzen will und dumm ist sie garantiert nicht.“

    „Woher weißt du das so genau?“ Fragte Céline argwöhnisch.

    „Das ist jetzt echt ’ne blöde Frage, Céline“, erwiderte Hercules biestig. Julius wußte, daß das die Retourkutsche für ihren Ausfall von gestern war. Er sagte schnell:

    „Céline, Martine war Saalsprecherin der Roten und ist Millies Schwester. Ich habe ihren ganzen Anhang kennengelernt und dabei keinen einzigen getroffen, der irgendwie geistig unterbelichtet wäre. Denen sind halt andere Sachen wichtiger als manchem von uns.“

    „Jungs anmachen, um zu testen, ob die sich drauf einlassen“, fauchte Céline gehässig. Hercules meinte dazu nur:

    „Das wäre ja nur dein Ding, wenn eine von den Latierres dir Robert ausspannen wollte. Habe ich in der Hinsicht was verpennt oder was?“

    „Wenn du Millie oder eine ihrer Cousinen oder ihre kleine Tante haben willst, Culie, dann ist das dein Ding“, knurrte Céline verärgert. „Ich sage nur, daß Millie mehr tönt als ackert, und die Ansicht behalte ich.“

    „Im Moment tönst du mehr als sie“, warf Hercules überlegen grinsend ein. Robert funkelte ihn drohend an und zeigte ihm die rechte Faust, während Céline ihn sehr abschätzig anblickte. Julius dachte schon, er müsse den aufkommenden Streit im Keim ersticken, als Waltraud Eschenwurz zu ihnen kam und sagte:

    „Ich glaube, wir müssen los.“ Julius atmete auf. Er hatte einen Grund, dieser streitlustiger werdenden Runde zu entfliehen und nickte der deutschen Gastschülerin beipflichtend zu.

    „Was haben die ddrei denn jetzt gerade?“ Fragte Waltraud, als sie durch die sich auflösende und hinter ihnen wiederverfestigende Wand den grünen Saal verlassen hatten.

    „Céline ist wohl im Moment wegen Claire heftig durch den Wind, Waltraud. Deshalb kann ein falsches Wort sie wütend machen.“

    „Du bist aber nicht durch den Wind wegen Claire oder?“ Fragte Waltraud direkt heraus. Julius schluckte über diesen unerwarteten Vorstoß. Dann sagte er ruhig:

    „Nun, richtig gut geht es mir nicht, seit sie weg ist. Ich merke vor allem, wie viel ungenutzte Zeit ich jetzt habe. Aber ich weiß auch, daß Claire bestimmt nicht will, daß ich mich wegen ihr durchhängen lasse oder auf alles und jeden sofort wütend werde. ich denke aber, daß ich da noch lange brauche, um irgendein normales Leben zu führen.“

    „Du hast wohl rechtt damit, daß Claire zu viel Lebensfreude hatte, um sich länger durchhängen zu lassen. Aber ehrlich gesagt ist Céline wohl nicht die einzige, die gerade Probleme mit anderen Leuten hat. Ich kapiere es nicht, daß Bernadette meint, ich solle gefälligst weniger machen als sie, wenn mir was daran läge, hier keinen Ärger zu kriegen. Gut, daß Professeur Faucon ihr da die richtige Meinung gesagt hat.“

    „Welche Meinung?“ Fragte Julius mehr neugierig als ehrlich betroffen.

    „Das man hier nicht nur für gute Noten lernt sondern um sich im Leben anständig zu benehmen“, sagte Waltraud. „Mal sehen, wie gut das bei der vorhält.“

    „Die hat mich auch auf dem Kieker, weil ich ihr letztes Jahr angeblich die Bestnote in Zaubertränken abgejagt habe. Das ist doch Unsinn. Bestnoten sind doch keine Einzelsachen, die nur wenige Leute kriegen können.“

    „Irgendwie ist die wohl gerade merkwürdig drauf, macht wohl das Wachstum.“

    „Du meinst die Hormone“, meinte Julius. „Das sind Stoffe im Blut, die bei bestimmten Gefühlen oder Situationen stärker oder schwächer ausgeschüttet werden und die Gefühle beeinflussen.“

    „Die Existenz dieser Stoffe ist mir bekannt“, sagte Waltraud etwas gelangweilt. Julius entschuldigte sich dafür, daß er meinte, ihr was beibringen zu müssen. Sie nahm die Entschuldigung an und sagte noch:

    „Womöglich hat Bernadette Probleme damit, weil sie nicht weiß, ob ein Mädchen zu sein ein Geschenk oder eine Krankheit ist. Aber das soll die bitte selbst rauskriegen. Ich weiß, was ich mache und warum und habe keine Lust auf dieses primitive Geplänkel. Gehört zwar angeblich zum Erwachsenwerden dazu, ist mir aber irgendwie lästig. Ich habe dir das jetzt nur erzählt, weil ich dich eben gefragt habe, wie du dich gerade fühlst, was mich ja eigentlich auch nichts angeht, wäre es nicht so, daß ich andauernd die Stimmung im Schlafsaal mitkriege und damit irgendwie klarzukommen habe.“

    „Vielleicht solltet ihr Claires Bett nicht zu lange bei euch stehen haben“, sagte Julius. Waltraud nickte behutsam.

    Vor dem Seminarraum warteten bereits die Montferres, die Duisenbergs und Millie Latierre, welche einen Stapel Pergamente unter dem linken Arm trug.

    „Die anderen sind noch unterwegs?“ Fragte Julius in die Runde.

    „Irgendwas bei den Weißen, wo alle noch in ihrem Saal bleiben sollten“, sagte Patrice Duisenberg. „Könnten aber in fünf Minuten da sein.“

    Tatsächlich trafen innerhalb der nächsten Minuten erst die Teilnehmer aus dem violetten Saal und ganz zum schluß, bereits vorangetrieben von Madame Maxime, die Teilnehmer aus dem weißen Saal ein. Gloria eilte auf Julius zu und flüsterte nur:

    „Alles gute zum Halloweentag. Schade, daß das mit der Feier nicht zu machen war.“

    „Ebenfalls fröhliches Halloween“, wünschte Julius zurück. Dann schob sich die an die drei Meter aufragende Madame Maxime, die heute ein mitternachtsblaues Satinkleid trug, an ihnen vorbei. Julius konnte jetzt erst sehen, daß hinter der überragenden Schulleiterin jemand weiteres ankam.

    Sie wirkte von der Größe her wie ein achtjähriges Kind. Doch die schon faltige, wie braunes Leder wirkende Haut, die hellwachen, tiefschwarzen Augen und die ausladenden Rundungen zeigten deutlich, daß die Frau, die hinter Madame Maxime hergelaufen sein mußte, absolut kein Kind mehr war. Sie trug eine orangerote Bluse und einen rubinroten, fast bis zu den kleinen Füßen herabreichenden Wollrock. Sie lief barfuß und schien damit absolut keine Probleme zu haben. Ihr ziegelrotes Haar war kurzgeschnitten und stand bürstengleich von ihrem runden Kopf mit den im Verhältnis dazu großen, anliegenden Ohren ab. Die Fremde lächelte und zeigte zwei Reihen gleichförmiger, nadelspitzer, weißer Zähne. Julius fühlte fast körperlich eine diese kleine Humanoidin umgebende Aura wilder Entschlossenheit und Kraft, ähnlich der, die Madame Maxime wie ein unsichtbarer Mantel umkleidete. Das war also eine Zwergin, die Besucherin des heutigen Abends, der Grund dafür, daß es Martine und Millie gab, kam Julius ein leicht irritierender Gedanke. Er atmete das sehr herbe Parfüm ein, das die Zwergin aufgelegt hatte und das alle von den Mädchen benutzten Duftwässer überlagerte.

    „Alle bitte in den Seminarraum!“ befahl Madame Maxime. Als die versammelten Schülerinnen und Schüler ihrer Aufforderung gefolgt und in den großen Hörsaal eingetreten waren, winkte Madame Maxime ihren Gast zu. Die Zwergin eilte behände durch den Raum und warf sich unaufgefordert auf einen Stuhl, der den Sitzreihen genau gegenüberstand. Ihre nackten, mit dicker Hornhaut überzogenen Füße baumelten auf halber Höhe der Stuhlbeine über dem Boden.

    „Ich wünsche Ihnen allen einen recht guten Abend und begrüße Sie zu einer der anschaulicheren Seminarstunden“, sagte Madame Maxime ruhig. Dann deutete sie auf die Zwergin und sagte. „Das ist Madame Lutetia Arno, eine ehemalige Angehörige der zwergischen Gesellschaft aus dem Höhlenreich unterhalb der Pyrenäen.“ Madame Arno sah alle sehr genau an, als sie ihr zuwinkten. Dann sagte sie mit einer leicht angerauhten Kleinmädchenstimme:

    „Ich habe gehört, jemand hier wollte unbedingt was über zwerge wissen und erzählen und suchte wen, die nicht so gut auf die bei denen vorkommenden sogenannten Anstandsregeln festgebacken ist. Aber eure Schuldirektorin hat mir gesagt, ich solle erst mal hören, was so über das Volk, in das ich mal hineingeboren wurde bei euch schon bekannt ist.“ Sie sah Mildrid herausfordernd an. Diese bekam leicht gerötete Ohren, nickte dann aber. Madame Maxime räusperte sich und sagte:

    „nun, gemäß dem mit Madame Arno vereinbarten Ablaufplan möchte ich nun Mademoiselle Mildrid Ursuline Latierre darum bitten, uns vorzutragen, was Sie an Informationen über die Zauberwesenart Nanus authenticus zusammengetragen und aufbereitet hat.“ Millie stand von ihrem Platz auf und ging mit ihrem Pergamentstapel zur großen Tafel. Sie nahm ein Stück weißer Kreide und schrieb mit leicht quietschenden Geräuschen mehrere Schlagwörter hin: Merkmale, Mutter-Kind-Verbund, Mannesschmiede, Feuergekleideter, Neubart, Zwerge und Kobolde, Zwerge und Zauberer, Gesellschaft der Zwerge, Bärte als Rangsymbol der Männer, Verhalten zwischen Zwergenmännern und Frauen. Als sie die Worte alle hingeschrieben hatte, drehte sie sich ihrem Publikum zu, zu dem sich nun auch Madame maxime gesellte, die Schreibzeug und Pergament vor sich hingelegt hatte. Millies zwergische Oma hatte sich derweil auf den Stuhl gestellt. Madame Maxime funkelte sie zwar verärgert an, bekam jedoch einen trotzigen Gesichtsausdruck zur Antwort. Lutetia Arno besaß wohl ein so großes Selbstbewußtsein, daß es ihr egal war, ob Madame Maxime verärgert war oder nicht.

    „Ich möchte Ihnen und euch heute erzählen, was in der Zaubererwelt über die in unterirdischen Behausungen lebenden und arbeitenden Zauberwesen bekannt ist, die wir im allgemeinen als Zwerge bezeichnen, und die in der Magizoologie mit dem Namen Nanus authenticus bezeichnet werden“, begann sie. Dann fuhr sie fort:

    „Zwerge entstanden wohl vor mehreren Jahrtausenden aus kleinwüchsigen Menschen und den Urhexen, die als Stammmütter aller wild lebenden Zauberwesen gelten. Sie werden nie größer als ein acht Jahre altes Menschenkind, besitzen als Jungzwerge eine weiche, blaßrosa Haut, die im Verlauf ihres Wachstums zu einer reißfesten, feuerunempfindlichen Haut wird, die außer am Kopf keinerlei Behaarung aufweist und besitzen einen sehr kräftigen Körper. Den Männern wachsen ab dem zwölften Lebensjahr die ersten Bärte, neben den auch bei Menschen üblichen Geschlechtsmerkmalen das allerwichtigste Unterscheidungsmerkmal eines Zwergenmannes. Doch dazu komme ich später noch genauer. Sie sind siebenmal stärker als ausgewachsene Menschen, Ihr Blut gibt ihnen eine hohe Widerstandskraft gegen Gifte, nichttödliche Flüche, Verwandlungszauber, wobei die durchschnittliche passive Transfigurationsresistenz erwachsener Zwerge bei 79,25 liegt. Dazu sind sie noch unempfindlich gegen Kälte. Feuer kann ihnen so gut wie nichts anhaben, da ihre derbe Haut so verhornt ist, daß Flammen daran ersticken. Weil ihre Gifttoleranz unvergleichlich ist sind sie in der ganzen Zaubererwelt als unbesiegbare Kampftrinker berüchtigt, die auch dann noch senkrecht stehen und störungsfrei laufen und sprechen können, wenn sie 100 ausgewachsene Zauberer unter den Tisch getrunken haben. Auch wenn sie keine Alkoholiker im üblichen Sinne werden können, kann man unter ihnen mehr Trinker als Abstinenzler finden. Für ihre Lebenseinstellung gehört das Vertragen von heftigen Alkoholmengen genauso zum echten Männerdasein wie die Länge des Bartes. Es laufen sogar Wetten unter den Zwergen, wer soviel Alkohol in seinen Körper reintrinkt, daß sein eigener Schweiß angezündet werden kann. Außerdem haben sie den Schnackelmannbrandwein erfunden, einen 99 % Alkohol enthaltenden Fusel, bei dem die noch eingebrachten Geschmacksstoffe unwichtig sind, da ein Normalmensch die nicht herausschmecken würde und ein Zwerg nicht sonderlich achtet. Der Brandwein reagiert mit dem Verdauungssystem des ihn trinkenden Zwerges so heftig, daß beim Aufstoßen Funken bis kleine Flammenstöße aus dem Mund entfahren können. Zwergenfrauen sind wie Menschenfrauen jeden Monat für einige Tage empfängnisbereit. Sie tragen neun Monate lang ein bis zwei Kinder aus, die sie zusammen mit anderen werdenden Zwergenmüttern zur Welt bringen. Hierzu noch mehr.

    Zur Lebensweise der Zwerge folgendes: Sie leben in meistens unterirdischen Siedlungen, die in natürlichen Höhlen oder gegrabenen und gemauerten Hallen liegen. Ihre Lebensweise ist ein strenges Patriarchiat. Das heißt, dort bestimmen ausschließlich die Männer, was getan oder gelassen wird, und die Frauen haben sich unterzuordnen“, dabei sah sie verstohlen zu ihrer Großmutter hinüber, die ihr jedoch auffordernd zunickte, sie möge ruhig weitersprechen. „Überhaupt treten Frauen in der Öffentlichkeit gar nicht in Erscheinung. Sie bleiben in den Häusern der Eltern oder zugeführten Ehemänner, wo sie stets unbekleidet zu sein haben, um nicht in Versuchung zu kommen, sich unter das restliche Volk zu mischen. Das Oberhaupt eines Zwergenstaates ist der König, der aus einer Reihe von Ausdauerkämpfen hervorgeht und bis zu seinem Tod regiert, sofern nicht ein anderer Zwergenkönig seinen Thron beansprucht und ihn im bewaffneten Zweikampf tötet. Zwerge sind begnadete Bergarbeiter, Schmiede und Mechaniker. Sie haben gelernt, durch ihren Schweiß in von ihnen gelernte Zauberrunen die Magie der Erde, des Feuers, der Luft und des Wassers auf einen Gegenstand legen zu können und haben magische Kriegsgeräte gebaut, wie Riesenrüstungen, in deren Helmen eine Mechanik eingebaut ist, die von einem darin hockenden Zwerg mühelos mit Kopf, Armen und Beinen bedient werden kann und der Rüstung Beweglichkeit und Kampfkraft verleiht. Außerdem haben sie das Goldfeuer erfunden, eine magische Lichtquelle, deren Strahlen mechanische Kräfte auf feste Körper übertragen können. Sie sind die Erzrivalen der Kobolde, da sie an diese zum einen ihr Monopol auf Edelmetall verloren haben und zum anderen den Zauberern bei der Niederschlagung diverser Koboldaufstände geholfen haben.

    Eine Ausnahme vom ständigen Verbleib im Haus der Eltern oder des Ehemannes ist die Mutter-Kind-Gruppe, in der eine schwangere Zwergenfrau ab dem sechsten Monat mit anderen werdenden Müttern zusammenlebt. Innerhalb der Gruppe bringen sie nach Beendigung der Schwangerschaft ihre Kinder zur Welt, wobei die Mitglieder der Mutter-Kind-Gruppe sich gegenseitig als Hebammen helfen.“ Milies Oma nickte bestätigend. „Die töchter bleiben bis zum Ende des Wachstums mit 15 Jahren bei der Mutter und lernen alles was eine Zwergin so können muß. Söhne werden nach dem vierten Geburtstag von der Mutter weggeholt und in die Mannesschmiede gesteckt, eine Schule, wo männliche Zwerge die Jungen mit sehr rauhen Methoden abhärten und in ihre ordentliche Lebensweise einführen. Mit zwölf Jahren sprießen die Bart- und Körperhaare. Dann wird der Jungzwerg „fertiggebrannt“, in dem er mit reinem Alkohol übergossen und angezündet wird. Da die junge Zwergenhaut noch nicht so feuerunempfindlich ist, schreit der Jungzwerg schmerzhaft, während er unter dem Johlen seiner erwachsenen Zuchtmeister wie eine große Fackel brennt.“ Bei dieser Erwähnung verzogen sämtliche Seminarteilnehmer ihre Gesichter und sogen laut zischend Luft zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen ein. Julius sah und hörte einen kleinen Jungen vor sich, der laut schreiend und vor Schmerzen herumtobend lichterloh brannte und von einer wild johlenden Bande bärtiger Burschen umringt war. Doch er verdrängte dieses brutal wirkende Bild und hörte weiter auf Millies Vortrag. Sie hatte zehn Sekunden gewartet, bis das Unbehagen über das, was sie gerade berichtet hatte verflogen war und fuhr fort: „Wenn das Feuer ausgegangen ist, wird er von seinen Lehrern und älteren Mitschülern herumgeworfen und zum „Feuergekleideten“, auf zwergisch „fisrin, ausgerufen. Er ist dann gehalten, ein Handwerk zu erlernen, für das er als Kind bereits ein gewisses Talent bewiesen hat. Wächst ihm nach dem Brennen der Bart neu, muß dieser wachsen, bis der Zwerg mit der Ausbildung fertig ist. Dann schneidet ihm sein Lehrmeister den Bart komplett ab, wickelt ihn sich um den geschickten Arm und ruft ihn zum Ferenuin aus, was Neubart bedeutet. Damit übernimmt der Meister den Lehrling als Gesellen in seinen Handwerksbetrieb. Der Jungzwerg ist dann aber gebunden, weil sein Jungzwergenbart am Meister festhängt. Der neue Bart darf nun nie wieder gestutzt oder verbrannt werden. Will der Zwerg den Meister wechseln oder selbst Meister des Handwerks werden, muß er die Bartprobe bestehen. Hierbei bindet er das Ende seines Bartes an jenen Strang Barthaare, die sein Meister sich um den Arm band und muß mit eigener Körperkraft daran ziehen, was der Meister durch eigene Armkraft bekämpft. Kann der Jungzwerg den am Arm seines Meisters festgebundenen Bart losreißen, ohne sich selbst den angewachsenen Bart auszureißen, ist er frei und kann entweder den Meister wechseln oder in einem Trinkkampf den alten Meister aus dem Amt saufen, was jedoch lange dauern kann. Reißt sein Bart jedoch aus, bindet sich der Meister das ausgerissene Stück Bart um den Arm, was für den Herausforderer heißt, daß er auf Lebenszeit nur für diesen Meister arbeiten darf. Hält er sich nicht dran, wird ihm der Bart komplett abrasiert und ihm wie ein Stück Henkersschnur um den Hals geschlungen. Jeder Zwerg kann dann sehen, daß hier ein Untreuer Bartloser, auf Zwergisch Ferengari, herumläuft, der jeden gesellschaftlichen Rang einbüßt und zum Toilettendienst und Windelnwaschen auf Lebenszeit verdonnert ist.“ Julius mußte bei der Erwähnung des Wortes „Ferengari“ unwillkürlich grinsen. Er kämpfte gegen den ihn überkommenden Lachanfall an. Millie sah es wohl und unterbrach räuspernd ihren Vortrag. Sie sah Julius an und sagte: „Ich weiß, was dich gerade so amüsiert, Julius. Aber dazu sage ich gleich noch was.“ Sie lächelte. Madame Maxime räusperte sich ungehalten über die Unterbrechung. Millie sah sie abbittend an, wartete einen Moment und sprach dann weiter. „Des zur Bartlosigkeit verurteilten Zwerges wachsender Bart wird regelmäßig gestutzt, damit er nicht meint, sich wieder zurück ins Männerleben schummeln zu können. Daher ist die Zwergentreue sprichwörtlich, und viele Zwerge schwören mit „Bei der Länge meines Bartes“ den heiligsten Eid, zu dem sie gezwungen werden können, indem man sie eben an demselben zu packen schafft und droht, ihm die Zierde des Zwergenmannes abzuschneiden und zu verbrennen, sodaß er nicht einmal als Untreuer herumlaufen darf. Dann würde er nämlich getötet. Insofern hängt das Leben eines Zwerges an seinem Bart. Deshalb ist tunlichst darauf zu achten, daß bei der Arbeit die Bärte hochgesteckt sind oder bei einem Meister unter der Arbeitskleidung gut geschützt verborgen sind. Allerdings sollte es niemand darauf anlegen, einen Zwerg zu einem Bart-Schwur zu zwingen. Zwerge sind nicht nur sehr stark, sondern überaus nachtragend und gruppenbewußt. Wer von einer Kompanie rachsüchtiger Zwerge in ein magisches Krankenhaus geprügelt wurde bestätigt dies allzugern. Schwören Zwerge aus irgendwelchen Gefälligkeiten und Ehrenschulden heraus den Bart-Schwur, kann man unter den Zauberwesen die eigenständig denken und handeln keinen treueren Gefährten finden.

    Da die Zwergenfrauen nackt und vor fremden Blicken verborgen gehalten werden kam es bisher selten zu Mischlingen aus Mensch und Zwerg. Gemunkelt wird, daß der Hogwarts-Lehrer Professor Filius Flitwick von einem Zwergenmann abstammen soll, was jedoch nie bestätigt wurde.“ Gloria zeigte daraufhin auf. Madame Maxime sagte darauf, daß dieses Gerücht bereits in dieser Runde abgehandelt worden sei, worauf Gloria nickend die Hand wieder sinken ließ. Millie sah erneut Julius an und sagte ganz ruhig: „Zu erwähnen sei noch, daß ein vorwitziger Zauberer ein Buch der Zwergenzucht aus Deutschland nach Amerika entführt hat, wo es als Kuriosum versteigert wurde und einem phantasievollen Muggel in die Hände viel, der die Sitte, daß alle Zwergenfrauen unbekleidet zu Hause bleiben sollen, als Vorlage für kleinwüchsige, großohrige Geschöpfe mit einem aufgeblähten Machogehabe und einem Hang zu skrupelloser Habgier umdichtete, die auf einem fiktiven Planeten namens Ferenginar leben sollen. Dabei bedeutet das Wort Ferengari in der Zwergensprache eben „Bartloser“ und ist – wie zu erwarten steht – die tödlichste Beleidigung, noch vor „Sohn eines Kobolds“ oder „Kobolddiener“. Wie es zu dieser Erzfeindschaft zwischen den Zwergen und Kobolden kam, erzähle ich Ihnen und euch nun.“

    Millie berichtete nun fast zehn Minuten über die Zusammenstöße der Zwerge mit den Kobolden, wobei sie den Stil Professeur Pallas‘ benutzte, um die geschichtlichen Daten nicht als Abfolge einschläfernder Zahlen und Namen herunterzurattern. Julius fühlte sich voll bestätigt, daß Millie alles andere als dumm oder faul war. Denn allein die detailierte Beschreibung bestätigter Ereignisse mochte sie mehrere Stunden in der Bibliothek festgehalten haben. Denn das meiste davon stand nicht im Standardbuch der Zaubereigeschichte.

    „… So mußte der norwegische Zwergenkönig Shalrin II. am fünften Januar 1720 vor dem Sprecher der Koboldallianz Traplock, dem Häuptling der schottischen Hochlandkobolde die Kapitulation der vereinigten Zwergenheere bekunden, was als Schmach vom schwarzen Felsen in die Geschichte der Zwerge und als Tag des unvergessenen Jubels bei den Kobolden in die Geschichte einging. Den Zauberern erwuchs daraus die Notwendigkeit, nur noch mit den Kobolden über die Beschaffung und Verwahrung von Vermögenswerten wie Gold, Silber, Kupfer oder Edelsteine verhandeln zu können und trotz der niedergeschlagenen Koboldaufstände große Zugeständnisse zu machen. Doch die Zwerge sind nach wie vor auf dem Gebiet der magischen Mechanik sehr begehrte Arbeitskräfte, was zwischendurch zu kleineren Reibereien mit ortsansässigen Kobolden führt, weil diese kein Metall an Zwergenhandwerker herausrücken wollen. „Die sollen selber buddeln“, lautet einer der berühmtesten Aussprüche des Gringotts-Kobolds Glitterock aus dem Jahre 1790. Allerdings haben die Zauberer es irgendwie angestellt, Zwergenbergarbeiter und Gringotts-Kobolde zu einem für beide Seiten ungeliebten Metallhandelsabkommen zu bewegen, demnach Zwerge, vordringlich in Deutschland und auf den britischen Inseln, geförderte Edelmetalle zu ihnen genehmen Preisen an die Kobolde verkaufen können, wenn die sonstigen Verdienstmöglichkeiten beschränkt sind. Allerdings sind solche zwergischen Bergarbeiter bei Ihresgleichen nicht so gut angeschrieben und üben ihr Geschäft in absoluter Verschwiegenheit aus. Was die Wohnorte angeht ist durch die letzte Schlacht zwischen Zwergen und Kobolden eine sehr klare Abgrenzung entstanden. Zwergenstaaten mit mehr als zehntausend Bürgern gibt es nur noch in Skandinavien. Dahingegen gibt es dort außer den in Gringotts beschäftigten Kobolden keine Siedlungen der Kobolde selbst. Auf den britischen Inseln dagegen gibt es nur kleine Siedlungen von gerade zweihundert Bürgern im Zaubererdorf Hogsmeade, wo Zwerge und Kobolde eine Zone der Unangreifbarkeit vereinbart haben. In Frankreich gibt es mit dem Höhlenstaat unter den Pyrenäen die einzige Siedlung von Zwergen mit gerade fünftausend Bewohnern.“ Millies Oma nickte bestätigend. „Anders als bei den Kobolden unterhält das französische Zaubereiministerium kein gesondertes Verbindungsbüro zu den Zwergen, sondern einen Gesandten, der sowohl Zwerg als auch Mitarbeiter in der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe ist und dem Leiter der Abteilung allein zu berichten hat und dessen Vorschläge, keine Anweisungen, an die hiesigen Zwerge weitergibt, wo der König dann für alle bestimmt, in welcher Form die Vorschläge angenommen oder geändert werden. Der König kann auch beschließen, einen neuen Abgesandten ins Ministerium zu berufen, ohne daß der Abteilungsleiter dagegen Einspruch erheben kann. Seit dreißig Jahren hat es auf französischem Boden keine Auseinandersetzung zwischen Zwergen, Kobolden und Zauberern mehr gegeben. Es sieht so aus, als seien die Zwerge mit dem Stand der Dinge zufrieden oder hielten jeden weiteren Krieg um mehr Rechte oder Wohngebiete für sinnlos. Damit, Madame Maxime, Madame Arno und meine werten Mitschüler, möchte ich meinen Vortrag über die Lebensweise der Zwerge beenden. Falls jemand möchte, kann er oder sie noch Fragen stellen, sofern Madame Maxime das erlaubt.“

    „Ich erlaube es, wenn wir das innerhalb der nächsten zehn Minuten erledigen können.“ Doch zunächst wollte wohl keiner eine Frage stellen. Dann hob Julius die Hand und fragte:

    „Noch einmal zu dieser Muggelsache, die Sie erwähnt haben, Mademoiselle: Mir ist die Geschichte, in die das mit den Ferenghi eingebaut wurde sehr gut bekannt. Ich möchte nun wissen, ob so ein Unfall oder Schabernack auch in anderen Geschichten auftaucht und was dem Zauberer passiert ist, der die Zwergengeschichte den Muggeln zugespielt hat?“

    „Tja, dazu kann ich nicht viel sagen, außer daß der betreffende Zauberer wohl heute noch untergetaucht lebt, weil die Strafverfolgungsbehörden der ganzen Welt ihn suchen, wegen mutwillig hoher Gefährdung der Geheimhaltung. Deshalb weiß ich auch nicht, wie der genau heißt“, sagte Millie.

    „Was ist denn mit den Zwergenköniginnen?“ Fragte Sabine Montferre. „Kriegen die auch ihre Kinder in der Mutter-Kind-Gruppe?“

    Millie grübelte und blätterte in ihren Unterlagen. Dann sagte sie:

    „Da alle Frauen dort keine Rechte und Ränge haben, gibt es da keine Zwergenkönigin, zumal ja auch kein Erb- oder Kronprinz wie bei den Muggeln existiert, weil nach dem Tod des regierenden Königs ja der neue König durch die Nachfolgekämpfe bestimmt wird. Dabei kann ein Sohn des Vorgängers neuer König werden, muß es aber nicht, wenn ich das hier richtig notiert habe. Hmm, aber es ist wohl möglich, daß der regierende König die Frauen des Vorgängers bekommt. Könige können also ihre eigene Mutter-Kind-Gruppe aufmachen, weil sie die einzigen sind, die mehr als eine Frau haben dürfen.“

    „Wenn die Zwergenfrauen so isoliert leben“, setzte Waltraud Eschenwurz an, „kriegen die dann gar nichts von ihrer Umwelt mit?“

    „Darf ich dazu was sagen?“ Fragte Madame Arno Madame Maxime, weil Millie darüber wohl nichts wußte. Die Schulleiterin nickte. „Nun, junge Dame, deshalb wollen die Frauen bei den Zwergen möglichst viele Kinder haben, sobald sie verheiratet sind, weil die trächtigen Zwerginnen ja drei Monate zusammenleben, wobei ja immer wieder welche in die Gruppe reinkommen oder rausgehen. Das ist die einzige Möglichkeit, unter sich zu sein und zu reden.“

    „Falls jemand noch Fragen zu dem Vortrag hat möchte er oder sie sie bitte jetzt stellen, bevor uns Madame Arno aus ihrem Leben im Zwergenvolk erzählt“, legte Madame Maxime fest. Tatsächlich kamen noch Fragen über die Erfindungen der Zwerge, ob sich die Runen der Zwerge von denen der Zauberer unterschieden oder in welcher Währung man Zwerge bezahlen konnte, weil ja das Zauberergeld die Sache der Kobolde sei. Millie mußte zwischendurch nachblättern. Offenbar hatte sie einen allgemeinen und nicht zu detailreichen Vortrag halten wollen und solche Sachen eben für Nachfragen aufgehoben.

    „Zur Bezahlung: Zwergenmeister nehmen ein Gramm Gold für eine Stunde eigener Arbeitskraft oder ein Gramm Silber pro Mannstunde, also alle von seinen Gesellen zusammengenommen geleisteten Arbeitsstunden. Dafür kriegt man aber auch was“, sagte Millie noch. „Denn von Zwergen gefertigte Mechanismen sind störungsunempfindlich und können einmal in Gang gesetzt Jahre lang laufen. Kobolde haben dagegen das Monopol auf Edelmetallfeinverarbeitung und unzerstörbare Waffen und Rüstungen.“

    Als keine Fragen zum Vortrag an sich kamen bedankte sich Madame Maxime bei Mildrid, gab ihr für die Vortragsgestaltung und den Fluß zwanzig Bonuspunkte und wartete, bis sie die ebenfalls angefertigten Quellenlisten an die Mitschüler verteilt hatte. Dann erteilte sie Madame Arno das Wort.

    „Hallo, zusammen“, begrüßte sie sehr locker die Anwesenden. Madame Maximes Gesicht erstarrte wie eine steinerne Maske. Offenbar paßte es ihr nicht, wie Madame Arno mit ihren Schülern sprach. Diese grüßten höflich zurück. „Nun, daß Mildrid meine Enkeltochter ist weiß hier ja jetzt wohl jeder. Jetzt möchte ich euch mal erzählen, wie ich damals bei diesen Bartanbetern gelebt habe und warum ich heute nicht mehr da lebe“, begann Madame Arno. Madame Maxime sagte keinen Ton. Offenbar, so vermutete Julius, hatte sie sich entschlossen, die Zwergin so reden zu lassen, wie ihr der Schnabel gewachsen war, auch wenn ihr das extrem gegen den Strich ging. „Wie Mildrid euch erzählt hat kommen bei den Zwergen die kleinen Kinder in großen Frauengruppen zur Welt. Ihr müßt euch das so denken, daß da eine riesige Höhle ist, in der hunderte von prallbäuchigen Zwergginnen hocken und die gerade ihre Kinder kriegenden mit den bereits rausgekommenen Kindern um die Wette schreien. Andere Frauen schwatzen dann mit denen, die gerade nicht beim Kinderholen oder Kinderkriegen sind. Die Kinder die da sind, werden nicht nur von den eigenen Müttern,sondern anderen Frauen aus der Gruppe gesäugt und in Mooskernwindeln gewickelt. Als ich in Mitten dieses Geschreis und Geplappers aus meiner Mutter herausgezwängt wurde habe ich wohl eine ziemlich rauhe Stimme gehabt. Die haben erst geglaubt, ich sei ein Junge und wollten meinem Vater schon die frohe Kunde bringen, daß sein Nachfolger endlich da sei, nachdem meine Mutter bisher nur Töchter ausgebrütet hat. Weil meine Stimme wohl die einprägsamste war, haben sie mich damals alle Aivorswari, die, die am lautesten schreit genannt. Das war dann auch mein Name. Das hat Mildrid euch nämlich nicht erzählt, weil das den Zwergen, die Zauberern ihre Lebensweise erzählen peinlich ist, daß Frauen eine Sache dürfen, nämlich ihren Töchtern die Namen geben oder anderen Frauen das überlassen, wie ihre Töchter heißen. Die Söhne krigen erst den Namen des Vaters mit dem Vorlaut „Wagg, bis sie in die Mannesschmiede kommen, wo sie beim ersten Bartwuchs einen neuen Namen eingebläut kriegen.“

    „Öhm, eingebläut?“ Warf Felicité Deckers ein.

    „Ja, stimmt. Soweit ich weiß werden die Fisrin, also die Jungen, die angezündet wurden, beim Herumwerfen mit Faustschlägen bearbeitet, wobei die Kerle, die ihn herumwerfen singen, wie er heißt. Aber zurück zu mir. Wie Mildrid euch erzählt hat bleiben Mädchen bis zum fünfzehnten Lebensjahr bei der Mutter und den Schwestern. Dann läd der Vater junge Burschen ein, die bereits Gesellenbärte haben und läßt sie vor ihnen herumlaufen, sich hinlegen oder abartige Verränkungen machen, bis die Kerle sich gegenseitig überbieten, wieviel Gold oder Nutzgestein das Mädchen ihnen wert ist. So ging es mir. Ich wurde an einen Goldschmied namens Baldovin vergeben. Das war das einzige Mal, wo ich in eine Art Kleidung gesteckt wurde, den Brautsack, der so ähnlich aussieht wie ein Strampelanzug von Menschenbabies, nur ohne Ärmel. Die Füße kommen in Hosenbeine rein, während die Arme am Körper anliegen. Ist schon nicht toll, wenn man dann durch die Straßen gehen muß, den gerade bekommenen Mann hinter sich und alle rufen ihm zu, was für ein Glück oder Pech er mit seinem Fang hatte. Dann in seinem Haus wurde ich mit einem Steinmesser aus dem Brautsack geschnitten. Madame Maxime hat mir geraten, nicht zu heftig über die Paarung zwischen Zwergen zu reden. Nur so viel, von einem sogenannten Vorspiel habe ich erst was gehört, als ich von den Zwergen weg war.“ Einige grinsten. Madame Maxime räusperte sich leicht ungehalten. „Aber wie ich euch gerade schon einmal erzählt habe ist das für Zwergenfrauen die einzige Möglichkeit, nicht nur im selben Haus herumzusitzen, sondern mit andren Frauen zusammenzusein, was eben nur geht, wenn sie ein Kind in sich herumtragen. Da bestimmt wer von euch fragen würde, ob ich selbst Mutter wurde solange ich bei Baldovin war: Viermal, drei Töchter und einen Sohn. Noch was, daß Mildrid euch nicht erzählt hat: Frauen lernen nichts, womit sie sich außerhalb einer Mutter-Kind-Gruppe neue Sachen beibringen, also weder malen, noch lesen oder schreiben. Frauen, die sowas lernen, weil ihre Männer ihnen das erlauben, werden ziemlich schmerzhaft in der Höhle der Undankbaren mit den Füßen an der Decke aufgehängt, bis sie tot sind. Durch die Mutter-Kind-Gruppen habe ich natürlich einiges mitbekommen, was andere Frauen von ihren Männern aufgeschnappt haben. Als ich dann Baldovins Sohn in mir hatte, aber noch nicht wußte, daß es ein Sohn wird, habe ich mich schon gefreut, eine weitere Tochter zu kriegen. Als das Kind dann ein Sohn wurde und ich wußte, ich würde den nach vier Jahren nicht mehr behalten dürfen, habe ich beschlossen, mich aus diesem Zuchtstall abzusetzen, sobald Baldovin ihn von den Manneschmieden abholen läßt. Denn dann, so wußte ich von einer anderen Frau, würde der Ehemann ein weiteres Kind haben wollen, um den nächsten Sohn zu haben. Ich habe ihn sich austoben lassen, bis er so erschöpft war, daß er wie ein Stein neben mir eingeschlafen ist. Dann habe ich ihn mit den Lederriemen, mit denen er sich den Bart hochgebunden hatte am Bett festgebunden und ihm dann den Bart abgeschnitten, komplett. Erst als ich den abhatte wachte er auf und wollte gerade losbrüllen. Ich habe ihm einen Eisenkessel gerade so über den Kopf gehauen, daß er weiterschlief. Dann habe ich mir meine Brüste so eng an den Körper gebunden, daß sie unter der weiten Weste meines Mannes nicht zu sehen waren, habe mir seine Unterkleidung und die Freizeitsachen angezogen, mir seinen abgeschnittenen Bart vors Gesicht gebunden und seine Ausgehmütze aufgesetzt. Damit bin ich dann raus aus der Wohnhöhle, durch die sonst herumlaufenden Bartanbeter, die ich so gegrüßt habe, wie ich es mal mitbekommen konnte. Ich schaffte es so bis zum Ausgang, wo mich der Wächter fragte, wer ich sei und wo ich hinwollte. Ich sagte mit heiserer Stimme, ich sei Baldovin und wolle zu einem der Goldgräber, der mir seine gerade ergiebige Goldmine zeigen wolle. Nach einigen sehr bangen Momenten kam ich aus der Siedlung raus und lief erst einmal mit Baldovins Laterne durch die Stollen, bis ich einen Hauptschacht fand, aus dem ich nach sehr gefährlichem Klettern in einer Höhle bei Bayonne herauskam. Zwischendurch habe ich schon gedacht, sie würden mich suchen und dann einfach umbringen, ohne mich in der Höhle der Undankbaren hinzuhängen. Doch irgendwie hatte ich wohl mehr Glück als Verstand, daß ich aus der Höhle herauskam und zum ersten Mal im Leben die Himmelsfeuerkugel sehen konnte, die Sonne. Erst war ich geblendet, hatte schon Angst, mir würden die Augen verbrennen. Doch nachdem ich mit den Händen vor den Augen einige hundert Schritte gelaufen bin ging es mit der Helligkeit. Ich lief erschöpft weiter, bis ich an fließendes, übel stinkendes Wasser kam, wo große, ratternde Metallkästen fuhren. Da diese Dinger wohl weit weg glitten nahm ich mir vor, auf einen dieser Kästen zu springen. Die Sonne wurde bereits rot und fiel irgendwo hinter den Bergen runter. Es wurde schön dunkel, und nur kleine Funken über mir gaben etwas Licht ab. Dann kam einer dieser Kästen mit einem roten und grünen Licht angerattert, und ich nahm alle verbliebene Kraft zusammen und sprang auf den Kasten. Jetzt könntet ihr sagen, das ginge doch gar nicht.“ Sie blickte alle an und stieß sich dann leichtfüßig vom Boden ab und flog bis an die Decke des Seminarsaales. Als sie dann federnd wieder auf die Füße kam sagte sie: „Ja, und damals war ich noch besser in Form, weil ich viel laufen, tragen und stemmen mußte. Außerdem war das vor fünfzig Jahren. Ich ließ mich mitnehmen, bis das Geratter aufhörte und der Kasten an einer Steinwand lag. Von da an vergingen einige Tage, in denen ich Blätter und Moos gegessen habe. Mittlerweile hatte ich den Bart weggeworfen und meine eingezwängten Brüste wieder freigemacht. Immer ging ich davon aus, die Leute aus meiner Siedlung würden mich immer noch suchen. Aber als ich dann nach mehreren Dutzend Sonnen den ersten Zauberer traf erfuhr ich, daß die Leute aus meiner Höhle Baldovin wegen Dummheit entmannt haben und der jetzt bei denen in den Mutter-Kind-Gruppen Windeln waschen und Kinder holen muß. Eine richtige Jagd auf mich wollte wohl keiner machen, weil das zu peinlich war, daß eine Frau aus ihrer Siedlung rauskonnte. Der Zauberer, den ich traf brachte mir in einem Jahr Lesen und schreiben bei. Ich entschied mich, dem Zaubereiministerium zu helfen. Doch der Zwerg bei denen wollte nicht haben, daß ich da arbeite. Ihm war das einfach widerlich, eine geflüchtete Undankbare um sich zu haben, die jetzt wie eine der großen Frauen leben lernte. Tja, und vor vierzig Jahren lernte ich zum ersten Mal richtige Liebe kennen, als ich den Neffen des Zauberers kennenlernte, der gerade mit der Schule hier fertig war. Er fand es wohl irgendwie aufregend, eine Zwergin zur Freundin zu haben, bis ich meinte, wenn er so mutig sei könne er mich auch heiraten. Tja, und den Sohn, den ich dann bekam, der übrigens doppelt so schwer war wie meine Kinder vorher, den haben wir dann zusammen großgezogen, hier in eure Schule geschickt und dann zugesehen, wie er sein Mädchen gefunden hat. Allerdings kamen mein Mann und ich mit den Verwandten von ihr nicht sonderlich klar, nur mit der Mutter des Mädchens konnte ich gut reden. Die andren hielten meinen Mann für einen Idioten und unsren Sohn für zu mickrig für ihre Verwandte. Tja, und daß die Kinder von Albericus meine Kraft und die Größe ihrer Mutter geerbt haben zeigt, daß Albericus eben starke und gesunde Kinder machen kann.“

    „Sie meinen zeugen, Madame“, berichtigte Madame Maxime.

    „Ihre Schüler haben es schon verstanden, wie ich es meine, Madame Maxime“, sagte Madame Arno. Julius hob die Hand:

    „Entschuldigung, Madame, aber Sie haben uns nicht erzählt, wie Sie Ihren neuen Namen bekommen haben. Ist das geheim oder möchten Sie uns das erzählen?“

    „Du meinst, warum ich mich jetzt Lutetia nennen lasse? Das kommt von einer Geschichte, die ich beim Lesenlernen kennengelernt habe. Da ging es auch um eine Frau, die ihren Mann verlassen hat, weil er ihr zu herrschsüchtig wurde und mit einem schönen Mann in seine Stadt geflohen ist. Danach haben die dann Krieg gegeneinander geführt, zehn Jahre lang. Deshalb wollte ich nicht Helena oder Hélène heißen. Da habe ich mir den uralten Namen der französischen Hauptstadt als Namen ausgesucht, nach dem Mann, mit dem die Frau weggelaufen ist und der Paris geheißen hat. Außerdem kenne ich sonst keine von den Hexen, die diesen Namen bekommen haben. Ich fand es jedenfalls sehr schön, mir einen Namen auszusuchen, mit dem ich auch leben kann. Die, die am lautesten schreit, klingt ja doch irgendwann merkwürdig für ein Hausweibchen.“

    „Es gibt Frauen, die kommen damit wunderbar zurecht, im Haus zu bleiben“, sagte Corinne Duisenberg, nachdem Madame Maxime ihr das Wort erteilt hatte.

    „Ja, aber nur solange sie auch respektiert und gefragt werden, ob sie gerade für was auch immer in der richtigen Stimmung sind, Mädchen. In deinem Alter hätte dich ein Zwerg bestimmt schon einhundertmal mit sich selbst durchgewalkt“, erwiderte Madame Arno leicht verbittert. Madame Maxime erhob sich und blickte nun drohend auf die Besucherin.

    „Madame, bei allem Respekt vor einem Gastredner oder einer Rednerin möchte ich doch jetzt ernsthaft darum ersuchen, daß Sie sich einer gesitteten Rede befleißigen.“

    „Was machen Sie denn seitdem Sie aus der Zwergensiedlung raus sind?“ Fragte Patrice, die ihrer Nichte beispringen wollte und sah Millies Oma herausfordernd an.

    „Ich bin Hebamme, junges Fräulein. Schließlich habe ich das gelernt. Selber habe ich noch zwei Söhne und eine Tochter gekriegt, die nun alle im von spitzohrigen Spitzbuben unverseuchten Ländern leben, sogar unter denen, die nicht zaubern können. Einer meiner Söhne arbeitet für eine Firma, die Bilder und Geräusche auf einen schmalen Streifen bannt. Da spielt er die Sorte Zwerge, die die, die nicht zaubern können in ihren Geschichten erwähnen und arbeitet auch im sogenannten Muggelverbindungsbüro in Oslo, das liegt in einem Land namens Norwegen, soweit ich weiß.“

    „Ich glaube es bald, ein Filmschauspieler aus Norwegen hat ’ne echte Zwergin als Mutter“, dachte Julius und war dabei wohl nicht alleine, weil Gloria, Mildrid und Waltraud auch grinsten.

    „Sie erzählten eben, daß Sie vor ihrer Flucht aus der Zwergensiedlung drei Töchter geboren haben, Madame Arno“, begann Gloria eine Frage an die Besucherin. „Bekamen Sie die schnell hintereinander oder mußten sie die fünfzehn Jahre abwarten, bis … öhm … die verheiratet wurden?“

    „So sagt es das Gesetz, daß eine Mutter erst wieder Mutter werden darf, wenn sie ihr Kind weggegeben hat“, erwiderte Madame Arno. „An und für sich dann schlecht für eine Frau, die ja häufig in eine Mutter-Kind-Gruppe möchte. Andererseits hat sie von Töchtern mehr als von den Söhnen.“

    „So kann man auch Leute nach dem Alter fragen“, dachte Julius bei sich und grinste in sich hinein. Denn so hatte sie mindestens fünfzig Jahre mit Kindererziehung zugebracht, bevor sie geflüchtet war. Sie war also um die fünfundsechzig, als sie die Siedlung verlassen hatte. Das war nun fünfzig Jahre her, hatte Madame Arno ja erzählt. Also war sie nun an die 120 Jahre alt. Danach sah sie jedoch nicht aus und wirkte noch weniger wie eine Greisin. Er wußte von Zauberern und Hexen, daß diese mehr als 130 Jahre alt werden konnten. Aber wie alt mochten Zwerge werden. So hob er die Hand und wartete auf das Nicken Madame Maximes:

    „Wie alt wird ein Zwerg im Durchschnitt, Millie?“ Fragte er Mildrid. Diese sagte laut:

    „zwischen zweihundertfünfzig und dreihundert Jahre, Julius!“ Alle Anwesenden staunten. Sogesehen war Millies zwergische Großmutter noch sehr jung. Als habe sie auf diese Erwähnung gewartet lächelte Madame Arno sehr zufrieden und sagte unaufgefordert:

    „Ich kann also noch mehr als hundert Jahre lang neue Kinder in die Welt setzen und damit deine andere Oma locker ausstechen.“ Lautes Lachen und vereinzelter Beifall war die Folge dieser Wortäußerung. Dann krachte es zweimal wie von nahebei abgefeuerten Gewehren. Das war Madame Maxime, die in die Hände klatschte.

    „Nun, es geht uns wohl hier nicht um die Fruchtbarkeit von weiblichen Zwergen, Mesdemoiselles et Messieurs. Es geht und ging hier im wesentlichen um die Unterschiede in Körperbau und Lebensweise dieser Zauberwesenart. Da offenbar niemand Interesse daran hat, Madame Arno zu den magischen Fähigkeiten ihrer Artgenossen zu befragen tue ich das hier, um die Diskussion in gesittetere Bahnen zu lenken. Wir hörten alle von Mademoiselle Latierre, daß ein Zwerg sowohl eine hohe Fluch- als auch Passivtransfigurationsresistenz besitzt und daß Zwergenschmiede höchst effektive Runen in Waffen und andere Gegenstände eingravieren und sie damit bezaubern können. In wie weit sind Zwergenfrauen zu solchen Leistungen im Stande? Dies frage ich Sie jetzt, weil Sie ja nun ein halbes Jahrhundert Zeit hatten, die eigenen Fähigkeiten auszuloten.“

    „Also was die Fluchunempfindlichkeit und das Ding mit der Verwandlung angeht habe ich es nie darauf angelegt, mich von einem Zauberer niederhexen zu lassen, Madame“, sagte Lutetia Arno. „Aber was die Sache mit den Runen oder Zauberzeichen angeht, so habe ich rausgekriegt, daß ich mit meinem Schweiß, meinen Tränen und vor allem mit meinem Blut Sachen für Magie empfänglich oder dagegen absichern kann. Ich habe auch rausgekriegt, das ich das bewirken kann, was ich in dem Moment, in dem ich von etwas von mir den Gegenstand bestreiche gedacht habe, also wenn ich was feuerunempfindliches haben wollte, habe ich an eiskaltes Wasser gedacht, das ein Feuer auslöscht. Umgekährt habe ich mir einen warmen Sonnentag oder ein großes Herdfeuer vorgestellt, wenn ich mal wieder Sachen zum Anziehen machen wollte, die einen vor Kälte schützen. Ihr könnt ja nicht auf Eis oder Schnee herumlaufen, ohne daß ihr zu frieren anfangt oder im kalten Wasser schwimmen, ohne zu zittern. Ich habe auch schon für werdende mütter Oberkleidung gemacht, die sie gegen Schmerzen so gut wie unempfindlich macht, wodurch sie wesentlich unbeschwerter ihre Kinder bekommen konnten als sonst. Das mache ich aber nur bei denen, die echt zu viel Angst davor haben, daß es ihnen zu sehr weh tut. Besonders stolz bin ich auf das silberne Messer, das mein Mann mir einmal gemacht hat und das ich so scharf gemacht habe, daß damit auch Stahl durchgeschnitten werden kann, weil ich beim Bestreichen der Klinge daran gedacht habe, wie ein dicker Stein von dem Messer durchgeschnitten wird. Das habe ich sogar mit.“ Madame Arno holte aus ihrem Wollrock eine Metallschachtel und entnahm ihr ein etwa zwanzig Zentimeter langes Messer mit einer sehr feinen Klinge aus Silber. Sie bat Madame Maxime um ein Versuchsobjekt aus Metall und bekam eine Eisenstange, die in einer Ecke des Seminarraumes unter einer Tarndecke gelegen hatte. Offenbar war diese Vorführung abgesprochen worden. Mit schnellen, metallisch schabenden Bewegungen schnitt sie mit dem Messer aus Silber vier Stücke von der Stange ab, als schneide sie Stücke von einer Karotte ab. Alle durften die glatt abgetrennten Metallstücke anfassen.

    „Jetzt stellt euch mal den härtesten Stahl vor, der so bezaubert ist wie das Messer aus Silber“, sagte Madame Arno, als Julius das Eisenstück prüfte und mit dem Ferrattractus-Zauber magnetisierte, um zu sehen, ob es auch wirklich Eisen war.

    „Das Messer ist echt aus Silber?“ Fragte er. Zur Antwort drückte ihm Millies Oma das Messer in die Hand, damit er es an dem eben gezauberten Magneteisen ausprobierte.

    „Wenn es hängen bleibt ist es auch aus Eisen“, sagte sie. Julius probierte es aus und stellte fest, daß das Messer nicht von seinem Magneten angezogen wurde oder an diesem haften blieb. Also war es aus einem nichtmagnetisierbaren Metall.

    „Und das haben Sie gemacht?“ Fragte er und gab ihr das Messer wieder. Sie beugte sich zu ihm und flüsterte:

    „Sowas gutes kriege ich nur mit dem Blut hin, was alle Monate aus mir rauskommt. Und jetzt werd bloß nicht rot!“ Julius schluckte nur und meinte dann leise:

    „Geht das auch, Sachen unzerstörbar zu machen?“

    „Euer Schulkamerad fragt gerade, ob ich auch Sachen machen kann, die nicht kaputt gehen“, sagte Madame Arno laut genug, daß alle es verstehen konnten. Nachdem ihr alle ihre Aufmerksamkeit widmeten fuhr sie fort: „Ja, das habe ich auch schon gemacht, mit unseren Fensterscheiben zu Hause oder bei meinem Sohn und seiner Frau, die das hinbekommen hat, daß ihr heute was über echte Zwerge gehört habt.“ Dabei sah sie auf Millie, die sehr stolz zurücklächelte.

    „Öhm, wie lange hält ein so aufgebrachter Zauber vor?“ Wollte Julius wissen, den es eher faszinierte als anekelte, wenn eine Frau mit Schweiß und Blut irgendwelche Gegenstände bestrich und damit zu magischen Wunderdingern machte.

    „Wenn keiner drauf kommt, was ich draufgeschmiert habe vor einem vollen Mond abzuwischen für immer“, sagte Madame Arno. „Sonst eben nicht länger als ein Mondwechsel.“

    „Öhm, klingt irgendwie widerlich“, warf Felicité Deckers ein. „Blut oder Schweiß von wem einen Monat lang nicht abwaschen zu dürfen, nur um einen immer wirksamen Zaubergegenstand zu kriegen.“

    „Wir haben das ja auch nicht nötig“, warf Waltraud ein. „Wir können ja Ferrifortissimus-Zauber oder den Contraruptus-Zauber, um besonders durchschlagende Klingen oder unzerbrechbare Sachen zu machen.“

    „Ah, eine sehr von ihrer Art überzeugte Hexe“, feixte Madame Arno. „Nur daß die Zauber, die ihr machen könnt, von anderen Zauberern wieder weggemacht werden können, während die Sachen, die Zwerge mit Zauberkraft aufpäppeln können nicht mehr entzaubert werden können. Das ist ja das, warum die raffgierigen Spitzohren immer noch so höhlentrolwütend auf Zwerge sind. Ich gehe mal davon aus, daß Hippolyte immer noch den immerleeren Mülleimer und den gleichfalls immerleeren Topf hat, was demnächst bestimmt wieder sehr wichtig werden wird.“

    „Ja, hat sie noch“, sagte Millie. „Auch die unbrennbare und unverwüstliche Wiege.“

    „Will ich auch hoffen. Die zu machen hat mich zwei Monate Zeit gekostet“, sagte Lutetia Arno. Gloria fühlte sich berufen, dazu was zu fragen:

    „Dann können Sie mehrere Zauber auf einen Gegenstand legen, wenn Sie sich gut genug konzentrieren? Bei uns ist dem eine Grenze durch Materialmenge und Mächtigkeit der Zauber gesetzt.“

    „Diese Pinkenbach-Sache, ich weiß. Ist für Zwerge nur dann gültig, wenn mehrere Leute an einer Sache rumschmieren und klopfen“, erwiderte Madame Arno. Alle blickten sie bewundernd an. Madame Maxime sagte dann noch:

    „Andererseits können von Zauberern und Hexen aufgerufene Zauber modifiziert und umdisponiert werden, was bei von Zwergen oder Exilzwerginnen wie Ihnen, Madame, gefertigten Zaubergegenständen nicht mehr möglich ist, insbesondere wenn Unzerstörbarkeit eine magisch induzierte Eigenschaft ist.“

    „Exilzwergin?“ Fragte Madame Arno leicht ungehalten. „Madame, bei allem Respekt vor dem, was Sie hier so auf die Beine stellen, bei Ihrer Körpergröße können Sie wohl kaum Anerkennung für Ihre Verwandtschaft erwarten, im Gegensatz zu meinem Sohn Albericus und seinen Kindern. Ich bin immer noch stolz drauf, eine Zwergin zu sein, auch wenn ich da, wo Zwerge wohnen, sofort umgebracht würde, weil die nur still alles hinnehmende Hausweibchen und Zwergenkindernachschubbäuche haben wollen.“

    Madame Maximes olivfarbenes Gesicht nahm einen purpurroten Farbton an. Die tiefschwarzen Augen der Halbriesin rollten bedrohlich und rückten eng zusammen, so daß über ihrer Nasenwurzel eine dicke Wölbung entstand, und die Stirnadern traten violett pulsierend hervor. Sie schnaubte: „Eben, weil Sie aus Ihrer angestammten Heimat und Gesellschaft ausgestoßen sind, leben Sie im Exil.“ Julius meinte, die ohnehin schon alle überragende Frau noch einen halben Meter größer zu sehen. Sie hob die rechte, mit Opalringen geschmückte Hand, ballte sie zur Faust und reckte sie warnend vor. Erst nach zehn Sekunden ließ sie den Arm wieder sinken und atmete hörbar laut durch. Madame Arno stand gespannt wie eine Stahlfeder da und wartete auf einen körperlichen Angriff. Doch dieser blieb aus, und so entspannte sich auch die Zwergin wieder. Alle Schüler hatten dem unvermittelt bedrohlichen Geschehen gebannt zugesehen. Jetzt entspannten sie sich auch. Millie, die wohl zwischen mehreren Stühlen hing, tapste von einem Bein auf das andere und fingerte an ihrer rotblonden Mähne. Edgar Camus fragte vorsichtig:

    „Auch wenn ich Sie damit wütend mache, Madame, finden Sie nicht, daß das Leben unter Zauberern und Hexen für Sie nicht doch sehr beschwerlich ist. Immerhin können Sie ja nicht fliegen oder Apparieren.“

    „Was diesen Verschwinde- und Auftauchezauber angeht stimmt das, Junge. Fliegen können wir dagegen schon, aber nicht auf einem Besen, sondern auf extra gebauten Flugsesseln oder auf Zaubertieren wie diese Riesenpferde. Was den ersten Teil angeht, so habe ich euch ja erzählt, daß es bei den Zwergen für mich wesentlich härter zuging und ich mich jetzt wesentlich freier fühle als vorher“, sagte Madame Arno. Felicité Deckers Wollte noch wissen, ob Madame Arno bei der Geburt ihrer Kinder von Monsieur Arno mehr Probleme bekommen habe als bei den vier Kindern von Baldovin.

    „Grundsätzlich ist es so, daß die doppelt so schwer und größer gewachsen waren, als ich sie bekam. Ich dachte immer, Zwillinge zu kriegen“, sagte Madame Arno. Madame Maxime sah sie sehr lauernd an. Offenbar wartete sie auf eine erneute undamenhafte Äußerung der Zwergin. Gloria und Waltraud erzählten kurz, daß sie bereits in Zwergenhäusern gewesen seien, Gloria in Hogsmeade in Forins Schmiede und Waltraud in einer Werkstatt, die einem gewissen Glandulin Feuerzange gehörte und in der Zauberlandstraße von Greifenberg, der deutschen Entsprechung von Hogsmeade. Julius dachte derweil, ob Laurin Lighthouse, der kleinwüchsige Mann von pamela Lighthouse, auch einen Zwerg in der Verwandtschaft hatte. Ihn beschäftigte die Frage so sehr, daß er die Hand hob und ums Wort bat.

    „Kennen Sie einen Laurin Lighthouse aus Australien, besser, haben Sie von dem gehört?“

    „Jetzt müßte ich fragen, warum ich den kennen sollte, wenn der in Australien lebt, junger Mann. Wenn du mir dann noch sagst, der sei ja auch nicht gerade lang geraten, müßte ich dir sagen, daß ich ja nicht die Mutter aller etwas kürzer gewordenen Zauberer sein kann. Aber ich habe wirklich schon von dem gehört, genauso wie von einem Lehrer namens Flitwick, der in der englischen Zaubererschule Hockwarz arbeitet. Aber die haben keine Zwerginnen als Mütter, sondern sind aus Hexen herausgekommen, die sich von spitzbübischen Spitzohren haben schwängern lassen, besser solches Geschmeiß in der näheren oder weiteren Vorfahrenreihe haben. Ja, kucken Sie nur böse, Madame Maxime. Was stimmt muß auch gesagt werden. Und bevor Sie mich hier rausschmeißen, weil ich Ihnen Ihre Schüler verderben könnte, kein Zwerg würde es mit einer Hexe treiben, weil die ihm zu gescheit und zu stark für solches Vergnügen wäre. Ich bin, soweit ich das weiß, die einzige Zwergin, die auf der Welt herumläuft und Kinder von einem Zauberer bekommen hat. Alle anderen kurzen Zauberer und Hexen sind entweder von Spitzohren gemacht worden oder tragen Kurzwüchsigkeit als Erbe in sich. Das nur, um die nächsten möglichen Fragen gleich zu beantworten.“ Madame Maxime wurde wieder an die vier Meter groß, wähnte Julius. Ihr Brustkorb hob und senkte sich immer heftiger, und die schwarzen Augen rückten so eng zusammen, daß sie sich beinahe berührten, nur durch eine weit ausladende Wölbung über der Nasenwurzel voneinander getrennt.

    „Ich finde, das reicht!“ Schnaubte sie laut wie ein angriffslustiges Drachenweibchen. „Wir alle hier haben wohl mehr als ausgiebig von Ihrem bisherigen Erfahrungsschatz und Ihrer Weisheit genossen, Madame. Aus reiner Höflichkeit muß ich mich im Namen aller hier Anwesenden dafür bedanken, uns Einblick in Ihre Sichtweise gegeben zu haben. Aber es reicht mir nun! Das Seminar ist für heute beendet, Mesdemoiselles et Messieurs! Zurück in Ihre Säle!“

    Alle standen total bedröppelt da und blickten von Madame Maxime zu Madame Arno, die ebenfalls um einige Zentimeter gewachsen zu sein schien. Doch sie wirkte mickrig im Vergleich mit der Direktrice, ja so zerbrechlich, daß die Halbriesin sie wohl mit der linken Hand zerdrücken konnte. Dennoch strahlte sie eine schier unerschütterliche Selbstsicherheit aus. Julius fürchtete schon, daß dies nicht gut ausgehen würde und blickte gebannt auf die sich bietende Szenerie, wo eine echte Zwergin es gewagt hatte, eine Halbriesin wütend zu machen. Da stand eine Frau, nicht größer als ein achtjähriges Mädchen vor einem drei Meter großen Bündel aus Wut und Körperkraft. Julius wußte aus seinen Nachforschungen in der Schulbibliothek von Hogwarts und Gesprächen mit Gloria, Kevin und den Hollingsworth-Zwillingen, daß reinrassige Riesen allzu leicht in mörderischen Zorn geraten und alles und jeden um sich herum zu Brei schlagen konnten. Rita Kimmkorns Artikel über Hagrid hatte ja die Lage damals noch angefacht, weil sie schrieb, daß wohl auch Halbriesen so gestrickt waren. Ihm fiel ein, daß er als Pflegehelfer vor Ort sein mußte, wenn es zu gefährlichen Auseinandersetzungen kommen konnte. So wunderte er sich nicht, daß Millie, Patrice und Felicité sich bereits in der Nähe von Madame Maxime aufbauten. Die anderen schienen jeder für sich zu tanzen, immer einen Schritt vor und wieder zurück.

    „Ich sagte, alle in die Säle zurück!“ Stieß Madame Maxime so laut aus, daß die gerade die Umgebung von Beauxbatons abbildenden Wände erzitterten und die Bildverpflanzungsmagie flackerte wie ein schlecht empfangbares Fernsehbild. Das wirkte, und die meisten Schüler eilten gruß- und wortlos aus dem panoramasaal. Nur Julius und Mildrid blieben stehen. Mildrid wirkte wie in die Enge getrieben und wußte wohl nicht, ob sie noch weglaufen konnte oder kämpfen mußte. Julius starrte mit einer Mischung aus Unbehagen und Sensationsgier auf die sich belauernden Frauen, die Zwergin und die riesenhafte Hexe, die gerade ihren Zauberstab zog, weil Madame Arno sie sehr spöttisch anblickte. Dann sah sie sie herausfordernd an.

    „Petrificus Totalus!“ Rief Madame Maxime. Lutetia Arno schien wie ein Hampelmann zusammenzuklappen, die Arme an den Körper gedrückt, die Beine zusammengeschlagen. Doch das hielt nur einen Sekundenbruchteil vor. Dann konnte sich die Zwergin wieder frei bewegen. Ein weiterer Fluch prallte dumpf krachend von ihr ab. Daraufhin steckte die Schulleiterin den Zauberstab wieder fort und hob beide Fäuste.

    „Wollen Sie das echt, Madame. Wäre aber bestimmt nicht damenhaft“, erwiderte Madame Arno sehr herausfordernd und tänzelte wieselflink vor der ihr haushoch überlegen wirkenden Madame Maxime. Als Madame Maxime wutschnaubend den Oberkörper vorwarf, um die Zwergin zu attackieren, duckte diese sich blitzartig und sauste zwwischen den weit genug geöffneten Beinen der Halbriesin hindurch, so daß Madame Maximes Vorstoß in leere Luft ging und sie wohl nicht einmal fühlte, daß die Zwergin sie gerade wie einen Tunnel durchlaufen hatte. Lutetia Arno lief auf leisen Sohlen fast bis zur Tür, wo sie sich umwandte und rief:

    „Wenn Sie mich suchen, ich bin hier!“

    „Sie ungeratenes Stück Fleisch!“ Schrie Madame Maxime. Julius‘ Ohren schmerzten, und er stieß ein lautes: „Haauutsch!“ aus. Die Schulleiterin hörte es und stieß auf ihn los, die rechte Hand zum Zugreifen geöffnet. Julius reagierte vor Schreck nicht mehr und fand sich unvermittelt um seine Hüfte gepackt und hochgerissen. Ebenso erging es Millie, die gerade noch ihr Heil in der Flucht suchen wollte. Die Halbriesin zog die beiden Schüler kraftvoll auf Bauchhöhe an sich und hielt sie wie in Stahlklammern eingezwengt, bevor sie auf Madame Arno zustürzte, die wieder dreist zwischen ihren Beinen hindurchschlüpfte.

    „Wenn Sie die beiden für meine achso große ungehobeltheit umbringen, Madame, kommt morgen das Kommando zur Beseitigung gefährlicher Zaubergeschöpfe und macht Sie tot!“ Rief Lutetia Arno in einer Mischung aus Überlegenheit und leichter Besorgnis um ihre Enkelin, die verängstigt wimmernd wie Julius in den stahlharten Armen Madame Maximes festhing. Sie sagte dazu nichts und stieß mit dem rechten Ellenbogen die Türklinke hinunter, worauf die Tür weit aufflog. Draußen setzte die Schulleiterin die beiden Pflegehelfer relativ sanft ab und schnaubte:

    „hundert Strafpunkte für jeden von Ihnen beiden, wenn Sie nicht augenblicklich machen, daß Sie hier wegkommen!“ Dann sprang sie in den Saal zurück und zog mit lautem Knall die Tür zu. Von drinnen hörte Julius sie wild auf Madame Arno einschimpfen, wohl auch nach ihr schlagen.

    „War vielleicht nicht die tolle Idee, die beiden zusammenzulassen“, sagte Millie beunruhigt und leicht zitternd. Julius nahm sie bei der Hand und sagte:

    „Komm, wir gehen zu Schwester Florence und sprechen mit ihr drüber. Ich hoffe nur, die wird nicht noch gebraucht.“ Wort- und widerstandslos ließ sich Millie zum nächsten bezauberten Wandstück führen, wo Julius den Wandschlüpfzauber übernahm und Millie in das Sprechzimmer der Schulheilerin hinüberzog.

    „Was ist vorgefallen?“ Fragte Madame Rossignol, die nicht alleine war. Felicité und Patrice waren bei ihr.

    „Nur, daß Madame Maxime und Millies Oma meinen, sich wie Straßenjungs gegenseitig zu ärgern und vielleicht einander verprügeln, wobei Madame Arno bestimmt den Kürzeren zieht, wenn sie nicht schnell genug wegspringt oder diesen tolldreisten Unterquerungstrick bringt, einfach zwischen Madame Maximes Beinen durchzutauchen“, sagte Julius beklommen. Patrice und Felicité nickten bestätigend.

    „Nicht gerade damenhaft, sich derartig miteinander zu befassen“, seufzte Madame Rossignol. Dann sagte sie sehr ernst: „Ich muß euch nicht daran erinnern, daß ihr als Pflegehelfer dazu angehalten seid, auf direkte Anweisung von mir keinem anderem zu erzählen, was ihr direkt miterlebt oder euch von mir oder möglichen Patienten berichtet wird. Ich hoffe nur, daß deine vorwitzige Großmutter diesen Abend gut übersteht und Madame Maxime ihre Fassung zurückgewinnt, bevor sie sich unglücklich macht. Ihr geht jetzt alle in eure Säle zurück und sprecht mit keinem anderen über dieses unrühmliche Ende. Erzählt allen nur, was ihr heute erlebt und erfahren habt und daß Madame Maxime die Besucherin hinausgeleitet! Mehr nicht.“

    „In Ordnung“, sagte Felicité. Millie, Patrice und Julius nickten nur. Dann sah Millie die Heilerin an. Diese sagte:

    „Ich sage dir über den Schlüssel bescheid, falls deiner Großmutter was zugestoßen ist oder sie sicher die Schule verlassen hat.“ Millie nickte. Dann wandschlüpfte Felicité zuerst aus dem Sprechzimmer, dann Patrice, dann Mildrid. Als Julius gerade in den grünen Saal zurückschlüpfen wollte hielt Madame Rossignol ihn am rechten Ärmel und zog ihn sacht zurück.

    „Ich gehe davon aus, daß Madame Maxime mit dir und Mildrid noch einmal sprechen wird, wenn dieser unrühmliche Zwischenfall beendet ist. Ich rufe dich und Mildrid, wenn sie das möchte, falls nötig noch diesen Abend. Jetzt kannst du.“

    Julius kehrte in den grünen Saal zurück, wo Waltraud gerade eintraf, die ja nicht das Wandschlüpfsystem benutzen konnte. Sie suchte und fand Julius und ging auf ihn zu. Er atmete durch und ging ihr entgegen.

    „Sowas habe ich noch nie erlebt, daß eine Gastrednerin sich mit der Gastgeberin anlegt. Hast du noch mitgekriegt, ob die sich wieder vertragen haben?“

    „Sie hat Millie und mich sehr unmißverständlich vor die Tür und zu unseren Sälen zurückgeschickt, um das in Ruhe zu klären“, sagte Julius. „Ist vielleicht auch besser, wenn wir das nicht gleich in der ganzen Schule rumgehen lassen, sondern nur über den Abend an sich reden“, fügte er noch hinzu und deutete auf seinen Pflegehelferschlüssel. „Das möchte zumindest Madame Rossignol.“ Dann fiel ihm noch etwas ein, was ihn leicht grinsen ließ. Als Waltraud ihn verwundert ansah und fragte, was er nun zu grinsen habe sagte er: „Kann zumindest keiner behaupten, hier wäre der Halloweenabend langweiliger als in Hogwarts.“

    „Klar, Halloween“, sagte Waltraud lächelnd. Dann deutete sie auf einen freien Tisch und nickte Julius zu, er möge sie dorthin begleiten. Er folgte ihr, weil er wissen wollte, was sie noch von ihm wollte. Normalerweise traf er Waltraud abends entweder in der Bibliothek oder hinter einem großen Stapel Pergament oder Büchern an. Einige Male hatte er sie auch schon mit Jungs aus der sechsten oder siebten Klasse sprechen sehen können. Virginie war da ein ums andere Mal hingegangen, hatte aber wohl nichts zu beanstanden gefunden. Ja, und jetzt sollte Julius sich zu ihr hinsetzen.

    „Ich hatte schon gewisse Bedenken, als Madame Maxime eine Zwergin einlud. Aber so wie ich die Schule hier kennengelernt habe hätte ich glatt einhundert Strafpunkte kassiert, wenn ich ihr da widersprochen hätte. Du kennst Madame Maxime so weit es ein Schüler tun kann ja schon von dem trimagischen Turnier in Hogwarts her. War die da auch schon so leicht reizbar?“

    „Sagen wir’s so, du weißt ja jetzt, wieso sie so groß ist. Es heißt immer, daß reinrassige Riesen sehr schnell wütend werden können. Ich habe Madame Maxime immer als eine Schulleiterin mitbekommen, die sehr darum bemüht ist, die Selbstbeherrschung zu behalten und allen hier als gutes Vorbild zu dienen, auch den Lehrern. Ich habe es nur einmal mitbekommen, daß sie wütend war, und das war, als ich von ihr in Vertretung eines Hogwarts-Lehrers eine Strafarbeit aufgebrummt bekam und mein Schulfreund meinte, mir dabei zuschauen zu müssen, ob ich das echt mache, weil Madame Maxime eben keine Lehrerin bei uns war. Den hat sie dann mal eben einige Meter hoch und herumtelekiniert und dann sehr erzürnt fortgejagt. Aber so richtig ausgerastet ist sie bisher nicht, und ich hoffe, das werde ich nicht erleben, schon gar nicht der Grund für sowas sein“, sagte Julius.

    „als ich das erfuhr, daß Madame Maxime wohl eine echte Riesin zur Mutter hat habe ich noch einmal nachgelesen, was das Handbuch humanoider Zauberwesen über Riesen enthält. Da ich keine deutschen Bücher mitbringen durfte, habe ich mir von meinen Eltern die französischsprachige Ausgabe schicken lassen. Ist schon heftig, was über diese Wesen drinsteht“, sagte Waltraud.

    „Madame Maxime hat es nicht erwähnt, wer von ihren Eltern ein reinrassiger Riese gewesen ist“, sagte Julius. Waltraud sah ihn herausfordernd an und meinte:

    „Die Mädchen und Jungen hier sagen, du könntest sehr gut logisch denken. Wie komme ich jetzt also darauf, daß es die Mutter sein muß und nicht der Vater?“

    Julius überlegte. Dann fühlte er schmerzhaft, wie einfach die Lösung war und sagte leise:

    „Riesen können an die acht Meter groß werden. Dementsprechend stark, schwer und proportioniert werden die wohl sein. Entsprechend gefährlich dürfte dann auch die körperliche Liebe zwischen denen sein. Wenn eine Menschenfrau sich mit einem Riesen einläßt würde sie womöglich heftig verletzt. Wenn sie das überleben sollte und schwanger würde, wäre das Baby sicherlich noch größer als bei Normalmenschen. Die Geburt dürfte dann genauso gefährlich sein, für Mutter und Kind. Umgekehrt könnte eine Riesin von einem Normalmenschen ein Kind kriegen, auch wenn der bei dessen Zeugung draufgeht. Die Wahrscheinlichkeit dafür wäre X-fach größer.“

    „Ganz genau, abgesehen davon, daß reinrassige Riesinnen ihre Kinder sechzehn Monate austragen. Aber lies selbst nach. Ich habe das Buch immer mit, wenn wir Seminarstunden haben. Das ist auch der Beweis dafür, daß deine Pflegehelferkameradin Millie gut auswendig lernen und zusammenfassen kann, also kein dummes Mädchen ist, wie Céline und Laurentine häufig meinen. Möchtest du das mal nachlesen?“

    „Hmm, noch habe ich Zeit und im Moment nichts anderes zu tun. Kein Problem, Waltraud.“

    Waltraud holte aus ihrer kleinen Schultasche ein Buch, das in blaues Leder gebunden war und auf dem Umschlag einen Hauselfen, einen Kobold und alle überragend einen Riesen zeigte, einen Burschen wie eine Kreuzung aus knorrigem Baum und einem Menschen. Julius blätterte im Inhaltsverzeichnis zum Kapitel über Riesen und schlug es auf. Halblaut las er dann:

    „Von den Riesen leben nicht mehr viele. Vom kläglichen Rest, der die blutigen Riesenkriege des 18. Jahrhunderts überstand und die Vertreibung aus den Ansiedlungen der Zauberer überlebte, leben die meisten in den Bergen Osteuropas, wo sie sich jedoch immer noch das Leben schwermachen. Sie werden bis zu acht Meter groß und sind zwanzigmal so stark wie ein erwachsener Mensch. Ihr Blut ist ein solch starkes Zaubermittel, daß sie gegen die meisten Gifte eine Sofortimmunität ausbilden und gegen beinahe jeden Zauber gefeit sind. Ihre passive Transfigurationsresistenz liegt bei über 90 von 100 Versuchen, abgesehen davon, daß ein Zauberer wohl kaum mehr als einen Versuch hat, einen Riesen zu verwandeln (Wozu auch Einschrumpfen gehört). Alle nichttödlichen Zauberflüche prallen unwirksam von ihnen ab. Ja selbst sechs Schockzauber Gleichzeitig können sie abschütteln wie warmen Windhauch.“ Er nickte, weil das bestätigte, was er letzten Juni über Glorias und seinen Zweiwegspiegel von Hagrids Vertreibung von Hogwarts mitbekommen konnte. Eine Sekunde machte er Pause und las dann halblaut weiter: „Drachen würden bei sieben Schockern zur selben Zeit umfallen. Bei einem Riesen müßten es schon acht sein. Doch diese Superunverwüstlichkeit hat einen hohen Preis. Sie haben einen schier unstillbaren Gewalttrieb, sind leicht wütend zu machen oder verfallen rasch in Traurigkeit, die aber von einem Moment zum anderen in eine berserkerartige Zerstörungswut umschlägt, in deren Rausch sie alles um sich herum zerschlagen und töten. Wie bei Drachen auch sind die Augen die einzig empfindlichen Stellen. Wer einen Riesen rasch abwehren muß, sollte Feuer oder Blendzauber gegen seine Augen schicken. Obwohl sie ansonsten von direkten Zauberangriffen nichts befürchten müssen, hassen sie die Zauberer, lieben jedoch magische Artefakte. Doch diese Liebe führt sofort zu Neid und Mord.

    Schwer vorstellbar, daß Wesen mit einem unbändigen zerstörungsdrang sich überhaupt fortpflanzen können. Doch die Natur hat den Riesenfrauen den Trieb zur Fortpflanzung eingegeben. Sie greifen sich, wenn es in ihrem Unterleib brennt, einen männlichen Partner, zwingen ihm die Vereinigung mit sich auf und erstarren nach ihrer Wonne in einer eine Stunde andauernden Reglosigkeit. Der Partner muß dann sehen, daß er wegkommt, falls er nicht durch den Geschlechtsakt schwer verletzt wurde und keinen Schritt mehr tun kann oder schon tot ist. Denn wenn die Reglosigkeit nachläßt, wird die Riesin unhaltbar wütend, weil sie ihrem Trieb nachgegeben hat und fällt über jeden her, der sich in unmittelbarer Nähe aufhält. Riesenmänner haben keinen angeborenen Fortpflanzungstrieb. Er muß von der Riesin durch brutale Handgriffe an seine Geschlechtsorgane geweckt werden. Wenn sie jedoch zur Paarung „ermuntert“ wurden, lassen sie die Partnerin schnell in Ruhe, ja haben sogar Angst vor ihr und bleiben die sechzehn Monate, die eine Riesin schwanger ist, tunlichst aus ihrer Reichweite, auch wenn sie stark genug scheinen, sie zu töten. Doch eine schwangere Riesin entwickelt in der Zeit ihrer Schwangerschaft eine doppelte Körperkraft. Nun kann es sogar passieren, daß eine brünstige Riesin, die weit ab von gleichgroßen Partnern umherzieht, einen gewöhnlichen Menschen überfällt und ihn zur Paarung zwingt, wodurch sie natürlich nicht so rasch zum Höhepunkt gelangt. Doch in der Paarung selbst ist sie gehemmt, von ihrem Partner abzulassen, bis dieser seine Saat in sie abgegeben hat, was sie fühlt, wenn das Brennen in ihrem Unterleib nachlässt. Überlebt der Mensch diese ruppige Liebe, unterhält die Riesin, sofern er sie nicht bewußt provoziert, eine zärtliche Bindung zu ihm, weil ihr aufkommender Mutterinstinkt ihn wie ein Kind erscheinen läßt. Sie wird dann harmloser als sonst, will sagen, sie bringt den Mann nicht um. Riesenbabies kommen mit einer Länge von anderthalb Metern zur Welt und sind an und für sich schon einem erwachsenen Normalgroßen körperlich überlegen, wenn da nicht die ungeübte Motorik wäre. Sie werden zwei volle Jahre gesäugt, bis sie zwei Meter groß sind. Ist die Stillzeit vorbei, verschwindet der Mutterinstinkt von Jahr zu Jahr. Das Kind muß damit rechnen, von der eigenen Mutter getötet zu werden, bevor es zehn Jahre alt ist. Auch hier gilt der Grundsatz: Wer schnell wächst hat die besten Überlebenschancen. Riesen sind mit fünf Jahren schon versierte Jäger, die Tiere mit Steinschleudern oder mit bloßen Händen erlegen können. Wird ihnen die eigene Sippe zu gefährlich, ziehen sie sich für zwanzig Jahre zurück, bis sie ihre Endgröße erreicht haben. Doch sie bleiben eher Einzelgänger, weil ein Zusammentreffen zweier erwachsener Riesen in den meisten Fällen tödlich endet. So berichtete ein wandernder Schneidermeister von einem Zweikampf, wo Riesen halbhohe Bäume ausrissen und sich damit gegenseitig totschlugen. Da diesem (auf)schneider jedoch keiner glaubte, weil er auch in anderen Dingen gerne übertrieb, fand sein Bericht nur Eingang in die Muggelpropaganda, die diesen als Märchen geläufig ist und wurde von den damaligen Zaubereihütern nicht so nachdrücklich verfolgt.“ Julius mußte sich arg zusammenreißen, nicht vor dem Ende des Satzes zu lachen. Doch als er das letzte Wort dieses Satzes ausgesprochen hatte lachte er laut. Als Waltraud ihn ansah und ebenfalls lachte wußte er, sie hatte damit gerechnet, daß es ihn zum lachen bringen würde. Er kicherte dann nur, daß er die Geschichte tatsächlich kenne und bot Waltraud im Gegenzug an, ihr privat das Märchenbuch zu beschaffen, in dem „Das tapfere Schneiderlein“ drinstand. Sie winkte ab und erwiderte vergnügt, daß sie natürlich sämtliche Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm in ihrem Bücherschrank habe, seitdem sie über ihre muggelstämmigen Mitschüler von der nichtmagischen Welt und ihre Geschichten erfahren habe. Dann forderte sie Julius auf, die kurzbeschreibung der Riesen weiterzulesen. Er räusperte sich, ließ den letzten Lacher über seine Lippen gehen und fuhr fort.

    „Da der Mutterinstinkt bei Riesinnen rasch vergeht, wurde von der Zaubererwelt angenommen, es gäbe keine Halbriesen. Doch dann wurden insgesamt sechs Fälle aktenkundig. Zwei in Russland, einer in Bulgarien, einer in Griechenland und zwei in Westeuropa, wenngleich diese Angaben immer bestritten wurden.“

    „Ja, soviel zu der Einleitung, Julius. Das Kapitel behandelt dann noch die bisherigen Beobachtungen von Riesen, wo die Riesenkriege stattfanden, wohin sich der überwiegenden Meinung nach die überlebenden Riesen zurückgezogen haben sollen und von der Aufzucht eines echten Riesenbabys, dessen Eltern sich wohl gegenseitig umgebracht haben. Der Riese lebt heute in der Nähe von Greifenberg und ist, solange man ihn nicht ärgert, sehr zivilisiert. Allerdings dürfen ihn Fremde nur aus großer Entfernung mit dem Fernrohr beobachten, weil er Fremden gegenüber sehr schnell aggressiv werden kann“, fügte Waltraud noch hinzu. Julius fragte, ob er sich das Buch für den Abend ausleihen dürfe. Waltraud nickte und sagte:

    „Ist schon ein sehr umfassendes Handbuch.“

    „Ich habe alle meine Zauberbücher bei mir. Gibt es eines, das dich interessiert?“ Fragte Julius und zählte Waltraud auf, was er so hatte. Sie wiegte den Kopf und sagte, daß sie sich für das Buch über magische Heilkunde sehr interessieren würde. Julius überlegte kurz, ob er ihr das leihen durfte. Doch damals, wo er das von Aurora Dawn bekommen hatte, war er noch kein Pflegehelfer gewesen, also ein X-belibiger Zauberschüler. Daher holte er es aus seiner Centinimus-Bibliothek und gab es Waltraud. Sie fragte ihn, ob sie es bis zu den Weihnachtsferien ausleihen dürfe. Er überlegte noch einmal und meinte, daß er es als Pflegehelfer wohl häufiger bräuche. Sie sagte dann:

    „In Ordnung, dann lese ich mir bis zum Ende der Woche die für mich wichtigsten Sachen nach, notiere mir das und frage meine Eltern, ob sie mir ein Exemplar davon beschaffen können. Dann kannst du es wiederhaben.“ Julius antwortete darauf, daß er damit einverstanden sei.

    Gerade hatte er den verkleinerten Bücherschrank wieder fortgepackt, als sein Pflegehelferarmband vibrierte. Offenbar hatte sich was neues ergeben. Er entschuldigte sich bei Waltraud und stand auf. Er ging einige Schritte auf die Wand zu, durch die er den Saal verlassen konnte. Céline und Laurentine meinten, ihn nun ansprechen zu können. Doch er schüttelte den Kopf und tippte an den weißen Schmuckstein. Sofort erschien die räumliche Abbildung Madame Rossignols vor ihm schwebend.

    „Komm bitte zu mir!“ Erklang die Stimme der Heilerin aus dem Armband. Dann war ihr Bild auch schon wieder verschwunden. Julius nickte reflexartig und ging auf die Wand zu. Bevor Céline ihn zurückhalten und fragen konnte, was los sei, löste er die Wandschlüpfmagie aus und wurde in einer Sekunde vom grünen Saal ins Sprechzimmer der Heilerin getragen, wo Madame Maxime bereits auf ihn wartete. Madame Rossignol beendete gerade ein weiteres Pflegehelferschlüsselgespräch, wohl mit Millie.

    „Setzen Sie sich bitte hin, Monsieur Andrews“, sagte die Schulleiterin ernst. Als Julius saß erschien noch Mildrid Latierre durch die Wand. Auch ihr gab Madame Maxime die Anweisung, sich hinzusetzen.

    „Es wird sie, Mademoiselle Latierre, sicherlich beruhigen, daß Ihre unerwartet impertinente Großmutter und ich uns nicht gegenseitig massakriert haben“, sagte die Schulleiterin. „Zwar haben wir uns gegenseitig eine Minute lang umhergejagt. Doch ich bekam sie nicht zu fassen. Dann warf sie mir noch einen Stuhl vor die Füße, daß ich der Länge nach hinschlug.“ Sie deutete auf ihr Gesicht, in dem einige blutige Schrammen zu sehen waren. „Danach ist sie lachend durch die Tür, hat mir noch „einen schönen Abend, Madame Maxime!“ zugerufen und die Tür zugeworfen. Offenbar hat sie sie mit Schweiß oder Blut von sich bestrichen und wohl einen Versperrzauber damit bewirkt. Zumindest bekam ich die Tür nicht auf. Sie widerstand meiner Körperkraft und war wie eine Wand. Erst als mein Wutanfall nachließ und ich vier meiner Ringe an der Tür zertrümmert hatte, erkannte ich, daß es keinen Sinn hatte, ja höchst blamabel für mich sei, diesem ungeratenen Frauenzimmer nachzustellen. als ich meine Selbstbeherrschung gänzlich zurückgewonnen habe, was nach meinem Dafürhalten viel zu lange dauerte, öffnete sich die Tür bei der sachtesten Berührung. Ich begab mich zu Schuldiener Bertillon, der mich informierte, daß unsere Besucherin seelenruhig durch das Haupttor marschiert sei und ihren rosaroten Flügelsessel bestiegen hat. Offenbar befindet sie sich wieder auf dem Heimweg. Dies wollte ich Ihnen beiden nur erzählen, da Sie Zeugen dieser höchst unrühmlichen Kurzepisode wurden. Sie, Mademoiselle Latierre, dürfen Ihrer Großmutter väterlicherseits ausrichten, daß sie von jetzt an bis zum Ende meiner Amtszeit als Persona non Grata gilt und die Ländereien und Gebäude der Beauxbatons-Akademie nicht mehr betreten darf, wenn sie nicht von der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe in eine ausländische Ansiedlung ihrer Artgenossen verbracht werden will. Die genauen Details und den Grund für dieses umfassende Besuchsverbot werde ich heute abend noch den zuständigen Stellen des Zaubereiministeriums zukommen lassen, sofern ich nicht auch an die Versendung eines Heulers an Ihre Großmutter denke. Bekanntlich ist das Gehör der Zwerge sehr empfindlich.“

    „Verstehe, Madame Maxime“, sagte Mildrid eingeschüchtert, was Julius von ihr nun gar nicht gewohnt war.

    „Für Sie beide gilt, daß über diesen peinlichen Zwischenfall kein Wort an Außenstehende dringen darf. Sollte jemand erfahren, was Sie im Panoramaraum oder gerade von mir erfahren erlebt oder gehört haben, hat dies den unmittelbaren Schulverweis zur Folge. Denn dann müßte ich wohl meinen Rücktritt einräumen. Und ich versichere Ihnen beiden, ich werde dann nicht alleine gehen. Haben Sie mich verstanden?“

    „Jawohl, Madame Maxime“, antwortete Julius. Millie antwortete ebenso folgsam und beklommen wie er:

    „Natürlich, Madame Maxime. Ich werde keinem und keiner was erzählen.“ Dann kehrte ein wenig ihrer sonstigen Willensstärke in sie zurück und sie fragte nun frei heraus:

    „Wir werden nichts sagen. Aber was ist, wenn Oma Lutetia, also Madame Arno was erzählt, womöglich noch der Zeitung?“

    „Werde ich die Verbannung von den Ländereien und Gebäuden von Beauxbatons damit begründen, daß sie höchst abfällige Bemerkungen über meine Person, viele Mitschüler, sowie diverse Zauberwesenrassen gemacht hat, was eindeutig gegen die Disziplin der Akademie verstieß und ich keine andere Wahl hatte, als ihr die Tür zu weisen und ihr die Rückkehr zu verweigern. Außerdem dürfte eine sofortige Verbringung in eine Ansiedlung der Zwerge sie davon überzeugen, sich tunlichst ruhig zu verhalten. Immerhin wird sie nicht als rechtlich gleichwertig in der Zaubererwelt geführt, sondern besitzt nur den Status der Toleranz auf Grund unbestreitbarer Unwägbarkeiten. Daß sie sich überhaupt so weit erdreistet hat wundert mich. Aber womöglich meint sie, sie lebe schon lange genug unter Zauberern, daß sie sich derlei Unverschämtheiten leisten dürfe. Dies nur zur Information für Sie beide. Ich werde nun meine Blässuren behandeln lassen und dann die angekündigten Mitteilungen versenden. Gute Nacht, Mademoiselle Latierre und Monsieur Andrews!“

    „Geht jetzt bitte in eure Säle zurück!“ Befahl Madame Rossignol ruhig aber unmißverständlich. Julius nickte Madame Maxime und der Heilerin zu. Die Schulleiterin blickte Millie noch einmal an und sagte:

    „Das hätte ich fast vergessen, Mademoiselle: Bringen Sie bitte ihren Verwandten bei, daß sie mir gegenüber niemals mehr den Namen dieses Geschöpfes erwähnen mögen, was auch für ihr noch auf dem Wege befindliches Geschwisterkind gilt.“

    „Nun, Maman wird ihm wohl vor dem vierten Lebensmonat nix wichtigeres als Dudidu und dadada erzählen“, erwiderte Millie. Doch weil Madame Maxime sie darauf hin sehr gefährlich anfunkelte nickte sie und sagte nur: „Ich werde es meinen Eltern ausrichten, daß sie Sie nie wieder auf die Zwergin ansprechen mögen, die heute abend bei uns im Seminar war.“

    „Das möchte ich mir auch ausgebeten haben“, knurrte Madame Maxime. Dann durfte Mildrid in ihren Saal zurückwandschlüpfen. Julius verließ keine Sekunde darauf das Sprechzimmer und kehrte ohne Umweg über Gänge oder Treppenhäuser in den grünen Saal zurück. Jetzt konnte er sich mit Céline Dornier und Laurentine über den Abend unterhalten. Auf die Frage, was Schwester Florence noch gewollt habe sagte er wahrheitsgemäß:

    „Es ging um was, worüber ich nichts sagen darf.“ Céline funkelte ihn mit ihren smaragdgrünen Augen an und knurrte:

    „Diese verdammte Geheimnistuerei. Das hat Claire auch sowas von …“ Da merkte sie, wie weit ihre Verbitterung sie getrieben hatte und legte rasch eine reuige Miene auf, bevor sie sich zu Julius hinüberbeugte und leise sagte:

    „‚tschuldigung, Julius. Das wollte ich echt nicht sagen. Das war jetzt blöd von mir.“

    „Es stimmt ja alles, Céline. Ich muß als Pflegehelfer und wegen anderer Sachen viel für mich behalten, und es hat Claire angekotzt“, sagte er leicht verbittert. Doch seine Miene war freundlich, so daß Céline nicht meinen mußte, er sei wütend auf sie.

    „Reden wir besser wieder über Sachen, die du mir und Bébé erzählen darfst“, sagte Céline besänftigend und fragte weiter nach Madame Arno, wie sie ihre Erlebnisse in der Zwergensiedlung beschrieben hatte und wie das mit den Zwergenzaubern denn ginge. Julius erzählte, daß sie wohl mit Tränen, Schweiß oder Blut den Zauber auf Sachen legen konnte, wenn sie konzentriert an dessen Wirkung dachte. Céline meinte dazu leicht verlegen, daß eine Frau wohl keine Probleme hatte, ausreichende Blutmengen zu kriegen. Julius nickte nur.

    „Was war denn das eben mit Waltraud?“ Fragte Laurentine. Julius erzählte ihr, daß sie ihm ein Zauberwesenbuch ausgeliehen habe und da doch drinstand, daß ein Muggelschneider mal zwei kämpfende Riesen gesehen habe, das ihm aber keiner glauben wollte und es als Märchen in der weltberühmten Sammlung der Gebrüder Grimm gelandet sei, natürlich nicht ohne weitere Abänderungen.

    „Ich habe die Märchen komplett auf Französisch und deutsch“, sagte Bébé. „Interessanterweise sind Geshichten wie die von der hundert Jahre lang schlafenden Prinzessin oder der Schönen und dem Biest in den Versionen unterschiedlich erzählt.“

    „Die Schöne und das Biest kenne ich. Das war Hallitti in Personalunion“, grummelte Julius, bevor er merkte, daß das auch als Scherz durchgehen mochte und er darüber grinsen mußte.

    Die Jungen der vierten Klasse hörten sich von Julius noch an, was am Abend gelaufen war, wobei er damit endete, daß sich Madame Maxime und Madame Arno wohl nicht sonderlich gut verstanden haben mochten.

    Als die Bettkontrolle von Giscard vorbei war, nahm Julius Waltrauds Handbuch der humanoiden Zauberwesen und prüfte noch einmal das Inhaltsverzeichnis, wo neben Vampiren, Werwölfen, Sabberhexen und Meigas auch die Töchter des Abgrunds erwähnt wurden. Er schlug das Kapitel auf, las jedoch nichts, was er anderswo nicht schon gelesen oder am eigenen Leibe erfahren hatte. Immerhin stand genug über die drin, daß man genug Stichwörter für weitere Forschungen hatte. Im Quellenverzeichnis, wo die Namen der Autoren und Dokumente standen, fand er sogar den Namen Delamontagne, Phoebus, der Erlebnisberichte von beinaheopfern der Abgrundstöchter aus allen Jahrhunderten gesammelt hatte, auch das Fragment von Toledo, das jedoch nur vereidigte Experten zur Bekämpfung dunkler Mächte zu sehen bekämen.

    „Ich glaube, das muß ich noch klären, ob er mir erzählt, was es damit zu tun hat“, dachte Julius, als sein Pflegehelferarmband vibrierte. Julius wunderte sich. Was mochte Madame Rossignol jetzt noch von ihm wollen? Er tippte sich an den weißen Schmuckstein … und hatte unvermittelt Millie Latierres räumliches Abbild auf seinen Knien sitzen, ohne jedoch ihr Gewicht zu fühlen. Dann sagte ihre Stimme aus dem Armband:

    „Setz dich besser auch hin, Julius, bevor noch wer meint, wir wollten es aus der Ferne miteinander machen.“ Ihr unstoffliches Ebenbild grinste schadenfroh. Julius zog die Beine an, durch Millies in ein waldgrünes Nachthemd gehüllten körper, setzte sich auf, ohne den grasgrünen Bettvorhang zu berühren, der als sogenannter Schnarchfänger alle vom Bett ausgehenden Laute zurückhielt. Als er aufrecht, auf die linke Hand gestützt im Bett saß fragte er:

    „Was gibt es wichtiges.“

    „Nur so viel, daß Oma Lutetia tatsächlich wieder zu Hause angekommen ist. Da du ja dabei warst, wie sie mit Madame Maxime Fangen gespielt hat fand ich, ich müßte dir das gleich sagen und nicht erst morgen.“

    „Warum sollte uns Madame Maxime was vorschwindeln, Mildrid. Das wäre doch völlig widersinnig, wenn rauskäme, daß deine Oma nicht nach Hause zurückgekehrt ist.“

    „Wenn sie uns vielleicht nicht erzählen wollte, was wirklich passiert ist oder so. So wütend wie sie war hätte sie Oma glatt erwürgen oder zertrampeln können, wenn nicht doch irgendeinen Fluch anbringen können. Aber jetzt ist alles soweit in Ordnung.“

    „Woher weißt du denn, daß deine Oma wieder zu Hause ist?“ Fragte Julius.

    „Sie hat’s Papa mitgeteilt und der hat mit Maman vor dem Bild Orions darüber gesprochen, der dann zu seinem Abbild in Beaux kam. Aber das Spiel kennst du ja.“

    Julius warf erschrocken einen Blick über sein Bett auf das Vollportrait Aurora Dawns. – Das Bild war völlig lehr.

    „Viviane unterhält sich wohl gerade mit Orion, weil der ihr was wichtiges zu erzählen hat“, sagte Millie, die mitbekam, wo Julius hingesehen haben mußte. Woher wußte sie …? Natürlich wußte sie, daß er von Claire einige Bilder bekommen haben mußte, in denen Viviane Eauvive herumgondeln mochte. Er beruhigte sich wieder und sagte nur:

    „Hast du dem erzählt, was Madame Maxime uns aufgetragen hat?“

    „Habe ich“, sagte Millie „Ups, dann wollte ich dir noch eine gespensterlose Halloweennacht wünschen, fällt mir ein.“

    „Letztes Jahr in der Nacht habe ich mit Belle Grandchapeau in einem Raum geschlafen“, sagte Julius.

    „Na, du wirst Mademoiselle vornehm-und-ordentlich nicht als Gespenst ansehen, nachdem du vier Tage lang ihre Klamotten anziehen und ihr Kosmetikzeug benutzen durftest.“

    „Durftest?“ Fragte Julius verwundert. „Das war ein Teil der Unannehmlichkeiten an diesen vier Tagen. Ich wäre lieber morgens ums Stadion gelaufen als mir irgendwelchen Kleister ins Gesicht zu schmieren“, sagte er, wobei er Millie gegenüber verschwieg, daß ihm das Schminken in den letzten zwei Tagen der erzwungenen Gemeinschaft mit Belle doch sichtlich mehr Spaß gemacht hatte.

    „Haben wir Mädels alle gesehen, wie unangenehm dir das war, wo du das bald raushattest, besser auszusehen als die Vorlage. Aber in gewisser Weise bin ich froh, daß du wieder der bist, der du immer warst.“

    „Zumindest müssen wir beide nicht vier Tage hintereinander zusammenhängen und die Klamotten teilen“, sagte Julius. Doch wenn er hoffte, Millie damit die Stimmung erschüttert zu haben irrte er sich. Sie sagte dazu:

    „Du wärest dann gerne meine Schwester geblieben, wenn dieser Knilch uns beide erwischt hätte. Außerdem hättest du dann noch einmal über den Teppich laufen müssen, weil vier Tage Latierre-Blut dich endlich auf die richtige Spur gebracht hätten und du zu Caro, Bine, San und mir hingekommen wärest. Aber das du bei den Grandchapeaus nicht wohnen möchtest kapiere ich.“

    „Das kannst du so nicht sagen, oder warst du da schon mal?“ Ging Julius darauf ein und verfluchte sich selbst, daß er das nicht einfach überhört hatte.

    „Maman hat mich da einmal hingetragen, als sie noch für mich mitessen und atmen mußte. War ziemlich langweilig da.“

    „Haha“, kommentierte Julius diese Bemerkung Millies. Dann setzte er noch einen drauf und meinte: „Dann müßte dir Quidditch ja auch langweilig gewesen sein.“

    „Hallo, das war Martine, die das mitgemacht hat, nicht ich“, sagte Mildrid vergnügt grinsend.

    „Dieser Logik nach müßte mich Schach ja tierisch anöden“, konterte Julius.

    „Ja, meine Mutter ödet das auch an und Tante Babs und Tante Béatrice“, brachte Millie eine Bestätigung an. „Aber die Jungs fanden das Spiel komischerweise interessant, genauso wie Tante Pat das irgendwie auch toll findet. Offenbar hängt es davon ab, wie viele Kinder damit zu tun kriegen. Aber ich wollte nicht zu lange reden. Morgen wird’s ja wieder heftig genug.“

    „Na dann kannst du ja jetzt Heia machen“, sagte Julius verschmitzt grinsend.

    „Geht nicht, die haben mir den Schnuller weggenommen“, quäkte Millie schlagfertig. Dann nickte sie Julius zu und meinte in ihrer üblichen Sprechweise: „Da habe ich bei dir wohl ’nen falschen Eindruck erweckt. Meine Mutter hat bei mir schon mit dem Babybrabbelzeug aufgehört, als ich festeres Zeug schlucken konnte. Es gab für mich immer nur Hunde und Katzen und keine Wauwaus, Miaus oder sonstiges Getier. Also schlaf schön!“

    „Du auch!“ Erwiderte Julius so vertraut wie zu einem Familienangehörigen. Millies Abbild verschwand. Julius fürchtete schon, Madame Rossignol würde gleich noch bei ihm durchrufen und ihn zurechtweisen, was ihm einfiel, nach der Bettkontrolle noch mit Millie zu plaudern. Vielleicht würde sie aber auch nur diese zusammenstauchen. Als nach einer halben Stunde immer noch nichts dergleichen geschah befand Julius, daß er jetzt schlafen solle.

    __________

    über den Besuch von Millies Oma wurde nur so viel in Beauxbatons herumerzählt, daß sie wohl nicht gerade damenhafte Umgangsformen hätte. Mehr kam nicht heraus. So verstrichen die folgenden Tage bis zum Spiel der Grünen gegen die Weißen.

    „… Andrews auf dem Ganni zehn wieder hinten vor dem Tor von Lachaise, weil die als Hüterin wohl noch nicht so richtig warm ist“, kommentierte Brassu das gerade erst zehn Sekunden alte Spiel. Julius spielte wieder den Abfangjäger, was der Rolle eines Verteidigers im Fußball entsprach. Das hieß, er sollte die Angriffe abfangen und Gegenangriffe einleiten. So spielte er die direkten Würfe der Weißen zu Virginie oder Waltraud weiter, während Hercules und Giscard die Klatscher immer so umlenkten, daß die Treiber der Weißen weit auseinandergezogen wurden, um sie zu erwischen. Die Umstellung, die Kapitän Camus nach dem Auftaktspiel gegen die Roten vorgenommen hat müssen wohl noch nachgeschliffen werden, Messieursdames et Mesdemoiselles. Tor durch Delamontagne in der vierzigsten Sekunde!“ Rief der Stadionsprecher. Was immer Edgar Camus sich dabei gedacht hatte, die etwas klobig wirkenden Herman Rousseau und Louis Cassini als neues Jägerduo einzusetzen. Der hätte doch schon nach dem Spiel gegen die Roten merken müssen … „Klatscher gegen Andrews, kommt aber gut weg. Ja, wer den Zehner fliegen kann ist schneller als sein Schatten, werte Zuschauer, und da ist Andrews auch schon wieder im Quaffelbesitz. Weedelt sich fast vor das tooo-hooouuu, beinahe wäre er da voll in einen von oben runterkrachenden Klatscher gerasselt, konnte gerade noch zur Seite weg und wirft ab! Tooooor! Zwanzig Punkte für die Grünen, die jetzt aufpassen müssen, weil Rousseau gerade … sauber vom Quaffel getrennt wird. Andrews von Delamontagne bedient bringt die rote Kugel wieder vor die von Camus gehüteten Ringe, der wirft sich in die Flugbahn, kann den Quaffel abprellen, aber viel zu kurz! Andrews! Tooor!“

    „Scheiß Zehner!“ Fluchte Edgar Camus, als er den roten Ball hinter einem der Ringe auflesen und ins Spiel zurückwerfen mußte. Julius hörte nicht hin, weil gerade beide Klatscher gleichzeitig auf ihn loszischten. Er wollte schon Hercules zurufen, ob er gerade schliefe, als dieser auch schon bei ihm war und den rechten Ball so heftig gegen den linken hieb, daß sie Funken sprühten und zu Boden durchsackten.

    „Moulin schuldet der Akademie zwei neue Klatscher, Messieursdames et Mesdemoiselles“, bemerkte Brassu, als die beiden schwarzen Bälle fast auf dem Boden landeten. Julius sah inzwischen, daß Waltraud den Quaffel hatte, während Sixtus Darodi, der heute zum zweiten Mal als Jäger der Weißen flog, vor Moniques Tor lauerte.

    „Bleib schön da, Sixtus“, dachte Julius und sah, wie Virginie den Quaffel in seine Richtung spielte. Pfeilschnell sauste Julius auf die scharlachrote Lederblase zu und nahm sie an, bevor Cassini ihn wütend von der Seite anflog.

    „Diesmal nicht“, rief Cassini. Doch da hatte Julius schon ein schnelles Wendemanöver ausgeführt, Camus durch einen schnellen Blick auf den linken Ring und einen angetäuschten Wurf auf diesen Ring zum Hechten verleitet und den Quaffel unhaltbar durch den rechten Ring befördert.

    „Aber genauso!“ Rief Julius und schwirrte los, weil Camus‘ Abschlag fast bis ins Tor der Grünen ging. Die Klatscher, die sich von ihrem Zusammenprall wohl erholt hatten, fegten im Zickzack hinter Julius her. Doch Giscard klopfte einen davon in die Flugbahn von Rousseau, während hercules dem anderen nur den Schläger hinhielt und den Ball damit einfach nur abstopte. Monique schoss aus ihrem Torraum und sicherte den Quaffel, nickte Waltraud zu, die gerade viel freien Raum um sich hatte, weil die Jäger der Weißen sich auf Julius auf seinem Hochgeschwindigkeitsbesen eingepeilt hatten. So bekamen sie es erst von Brassu und der jubelnden Zuschauermenge vor allem der Grünen mit, wie die deutsche Gastschülerin den Quaffel an Edgar Camus vorbeidrehte und ihn durch den mittleren Ring schickte.

    „Ihr Schnarchsäcke habt die Leseratte einfach frei rumkurven lassen!“ Zeterte Camus. Doch all sein Zetern half nichts. Denn die grünen bauten nun ein bilderbuchgleiches Staffettenspiel auf, das ihnen neun Tore in Serie brachte. Dann stellten sie die Taktik um. Julius rückte mit vor und bildete mit seinen beiden Jägerkameradinnen eine bewegliche und formbare Angriffslinie, die sich vor dem Tor der Weißen festsetzte, was von Brassu mit dem Ruf: „Die Angriffsmauer ist hart wie Granit und dehnbar wie Gummi!“ kommentiert wurde. Darauf hob aus den Reihen der Weißen auf der Tribüne der Ruf an: „Die Mauer muß weg! Die Mauer muß weg!“

    Die Jäger der Weißen probierten immer wieder einen Ausfall oder ein Durchlöchern der Angriffsreihe. Doch die Treiber Moulin und Moreau spielten die Klatscher immer hin und her und lieferten sich mit ihren Gegenspielern in Weiß eine Art Klatschertennisdoppel. Die fünf Tore, die die Weißen schossen verdankten sie eher dem Umstand, daß Monique Lachaise immer wieder zu weit aus dem Torraum kam, um das Geschehen am anderen Spielfeldende zu beobachten. So vergingen die Minuten, und erst als Agnes Collier den Schnatz fing und damit das Spiel beendete, wurden Edgars Leute erlöst.

    „Das sind dann noch einmal einhundertfünfzig Punkte für Saal Grün, der damit ganze dreihundertachtzig Punkte aus dieser doch sehr einseitigen Begegnung mitnimmt. Edgar wird wohl wieder umbauen müssen, wenn er im Spiel gegen die Gelben mehr als nur fünfzig Punkte erzielen möchte“, bemerkte Brassu mit hörbarer Schadenfreude. Die Zuschauer lachten schallend über diesen Spott. Denn gegen die Gelben mehr Punkte als fünfzig holen zu können galt in der Akademie als selbstverständlich. Doch gerade die Weißen hatten im letzten Jahr ihr blaues Wunder erlebt, weil Maurice Dujardin bereits in der ersten Spielminute den Schnatz und damit 150 Punkte für die Gelben im Handumdrehen gesichert hatte, wo die Weißen erst ein Tor geschossen hatten und sich schon auf der Straße der vielen Punkte wähnten. So sangen die Gelben auch: „Ja ja, wie schön das war,
    das Spiel im letzten Jahr.
    Somit ist Sonnenklar,
    das geht noch mal.“

    Als die Spieler gelandet waren stürmte Edgar auf Julius zu. Sein Gesicht war eine blutrote Maske der Wut. Er griff nach dem Ganymed 10. „Dreckbesen! Den mache ich zu Kleinholz!“ Brüllte Edgar. Doch da eilten Professeur Dedalus, sowie Sixtus Darodi auf ihn zu und zogen ihn von Julius weg, der seinen Besen mit einer kraftvollen Hebelbewegung aus dem Griff Edgars freimachte.

    „Komm, Edgar, kühl dich ab!“ Sagte Sixtus. „Wir haben nur ein Spiel verloren. Mach jetzt keinen Mist hier!“

    „Verdammt noch mal! Ich beantrage die Wiedereinführung der Einheitsbesen“, schnaubte Camus.

    „Damit du noch langsamer fliegst?“ fragte eine ziemlich schadenfrohe Caroline Renard, bevor sie sich Julius zuwandte.

    „Schön habt ihr das gemacht. Aber dir ist doch klar, daß Brunhilde euch das nicht durchgehen läßt“, sagte sie, bevor Constance Dornier aufs Feld eilte und Caro von Julius wegschupste.

    „Ey, Connie, was soll der Mist?!“ Fluchte Caroline. Doch Connie Dornier baute sich vor Julius auf und sagte sehr kühl:

    „Genieß es. Nächstes Jahr darf ich vielleicht wieder spielen und habe dann auch den Zehner. Dann hänge ich an dir fest wie ein Eisenkrümel am Magneten.“

    „Ich freu mich drauf“, sagte Julius dazu nur, bevor Caro Connie wieder wegschupste.

    „Geh dein Kind sttillen, Maman Dornier!“

    „Das ich dich nicht gleich mal ganz gehörig über’s Knie lege, rotes Dreckstück“, schimpfte Connie sichtlich wütend.

    „Hallo, Julius! Die Weißen habt ihr schön versenkt. Den Pokal können wir zwei im letzten Spiel gegeneinander ausspielen“, säuselte Millie, die sich in Connies Windschatten herangepirscht hatte und klopfte Julius auf die Schultern. Dieser blickte sie an und meinte:

    „Da muß euer Sucher aber immer schön den kleinen Ball mit den Flügeln dran fangen.“

    „Das wird er hoffentlich“, erwiderte Millie eher betrübt als zuversichtlich.

    Weitere Zuschauer strömten aufs Feld und beglückwünschten die Grünen oder trösteten die Weißen. Auch Céline kam herunter und beglückwünschte Julius, wobei sie ihn sogar umarmte.

    „Das war ein schönes Spiel, wenn ihr es den Weißen auch ziemlich hart gemacht habt“, sagte sie. „Damit holt ihr auch dieses Jahr den Pokal. Claire würde das ganz bestimmt freuen. Aber pass bitte gut auf, wenn ihr gegen die Violetten und die Roten spielt!“

    „Claire freut sich bestimmt, wenn wir alle gut spielen“, sagte Julius und fühlte, wie die von Céline ausgehende Mischung aus Trübsal und Erleichterung in ihn eindrang. Daß sie ihn in ihren Armen hielt verstärkte diesen Gefühlsstrom. Er sah die Tränen in Célines Augen glitzern und fühlte auch in seinen Augen Wasser aufsteigen. Doch er zwang sich dazu, sich nicht von Célines Stimmung überrumpeln zu lassen und sagte schnell: „Danke dir für den Glückwunsch!“ er wollte sich aus der Umarmung lösen, doch Céline hielt ihn fest wie verriegelt. Julius sah sich um, wer ihn so sah. Er entdeckte Robert, der etwas verunsichert herankam und seine Freundin ansah, die Julius umklammert hielt, als wolle er ihr gleich davonfliegen. Edgar versuchte erneut, an den gerade auf dem Boden liegenden Ganymed heranzukommen. Doch Hercules und Giscard standen schon bereit, das Prachtstück zu beschützen. Waltraud unterhielt sich mit Leuten aus dem violetten Saal, die ihr zum guten Spiel gratulierten. Dann kamen noch die Montferremädchen, die Céline keck an den Ohren zogen, worauf sie sichtlich verärgert von Julius abließ.

    „Ey, was soll das jetzt?!“ Schnaubte sie die beiden an, bevor sie merkte, daß sie wohl die schlechteren Karten hatte und ohne weiteres Wort abzog.

    „Die Frage stelle ich jetzt auch mal“, meinte Julius, bevor Sabine ihn unerwartet innig umarmte und auf die Wangen küßte und ihn dann einfach an ihre Schwester weitergab, die das gleiche mit ihm tat.

    „Es ist schön, dir und den anderen zuzusehen, Julius“, sagte Sabine. „Vor allem ist es sehr anschaulich gewesen, wie man die Weißen in ihrem Torraum festnageln kann und trotzdem einen Quaffel nach dem anderen durch die Ringe jagen kann.“

    „Deshalb spielt ihr Knuddelmuff mit mir?“ Fragte Julius perplex.

    „Wir finden, du hattest das jetzt verdient“, erwiderte Sandra, die ihn noch in den Armen hielt.

    „Robert sah eben schon merkwürdig aus, weil Céline mich so beglückwünscht hat“, sagte Julius. „Nachher kriege ich noch Krach mit Serge und Marc.“

    „Dann müßte sich das für dich aber auch lohnen“, sagte Sandra und drückte Julius so eng an sich, das er mit dem Gesicht an ihrem Brustkorb andrückte. Für fünf Sekunden hielt sie ihn so, bis Julius meinte:

    „Danke, Sandra, ich bin jetzt satt genug.“ Sandra lachte los und gab Julius frei.

    „Das wird erst noch was, Julius. Davon kannst du noch gar nicht satt werden.“

    „Für mich hat’s gereicht“, erwiderte Julius keck. Die Trübsal, die Céline auf ihn übertragen hatte, war der früheren Frechheit gewichen, die er sich gerne in der Nähe der Roten erlaubte, wenngleich Millie ihm schon gezeigt hatte, wie leicht sowas nach hinten losgehen konnte.

    „San fühlt sich als kleine Schwester immer etwas benachteiligt, Julius. Deshalb kann sie dein Kompliment nicht richtig würdigen“, sagte Sabine.

    „Schwesterlein, sei brav und fein!“ Erwiderte Sandra. Da näherte sich Professeur Faucon. Sie wirkte leicht irritiert, weil drei Mädchen, von denen zwei schon als erwachsene Frauen durchgingen ihren Schützling Julius so innig liebkost hatten, daß man meinen konnte, er wäre ihr Liebhaber.

    „Ich weiß das es eine merkwürdige Sitte im roten Saal ist, überschwengliche Gefühle durch sehr betonte Innigkeit zu äußern, Mesdemoiselles. Aber ich möchte Sie bitten, den Jungen Mann nicht derartig heftig zu verunsichern, daß er noch meint, es sei eine Strafe, ein Spiel zu gewinnen, wenn er dafür von kräftigen Junghexen an den Rand des Erstickens geherzt wird.“

    „Wir haben ihm nichts getan, wovor er sich fürchten müßte, Professeur Faucon“, sagte Sabine leicht verunsichert. Julius nickte.

    „Sie wissen sehr wohl, daß solcherlei Körpernähe in Beauxbatons sehr ungern gesehen wird und daß Julius Andrews genug Ruhe und Ordnung benötigt, um über den traurigen Verlust hinwegzukommen. Außerdem wäre es höchst unfein gegenüber den Messieurs Rossignol, mit denen Sie doch soweit mir bekannt ist eine zwischenmenschliche Beziehung pflegen.“

    „Entschuldigung noch mal, Professeur Faucon. Wird nicht wieder vorkommen“, sagte Sabine. Sandra nickte. Dann trollten sich die beiden Junghexen.

    „Sie sollten lernen, derartige Annäherungen sofort zu unterbinden, wenn Sie sie nicht ausdrücklich wünschen und falls ja, dann nicht in aller Öffentlichkeit!“ Sagte Professeur Faucon, bevor sie Julius ihrerseits umarmte, aber nicht so eng wie die Montferres, sondern flüchtig und ausreichend, um ihre Wertschätzung für sein Spiel eben zu zeigen. Dann ging sie weiter. Julius nahm seinen Besen wieder auf.

    „Hoffentlich hat Robert gesehen, wie du bei San Montferre den rechten Quaffel begutachtet hast. Sonst denkt der echt, Céline wolle ihn ablegen und dich übernehmen“, sagte Hercules mit einer Spur Neid in der Stimme. Julius erwiderte darauf:

    „Liegt wohl an dem Duschzeug. Irgendwie macht das wohl sowas mit den Mädels.“

    „Echt?! Dann besorge ich mir das auch“, ging Hercules sofort darauf ein. Julius grinste.

    „Das ist nur eine Vermutung. Wenn das echt geht machen die das Zeug gleich fünfmal teurer.“

    „Tja, aber testen läßt du mich das aber mal, oder?“

    „Besser nicht. Stell dir vor, Professeur Faucon wäre die erste gewesen, die mich beglückwünscht hätte. Dann hätte die mich so heftig umklammert wie Céline oder San.“

    „Öhm, kann man das nicht so benutzen, daß einem nur die knackfrischen Mädels um den Hals fallen?“ Fragte Hercules nun etwas irritiert. Offenbar hatte er Julius‘ Vermutung im Bezug auf sein Duschzeug für bare Münze genommen. So sagte Julius:

    „Die Montferres sind mit mir in verschiedenen Kursen und freuen sich, eine Art jüngeren Bruder in mir zu sehen. Ich glaube nicht, daß mein Duschzeug irgendwelche Mädels auf mich fliegen läßt. Dann wäre das ja schon wie der Auraveneris-Fluch.“

    „Trotzdem probiere ich das mal aus, womit du duschst“, sagte Hercules. Julius verstand, daß sein Klassenkamerad wohl glaubte, Julius wolle ihm was vorenthalten. So sagte er: „Okay, du kannst es gerne mitbenutzen. Aber nur das Duschzeug.“ Wahrscheinlich konnte er Hercules nur so überzeugen, daß er, Julius, nichts dafür konnte, daß ihn die Montferres so umarmt hatten. Was Céline anging, so fühlte er sich irgendwie merkwürdig. Wollte sie ihn wirklich „übernehmen“? Konnte es sein, daß sie sich zu ihm hingezogen fühlte, weil sie und er um Claire trauerten? Vielleicht sollte er das mit einem anderen Mädchen bereden, einem, das nicht so lange und ausgiebig mit Claire zusammen in die Schule gegangen war. Da kamen also nur zwei in Frage. Nein, natürlich nur eins. Denn ihm fiel ein, was er im letzten Jahr über Harry Potter und Cho Chang gehört hatte, daß sie eine Zeit lang miteinander gegangen waren. Cho hatte um Cedric Diggory getrauert, dessen Tod Harry Potter miterlebt hatte. Wahrscheinlich hatte das die beiden zusammengebracht. Aber es hatte nicht gehalten, wußte er auch, weil Cho am Jahresende wohl mit Michael Corner zusammengekommen war. Er ärgerte sich ein wenig, daß er sich um derlei Zeug Gedanken machte, wo er hier eigentlich nur zaubern lernen wollte. Um sich von diesen abschweifenden Gedanken abzulenken trat er in den Pulk der Grünen, die nun auf dem Quidditchfeld standen und die siegreiche Mannschaft beglückwünschten. Als es dann wieder in den Palast von Beauxbatons zurückging hatte Julius es schon wieder verdrängt, mit Gloria Porter über ihn, Céline und Claire zu sprechen. Da Robert sich wohl von Hercules brühwarm erzählen ließ, daß das mit Céline angeblich an Julius‘ Duschgel lag und daß die jüngere Montferre ihm fast die rechte Brust in den Mund gestopft habe war er wohl beruhigt und meinte zu Julius nur:

    „Wenn das echt vom Duschzeug kommen sollte, Julius, dann wirkt das wohl eher auf die Montis. Millie hat dir ja nur auf die Schultern geklopft und dir nicht wieder die Zunge in den Hals gesteckt wie nach Weihnachten letztes Jahr.“

    „Wahrscheinlich wollte Millie keine Strafpunkte mehr riskieren“, sagte Julius dazu nur. Doch merkwürdig fand er es schon, daß Millie ihn nicht umarmt hatte. Hatte sie, wo Claire nicht mehr da war, die Lust an ihm verloren, weil keine Konkurrentin mehr da war, die man ärgern konnte? In gewisser Weise sah sie ja nur noch Martine oder ihre Tante Béatrice als gefährliche Konkurrenz an. Da die jedoch nicht mehr in Beauxbatons waren, so vermutete Julius, brauchte Millie auch nicht weiter hinter ihm herzujagen. Andererseits sah er sie nun öfter als im letzten Jahr noch. Nähe erzeugte vielleicht eine gewisse Langeweile. So handelte er dieses Spiel und das danach als merkwürdig aber nicht zu klären ab und machte sich lieber daran, einige noch ausstehende Hausaufgaben für Bellart zu machen.

    __________

    Zur Novembermitte hin wurde das Wetter richtig ungemütlich. Immer wieder regnete es wie aus Waschkesseln, und manche Nacht heulte der Herbststurm um die Mauern von Beauxbatons und klatschte Regenwasser gegen die Fensterscheiben, pfiff durch die feinsten Ritzen und rüttelte an den Bäumen der Parks. So kam es oft vor, daß die Schülerinnen und Schüler sichtlich unausgeschlafen und entsprechend reizbar waren. Auch Julius, den die trüben Herbsttage immer wieder daran denken ließen, daß Claire nicht mehr da war, mußte immer wieder tief durchatmen, um nicht auf eine unbeabsichtigte Provokation einzugehen. Madame Rossignol schärfte ihren Pflegehelfern immer wieder ein, sich aus allen gerade grassierenden Streitigkeiten herauszuhalten.

    „Das Wetter ist kein Grund, die eigene Unversehrtheit zu riskieren oder anderen Verletzungen zuzufügen“, sagte die Heilerin einmal, als Julius und Carmen zwei durch gegenseitig aufgebrannte Flüche verunstaltete Saalkameraden der fünften Klasse bei ihr abgeliefert hatten.

    Immer wenn Julius die Schwermut zu übermannen drohte, die ihn nach den ersten vier Wochen seit Claires körperlichem Tod umschlich, stürzte er sich in die Arbeit, las sich durch Bücher über Verwandlungszauber und Zauberkunst.

    Nachdem sie drei Zauberwesenseminarabende weiter über Zwerge gesprochen und dabei Zwergenartefakte begutachtet hatten, kam der Verbindungszwerg des Zaubereiministeriums zu Besuch. Madame Maxime hatte allen Teilnehmern einen Tag vorher ein Memo zukommen lassen, gegenüber diesem Besucher nicht den vorangegangenen Besuch von Madame Arno zu erwähnen, da diese bei den Zwergen als absolute Unperson galt. Waltraud, Gloria und Julius saßen zusammen im Panoramaraum, der nun eine weitläufige Höhle mit Fackeln und von der Decke herabhängenden Eisenkörben darstellte. In den großen Körben brannten Holzstöße und tauchten alles in ein orangerotes Licht.

    „Nun, ich hörte, Sie hätten sich intensiv mit unserer Lebensweise vertraut gemacht“, sagte Koldorin, der Verbindungszwerg zum Zaubereiministerium. Er trug eine Kluft aus dunkelrotem Leder und eine Maulwurfsfellmütze. Sein haselnußfarbenes Haar und der ihm bis zum Gürtel herabreichende Bart verhüllten sein Gesicht so sehr, daß nur die tiefschwarzen Augen zu sehen waren, die selbstsicher die Reihen der Seminarteilnehmer betrachteten. Alle nickten. Dann erzählte Koldorin vom Leben der Zwerge und den ruhmreichen Taten. Er beendete seinen Vortrag mit den Worten: „Natürlich wird in der Welt von euch immer rumerzählt, wir Zwerge seien nur Säufer und Raufbolde. Aber das ist der Unsinn, den die Kobolde von sich geben, um unsere Rasse weiterhin aus wirklich wichtigen Sachen herauszuhalten. Unsere Söhne sind mit Abstand die ehrenvollsten und arbeitssamsten Burschen, die unter den Bergen zu finden sind und halten sich sehr strickt an alle Regeln, sind gehorsam und klagen nie über harte Bedingungen. Denn Härte ist unser Geschäft, ob im Bergbau oder in der Fertigung hochwertiger Gebrauchsgegenstände, die von vielen Zauberstabnutzern geschätzt und bewundert werden. Meine Kameraden sind über alles erhaben, was so rumerzählt wird. Deshalb habe ich auch keine Probleme, eure Fragen zu beantworten.“ Dabei sah er wohl nicht ganz so zufällig eher die Jungen im Seminar an. Julius fühlte, daß gleich wieder Spannung aufkommen würde, und zwar keine angenehme. Von den Mädchen sahen viele Millie an, als solle sie für sie sprechen. Immerhin hatte sie ja auch den Vortrag über Zwerge gehalten, auf den in den Stunden danach ja einige weitergehende Diskussionen aufgebaut hatten. Gloria hob die Hand. Doch als Madame Maxime ihr das Wort erteilte, sah der Zwerg an ihr vorbei, als sei sie unsichtbar:

    „Monsieur Koldorin, Sie haben erzählt, wie Sie und Ihre männlichen Artgenossen aufwuchsen und gelernt haben, immer fleißig und unempfindlich zu sein. Können Sie uns bitte erzählen, wie bei Ihnen die Frauen und Mädchen leben?“

    „Bitte was?“ Fragte der Zwerg. Madame Maxime sah ihn an und sagte:

    „Monsieur, Sie sagten eben, Sie würden jede Frage beantworten, da es nichts gäbe, wofür Sie sich schämen müßten. Also bitte! Mademoiselle Porter wünscht von Ihnen zu hören, wie in Ihrer Gesellschaft Frauen und Mädchen leben.“

    „Porter? Haben Sie was zu tun mit einem Plinius Porter?“ Fragte Koldorin zurück. Gloria, die sonst sehr besonnen blieb, straffte sich kampflustig und erwiderte:

    „Das ist mein Vater, Monsieur. Was hat das bitte mit meiner Frage zu tun?“

    „Habe ich doch gleich gesehen“, knurrte der Zwerg. „Dein Vater ist ein Kobolddiener. Da bringt es wohl nicht viel, wenn ich dir erzähle, wie wir Zwerge leben, wenn eh alles für schlecht gehalten wird. Aber weil eure ganz große Chefin das will und ich keinen Krach mit eurem Minister kriegen will erzähle ich euch anderen das gerne. Also, bei uns werden die Frauen gut behütet, damit ihnen nichts zustößt. Deshalb bleiben sie nach dem fünfzehnten Lebensjahr bei den Männern, die sich bereiterklärt haben, auf sie aufzupassen und ihnen dabei zu helfen, unser Volk zu vergrößern. Wenn sie Kinder in sich haben wohnen sie zusammen und helfen sich dabei, die Kinder zu kriegen, weil wir Männer für diese Arbeit keine Zeit haben und das eh von denen so gewollt ist, daß die dabei unter sich sind. Ja, und wenn die Kinder weiblich sind bleiben die fünfzehn Jahre mit der Mutter zusammen im Haus des Vaters, bevor ein ausgebildeter Mann sich bereiterklärt, auf die neue Frau aufzupassen. Die haben also keine Sorgen, weil die Männer genug zu Essen heranschaffen und ihnen alle Lasten abnehmen, nur eben nicht das Kinderkriegen. Aber das ist ja deren eigentliche Aufgabe, abgesehen davon, daß sie auf die Wohnhöhlen der Männer aufpassen, wenn der gerade arbeitet.“

    „Was ist daran Gerücht oder Wahrheit, daß Ihre Frauen unbekleidet im Haus leben müssen?“ Fragte Waltraud vorsichtig.

    „Wieso sollen die was anziehen. Die haben es da warm genug und müssen nicht raus in den Trubel. Außerdem spart das Zeit, wenn ihre Männer es für richtig halten, neue Kinder auf den Weg zu bringen.“

    „Monsieur, bitte etwas mehr respekt gegenüber den anwesenden Damen“, sagte Madame Maxime ungehalten.

    „Respekt. Die haben Respekt vor uns zu haben. Wir schaffen, wir passen auf sie auf und geben ihnen genug zu essen. Die Männer schaffen hart und haben daher mehr Recht auf Entspannung und Vergnügen.“

    „Wo bleibt denn da bitte sowas wie Partnerschaft?“ Fragte Felicité Deckers.

    „Da kann man mal sehen, daß zu Viel Aufgaben für Frauen das Gehirn verstopfen. Mädchen, ich habe gerade erzählt, daß das eindeutig geregelt ist, wer was macht. Das ist doch Partnerschaft.“

    „Erstens, Monsieur Koldorin“, knurrte Felicité, „Heißt das „Mademoiselle“ und nicht „Mädchen“ oder gar „Mädel“.“ Madame Maxime machte schschsch und sah den Zwerg nun durchdringend an. Doch dieser schien davon nicht beeindruckt zu sein.

    „Sie vergreifen sich massiv im Ton, Monsieur. Wenn Sie nicht von Minister Grandchapeau als umgänglicher Gesprächspartner empfohlen worden wären, hätte ich Sie nicht eingeladen, vor meinen Schülern und Schülerinnen über Ihre Lebensweise zu berichten. Es ist doch selbstverständlich, daß meine Schülerinnen wissen möchten, wie Artgenossinnen leben, zu welchen Bedingungen, mit welchen Erwartungen, Rechten und Pflichten. Wir haben alle verstanden, daß die weiblichen Zwerge offenbar keine umfangreichen Aufgaben in Ihrer Gesellschaft wahrnehmen. Aber in unserer Gesellschaft, insbesondere der französischen Zaubererwelt, tragen gerade Frauen große Verantwortung und nicht nur im Bezug auf Nachwuchs. Da die jungen Damen hier in dieser Hinsicht erzogen werden, verantwortlich zu arbeiten und zu leben dürfen Sie einen gewissen Respekt erwarten. Können wir uns darauf einigen, daß Sie so sachlich wie möglich die Fragen beantworten. Außerdem verbitte ich mir jede Anzüglichkeit gegenüber Anwesenden, deren Familienangehörige mit Kobolden zusammenarbeiten. Die Erbfeindschaft zwischen Ihrer Rasse und den Kobolden ist uns zwar bekannt, rechtfertigt aber keine Abfälligkeit gegenüber Schülerinnen wie Mademoiselle Porter.“

    „Ihre Leute wollen wissen, wie wir leben und denken. Dann sollen sie auch wissen, wie wir leben und denken“, sagte der Zwerg unbeeindruckt. „allein schon diese Verbitterung, mit der Sie und Ihre Mädchen mich ansehen zeigt doch, daß Ihre Lebensart irgendwie nicht so gut sein kann wie Sie jetzt hier behaupten. Arbeiten ist was für Männer, Die Wohnung ist was für die Frauen. Alle wissen, wo sie hingehören und leben damit glücklich. Freu dich an dem, was du tun sollst und ärgere dich nicht darüber! Damit leben wir zwerge seit vielen tausend Jahren wunderbar, während die großen Leute sich immer wieder umbringen oder nicht wissen, was sie machen oder wo sie hingehen sollen.“

    Madame Maxime atmete hörbar ein und aus. Dann sprach sie kühl: „Das ist doch eine Anregung.“ Dabei sah sie Sabine an und fragte: „Mademoiselle Montferre, wissen Sie nicht, was Sie nach der Schule tun wollen?“

    „Im Moment plane ich, ein paar Jahre Quidditch zu spielen und dann in die Abteilung für magische Spiele und Sportarten einzutreten“, sagte Sabine ruhig. Sandra nickte. Offenbar plante sie dasselbe.

    „Das heißt, dein Vater wird nicht gefragt, ob er das auch für richtig hält oder ob du nicht besser einem anderen Mann gegeben wirst, der das aussucht, was du machst“, sagte der Zwerg verächtlich. Sabine grinste überlegen und erwiderte:

    „Ja, so läuft das eben bei uns. Ob ich jetzt heirate oder nicht, ich entscheide, ob ich arbeite oder im Haus bleibe.“

    „Hat noch jemand irgendwelche sachbezogenen Fragen an Monsieur Koldorin?“ Ergriff Madame Maxime wieder das Wort.

    Julius stand auf und meldete sich. Koldorin sah ihn aufmerksam an.

    „Nun, wir haben ja jetzt alle mitbekommen, daß Ihre männlichen Artgenossen sich um das Wohl Ihrer Frauen und Töchter sorgen und ihnen daher keine übergroße Verantwortung aufladen wollen. Wir haben es wohl auch alle mitgekriegt, daß es Ihnen unangenehm ist, Fragen von Frauen und Mädchen zu beantworten oder sich von denen Anweisungen geben zu lassen.“ Madame Maxime sah ihn ungeduldig an, weil er noch keine Frage gestellt hatte. „Ich möchte von Ihnen erfahren, ob es bei Ihnen sowas wie ein richtiges Familiengefühl gibt. Lieben Sie Ihre Kinder?“

    Stille trat ein. Keiner hatte wohl damit gerechnet, daß Julius, der sich erst um diplomatische Balance bemüht hatte, eine so einfache wie einschneidende Frage stellen würde.

    „Ich habe bei meinr Erwerbung sieben Kinder auf den Weg gebracht und war auf alle stolz, auf meine vier Söhne genauso wie auf meine drei Töchter, die ich alle guten Männern übergeben habe. Ich habe mich immer darum gesorgt, ob es den Kindern gut geht, bis sie alt genug waren, um entweder den Mannesschmieden übergeben zu werden oder einem neuen Mann anvertraut zu werden. Ab da müssen die dann selber klarkommen und lernen, was für sie gut und richtig ist. Wir haben keine Zeit für überflüssiges, verweichlichendes Getue, was im allgemeinen mit dem Wort „Lieben“ zusammengeht. Wenn ich meinem König erzähle, was in der Welt der großen Leute so wichtig ist, fragt er mich immer, wie die meinen zurechtkommen zu können, wenn die Eltern sich andauernd drum scheren, was aus ihren Kindern wird, auch wenn die schon in der Ausbildung sind. Nichts für ungut, junger Herr, aber ich zweifel echt daran, daß du und die anderen Jungen wißt, was Stehvermögen und Ehre sind, weil ihr immer wieder fragt, wie das bei denen ankommt, die um euch herumlaufen. Das einzig wichtige bei uns ist, zu arbeiten, zu wissen, wer sagt, wo es lang geht, was anliegt und wie es gemacht werden muß.“

    „Ja, so funktioniert ein Ameisenhaufen“, sagte Julius dazu nur. „Und ein Bienenvolk und ein Hornissen- und ein Wespennest. Kann ja sein, daß ich Ihre Art von Härte und Stehvermögen nicht habe und daß ich da nicht der einzige heranwachsende Mann bin. Aber was das mit der Ehre und dem Fleiß angeht, so brauche ich zumindest keinen langen Bart, um allen zu zeigen, daß ich sowas besitze. Alle die mich kennen wissen, daß mein Wort was gilt, daß ich jedem helfe, der Hilfe von mir haben möchte und daß ich hier schon längst rausgeflogen wäre, wenn ich nicht die Schularbeiten machen würde, die mir die Lehrer hier aufgeben. Aber danke für Ihre Antwort auf meine Frage. Die hat mir geholfen, ein großes Vorurteil auszuräumen, nämlich das Zwerge ihren Familien verbunden sind und alles tun, um ihren Kindern ein schönes Leben zu ermöglichen.“

    Madame maxime hatte Julius ganz in Ruhe sprechen lassen. Der Zwerg stand da und sah Julius an, als bedauere er ihn für das, was er sagte. Womöglich glaubte er sogar, Julius spräche nicht aus sich selbst heraus, sondern weil ihm jemand das vorgebetet hatte, so zu reden. Da das ja offenbar in seinem Volk so lief, war das wohl auch anzunehmen, daß ein Jungzauberer keine eigene Meinung haben konnte und daher nur dummes Zeug schwätzte. Gloria Porter hob noch einmal die Hand. Madame Maxime nickte ihr zu. Doch als sie den Mund aufmachte wandte ihr der Zwerg den Rücken zu. Das war eindeutig.

    „Ich möchte lediglich noch von Ihnen hören, wie Ihre Arbeit im Ministerium verläuft“, sagte Gloria. Dann meinte sie: „Aber da kann ich mich ja bei dem Abteilungsleiter für die Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe erkundigen.“

    „Ich fürchte, von Ihnen werden wir heute keine konstruktiven Beiträge mehr erhalten“, sagte Madame Maxime zu Koldorin, der sich jetzt erst wieder umdrehte. „Also bleibt mir nur, mich bei Ihnen für Ihren Besuch zu bedanken und Ihnen eine sichere Heimreise zu wünschen, Monsieur Koldorin. ich werde Sie hinausgeleiten.“

    „Moment, was dieser Bursche da eben zu mir gesagt hat, daß wir nur ein Ameisenhaufen seien, das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Von wem hat er das?“

    „Wenn Sie ihm nicht zubilligen, eine eigene Meinung zu haben, dann müssen Sie den bezichtigen, der in der Rangordnung dieser Akademie an oberster Stelle steht, in diesem Fall mich“, sagte Madame maxime eiskalt und baute sich vor dem Zwerg auf, wobei sie jedoch ihre Beine stramm aneinandergedrückt hielt.

    „Dachte ich mir“, knurrte der Zwerg. Offenbar war ihm danach, jemandem für die Beleidigung eine runterzuhauen. Aber mit der Halbriesin, auch wenn sie auch nur eine Frau war, wollte er sich dann doch nicht anlegen. Julius sah Madame Maxime zwar etwas unerfreut an, sagte jedoch keinen Ton. Madame Maxime winkte dem Zwerg und zeigte auf den Ausgang der großen Höhle, wo die Tür aus dem Panoramaraum lag.

    „Nächste Woche sind dann Mesdemoiselles Montferre und Monsieur Andrews mit ihrem Gemeinschaftsprojekt an der Reihe“, sagte die Schulleiterin. Die Montferres und Julius nickten bestätigend. Dann wünschte Madame Maxime allen noch einen ruhigen Abend, ließ sich von den wohl dressierten Schülern ebenfalls einen ruhigen Abend wünschen und entließ sie alle mit einer zur Tür weisenden Handbewegung.

    Draußen traten Gloria, Waltraud und Millie an Julius heran. Gloria wirkte sichtlich unter Dampf, Millie grinste verächtlich und Waltraud wiegte ihren Kopf.

    „Dir ist klar, daß du den Typen da gerade ziemlich heftig beleidigt hast“, sagte Waltraud zu Julius. Dieser nickte.

    „Bei Jungs heißt es: „Haut dich wer einmal, hau ihn zweimal!“ Ich habe ihm nur gezeigt, wie schnell eine Beleidigung zu ihm zurückschlagen kann. Natürlich weiß ich, daß bei einem Ameisenhaufen die Königin und alle Weibchen das Sagen haben und die Männchen nur faul rumhängen und gefüttert werden, bis die fruchtbaren Weibchen mit ihnen losfliegen und sich einmal von denen besteigen lassen, wonach die Männchen vom Sex erschöpft tot runterfallen. Wenn er das auch weiß, dann hat mein Gegenschlag richtig gesessen.“

    „Ja, aber er hätte dich dafür umbringen können“, meinte Waltraud. Millie schüttelte den Kopf und sagte:

    „Im Gegenteil, Waltraud. Er hat gemerkt, daß Julius sich nicht rumschupsen läßt. Das haben wir doch alle von der Dame, die nicht erwähnt werden darf und diesem netten Herren gelernt, daß Männer sich nicht rumschupsen lassen dürfen, wenn nicht von ihrem Meister oder dem König, wodurch der auch immer bestimmt wird. Das der Zwerg jetzt wissen wollte, von wem Julius das hatte zeigt nur, daß er nicht riskieren wollte, sich auf einen längeren Streit mit ihm einzulassen, weil er da vielleicht noch so’n Treffer abbekommen hätte. Aber wenn du meinst, Julius für dumm halten zu müssen, Waltraud, vergiß bitte, was ich gesagt habe.“

    „Kam das jetzt so bei dir an, Julius?“ Fragte Waltraud.

    „Ich hätte es nicht so gesehen, daß du mich für dumm hältst, sondern mir zeigen wolltest, daß ich unwissend und leichtfertig gehandelt habe. Das hätte ja auch durchaus so ausgehen können“, sagte Julius. „Mir war nur danach, diesem Herrn zu zeigen, daß ich mir nicht alles gefallen lasse, eben wohl auch, weil das bei denen zum männlichen Verhalten gehört.“

    „Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich hätte meinen Zauberstab rausgeholt und diesem Kerl den Sirennitus-Zauber auf die Ohren gehauen. Da hätte seine Fluchresistenz nicht viel gegen machen können. Ich habe mich selten so gedemütigt gefühlt. Aber war vielleicht gut so, daß ich das jetzt mal erlebe, wie sich das anfühlt.“

    „tja, jetzt weißt du, wie sich so’n Hauself fühlt“, warf Millie abfällig ein. Gloria errötete vor Wut und griff in ihren Beauxbatons-Rock. Julius sprang dazwischen und sagte zu Millie:

    „Mußt du sie jetzt noch mehr ärgern?“

    „Abgesehen davon“, zischte Gloria und beruhigte sich wieder, „sind die meisten Hauselfen sehr zufrieden, weil sie für jemanden arbeiten dürfen, je mehr desto zufriedener. Also komm mir jetzt nicht noch mit diesem Vergleich, Mildrid!“

    „Ey, wir müssen uns doch echt nicht wegen eines Zwerges in die Wolle kriegen“, sagte Sabine Montferre, die zu ihnen trat. „Julius, wann kannst du morgen in die Bib?“

    „Hmm, morgen Nachmittag ist der Alchemiekurs. Könnte morgen abend eng werden, weil da auch die Holzbläsergruppe ist“, sagte Julius. Ich habe meinen Teil soweit fertig. Wir können uns ja am Wochenende treffen, um den gemeinsamen Ablauf durchzugehen.“

    „Geht wohl nicht anders“, sagte Sabine.

    „Ich dachte eigentlich, Waltraud und ich wären erst mit den Kobolden dran“, sagte Gloria.

    „Offenbar will Madame Maxime die Vampire erst drannehmen. wird wohl daran liegen, weil es jetzt wieder früher dunkel ist und sie die wohl noch vor Weihnachten abhaken will“, sagte Julius. Gloria nickte.

    „Wahrscheinlich läd sie die Sangazons ein“, sagte Sandra, die sich nun ebenfalls zu der kleinen Gruppe gesellt hatte.

    „Oha“, sagte Gloria. „Von denen habe ich schon was gehört. Diese Voixdelalune soll ja mit ihrer Stimme Leute bezaubern können.“

    „Wie ein gut ausgebildeter Meermensch“, sagte Sabine.

    „Hallitti konnte das auch“, fügte Julius betreten dreinschauend hinzu.

    „Jedenfalls sollten wir uns alle vor der nächsten Seminarstunde Knoblauchblüten besorgen oder die gängigen Abwehrzauber noch einmal ausprobieren“, sagte Sandra. Julius nickte beipflichtend. Seit dem Zusammenstoß mit dem Succubus war er ein gebranntes Kind, was schwarzmagische Geschöpfe anging. Wenn es Sachen gab, um sich gefährliche Ungeheur vom Leib zu halten wollte er immer sichergehen, sie auch zu haben oder zu können. Denn den Temporipactum-Zauber, den er benutzt hatte, um Hallitti zu entkommen, würde er so schnell nicht noch einmal verwenden. Gloria sagte dazu noch:

    „ich werde meine Oma fragen, ob wir auf die Schnelle noch wirksame Vampirbannartefakte kriegen, am besten so viele, um alle Leute damit auszustatten.“

    „Hat die sowas auf Lager?“ Fragte Sabine. Mildrid grinste ihre ältere Saalmitbewohnerin an und meinte:

    „Glorias Oma väterlicherseits arbeitet im Laveau-Institut. Die lagern nur sowas.“

    „Stimmt, Julius hat ja erzählt, daß sie da arbeitet“, erinnerte sich Sabine Montferre und nickte Gloria aufmunternd zu, die Millie leicht entgeistert ansah, aber dann ein stolzes Lächeln hervorbrachte.

    „Das geht aber dann ins Geld“, meinte Waltraud Eschenwurz.

    „Ich kläre das mit meiner Oma, Trifolio und Madame Maxime, eventuell sogar mit Professeur Faucon“, kündigte Gloria an. Dann hatten sie den Ausgang zu den Hauptkorridoren des Palastes erreicht. Sie wünschten sich einander einen noch friedlichen Abend und eine erholsame Nacht, dann gingen Waltraud und Julius zum grünen Saal zurück.

    __________

    Am Donnerstag Morgen traf eine Eule von Camille Dusoleil ein. Julius war es ein wenig mulmig, den Brief von Claires Mutter zu lesen. Er hatte seit dem Abschied nach Claires Beerdigungsfeier kein geschriebenes Wort mehr mit den Dusoleils gewechselt. Sicher, wo Claire noch da war hatte er auch selten geschrieben, aber da bestand ja eben über Claire noch Kontakt zu ihrer Familie. Er beschloß, den Brief nicht hier beim Frühstück zu lesen, sondern erst nach dem Nachmittagsunterricht, bevor die Zaubertier-AG anstand. Professeur Armadillus hatte letzte Woche angekündigt, die Stallungen der Zaubertiere für den bevorstehenden Winter vorzubereiten. Das hieß vor allem, die großen Zaubertiere wie die Abraxarieten herauszuführen und solange zu bewachen, bis die Stallungen gereinigt und auf ihre Winterfestigkeit geprüft waren. Das würde genug Ablenkung bieten, und er mußte sich dann nicht mehr auf komplizierte Zauberformeln konzentrieren. So steckte er den Brief weg. Seinen Klassenkameraden sagte er nur, er wolle ihn lesen, wenn er den Kopf dafür frei genug habe und dann wohl gleich auch eine Antwort schreiben. Keiner der Jungen sagte was dazu. Keiner wagte auch nur eine abfällige Bemerkung dazu zu machen oder ihn extra zu bedauern oder Mitleid. Einerseits war Julius darüber froh, daß sie ihn nicht immer danach fragten, ob er traurig sei oder sich sehr einsam fühle. Andererseits hatte er die Kurve in ein völliges Normalleben noch nicht ganz gekriegt. Wenn er nicht in den AGs und Seminaren, dem Unterricht oder beim Essen mit seinen Schulkameraden zusammen war war er häufig in der Bibliothek oder joggte durch einen der schuleigenen Parks. Jetzt, wo die größeren Herbststürme die bunte Blätterpracht der Laubbäume wörtlich hinweggefegt hatten und nur das wie vergilbte Pergamentfetzen den Boden bedeckende Laub unter den Füßen knisterte, boten die Bäume auch keinen erbaulichen Anblick mehr. Womöglich mußte Julius auf den ersten Schnee warten, um sich in den gepflegten Baumbeständen wieder unbeschwert zu fühlen. Auch die Schwärme vom norden durchwandernder Zugvögel waren schon überwiegend nach Afrika weitergeflogen, und die beschwingte, uralte und doch immer wieder neue Musik der Natur war so gut wie verstummt. Außerdem verbarg sich die immer schwächer werdende Sonne immer wieder hinter bleigrauen Wolkenungetümen, die vom feuchtkalten Herbstwind wie mit unsichtbaren Peitschen vorangetrieben wurden. Kurz gesagt: Die Natur wollte seine Stimmung nicht mehr so recht aufbessern. Deshalb nutzte er die Zeiten zwischen Unterricht und Freizeitkursen eher zum Bücherwälzen. Zumindest hatte ihm die Vorbereitung seines Vortrages helfen können, die immer wieder anschleichende Trübsal zurückzudrängen, auch wenn oder gerade weil der Grund für den Vortrag mit einem der schlimmsten und aufwühlendsten Erlebnisse verbunden war, das er bisher erfahren mußte. Nur die Sache mit den Morgensternbrüdern, die ihn aus Angst vor einer prophezeiten Bedrohung festsetzen wollten und weil sie ihn nicht halten konnten Madame Odin in ihre Gewalt brachten und damit all die Dinge auslösten, die ihn immer wider nachgrübeln ließen, hatte die Begegnung mit Hallitti übertroffen. Doch Julius wußte, es konnte immer noch schlimmer kommen, wenn er sich im Moment auch nicht vorstellen mochte, wie.

    Als die Nachmittagsstunden bei Professeur Trifolio beendet waren, winkte ihm Gloria noch einmal zu.

    „Ich habe es mit Professeur Trifolio und auch Madame Maxime geklärt, daß Oma Jane uns bis Sonntag genug Silbermedaillons mit Segen der Sonne und Frieden des Blutes bezaubert zukommen läßt. Sie sagte mir, daß ihre Kollegen und Kolleginnen froh seien, mal wieder eine Übungseinheit in diesen Zaubern abhandeln zu können. Allerdings dürften wir die nicht behalten.“

    „Klar, Silber ist nicht gerade billig“, sagte Julius dazu nur. Dann bedankte er sich bei Gloria, daß sie das mit den Vampirschutzartefakten angeleiert hatte. Andererseits hätte er locker vier Sickel einschmelzen und zu einem runden Talisman umformen können, in den er Zauberrunen mit den entsprechenden Wirkungen eingraviert hätte.

    „Gleich heißt es den Stall der Abraxas-Pferde ausmisten, Leute“, sagte Hercules. „Wenn die wieder den Irischen Whiskey gesoffen haben könnte man die Pferdeäpfel richtig abbrennen lassen wie Feuerwerk. Wäre bei dem fieskalten Wetter was feines.“

    „Als wenn Armadillus euch mit Feuer rumspielen ließe“, knurrte Robert, der im Moment wohl nicht für Scherze empfänglich war. Der Grund dafür war wohl, daß Professeur Faucon ihm am Morgen wegen verschluderter Hausaufgaben fünfzig Strafpunkte und zwei Stunden Nachsitzen bei ihr aufgeladen hatte. Julius hielt sich deshalb schön aus seiner Reichweite, weil er selbst im Unterricht die ersten Ergebnisse seiner Materialisationskunst vorgeführt hatte.

    „Ich wollte wegen meinem Zauberwesenvortrag nächsten Dienstag noch einmal meine Unterlagen prüfen, Hercules. Ich treffe dich dann auf dem Weg zum Vorbesprechungsraum.“

    „Komm bloß nicht zu spät, Julius. Nachher hängt Armadillus dir die echt heftigen Arbeiten ans Bein.“

    „Ich fürchte, das macht er auch dann, wenn ich pünktlich ankomme“, erwiderte Julius etwas verdrossen, lächelte aber dann. „Zumindest wenn keiner sich freiwillig meldet.“

    „Joh, dann bis kurz vor vier“, sagte Hercules und winkte. Julius ging zuerst ins Bad, wo er den Arbeitsumhang mit Säuberungszaubern reinigte. Dann verließ er den grünen Saal durch den allgemeinen Zugang und wandschlüpfte erst an einer davon abgelegenen Stelle in die Nähe der Gewächshäuser. Von dort trabte er in den östlichen Park, lief über das knisternde und raschelnde Herbstlaub bis zu jenem Pavillon, in dem Claire und er den Corpores-Dedicata-Zauber gewirkt hatten. Irgendwie war ihm danach, Madame Dusoleils Brief hier zu lesen, wenn ihn schon eine trübe Stimmung davon ergreifen sollte. Er betrat den kleinen, runden Bau und setzte sich hin. Dann holte er den Brief aus seinem Practicus-Brustbeutel, ritzte den Umschlag auf und zog das gefaltete Stück Pergament heraus. Dann las er im fahlen Schein der Novembersonne:

    Hallo, Julius,

    jetzt ist es schon mehr als fünf Wochen her, daß wir das letzte Mal miteinander geredet oder uns geschrieben haben. Deshalb möchte ich mich wieder bei dir melden, um dich zu fragen, wie es dir jetzt geht, was außer der Schule, in der du wie ich mitbekommen konnte, wieder gut Tritt gefaßt hast, gerade für dich wichtiges passiert ist und wie es dir so geht, weil Florymont, Jeanne, Denise und ich finden, daß es nicht gerade beruhigend ist, schon so lange nichts mehr von dir gehört zu haben. Sicher, ich weiß, daß Blanche, Professeur Trifolio und die anderen dich sehr auf Trab halten. Doch wenn jemand mehr als einen Monat nichts von sich hören läßt ist das nicht gerade beruhigend, finde ich. Gut, ich hätte schon früher schreiben sollen. Aber auch ich hatte viel um die Ohren, was schwer in Worte zu fassen ist, vor allem die Nachlaßregelung mit meinem Vater. Er hat zwar alles geerbt, was Meine Mutter besessen hat, aber meine werte Schwägerin bestand darauf, einiges der „eher weiblichen“ Sachen für ihren Haushalt einzufordern, und Emil hat ihr wie ein Papagei nach dem Mund geredet. Denn eigentlich mußte er ja auf seinen Erbteil bestehen. Zumindest bin ich froh, Mamans Silberstern zu haben, den du mir von ihr übergeben hast. Emil fing dann noch an, die Verliese in Gringotts, wo unsere Mutter nicht nur Zauberergold deponiert hat, durchsuchen lassen zu wollen. Florymont riet mir, ja dabei zu sein, wenn er das machte. So habe ich einen ganzen Tag in Gringotts Paris zugebracht, zusammen mit Eleonore und Florymont, was Emils Frau nicht sonderlich gefallen hat. Nachdem dann geklärt war was drin war will Emil jetzt auf Drängen seiner Frau festlegen, daß er seinen Erbteil ausbezahlt bekommt und schon festlegt, wieviel Papa und mir dann noch zusteht. Doch Papa hat auf den Tisch gehauen und ihn einen Aasgeier genannt und geraten, er solle sich das dreimal überlegen, ob er lieber geld und keine Verwandten oder lieber Verwandte und eine gewisse Zuneigung haben wolle. Ich weiß nicht, wieso die Frau auf die respektlose Idee kam, Mamans Erbe jetzt schon zu verteilen. Das hat mich nicht gerade fröhlich gestimmt, und ich mußte mich bei Denise einige Male entschuldigen, weil ich einige Male unnötig harsch mit ihr umgesprungen bin.

    papa hat mir vor zwei Tagen Mademoiselle Rubinia vorbeigebracht. Er meinte, sie bräuche jemanden, die mit ihr sprechen und sie auch mal frei fliegen lassen könne. Du kennst sie ja bestimmt noch. Ja, und der fliegende Teppich ist jetzt auch bei uns mit einer Notiz, die Maman Papa mal gemacht hat, wie man die sieben wichtigsten Kommandos aussprechen muß, um damit zu fliegen. Ich wollte ihn nicht haben. Da hat Papa ihn Jeanne geschenkt. Er meint, wenn ihr Kind langsam mehr Platz beanspruche wäre ein Besen vielleicht etwas unbequem oder auch riskanter. Jeanne war zwar erst nicht sonderlich glücklich, weil der Teppich sie ja genauso heftig daran erinnert, daß Claire nicht mehr bei uns ist. Aber sie hat ihn genommen, um Papa und mir die Last von der Seele zu nehmen. Übrigens hat sie den Apfelkern in der Mitte ihres Gartens eingegraben. Sie wird sich vielleicht noch an dich wenden, wollte mir aber den Vortritt lassen, wie sie sagte. Sie käbbelt sich mit Bruno immer wieder darum, wie das Kind heißen soll. Bruno will einen Bertrand haben, sie eine Viviane, nach unserer gemeinsamen Urmutter.

    Wenn dir danach ist, schreibe mir ruhig eine Antwort oder schreibe Jeanne, falls du das lieber möchtest! Bestell bitte schöne Grüße an Gloria und das Fräulein Eschenwurz, das es uns so weit wieder gut geht und sie im Winter gerne zu uns kommen möchten, sofern Madame Maxime sie nicht im Palast einsperren will. Ach ja, am zweiten Weihnachtstag findet ja das Fest im Château Florissant statt. Madame Eauvive hat mich daran erinnert, daß wir alle kommen möchten, also auch deine Maman und du. Vielleicht können wir danach wieder zusammen ins neue Jahr hineinfeiern. Ich finde, das ist ganz in Ammayamirias Sinne.

    In Liebe
                        Camille Dusoleil

    Julius gab sich mehrere Minuten der Gefühlsachterbahn hin, die dieser Brief angeschoben hatte. Er war gerührt, daß sie weiterhin mit ihm zu tun haben wollten, beschämt, weil sie sich seinetwegen Sorgen machten, nur weil er nie Zeit fand, ihnen was zu schreiben oder einfach mal Vivianes Bild zu ihrem Klon nach Millemerveilles zu schicken und eine kurze Botschaft überbringen zu lassen. Dann war Wut aufgestiegen, weil er sich die Szenerie mit Cassiopeia Odin greifbar vorstellen konnte, wie sie in einem Gringotts-Verlies in Stapeln aus Gold und Wertsachen herumwühlte, mit hektischen, gierigen Griffen und Blicken zwischen Freude und Enttäuschung, je nachdem, was sie dabei fand. Dann war er in das Tal der Traurigkeit hinabgesaust, um dann im nächsten Moment einen Stimmungsaufschwung zu fühlen, weil Madame Dusoleil über Jeanne und Bruno schrieb. Bei der Erwähnung des Festes und daß sie wie letztes Mal das alte Jahr ausklingen lassen mögen, fühlte er sich wie auf einer welligen Strecke zwischen Erleichterung, daß sie ihn nicht doch aus ihrem Leben verschwinden lassen wollten und Wehmut, weil ihn so ein Fest drastisch daran erinnern mußte, das jemand fehlte. Doch die Erwähnung Ammayamirias hatte der hubbeligen Fahrt einen letzten kurzen Anstieg ermöglicht, bevor er fast unmerklich in ein Gefühl des Alleinseins hinuntersackte, in dem die Fahrt endete. Ja, von wegen Erbschaft hatte ihm Ammayamiria etwas hinterlassen. Doch er hatte es noch nicht gefunden und im Moment auch nicht die rechte Begeisterung oder gar Energie dafür gefunden, nach dem zu suchen, was Claire, bevor sie mit ihrer Großmutter zu Ammayamiria geworden war, aufgetragen hatte. Doch das konnte er nicht einfach von heute auf morgen machen. Er fühlte sich manchmal wie Céline, in die Enge getrieben und angespannt. Doch er hatte es immer unterdrücken und was anderes finden können, um in einer gesellschaftsfähigen Balance zu bleiben. Er sah noch einmal auf seine Weltzeituhr. In zwanzig Minuten hatte er vor dem vorbesprechungsraum zu sein. Sollte er hier und jetzt die Antwort auf den Brief niederschreiben? Oder sollte er Vivianes Bild-Ich zu seinem Gegenstück nach Millemerveilles schicken? Doch nein, das wäre nicht angemessen. Einen Brief, so hatte er gelernt, sollte man nach Möglichkeit mit einem Brief beantworten. Irgendwie hatte er sich an die Erhabenheit gewöhnt, die ein von Hand beschriebenes Stück Papier oder Pergament bedeutete, eine greifbare Verbindung zwischen zwei Menschen über mehrere hundert Kilometer hinweg. Er hielt was in der Hand, was Camille Dusoleil vor einem Tag noch in der Hand gehalten hatte und worauf die Tintenspuren einer von ihr geführten Feder zu ganz persönlichen Worten geworden waren. Also war es nur angebracht, daß er ihr dieses Gefühl auch gestattete, etwas zu halten, das er gehalten und mit seiner Feder beschrieben hatte. Allerdings fehlten ihm im Moment die richtigen Worte. Nicht das sich nicht gleich hunderte angeboten hätten, was über die letzten fünf Wochen zu schreiben, besonders über den Besuch von Millies Zwergenoma oder die eher belanglose Debatte über die Minimuffs und welche anrüchigen Vermutungen manche zu diesen kleinen Flauschebällchen hatten. Sollte er auch was über Céline schreiben, daß sie im Moment wohl schwer an Claires körperlichem Tod knabbern mußte? Für sie war Claire ja wirklich unwiederbringlich fort, nicht zu einem engelsgleichen Wesen geworden, das mit denen, die sie liebten noch in Kontakt gestanden hatte und jederzeit wieder in Kontakt treten konnte. Doch vielleicht war es nicht richtig, sich über Céline auszulassen, wenn sie das nicht mitbekam und erst recht nicht wollte. Sollte sie ihn jedoch fragen, ob er wieder von Claires Eltern gehört hatte, würde er ihr vorschlagen, die Dusoleils anzuschreiben. Vielleicht konnte sie ihre Gefühlslast besser bewältigen, wenn sie Briefe mit Claires Eltern oder ihrer Schwester austauschte. Immerhin war sie Claires beste Freundin in Beauxbatons gewesen. Er faltete den Brief zusammen, verstaute ihn wieder im Brustbeutel und wanderte langsam durch den entlaubten Park zurück zum Palast. Der weiße Palast lag da, friedlich und ehrfurchterheischend. Kein Laut drang aus seinem Inneren. Er umschritt ihn und betrat das erhabene Gebäude durch den Pausenhofeingang. Ohne jede Eile begab er sich zum Vorbereitungsraum von Professeur Armadillus, wo bereits die Montferres, Millie und Apollo Arbrenoir aus dem roten Saal standen.

    „… und die Riesengäule nehmt ihr“, sagte der hochaufgeschossene, dunkelhäutige Apollo gerade zu den Montferres. Diese sahen ihn bedauernd an und meinten:

    „Als wenn du hier festlegst, welche Ställe wir saubermachen sollen, Apollo. Warte mal ab, wen Armadillus dafür einteilt.“

    „Dann soll Millie den Pferdedreck wegmachen, wo die das von ihrer Oma Ursuline doch gewohnt ist.“

    „Hey, nicht frech werden, Langer. Meine Oma hat keinen Pferdedreck. Du redest wohl von meiner Tante Barbara, und die kriegt das, was aus unseren Kühen hinten rausklatscht ganz gut alleine weg.“

    „Muh!“ Machte Apollo. Dann war Julius nahe genug, um sich in die Unterhaltung einzuklinken.

    „Ich werde wohl die Knieselbauten kontrollieren, weil Goldschweif gerade Extragepäck mit sich herumträgt und jeden anfaucht, der ihr zu nahe kommt, außer mich. Insofern klärt das mit euch oder den anderen, wer zu Cleopatra und den anderen Edelrössern reingeht, die rausführt, am besten ohne von Pyrois, dem werdenden Fohlenvater, zu Muß zertrampelt zu werden und die netten Hottehühs draußen zu halten, um deren Ställe winterklar zu kriegen.“

    „Klar, mit deinem Kniesel kannst du dich wohl um diesen Kram herummogeln, Julius“, knurrte Apollo, mußte aber dann grinsen. „Brauchst du nicht mehrere Leute dabei, die Knieselbauten zu prüfen? Wäre wahrscheinlich die bessere Sache.“

    „Goldschweif ist nicht die einzige trächtige Kätzin“, sagte Millie. „Wenn du keine Probleme damit hast, dir zwanzig messerscharfe Krallen durchs Portrait ziehen zu lassen geh mit Julius!“

    „Echt? Mist!“ Erwiderte Apollo. Die Mädchen lachten. Sandra Montferre sagte dann:

    „Gegen uns hat Goldschweif nix, nicht wahr, Bine?“ Julius errötete leicht an den Ohren. Dieses Mädchen spielte auf die Kuppelknieselsache an, die Claire so auf die Palme gebracht hatte.

    Gloria, Belisama und Béatrice kamen noch an, dann noch Waltraud und Hercules. Diesen sprach Apollo gleich auf die Abraxarieten an. hercules sagte spontan:

    „Klar, du und ich krigen die locker winterklar, Langer. Das ist ja auch Männerkram.“

    „Soso“, grinste Belisama. „Dann verstehe ich nur nicht, warum die Tiere eher von Frauen gebändigt werden können.“

    „Wenn du Madame Maxime meinst, kein Wunder“, konterte Hercules, während Apollo wohl nach einer intelligenten Antwort suchte, um seine Überrumpelung zu verschleiern.

    Julius bestellte Waltraud und Gloria schöne Grüße von den Dusoleils, als die beiden anderen Jungen aus der AG sich mit Belisama in einer längeren Unterhaltung verstrickt hatten, warum Abraxarieten nun eher Männersache oder Frauensache sein sollten.

    Als Professeur Armadillus eintraf mußte dieser lächeln und sagte amüsiert: „Ich freue mich, daß Sie sich enthusiastisch darum streiten, wer die schwerste Aufgabe des heutigen Nachmittags übernehmen soll. Wenn Sie es darauf anlegen, Monsieur Moulin und Monsieur Arbrenoir, sowie Mademoiselle Lagrange, kümmern Sie sich um die Abraxasherde! Die jungen Damen Porter, Eschenwurz und Latierre mögen sich um die Niffler, Knuddelmuffs und Singschnauzen kümmern, Monsieur Andrews darf die Knieselkolonie auf den Winter vorbereiten. Mesdemoiselles Montferre, Sie bitte ich darum, die Volpertinger-Höhlen mit Stroh auszukleiden und zu prüfen, ob die Futterhäuschen wasserdicht sind!“

    „Das ist ja wirklich Mädchenkram“, stöhnte Hercules. Die aus den bayerischen Alpen importierten Volpertinger waren sehr genügsam und gemäß ihrer Natur von menschlicher Pflege ziemlich unabhängig. Nur für ihre Winterruhe mußten Vorkehrungen getroffen werden, weil die normalen Futterpflanzen auf dem Gelände von Beauxbatons nicht wuchsen und sie wie überwinternde Vögel gefüttert wurden, indem an Bäumen hängende Häuschen mit Eicheln, Bucheckern oder Fichtenzapfen gefüllt wurden. Natürlich holten sich auch gewöhnliche Vögel davon was, weshalb immer gleich ein großer Vorrat an Futter eingelagert werden mußte.

    „Da habt ihr es“, grinste Sabine Apollo und Hercules an, die sich immer noch nicht so recht darüber freuen wollten, die Abraxas-Pferde zu versorgen. Julius empfand es als willkommene Beschäftigung und war froh, dabei allein zu sein.

    Als er beim Knieselgehege eintraf und die kleine Metalltür im Zaun aufsperrte, kam Goldschweif ihm schon entgegen. Ihr Bauch hing schon merklich nach unten durch, und Julius konnte ab und an eine kurz auftauchende und wieder verschwindende Ausbuchtung darin erkennen. Die Jungen regten sich bereits.

    „Hallo, Goldi, wie geht’s?“ Fragte Julius.

    „Ich bin wieder schwer. Wenn das kalte weiße Pulver von oben runterfällt können die schon rauskommen“, hörte er eine Frauenstimme von Goldschweif her kommen. Natürlich sprach sie nicht mit einer menschlichen Stimme. Doch durch den Interfidelis-Trank verstand er sie halt so, als wäre es eine Menschenfrau.

    „Ich muß bei euch alles saubermachen und sehen, ob ihr es auch warm habt, wenn das weiße, kalte Pulver von oben runterfällt“, erwiderte Julius. „Wer von euch hat noch gerade neue Junge im Bauch?“

    „Weißohr und Braunnase. Deren Junge sind aber noch nicht so schwer wie meine und machen auch noch nichts.“

    „ich habe es gesehen, Goldi. Im Januar bist du wohl fällig! Kriegst du das irgendwie mit, wie viele das sind?“

    „Ich höre vier neue Klopfer in mir. Es sind dann wohl vier“, antwortete Goldschweif nur für Julius hörbar. Ihn faszinierte es immer wieder, daß diese scheinbar einfachen Tiere eine solche Auffassungsgabe besaßen und sogar zählen konnten, wenn auch nur soweit, wie sie Krallen an den Pfoten hatten. Er hatte schon überlegt, der Knieselin das Zusammenzählen, Abziehen und das kleine Einmaleins beizubringen. Denn er schätzte ihre Intelligenz auf die einer Sechs- bis siebenjährigen ein, wenngleich sie auch schon einmal etwas von sich gegeben hatte, daß eher einem erwachsenen Menschen entspringen konnte, schon gar nicht einem Tierwesen. Aber das war eben, was Armadillus ihnen bei der Vorstellung der Harmonovons noch einmal gepredigt hatte, daß man magische Tierwesen nie gründlich genug erforschen konnte und daher nicht sofort wußte, welche Eigenschaften, Marotten oder Probleme sie hatten und ob sie nun harmlos oder gefährlich waren.

    „Ich mach jetzt dein Haus sauber und stelle es auf eine gewisse Wärme ein, damit du und deine Jungen nicht frieren müssen“, sagte Julius. Goldschweif lief ihm nach. Früher wäre sie ihm wohl wieder auf die Schulter gesprungen. Doch mit den vier Kätzchen im Bauch hielt sie sich damit zurück. Sie kam ja auch nicht mehr zu ihm vor das Schlafsaalfenster. Als habe sie seine Gedanken gelesen sagte sie einfach:

    „Ich kann mit den Jungen im Bauch nicht mehr zu dir gehen. Aber dir geht es nicht gut, weil Claire nicht mehr da ist und du keine anderen Weibchen umwerben magst und die gerade nicht zeigen wollen, ob sie dich haben wollen oder nicht. Du kommst dann zu mir, damit ich dir die Ruhe geben kann, die du brauchst.““

    „Goldi, das geht so nicht“, grinste Julius zwischen Verlegenheit und Erheiterung. „Ich darf nachts nicht rausgehen, und am Tag habe ich zu viel anderes zu tun.“

    „Dann mußt du mich bei dir wohnen lassen und ich gehe mit dir überall mit, wo du hingehst.“

    „Du hast gesagt, du mußt erst deine Jungen kriegen“, erinnerte sich Julius.

    „Das kann ich auch bei dir. Aber ich weiß, die Großen wollen nicht, daß ich bei dir wohne. Dann mußt du eben warten, bis ich wieder zu dir kommen kann oder dir ein Weibchen suchen, das dir genug Ruhe gibt oder mit dir die Stimmung auslebt.“

    „Ja, und dem ich dann ein Junges in den Bauch legen kann“, knurrte Julius ungehalten. Goldschweif knurrte zurück:

    „Das ist das, wofür Männchen und Weibchen da sind.“ Julius wußte, in diesem Punkt war Goldschweif nicht zu überzeugen. So sagte er erst, daß es bei den Menschen halt Zeit brauche und daß er immer an Claire denken müsse, wenn er jemanden anderen ansähe. Zwar wollte das auch nicht in Goldschweifs Kopf. Doch weil sie gerade neuen Mutterfreuden entgegenging sagte sie nur, daß sie ihm dann eben eine aussuchen würde, wenn sie fühlte, daß er dafür bereit war.

    Julius versorgte die Knieselbauten. Goldschweif lief mit ihm mit, die Königin dieser Kolonie, Übersetzerin und Leibwache in einem vierbeinigen, silbergraufelligen Geschöpf vereint. Die anderen trächtigen Knieselinnen fauchten zwar, aber Goldschweif sagte ihnen, daß Julius ihnen nichts tun wollte. Julius ergriff die Gelegenheit, über Goldschweif rauszukriegen, ob alle trächtigen Weibchen vier Junge trugen. Braunnase hörte sechs neue Klopfer, also Herzen, in sich schlagen, war also mit sechs Jungen die Supermutter der Saison. Weißohr trug wohl drei Junge in sich. Er notierte sich die Daten und erfuhr auf diese Weise auch, daß die bereits mit Nachwuchs erfahrenen Knieselinnen einzuschätzen gelernt hatten, wann sie werfen würden. So schrieb er die vermuteten Geburtstage auf und erledigte den Rest der körperlichen Arbeit im Knieselgehege. Er überlegte sich schon, ob er Armadillus die aufgeschriebenen Daten über die tragenden Knieselinnen geben sollte und befand, er wollte nicht wie Bernadette sein und sich mit Übereifer hervortun. So kehrte er nach der doch anstrengenden Arbeit zu seinen Kameraden zurück. Millie fragte ihn, wie es Goldschweif ginge.

    „So wie es einer kleinen Frau geht, die mit vier immer schwereren Babys im Bauch herumlaufen muß“, sagte Julius.

    „Das wäre was für Oma Line. Dann hätte sie wohl endlich genug vom Kinderkriegen. Die Zwillinge haben ihr die Lust daran wohl noch nicht ganz verdorben“, sagte sie nur. Dann erzählte sie ihm, daß sie eine kleine Auseinandersetzung mit einem Schwatzfratzmännchen gehabt habe und erst mit einem knapp an seinen Ohren vorbeigezielten Sirennitus-Zauber Ruhe bekommen hatte.Abschließend ließ sich Professeur Armadillus kurz berichten, wie die eingeteilten Schüler gearbeitet hatten und prüfte kurz nach, ob auch alles so erledigt worden war wie erwähnt. Dann meinte er zu Julius:

    „Ich gehe davon aus, daß Sie sich bei Goldschweif über den Fortschritt ihrer Gravidität erkundigt haben. Konnten sie irgendwie in Erfahrung bringen, wann sie wirft?“

    „Öhm, sie konnte mir natürlich kein Geburtsdatum nennen, Professeur. Aber ich habe es irgendwie rausgekriegt, daß sie von heute an in anderthalb Monden, also um Weihnachten herum, vier Junge kriegen wird“, sagte Julius und holte doch den Zettel aus seiner Tasche. „Über sie bekam ich das auch von den anderen mit, die gerade Junge tragen.“ Er gab dem Lehrer den Zettel. Hercules grinste merkwürdig, während Millie ihn anlächelte, die Montferres ihn anerkennend anstrahlten und Gloria nur kurz nickte. Armadillus las den Zettel und gab ihn Julius zurück.

    „Das deckt sich mit dem, was ich aus meinen früheren Beobachtungen und Erfahrungen errechnet habe. Nur mit der Anzahl der Jungen war ich nie so präzise wie Sie heute. Ist schon interessant, daß diese Wesen an der Anzahl schlagender Fötenherzen rausbekommen, auf wieviele Jungen sie sich einstellen müssen. Die leicht über dem gewöhnlichen Niveau liegende Intelligenz ergänzt sich gut mit den Instinkten. Zehn Bonuspunkte für diese Extraleistung, Monsieur Andrews. Denen, die die Abraxas-Pferde betreut haben gebe ich je fünfzig Bonuspunkte, weil durch die beiden trächtigen Stuten ja doch gewisse Schwierigkeiten auftraten. Die übrigen bekommen für ihre Arbeit je zehn Bonuspunkte, auch Sie, Monsieur Andrews, allein für die reine Arbeit.“ Dann entließ er seine Schüler.

    Am Abend traf sich Julius mit den Montferres in der Schulbibliothek im kleinen Leseraum, wo sie ihre Vorträge für den nächsten Dienstag abstimmten.

    „Ich hoffe nur, daß die Vampire etwas umgänglicher sind als die beiden Zwerge, die wir hatten“, sagte Sabine. Julius sagte dazu nur:

    „Diesmal krigen wir was, um sie uns sprichwörtlich vom Hals zu halten. Da werden die schon etwas gesitteter sein als Millies Oma und dieser Macho Koldorin.“

    „Das hätte Gloria ja fast explodieren lassen“, sagte Sandra. „Also, ich weiß jetzt, daß die echt bei den Weißen hingehört, so heftig die sich dagegen gewehrt hat, den Zauberstab rauszuholen und dem Bärterich die Ohren klingeln zu lassen. Maman hätte das sofort gemacht, wenn er sie so heftig abgekanzelt hätte.“

    „Glaube ich dir sofort“, sagte Julius. „Öhm, nicht weil ich eure Mutter für aggressiv halte, sondern weil ich sie als frei heraus kennengelernt habe. Die kam ja sogar mit Joe Brickston klar.“

    „Deine Catherine hat ihn ja auch gut umstimmen können, nicht wahr?“ Feixte Sandra Montferre.

    „Aus demselben Grund wie eure Mutter euren Vater“, schickte Julius die passende Retourkutsche an Sandras Adresse. Darüber mußten sie lachen.

    __________

    Am Sonntag lieferte ein Uhu mit einem Ring am rechten Bein ein sehr sorgfältig verschnürtes Paket bei Gloria Porter ab. Sie nickte nur und trug das Paket zu Madame Maxime an den Lehrertisch hinüber, nachdem diese ihr zugewinkt hatte, sie möge zu ihr gehen. Julius atmete auf. Das waren die Vampirabwehramulette. Er hoffte, daß die Talismane im jedem ausreichend Schutz boten, um die Vampire nicht doch in Versuchung zu führen, Hellmondler hin oder her.

    Eine halbe Stunde vor dem Mittagessen vibrierte Julius Pflegehelferarmband. Er befand sich gerade in der Bibliothek, um vier nicht mehr benötigte Bücher zurückzugeben. Madame D’argent, die Bibliothekarin meinte zu ihm:

    „Die meinen es echt ernst, dich wohl dieses Schuljahr schon durch die ZAG-Prüfungen zu bugsieren, wie?“

    „Soweit ich das bisher weiß gehen die Lehrer davon aus, daß ich die ZAGs mit den anderen aus meiner Klasse zusammen machen werde. Aber Professeur Faucon und Professeur Bellart möchten wissen, wie weit ich schon kommen kann.“

    „Na ja, ist ja auch nicht meine Sache, solange die dafür benötigten Bücher termingerecht und unversehrt zurückgegeben werden“, sagte die Bibliothekshexe und verschwand mit den zurückgegebenen Büchern zwischen den meterhohen Regalen. Julius wandte sich gerade zum gehen, als sein Pflegehelferschlüssel vibrierte. Er beeilte sich, aus der Bibliothek hinauszukommen und berührte erst im Korridor den weißen Schmuckstein.

    „Professeur Faucon bittet dich und die jungen Damen Montferre zu sich. Es gehe um euer Zauberwesenseminar am Dienstag“, meldete sich Madame Rossignol bei ihm. Er bestätigte die Anweisung und verabschiedete sich von ihr. Dann suchte er die nächste Möglichkeit zum Wandschlüpfen. Doch bevor er sie nutzte, fragte er sich, wie die Montferres informiert wurden. Hatte er das zu erledigen? Er wollte sichergehen und legte den linken Zeigefinger wieder auf den Schmuckstein und rief in das Armband hinein:

    „Mildrid Latierre, ich rufe dich!“

    „Hallo, Julius! Woltest du wissen, ob wir die Montferres zu Professeur Faucon geschickt haben?“ Meldete sich Millie unverzüglich. Julius nickte. „Gerlinde hat sie aufgefunden und losgeschickt. Das Pflegehelferarmband ist einfach genial für so was. Möchtest du sonst noch etwas?“

    „Nein, danke, das war’s schon“, sagte Julius und verabschiedete sich. Millies räumliches Abbild verschwand übergangslos. So wandschlüpfte Julius in die Nähe von Professeur Faucons Sprechzimmer, wo er nicht nur seine Saalvorsteherin und die Montferre-Zwillinge vorfand, sondern auch Professeur Tourrecandide, die sichtlich angespannt wirkte.

    „Oh, guten Morgen, Professeur Tourrecandide“, wünschte Julius.

    „Einen recht angenehmen Morgen wünsche ich Ihnen, Monsieur Andrews“, erwiderte Professeur Faucons frühere Lehrerin. Dann kam sie sofort zur Sache. „Ich kam her, weil ich erfuhr, daß Sie drei am nächsten Dienstag über Vampire und die Succubi referieren werden. Da ich aus guten Quellen erfuhr, daß Madame Maxime das sogenannte Ehepaar Sangazon als Gesprächsgäste geladen hat, sehe ich mich berufen, Ihnen dreien nahezulegen, sich und Ihre Seminarkollegen mit wirksamen Schutzzaubern gegen die Annäherungsversuche dieser beiden Zeitgenossen zu wappnen, da ich den begründeten Verdacht habe, daß die beiden darauf ausgehen werden, sich unter euch Kandidaten für ihren sogenannten Nachwuchs auszusuchen.“

    „Darauf sind wir vorbereitet“, sagte Julius. „Wir haben uns Amulette mit mindestens zwei Vampirabwehrzaubern zuschicken lassen.“

    „Von wem?“ Fragte Professeur Tourrecandide leicht erregt.

    „Mrs. Jane Porter aus New Orleans“, sagte Julius. Professeur Faucon nickte. Auch Professeur Tourrecandide nickte. Dann sagte sie noch:

    „Nun, dann bin ich beruhigt. Allerdings sollten Sie sich nicht mit leicht abnehmbaren Talismanen behängen, weil die sich Voixdelalune nennende Nachtgestalt ihre Stimme wie einen schwachen, aber auf mehrere gleichzeitig wirkenden Imperius-Fluch einsetzen kann. Sie tragen ein Armband, in dem Curattentius eingewirkt ist, wie ich weiß. Sind Sie der einzige Pflegehelfer in diesem Seminar?“ Sie deutete auf Julius‘ rechten Arm. Der Junge schüttelte den Kopf und sagte, daß noch Mildrid Latierre, Patrice Duisenberg und Felicité Deckers dabei waren.

    „Gut, dann werde ich diese Damen auch herbitten, um den Curattentius-Zauber für genau zweiundsiebzig Stunden auf das vierfache zu verstärken“, sagte Professeur Tourrecandide. Julius gab die Bitte an Schwester Rossignol weiter, weil Professeur Faucon auf die Einhaltung eines Dienstweges bestand. So fanden sich noch die drei übrigen Pflegehelferinnen ein, worauf die ehemalige Lehrerin die in die Pflegehelferschlüssel eingewirkten Curattentius-Zauber verstärkte. Allerdings, so sagte sie, sollten die vier in den nun laufenden drei Tagen nicht mehr die üblichen Zauber der Armbänder benutzen, also nicht Wandschlüpfen oder Sprechkontakte aufbauen. Dann schickte sie Millie, Patrice und Felicité wieder hinaus, um mit den drei Referenten noch etwas zu besprechen.

    „Sie werden sich sicherlich fragen, warum ich so darauf beharre, diesen beiden sogenannten Eheleuten nicht einen Millimeter mehr Bewegungsfreiheit zu lassen als es für eine friedliche Gesprächsveranstaltung nötig ist.“ Julius und die Montferres nickten. „Sie entsinnen sich gewiß noch, als ich Sie dabei überraschte, wie Sie, Monsieur Andrews, den geräuschlosen Raum einstudierten.“ Julius nickte erneut. Auch die Montferres bestätigten es wortlos. „Ich erzählte Ihnen, mir seien die Sangazons bekannt und ich kenne die Fähigkeiten von der sich nun Voixdelalune nennenden Vampirin, die ich noch als Lucille Gaspard kennenlernte.“ Professeur Faucon verzog das Gesicht und wurde schlagartig blaß. Julius fühlte die Zahnräder in seinem Denkwerk rotieren. Gleich kam bestimmt ein echter Hammer. „Nun, da meine beste Schülerin und Amtsnachfolgerin gerade ihrem Vornamen gerecht wird muß ich nun das Drachenei aufspringen lassen. Oder können Sie sich denken, was meine Nachfolgerin derartig erbleichen ließ?“ Dabei sah sie herausfordernd auf die Montferres und Julius. Julius dachte nach. Warum erbleichte Professeur Blanche Faucon bei Nennung des Namens Lucille Gaspard? Dann klickte es in seinem Gehirn. Er sah die frühere Lehrerin von Beauxbatons an und fragte herausfordernd:

    „Könnte es sein, daß Sie mit dieser Vampirin verwandt sind?“

    „Julius“, zischte Sabine alarmiert. Doch Professeur Tourrecandide nickte schwerfällig, atmete tief durch und sagte:

    „Gaspard ist mein Mädchenname. Meine jüngere Schwester Lucille starb vier Jahre, nachdem sie Beauxbatons verlassen hat und kehrte als Voixdelalune Sangazon zurück. Dieses unverzeihlich törichte Geschöpf hat sich allen Ernstes auf die sogenannte Vampirhochzeit eingelassen. Zumindest wurde sie bei Vollmond zur Vampirin. Andernfalls hätte ich sie wohl persönlich beseitigen müssen, wie es meine Pflicht in der Liga ist.“ Nun erbleichten auch die Montferres. Julius, der mit dieser Wendung gerechnet hatte, sah nur bedauernd auf professeur Tourrecandide. Diese erzählte nun, wie ihre Familie erst geglaubt habe, Lucille sei ohne Angabe von Gründen fortgezogen. Dann habe sie ihre Schwester aufgesucht, um ihr die „frohe Neuigkeit“ zu überbringen, daß sie nun ein besseres Leben führe und mit der kleinen Einschränkung, nur nachts zu leben und zwischendurch einen Menschen um ein paar Liter Blut zu erleichtern eine sinnvolle Existenz führe. Als Professeur Tourrecandide zum Schluß kam sagte sie noch: „Die beiden haben sich darauf verständigt, alle zwanzig Jahre einen Nachkommen „zu zeugen“. Dabei achten sie zwar schon auf die richtige Mondphase, weil sie mit den Dunkelmondlern auch nicht zurechtkommen, verbreiten aber dadurch die Vampirsaat stetig weiter. Wären die Status-Quo-vivo-Gesetze nicht in Kraft getreten, die Werwölfen, zurückhaltenden Sabberhexen und ähnlichen, teilweise selbstbeherrscht auftretenden Zauberwesen das Recht auf Leben einräumen, solange sie nicht zu einer dauernden Gefahr werden, gäbe es wohl keine Vampire mehr. Aber irgendwer hat die nicht so einfach abzustreitenden Einwände erhoben, daß Vampire durchaus nützliche Mitglieder der magischen Gemeinschaft sind, da sie durch ihre besonderen Fähigkeiten Dinge erledigen können, die Zauberer schwer bis gar nicht bewerkstelligen können. Ich erzähle Ihnen dreien das, weil ich Ihnen den Schock ersparen möchte, den Sie sonst erleben würden, wenn sie Lucille, oder auch Voixdelalune begegnen. Sie ist nämlich seit ihrer sogenannten Vermählung gerade mal um zehn Menschenjahre gealtert.“

    „Dann sieht sie Ihnen ähnlich?“

    „als wenn sie meine Enkeltochter wäre“, sagte professeur Tourrecandide. „Daa Sie bei mir schon geprüft wurden, Mesdemoiselles Montferre und Monsieur Andrews, hätten sie die Ähnlichkeit erkannt und in einem unpassenden Moment erschrocken darauf reagiert. Daher wollte und mußte ich Sie vorwarnen, zumal Sie ja die Referenten des Abends sind.“

    „Weiß Madame Maxime davon?“ Fragte Julius.

    „Sie wurde gestern von mir unterrichtet. Auch sie fiel aus allen Wolken. Denn zu der Zeit, wo das mit meiner Schwester geschah war sie noch lange nicht geboren. Ich bezweifel sogar, daß ihre Eltern da schon auf der Welt waren. Allerdings besteht sie in ihrer unbedingten Beharrlichkeit darauf, die Einladung aufrecht zu erhalten und lediglich Vorkehrungen zu treffen. Ich wünsche Ihnen also die Ruhe, Besonnenheit und einen planmäßigen Ablauf Ihres Seminarabends!“

    Als die drei Schüler wieder vor der Tür standen sagte Sabine Montferre:

    „Also langweilig wird dieses Seminar nicht.“

    __________

    Der Dienstag kam und damit der Abend des Vampirvortrags. Madame Maxime bat nach dem Abendessen alle Teilnehmer zu sich. Julius sah, wie sie jedem ein Amulett umhängte, auch Gloria und den Montferres. Als er fragte, ob er auch eines bekommen würde sagte die Schulleiterin:

    „Die Curattentius-Aura, die durch Professeur Tourrecandide verstärkt wurde, wirkt genau so wie die Talismane. Außerdem habe ich jeden mit einem Diebstahlschutzzauber belegt. Das ging noch, weil Madame Jane Porter extra darauf hingewirkt hat, daß noch ein weiterer Objektbeeinflussungszauber eingewirkt werden konnte. Nur ich kann nun die Artefakte von Ihnen fortnehmen. Der Segen der Sonne hätte sich dann aber zu einer sichtbaren, weißgoldenen Aura verändert, wenn er in den Wirkungsbereich eines verstärkten Curattentius-Zaubers hineingerät, wenn ich Ihnen, Monsieur Andrews, ein solches Artefakt umgehängt hätte.“

    „Sie tragen bestimmt auch ein Amulett“, meinte Julius zu Madame Maxime.

    „Natürlich, aber eines, das ich in weiser Voraussicht bereits vor Monaten eigenhändig angefertigt habe.“

    „Wir können normal herumlaufen?“ Fragte Sabine und tat einige Schritte. Doch als sie das Amulett von ihrem Hals lösen wollte, schien sie mit einem Tonnengewicht zu kämpfen. Erst als sie es losließ, war alles wieder wie sonst.

    „Gegen meinen Willen und nur meinen Willen kann niemand Ihnen dieses Artefakt entwinden, Mademoiselle Montferre. Das wird die beiden Herrschaften davon abhalten, in meiner Schule ihren sogenanten Nachwuchs zu züchten. So, und jetzt gehe ich bis zum Treffpunkt und hole die beiden ab. Sie stellen Sich bitte zum üblichen Zeitpunkt im Raum ein, nicht vor dem raum! mesdemoiselles Montferre, Monsieur Andrews, da Sie referieren werden setzen Sie sich nach vorne. „

    Julius atmete auf. Madame Maxime war ja nicht dumm. Aber selbst der intelligenteste Mensch mochte einen Fehler machen, wenn er nicht alle Fakten kannte.

    Wie angewiesen stellten sich die Seminarteilnehmer im Panoramaraum ein und rückten so zusammen, daß die Schutzartefaktträger sich um sie herum gruppieren konnten. Eine Stille wie bei Claires Beerdigungsfeier trat ein. Julius fühlte, daß die Sache ernst war. Waltraud, die hinter Julius saß, sagte leise:

    „Im Zweifelsfall habe ich geriebene Knoblauchblüten bei mir. Damit haue ich die im Notfall um.“

    „gut zu wissen“, sagte Julius. „Und ich kann diesen Sonovacuus-Zauber. Leider kann man denen ja keinen Schweigezauber andrehen.“

    Schritte einer Person drangen von außen herein, die Schritte von sehr großen Füßen inn hochhackigen Schuhen, wie Madame maxime sie trug. Dann trat sie ein. Doch sie war nicht alleine! Lautlos schreitend traten ein Mann in dunkelblauer Robe mit goldblondem Haar und eine Frau mitte dreißig scheinend mit tiefschwarzem haar in einem silberweißen, wie gesponnenes Mondlicht wirkendem Kleid in den Panoramasaal, der im Moment nur die abendliche Umgebung des Palastes und den bewölkten Himmel abbildete. Die Schüler standen höflich auf, wie es beim Eintritt Madame Maximes Sitte war. Die gigantische Schulleiterin winkte nur und bedeutete den Seminarteilnehmern, sich hinzusetzen.

    Die beiden Besucher verzogen die Nasen und schienen von leichten Windböen nach außen gedrängt zu werden. Er sah leichenblaß aus und hatte eingefallene, stumpfgraue Augen. Sie jedoch besaß ein rosiges Gesicht und hatte hellblaue Augen, die wirklich so aussahen wie die professeur Tourrecandides. Doch die rosige Gesichtsfarbe? War das wirklich eine Vampirin? Doch als sie allen zulächelte und dabei weiß blinkende, spitze Fangzähne entblößte, war jeder Zweifel verschwunden. Die Vampirin hatte sich wohl geschminkt, um ihre Blässe zu verdecken. Ihr Gefährte machte aus seinem Wesen keinen Hehl. Das bleiche Gesicht glänzte im Licht der drei großen Kerzen. Er mied jedoch den Blick in die Flammen. Licht war der Vampire Feind, besonders Sonnenlicht und große Feuer, wußte Julius nicht erst seit der Vorbereitung mit den Montferres.

    „Mesdemoiselles et Messieurs“, brach Madame Maxime die Totenstille, nachdem die schwere Tür zugefallen war. „Wie mit Ihnen besprochen beginnen wir heute unseren Exkurs über echte Vampire, magizoologisch Leukanthropos Sanguibibens, die bei den Griechen auch Lamiaten und in osteuropäischen Ländern auch Nosferatu genannt werden. Hierzu habe ich die mir aus ähnlichen Anlässen bereits vertrauten Vertreter Ihrer Art, Madame Voixdelalune und Monsieur Éclipsian Sangazon gebeten, uns etwas ihrer Zeit zu widmen, um aus erster Hand zu erfahren, was die Lebensweise und gesellschaftliche Stellung der Vampire angeht. Um eine geeignete Diskussionsgrundlage zu haben bitte ich zunächst die beiden jungen Damen Sabine und Sandra Montferre, die Zusammenfassung des in der Zaubererwelt geläufigen Wissens über Vampire und Vampirismus zu referieren.“

    Die beiden unheimlichen Gäste sahen die Montferres leicht bedauernd an. Offenbar glaubten sie nicht, daß die was wichtiges herausbekommen hatten. Ansonsten sagten die beiden Blutsauger keinen Ton. Sie setzten sich auf zwei hochlehnige Stühle, die Madame Maxime abseits der Tafel bereitgestellt hatte. Sabine und Sandra erhoben sich absolut gleichzeitig und wichen nach links aus, weil Madame Maxime sofort auf die beiden freien Stühle zueilte und sich neben Julius Niederließ. Die Sitzbank bog sich ein wenig ein, so daß Julius unabsichtlich einige Zentimeter auf die Schulleiterin zurutschte. doch sonst geschah nichts.

    Sabine und Sandra wechselten sich ab, während sie berichteten und durch Zeichnungen an der Tafel untermalten, daß Vampire schon seit der Zeit des alten Ägypten bekannt seien und sich durch die Jahrtausende mal mehr und mal weniger auffällig in der Menschenwelt gezeigt hatten. Sie sprachen auch davon, daß Vampire in zwei Hauptgruppen auftraten, die von den Mondphasen abhängig waren, die der hellen Seite des Mondes, die bei Vollmond entstanden und die der dunklen Seite des Mondes, die bei Neumond entstanden. Sie berichteten von historisch belegten Vorkommnissen und zählten die natürlichen und magischen Schwächen auf. Dabei blickten die Sangazons sie merkwürdig amüsiert an. Es schien, als seien diese Informationen, daß Vampire fließendes Wasser scheuten und bei Berührung mit Sonnenlicht qualvoll verbrannten reiner Humbug. Doch Julius kaufte es den beiden nicht ab. Diese Art von Trotz und Verachtung kannte er aus der eigenen Kindheit, wenn ältere Jungs eine Schimpftirade so vergrinsten, aber innerlich schon heftig daran zu knabbern hatten. Doch dann erwähnte Sabine was, daß bei Julius einen kurzen Moment düsterer Erinnerungen und bei den Vampiren einen sichtlichen Schrecken auslöste:

    „Vampire, so heißt es, besäßen außer in gut ausgebildeten Zauberern keine natürlichen Feinde, und selbst die ausgebildeten Zauberer seien durch ihre Intelligenz auszuhebeln. Jedoch gibt es eine Gruppe magischer Wesen, die als erklärte Feindinnen der Vampire in die Geschichte eingegangen sind: Lahilliotas neun Töchter, die sogenannten Töchter des Abgrundes oder auch, weil sie durch den Beischlaf mit Männern ihre Lebenskraft beziehen als Succubi, jene, die unten liegen, bezeichnet werden. Jene Geschöpfe verfügen über solche Macht, daß sie jeden Vampir allein durch ihre Körperkraft töten können und selbst deren Gabe der Beeinflussung um ein vielfaches übertreffen. Vampire fliehen die nähe dieser weiblich erscheinenden Ungeheuer, da sie von diesen nicht länger als eine Minute geduldet werden. Somit wäre es durchaus sinnvoll, sich dieser Wesen als Verbündete im Kampf gegen bösartige Vampire zu versichern. Allerdings hieße dies, ein Feuer mit dem Atem eines Drachen zu löschen, oder wie christlich erzogene Menschen sagen, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.“

    „Zu diesen Wesen werden wir im Verlauf des Abends noch kommen“, sagte Madame Maxime, als Sabine die Tafel abwischte und sich mit ihrer Schwester verbeugte. Die beiden Vampire sahen die beiden Mädchen an, starrten für einige Sekunden auf die silbernen, kreisförmigen Amulette und verzogen die Gesichter. Madame Maxime erhob sich und überließ den beiden Mädchen wieder ihre Plätze. Dann sagte sie:

    „Nun, da wir vieles gehört haben, was Zauberer und Hexen zum teil gründlich, zum anderen Teil oberflächlich erforschen konnten, möchte ich jetzt die Gunst der Stunde nutzen, um unseren Gästen Gelegenheit zu geben, etwas über ihre Lebensweise zu erzählen. Bitte fangen Sie an, Madame Sangazon!“

    „Nun, es ist zwar nicht nett von Ihnen und euch, meinen Gemahl und mich derartig mit irgendwelchen blendenden Gegenständen zu traktieren. Aber ich kenne die Ängste der Menschen und weiß, sie tun alles, um sich zu schützen, wenn sie meinen, zu wissen, wie“, sagte die Vampirin, die eine schöne tiefe Stimme hatte. Julius wunderte sich. Er hatte mit einer Sopranstimme oder dergleichen gerechnet. Doch die Stimme drang sehr warm in ihn ein und vibrierte in seinem Unterleib nach. „Also was mich angeht, so war ich einmal genauso eine sonnenlichtgebräunte Hexe wie die, die hier vor uns sitzen. Ich habe hier gelernt, wo ihr jetzt seid und auch einen passablen Abschluß gemacht. Doch irgendwann wurde mir das Dasein als einfache Hexe zu öde. Als ich mich umhörte, welche Sachen ich machen konnte, fand ich, ich hatte besseres verdient als einen Platz im Opernchor von Paris. Als ich dann Éclipsian kennenlernte und der Vollmond gerade schön am Himmel stand, habe ich seinem Antrag zugestimmt, mit ihm die wundervolle Hochzeit des Blutes zu halten. Darüber habt ihr beiden“, wobei sie die Montferres ansah, „eher so wie von einer ansteckenden Krankheit gesprochen, die man nicht kriegt, sondern sich holt. Das finde ich höchst einseitig, aber ihr könnt da nichts für“, sagte sie herablassend. „Denn es ist wie die Hochzeit der Geschlechter ein schöner, den Körper und die Seele bewegender Akt, bei dem ungeahnte Wonnen entfacht werden können. Da die Schule hier strenge Sittenregeln unterhält muß ich wohl nicht fragen, wer von den Herrschaften hier noch jungfräulich ist.“ Alle blickten beschämt auf die Vampirin, außer Millie, die Montferres und Julius. „War mir klar“, kommentierte die Vampirin diese Reaktion. „Dann kann ich euch nur erzählen, daß es erst etwas schmerzt, wenn der zukünftige Partner einem den Vermählungskuß gibt.“ Sie deutete auf ihren Hals, wo Julius zwei winzige Male erkennen konnte, das Stigma des Vampirs, wie es auch bei den Muggeln als untrügliches Kennzeichen des nächtlichen Blutsaugers bekannt war. Mit immer leidenschaftlicher werdender Betonung sprach die Vampirin weiter: „Danach gilt es, dem zukünftigen Partner eine Wunde in den Körper zu beißen und dann gegenseitig voneinander den Lebenssaft zu trinken. Dabei umfließt einen der Strudel einer immer größeren Leidenschaft, bis man in einem lodernden Feuer treibt und dann in tiefe Dunkelheit fällt. Allerdings ist das Erwachen dann sehr schön, so frei, so unbeschwert. Du fühlst dich mit deinem Gemahl verbunden, teilst mit ihm Gefühle und Gedanken. Danach heißt es jedoch lernen, mit dem Verlust der Fähigkeiten zu leben und die neuen Fähigkeiten zu üben wie die Verwandlung in eine Fledermaus oder die besseren Körperkräfte, die höhere Empfindlichkeit aller Sinne und die Gabe der Besänftigung. All das entspricht doch wohl einer richtigen Hochzeit und Geburt in einem anstatt einer ansteckenden Krankheit, oder?“ Keiner wagte darauf eine Antwort zu geben, wenngleich es Julius schon auf der Zunge lag, was dazu zu sagen. Denn so ähnlich hatte Hallitti ihn zu verführen versucht, und ähnlich bezirzten ja auch die Sabberhexen ahnungslose junge Zauberer, um sich von ihnen schwängern zu lassen. Weil niemand was sagte sprach Voixdelalune weiter, diesmal wieder sachlich. „Ihr wollt was über das Leben eines Vampirs hören, weil ihr möchtet, daß nicht nur irgendwelches Geschreibsel eure Gedanken bestimmt. Das ist sehr klug von euch. Also …“ Sie schilderte nun, wie sie ihren alltag verbrachten. Auch Éclipsian Sangazon sagte was dazu. Seine weiche Baßstimme vibrierte ebenfalls in Julius‘ Körper, aber nicht so anregend im Unterleib, sondern einige Zentimeter höher in der Magengrube. Die beiden Vampire berichteten davon, daß sie, weil sie Hellmondler waren, selten jemanden töteten. Oft begnügten sie sich mit einem wenige Sekunden anhaltenden Kuß und gaben dem unfreiwilligen Blutspender dann die Gelegenheit, sich heilen zu lassen. Gloria erhob die Hand, als Voixdelalune erwähnte, daß sie auch wochenlang hungern konnten oder auch das Blut von anderen Säugetieren tranken.

    „Nun, Menschen haben sonst keine natürlichen Feinde. Sehen Sie sich als eine Art Raubtier oder als Wesen, die eine außergewöhnliche Ernährungsweise haben?“

    „Nun, da selbst der rotblütige Mensch ein Raubtier ist, auch wenn er nicht mehr selbst auf die Jagd geht, kommen meine Gemahlin und ich mit der Bezeichnung Raubtier sehr gut zurecht, junge Dame“, schnurrte Éclipsian Sangazon. Dann fuhr er mit seinem Bericht fort. Als sie noch erwähnten, daß sie alle zwanzig Jahre ein Kind bekamen, warf Madame Maxime ein, daß das wohl bedeute, sie würden einen anderen Menschen zu Ihresgleichen machen. Voixdelalune ging darauf ein und sagte:

    „Nun, auch wir müssen überleben und uns vermehren. Das ist die Natur an sich und nicht in ein vereinfachtes Schema von Gut und Böse zu pressen. Es gibt zwei Arten, wie wir Vampirinnen Kinder bekommen können: Wir können miteinander schlafen wie die Menschen. Doch dann muß die werdende Mutter jeden Tag das Blut eines Kleinkindes trinken, um das in ihr wachsende neue Leben zu erhalten. Das fällt auf und kostet unverantwortlich viele Menschenleben.“ Die Schüler nickten heftig. „Die zweite Art ist die Hochzeit des Blutes oder die Zeugung, wenn ein Ehepaar gemeinsam mit dem Nachwuchs die gegenseitige Blutmahlzeit vollzieht. Ich kann euch sagen, daß keines der vier Kinder, die wir bisher gezeugt haben bereut hat, durch uns in die friedliche Welt der Nacht geboren zu werden. Sicher kenne ich einige, die sofort versucht haben, sich umzubringen. Aber unser Selbsterhaltungstrieb ist so stark, daß das nur sehr selten passiert. Spätestens wenn sie das Fliegen erlernen wollen sie nicht mehr anders sein, und die Sonne ist ihnen dann sowieso egal, weil sie im Dunkeln genug sehen können. Die Propaganda, wir seien lebende Leichen oder sogenannte Untote kommt ja nur daher, daß wir eben sehr zäh und unverwüstlich sind und nur ein Zehntel so schnell altern wie Menschen. Das mag an unserem veränderten Blut liegen.“

    „Sie sagen, es sei schön, als Vampir zu leben“, wagte nun Sabine eine Frage. „Wie kommt es dann, daß selbst Angehörige Ihrer Art es als Fluch sehen, Vampir zu sein?“

    „Ach du meine Güte“, lachte Éclipsian, während seine Frau dämonisch lächelte. „Das sind die, die sich nicht daran gewöhnen wollen, nur noch bei Nacht zu leben und obendrein von ihrer Religion dazu angehalten wurden, alles nichtmenschliche als böse zu sehen. Ja, und andere kommen mit dem langen Leben nicht zurecht oder haben doch ein schlechtes Gewissen, Menschen um etwas Blut zu erleichtern. Aber wir leben und freuen uns, daß wir leben und verfluchen es nicht. Alles andere ist nur aus Neid gesagt und geschrieben worden, von Leuten, die wissen, wie unterlegen sie unserer Rasse sind.“ Jetzt fühlte sich Julius doch zu lange provoziert um nichts zu sagen. Er hob den rechten Arm und wartete auf die Sprecherlaubnis. Madame Maxime nickte, und die beiden Vampire sahen ihn erwarrtungsvoll an:

    „Diese und andere Sätze habe ich von Hallitti auch schon gehört, als sie mir einreden wollte, daß ihre Art zu leben die beste und friedlichste oder wie auch immer ist. Von Hallitti haben Sie doch bestimmt schon gehört.“ Die Vampire schraken zusammen, während die Seminarteilnehmer Julius sehr perplex ansahen, weil er so offen und erregt über das finstere Zusammentreffen mit der Tochter des Dunklen Feuers redete.

    „Du kannst das nicht von ihr gehört haben. Du lügst“, knurrte Éclipsian. „Hallitti schläft. Ich weiß das, weil einer meiner Vorväter es beobachtet hat, wie sie im Kampf gegen Zauberer geschwächt wurde. Beinahe hätte sie ihn umgebracht. Außerdem wärest du jetzt nicht hier …“ Die Vampirin sah Éclipsian an, schien ihm durch ihren Blick etwas mitzuteilen. Konnten Vampire hier mentiloquieren? Éclipsian verstummte, dann blickte er Julius an, während seine Gefährtin fragte:

    „Wie heißt du, Junge?“

    „Julius Andrews“, feuerte Julius seinen Vor- und Nachnamen wie zwei Kanonenkugeln ab, sich sicher, daß sie genauso bei der Vampirin einschlagen würden. Sie nickte und lächelte anerkennend, was durch ihre dolchartigen Vampirzähne eine teuflische Ausstrahlung bekam.

    „Mein Gemahl liest keine Zeitungen und traut sich auch nicht, mit ausländischen Artgenossen Fledermausbriefe auszutauschen. Ich habe eine gute Freundin in den Staaten, die unter den Magielosen lebt und auch gute Kontakte zu Hexen und Zauberern pflegt. Die hat mir das erzählt, daß Hallitti dort herumgestrolcht ist und ihr einmal fast auf den Leib gerückt wäre, aber das der Sohn ihres unterworfenen Gefährten, den sie unbedingt haben wollte, von einer Gruppe Hexen befreit wurde, die dieses Scheusal endgültig vernichtet haben. Freu dich, im Schoß einer dieser Ungeheuer hat schon mancher sein Leben verloren.“

    „Mein Vater war dieser unterworfene Gefährte. Der fand es auch schön, so zu sein, wie dieses Monster ihn gemacht hat“, erzürnte sich Julius. „Also ist das, was Sie mir und uns gerade erzählt haben nichts neues oder überzeugendes.“ Sabine legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Julius‘ Wortschwall versiegte unvermittelt.

    „Nun, zu dem Thema wollen und werden Sie uns ja gleich noch detailiert und wie ich hoffe in der gebotenen Sachlichkeit informieren, Monsieur Andrews“, wandte Madame Maxime ein. Julius verstand. Sich hier über die zu erwartende Beschönigung des Vampirdaseins aufzuregen war völlig verkehrt. Nur mit Ruhe und Verstand konnte er sich gegen das Gerede der Blutsauger behaupten. Denn das waren für ihn keine netten Leute von nebenan, die nur mal zwischendurch die Äpfel aus anderen Gärten klauten, sondern gefährliche Geschöpfe, vor denen jeder Mensch auf der Hut zu sein hatte. Er hörte noch Professeur Faucons Worte: „Ungefährlicher, aber nicht harmlos.“ So hatte sie die Vampire der hellen Seite des Mondes dargestellt. So überhörte er das weitere Gerede der Vampire, auch wenn ihn Voixdelalune immer wieder herausfordernd oder einladend ansah. Erst als sie ihn sehr eindringlich anblickte und er aus Reflex Occlumentie benutzte, hatte er das unbestimmte Gefühl, daß sie ihn als neuen „Sohn“ haben wollte. War das jetzt eben wegen Hallitti oder ein echter Gefahreninstinkt?

    „Nun, ich denke, wir haben genug gehört, um uns ein objektiveres Urteil bilden zu können als durch die reine Lektüre, die eben nur von Zauberern außerhalb der Vampirwelt geschrieben wurden. Allerdings ist das Thema Töchter des Abgrunds jetzt so oft gestreift worden, daß ich Sie, Monsieur Andrews, darum bitten möchte, uns darüber das zu berichten, was sie der Literatur entnehmen und mit der unfreiwillig gemachten Erfahrung mit einer dieser Kreaturen vergleichen, bestätigen oder widerlegen konnten.“ Julius stand auf und eilte rasch zur Tafel, nicht zu hastig, um nicht den Jagdinstinkt oder was ähnliches der Vampire auszulösen. Doch der Jagdinstinkt der Vampire richtete sich auf arglose, meistens ruhig schlafende Opfer, nicht auf solche, die davonliefen. Diesen Jagdtrieb besaßen eher Werwölfe.

    Er trat an die Tafel und schrieb seine Stichwörter hin, zu denen neben „Lahilliota“ auch „Lebenskraftsammelbehälter“, „Lebensraub durch Beischlaf“ und „Elementarzauberkräfte“ gehörten. Er stellte sich so, daß er das Publikum und die Vampire im Blick hatte und sprach seinen vorbereiteten Vortrag herunter, wann die Töchter des Abgrundes entstanden waren, daß ihre Mutter sie durch dunkle Rituale in sich selbst jungfräulich gezeugt hatte und bei der Geburt der letzten gestorben sei, was dieser Tochter jedoch mehr Macht verliehen haben soll. Er erwähnte die Berichte aus dem Mittelalter und daß es im Laufe der Jahrhunderte gelungen sei, sieben der damals noch neun Succubi in einen dauerhaften Schlaf zu zwingen. Dann berichtete er von Hallitti, wobei er sich anstrengte, einen ruhigen Tonfall zu behalten, erwähnte wo und wie sie möglicherweise mit seinem Vater zusammengetroffen war, wie dieser, weil er keine weckbaren Zauberkräfte in sich hatte, ihr Opfer wurde und ab da für sie Lebenskraft zusammenstahl, bis er von Verbrechern, denen das in die Quere kam, fast getötet worden wäre und Hallitti ihn wohl sehr mühsam am Leben gehalten hatte, bis er, Julius, nach ihm gesucht hatte und von ihr gefunden wurde. Auf den Kampf in der Höhle in der Mojavewüste ging er nur kurz ein, erwähnte die ausgemachte Legende, daß er durch ihren Fluch um zwei Jahre gealtert sei, wie die ihm unbekannten Hexen Hallitti angegriffen und sie und seinen Vater getötet hatten. Die Vernichtung schilderte er so, wie er sie aus der Ferne beobachtet hatte. Dann sprach er noch davon, daß es noch zwei wache Abgrundstöchter gäbe, die im südeuropäischen und orientalischen Raum leben sollten. Als er damit geendet hatte, daß er persönlich keinem dieser Wesen mehr begegnen wolle, trat wieder Stille ein. Er sah Madame Maxime an, dann seine Kameraden, die ihm gebannt zugehört hatten. Dann fiel sein Blick auf die Sangazons. Die Vampire blickten ihn mit einer Mischung aus bewunderung, aber auch Befremden an. So sagte er noch: „Das alles hat sich so zugetragen, wie ich es gerade geschildert habe.“

    Voixdelalune nickte und erwiderte dazu:

    „Ich glaube dir das. die Zauberer in den Staaten haben einen sehr starken Ausbruch ungerichteter Zauberkraft in der kalifornischen Wüste verzeichnet. Deshalb sind mein Gemahl und ich froh, jemanden zu treffen, der davon berichten konnte, wie stark diese Biester sind und wie man sie wohl vernichten kann.“ Ihre so mächtige Stimme klang warm und aufmunternd. Julius war auf der Hut, sich davon nicht einlullen zu lassen. Dann trat Voixdelalune auf ihn zu. Er ging in eine Abwehrstellung. Doch als sie nur noch zwei Meter vor ihm stand prallte sie auf einen unsichtbaren Widerstand. Goldene Funken sprühten für eine Zehntelsekunde zwischen seinem Pflegehelferarmband und der Vampirin. In ihrem Gesicht zuckte es, als habe sie einen heftigen Schlag abbekommen. Dann sagte sie: „Das ist nicht gerade gastfreundlich, wenn die Gäste nicht direkt zu jemanden hingehen dürfen. Aber ich hatte nicht vor, dir was zu tun. Ich wollte dir nur meine Anerkennung aussprechen, daß du trotz der Begegnung mit diesem Unwesen noch genug Mut hast, mit Leuten wie Éclipsian und mir in einem Raum zu sitzen. Aber wenn du dich von jemandem in einen Abwehrzauber einschließen läßt ist ja kein Mut nötig, insbesondere wenn der Jemand aus reiner Verachtung für mich gehandelt hat. Bestellle dieser Intoleranten Hexe, die dir diesen Schutz verpaßt hat schöne Grüße: So wirst du nur zu hassen lernen, anstatt die Dinge und Wesen zu akzeptieren wie sie sind.“ Dann zog sie sich zurück. Madame Maxime war aufgestanden und hielt ihren Zauberstab in der Hand. Éclipsian sah sie verbittert an und überblickte dann wieder die Reihen der Schüler, jeder von ihnen eingehüllt in die Aura eines genau auf ihn abzielenden Abwehrzaubers und einer Kraft, die seinen sonst so mühevoll unterdrückten Blutdurst verschwinden machte.

    „Monsieur Andrews, kehren Sie bitte auf Ihren Platz zurück!“ Befahl Madame Maxime sehr harsch, als wolle sie Julius möglichst schnell aus einer Gefahrenzone haben. Er gehorchte unverzüglich.

    „Nun, es war nett von euch und Ihnen, daß wir über unsere Lebensweise sprechen durften. Ihr mögt jetzt vielleicht etwas besser unterscheiden können, daß Vampir nicht gleich Vampir ist“, sagte Madame Sangazon, als alle wieder saßen. „Nach der unerfreulichen Sache mit dem Jungen Julius“, wobei sie Julius nun freundlich anlächelte, „kann ich sogar verstehen, daß Sie und ihr alle meintet, euch bestmöglich vor unserer angeblich so unbeherrschten Gier zu schützen. Bei einem von der dunklen Seite des Mondes wäre das bestimmt auch angebracht. Aber die hätten euch nicht so bereitwillig von unserem Leben erzählt.

    „Zumindest haben wir durch Ihren Besuch einen gewissen Einblick in Ihre Sicht- und Denkweise erhalten“, sagte Madame Maxime, was Éclipsian etwas verstimmt dreinschauen machte. „Ich bin jedoch zufrieden, Daß der Vortrag und der Erlebnisbericht von Monsieur Andrews auch Ihr Interesse gefunden hat. Ich gebe Ihnen dafür fünfzig Bonuspunkte, Monsieur Andrews. Sie, Madame und Monsieur Sangazon, möchte ich nun bitten, mich zu begleiten, um Sie sicher in die Nähe ihres derzeitigen Wohnsitzes zu bringen.“

    Die Vampire sahen sie zwar erst verärgert an, weil sie einfach so wieder fortgeschickt wurden. Doch Madame Sangazon sprach beruhigend auf ihren Gefährten ein und sagte dann ganz ruhig:

    „Natürlich, Madame Maxime. Das war ja so ausgemacht. Ich wünsche euch allen noch ein wunderschönes, erfülltes und abwechslungsreiches Leben.“ Ein leichter Schauer ging durch jeden Schüler hier als sie das sagte. Dann verließen die Vampire zusammen mit Madame Maxime den Panoramaraum.

    „Wir warten, bis sie wiederkommt“, sagte Sabine, als einige Schüler sich anschickten, den Saal zu verlassen. Obwohl sie hier keine Befehlsgewalt zugesprochen bekommen hatte wirkte was sie sagte wie ein bedingungslos zu befolgendes Kommando. Alle blieben sitzen.

    „Das war schon eine ziemlich verwirrende Sache“, sagte Julius zu Sandra Montferre, die neben ihm saß. „Da weiß man ja nicht, ob es nicht vielleicht doch schön wäre, Vampir zu sein, wenn es nicht damit zusammenginge, eine Gefahr für andere Leute zu werden.“

    „Nun, im Grunde sind wir wie wir hier sitzen alle eine gewisse Gefahr für andere, wenn wir in eine Lage kommen, wo wir finden, mit unseren Zauberkräften gegen andere Menschen vorzugehen“, sagte Sabine. Gloria wandte ein:

    „Gut, Julius, jetzt haben wir alle die Schutzartefakte umgehängt und damit die Gefahr durch die beiden Vampire ausgeräumt. Aber ich fand es trotzdem erschütternd, wie sich die Denkweise eines Hellmondvampires nicht so sehr von der eines Dunkelmondlers unterscheidet, eben nur dadurch, daß die Hellmondler noch einen gewissen Respekt vor den Menschen haben und sie nicht nur als Futter ansehen. Vielleicht sind wir aber dadurch, daß wir eigentlich keine natürlichen Feinde mehr haben gegen alles, was uns schaden kann voreingenommen. Deshalb ist es wichtig, auch solche Wesen hierzuhaben. Ich weiß, Julius, daß klingt jetzt irgendwie fies: Aber sogesehen würde ich gerne von einer dieser Abgrundstöchter hören, wie sie ihr Leben sieht und warum sie das gut findet, andere Menschen zu manipulieren und auszuzehren.“

    „Das ist dann wie bei den Dunkelmondvampiren, Gloria“, sagte Millie. „Da könntest du gleich einen Wolf fragen warum er kein Pflanzenfresser ist.“

    „Natürlich will ich nicht, daß wir uns aus lauter Toleranz darauf einlassen, diesen und anderen Wesen alles durchgehen zu lassen“, warf Gloria ein. „ich wollte halt nur sagen, wie wichtig ich das finde, nicht nur die Meinung von Zauberern zu hören, wenn es um intelligente Zauberwesen geht.“

    „Dafür sind wir ja auch hier“, wandte Edgar Camus ein.

    Als Madame Maxime zurückkehrte sammelte sie alle Schutzartefakte ein. Auf die Frage, wohin sie die Vampire gebracht habe sagte sie kühl: „Ich habe sie mit der Reisesphäre an den Ort gebracht, von dem ich sie geholt habe. Mehr müssen sie nicht wissen.“ Man konnte ihr die Erleichterung ansehen und anhören, daß dieser Abend ohne Zwischenfall beendet wurde. Sie diskutierten noch über die Vorträge und das, was die beiden unheimlichen Besucher selbst erzählt hatten. Edgar warf einmal ein:

    „So wie Madame Sangazon es erzählt hat ist es doch wie eine Krankheit, wenn durch Trinken von Vampirblut oder das Ausgesaugt-werden das eigene Blut zu weißem Vampirblut verändert wird. Aber ich sehe ein, daß wir über denkende und sprechende Zauberwesen nicht nur aus den Büchern lernen können.“

    „Dann wird es Sie wohl nicht stören, wenn wir uns nach Weihnachten auch mit den sogenannten Sabberhexen befassen“, sagte Madame Maxime. Alle sahen sie erst verdutzt und dann verstehend an.

    Naach dem Seminar kehrten alle in ihre Säle zurück. Obwohl der Grund für den verstärkten Curattentius-Zauber nicht mehr vorhanden war ging Julius mit Waltraud auf dem üblichen Weg in den grünen Saal zurück.

    „Also jedenfalls ist dieses Zauberwesenseminar das interessanteste, was ich jemals in der Schule mitgemacht habe“, sagte Waltraud zu Julius. Dieser erwiderte:

    „Gloria hat insofern recht, daß wir mit Angst vor dem, was wir nicht richtig kennen nicht sonderlich weit kommen und deshalb alle Möglichkeiten ausnutzen sollten, die Wesen, die uns Angst machen besser kennenzulernen. Aber ich bin froh, wenn wir demnächst eher mit umgänglicheren Geschöpfen zu tun kriegen.

    Im grünen Saal erzählten sie ihren Kameraden noch, was sie gehört und welchen Eindruck sie von den Vampiren bekommen hatten. Céline, die ihrer Gesichtsfarbe wegen Éclipsian ähnelte meinte:

    „Diese Voixdelalune muß wohl sehr eitel sein, daß sie sich geschminkt hat. Andererseits sieht doch jeder sofort, was für Zähne sie hat.“

    „Ja, aber nur wenn sie lächelt oder gerade zubeißen will“, sagte Julius unbehagt. „So kann sie sich arglosen Leuten nähern, ohne daß die schalten, was passiert. Das ist also keine Eitelkeit sondern Tarnung, ein beliebter Trick bei Mensch und Raubtier, um einen hinterhältigen Angriff durchzuführen. Hallitti sah auch schön und wenn sie wollte harmlos aus, und ich kann mir vorstellen, daß ihre anderen Schwestern raushaben, sich ganz unauffällig unter Menschen zu bewegen, ja sogar Freundschaften mit ihnen schließen können. Aber trotzdem möchte ich keiner von denen begegnen.““

    „Ist klar, Julius“, sagte Robert Deloire. „Zumal sie denken könnten, du hättest geholfen, ihre übereifrige Schwester umzubringen.“

    „Wie aufbauend“, knurrte Julius. Dann meinte er noch, daß die noch wachen wohl andere Sorgen hätten als ihn zu suchen.

    Als die übliche Schlafenszeit für Viertklässler kam, zogen sich die Jungen und Mädchen in ihre Schlaftrakte zurück. Denn morgen ging die Schule weiter, und für Julius würden die Zusatzaufgaben nicht weniger werden.

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