Richard Andrews blickte auf seine Mehrzweckdigitaluhr am linken Handgelenk. Er hatte soeben das Piepsignal gehört, mit dem sie ihn daran erinnerte, daß er nach Hause fahren und mit seiner Frau die letzten Reisevorbereitungen für einen Flug nach Paris treffen sollte.
"Dann wünsche ich noch gutes Gelingen, Professor Donaldson", verabschiedete sich der Direktor der Forschungsabteilung der Omniplast Company von seinem obersten Projektleiter.
"Schade, daß Sie mit Ihrer Frau das Pariser Nachtleben nicht so recht würdigen können", machte der Chemiker für Industriekunststoff noch einen Scherz Mr. Andrews gegenüber. Dieser räusperte sich und erwiderte:
"Dieses sogenannte Pariser Leben interessiert mich auch ohne Ehefrau nicht, Donaldson. Das sollten Sie doch besser wissen", sprach Mr. Andrews einen leichten Tadel aus. Donaldson, dessen Professorenrang darüber hinwegtäuschte, daß er Andrews unterstellt war, grinste nur hinter vorgehaltener Hand.
Richard Andrews verließ das Verwaltungsgebäude des großen Londoner Chemiewerks. Der zwanzigstöckige Hochbau lag in harmonischer Nachbarschaft zum Institut für Materialkunde der Universität und dem Bürogebäude der Prosper-Perspective-Versicherungsgesellschaft. Mit seinem Bentley fuhr Richard Andrews in die Winston-Churchill-Straße, wo er mit seiner Familie wohnte. Familie? Seit einige höchst merkwürdige Zeitgenossen vor zwei Jahren bekundet hatten, sein Sohn Julius sei ein wirklicher Zauberer und ihm aufgenötigt hatten, ihn in ein Zaubererinternat namens Hogwarts zu schicken, war sein Familienleben überschattet von Lügen und Drohungen, Heimlichkeiten und Hilflosigkeit. Diese "Zauberer" hatten Julius tatsächlich Dinge beigebracht, die die von Richard Andrews als einzig gültigen Gesetze der Naturwissenschaft auf den Kopf stellten. Ja, diese Hexen und Hexenmeister hatten ihm, der in seiner Firma uneingeschränkte Autorität genoß, deutlich gezeigt, wie sehr er ihnen ausgeliefert war. Sicher, er hatte versucht, seinen Sohn von diesem "Gefährlichen Unsinn" fortzubekommen, der unter Anderem das Fliegen auf Besenstielen beinhaltete. Er hatte ihn zu Bekannten seiner Frau nach Frankreich geschickt, um ihn im Sommer gezielt von diesem Hogwarts und seinen abnormalen Lehrern auszuschließen. Doch Catherine Brickston war mit ihrer Tochter Babette zu Verwandten gereist und Joe mußte mit Julius bei einem Ausflug ans Meer einen Unfall bauen. Julius war danach aus dem Krankenhaus verschwunden, unter zurücklassung eines Briefes französischer Ableger dieser Zaubererwelt, in dem es hieß, man habe sich des Jungen angenommen, weil er, Richard Andrews, die Brickstons angewiesen habe, Julius bis nach dem Rückfahrttag für Hogwarts in Frankreich zu behalten. Mr. Andrews sollte für diesen "Gesetzesbruch" auch noch Strafe in einer ihm undurchschaubaren Währung bezahlen, was er ablehnte. So kam es, daß Julius nicht nur weiter in diesem Hogwarts unterrichtet wurde, sondern in den Osterferien von einer Hexe aus dem sogenannten Zaubereiministerium entführt wurde, gegen den verzweifelten Widerstand seines Vaters. Dann hatte er nur noch gehört, daß er bei einer Madame Dusoleil in Millemerveilles die Ostertage verbrachte, was er ziemlich harsch beantwortete.
Alles in allem hatte Richard Andrews beschlossen, sich nicht mehr für Julius' Ausbildung zu interessieren. Verwandten und Freunden hatten seine Frau und er immer aufgetischt, ihr Sohn ginge in die Theodor-C.-Beaufort-Schule für Kinder höherer Berufsgruppen. Er war froh, daß Julius nur zwei wirklich gute Freunde hatte, die ihn vermissen konnten. Doch diese hatten sich in ihrer Schule mit Rauschgifthändlern eingelassen und waren, so viel wußte er, im Jugendstrafvollzug, womöglich einer Erziehungsanstalt, gelandet. Moira Stuard, die Tochter eines Geschichtsprofessors und einzige bisherige Freundin von Julius, besuchte eine höhere Mädchenschule und schien sich ebenfalls nicht mehr mit ihrer Vergangenheit zu befassen.
Um fünf Uhr nachmittags traf Richard Andrews bei seinem Haus ein und parkte den großen Wagen in der Garage, deren Tore er per Fernbedienung auf- und zuschwingen lassen konnte. Er begrüßte seine Frau Martha, die ebenfalls gerade von der Arbeit heimgekehrt war.
"Hallo, Schatz! War dein Tag genauso anstrengend wie meiner?" Fragte er seine Frau. Martha Andrews erwiderte:
"Es ging so, Richard. Einige Kunden haben Systemfehler bemängelt, die ihre Abbuchungsprogramme gestört haben. Ich mußte lange suchen, bis ich den Fehler fand. Es handelte sich um eine falsch angemeldete Festplatte, die bei der technischen Aufrüstung nicht korrekt in das Netzwerk eingebunden wurde. Aber jetzt haben wir ja Urlaub."
Richard Andrews erinnerte sich. Am 25. Juni, also vor vier Tagen, hatte Martha einen Anruf von Catherine Brickston erhalten, in dem sie die Andrews einlud, für die nächsten vier Wochen bei ihr und Joe zu wohnen. Richard wunderte sich zwar, daß Catherine auf eine solche Idee kam, sagte jedoch seiner Frau, die Einladung anzunehmen, als er erfuhr, daß Catherine und Joe zum einen ihre Tochter bei einer von Babette sehr geliebten Großtante unterbringen und sich mit Martha und ihm über die Merkwürdigkeiten bei Julius' Verschwinden unterhalten wollten. Mr. Andrews glaubte nicht so recht, daß der Autounfall, den Joe mit Julius erlitten hatte, zufällig passiert war. Außerdem wollte er doch genau hören, was sich zugetragen hatte. Sicher, Catherine und Joe hatten ihm Briefe geschickt, in denen sie fragten, ob sie wieder was von Julius gehört hätten. Aber zu den Umständen, wie Julius aus der Obhut der Brickstons entführt wurde, ließen sie sich nicht ein. So hatten Mr. und Mrs. Andrews kurzfristig vier Wochen Urlaub genommen. Bei Martha war das noch am schwierigsten, da die Computerfirma, für die sie arbeitete, nur mit fünf hochqualifizierten Systemprogrammierern besetzt war. Doch irgendwie hatte sie es geschafft, dieses Problem zu lösen. Richard Andrews mußte nur die laufenden Projekte delegieren, Aufgaben verteilen, Verantwortungen zuordnen, ausstehende Abschlußberichte im Schnellverfahren erstellen und einreichen lassen. Bis zu diesem Tag hatte er es geschafft, alles so zu regeln, daß er frei über seine Zeit verfügen konnte. Als Begründung, warum er den Urlaub jetzt nahm und nicht zu einem anderen Zeitpunkt, hatte er seine "Krankheit" angeführt, von der er sich nicht ganz erholt habe. Denn irgendwas mußte er ja sagen, als eine rachsüchtige Kräuterhexe ihn in seinem eigenen Haus und Grundstück eingeschlossen hatte, abgeschirmt von meterhohem Zauberunkraut, das nicht zu beseitigen war und bis vor wenigen Tagen jeden Weg nach draußen versperrt hatte. Der Arzt, so Richard Andrews, habe ihm nahegelegt, möglichen Jahresurlaub sofort zu nehmen, um sich zur Gänze zu erholen.
"Wann fliegen wir los?" Fragte Martha Andrews.
"Morgen früh um acht, Martha", sagte Mr. Andrews.
"Ich bin schon gespannt, was Joe uns auftischen wird", sagte Mr. Andrews Frau. Dieser zuckte die Achseln und erwiderte:
"Wenn die den im Krankenhaus unter Druck gesetzt haben, uns nicht zu erzählen, was wirklich passiert ist, wird er wohl nichts sagen. Sicher glaubt Joe noch weniger an Zauberer und Hexen als wir. Da weder er noch Catherine die Polizei benachrichtigt haben, müssen die Entführer damals sehr viel Eindruck auf ihn gemacht haben. Vielleicht hat ihm auch jemand was vorgehext", meinte Richard Andrews.
"Wo war Catherine auch?" Fragte Martha Andrews noch. Ihr mann wußte es nicht genau. Er sagte nur, daß sie wohl mit der Kleinen bei Verwandten war, die sehr zurückgezogen lebten. Da Julius ja die Sprache nicht beherrscht habe, so Catherines Begründung, weshalb sie ihn nicht mitgenommen hatte, wäre ihm dort langweilig geworden.
"Morgen vielleicht werden wir's wissen", sagte Mrs. Andrews.
Nach dem Kofferpacken, das lange dauerte, weil Mrs. Andrews die guten Anzüge ihres Mannes sorgfältig zusammenlegen und knitterfrei verpacken mußte, sowie ihre Ausgehkleider und Festkleider aussuchen und sortieren wollte, sahen sich die beiden noch einen Spielfilm im Fernsehen an. Um zehn Uhr ihrer Zeit gingen sie ins Bett.
Der Flug von London nach Paris verlief reibungslos. Als die Räder des mittelgroßen Düsenflugzeugs den Beton der Landebahn berührten, löste sich die leichte Anspannung, die Richard Andrews immer überkam, wenn er Flugreisen machen mußte. Seine Frau, die wegen ihrer Arbeit öfter in die Staaten reiste, besaß da mehr Ruhe.
Catherine Brickston begrüßte die Gäste aus England im Ankunftsterminal des Flughafens Charles de Gaulle um neun Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit. Richard Andrews wunderte sich, wie gut Catherine Englisch sprach. Er hatte sie am Telefon zwar einige Male gehört, aber nie solange sprechend, wie nun.
"Joe fährt um den Flughafen herum. Die Parkgebühren sind hier höher als die Benzinpreise. Und das will was heißen", begründete Catherine, weshalb Joe Brickston nicht auch zum Flughafen gekommen war. Mr. Andrews sprach einige Sätze Französisch mit Catherine, um seiner Frau zu imponieren. Er fragte die Frau Joe Brickstons, ob das mit Babette geklappt habe und ob es wirklich keine Umstände mache, ihn und Martha zu beherbergen. Catherine erwiderte sehr schnell in ihrer Muttersprache:
"Babette ist bei Tante Madeleine gut angekommen. Die gute alte Dame hat sich sehr gefreut, wieder "junges Leben" ins Haus zu bekommen. Außerdem hat sie ihre drei Enkelkinder da. Babette langweilt sich also nicht."
"Was sagt sie, Richard?" Fragte Martha Andrews. Ihr Mann wiederholte es, soweit er es verstanden hatte. Er verwechselte nur "junges Leben" mit "jungen Wegen", was Catherine ein schwer beherrschbares amüsiertes Lächeln aufs Gesicht zauberte. Dann ging es hinaus auf die Straßen vor dem Flughafen. Joe kam mit dem Auto heran. Richard Andrews bemerkte mit Unbehagen die Dellen in Kotflügeln und Stoßstange. Catherine bemerkte das und sagte:
"Das ist hier üblich. In Paris parken die meisten nach Gehör und schubsen sich die Autos zurecht. Joe ist fast mal in Panik geraten, weil sein Wagen sechs Häuser weiter gestanden hat als dort, wo er es eine Stunde vorher geparkt hat."
"Deshalb wollte ich nicht mit unserem Wagen herkommen", wandte sich Richard Andrews an seine Frau. Diese nickte zustimmend.
Durch einen nur für die Einheimischen als ordentlich geltenden Straßenverkehr mit Hupen und Drängeln erkämpfte sich Joe seinen Weg zur Rue de Liberation, wo die Brickstons wohnten. Richard Andrews atmete auf. Dieses Haus war seinem guten Empfinden von statthaftem Wohnen genehm. Als der Wagen schließlich in der Einfahrt verschwand und das Chaos aus Blech und Benzin sich selbst überließ, das der gewöhnliche Alltagsverkehr der französischen Hauptstadt war, entspannte er sich sichtlich.
Als Mr. und Mrs. Andrews ihre Sachen ausgepackt und verstaut hatten, lud Catherine zu einem kleinen Frühstück, während dem sie sich darüber unterhielten, wie die letzten Wochen und Monate verlaufen waren. Die Andrews hatten sich darauf geeinigt, nicht von sich aus das Thema Julius zu erwähnen. Wenn Joe wirklich unter Druck gesetzt worden war, würde ihn eine direkte Anfrage nur mehr bedrängen als die Andrews haben wollten. Catherine kam jedoch schnell auf diesen heiklen Punkt zu sprechen.
"Was macht Julius gerade? Wenn ich das richtig mitbekommen habe, ist seit dem letzten Sommer einiges passiert."
"Nun", begann martha Andrews, "er kam wieder nach England. Die Leute, die ihn damals aus dem Krankenhaus - entführt haben, waren wohl von seiner Schule instruiert, ihn wieder zurückzubringen. Als Eltern von Schülern, die eine höhere Bildungsanstalt besuchen, ist man irgendwie entmündigt."
"Wie lief das genau ab, Joe?" Fragte Mr. Andrews nun, da das Eis gebrochen war.
"Hmm, ich darf nicht alles sagen, Richard. Die Leute, mit denen Ihr euch wohl eingelassen habt, haben mich dazu verdonnert, über gewisse Sachen zu schweigen", begann Joe, dem die Anspannung ins Gesicht gemeißelt schien. Richard nickte anerkennend und hakte dann nach:
"Ich kenne diese Leute, Joe. Was darfst du uns denn erzählen?"
"Es war so, daß Catherine mit Babette verreist ist. Julius blieb bei mir. Wir wollten die fünf Tage nutzen, die Catherine nicht im Haus sein würde. So fuhren wir nach dem Revolutionstag los, um an die Mittelmeerküste zu kommen. Irgendwo zwischen hier und Marseille platzte der rechte Vorderreifen, und wir krachten in Voller Fahrt gegen die Leitplanke. Ich wurde bewußtlos. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Krankenhaus. Eine Schwester kam zu mir und eröffnete mir, daß ich mir ein Bein und drei Rippen gebrochen hatte. Julius habe Prällungen und Schürfwunden abgekriegt. Als ich fragte, wo er sei, wollte sie zunächst nichts darüber erwidern. Aber als ich immer energischer fragte, sagte sie, daß eine gewisse Anzahl von Leuten ihn abgeholt habe, mit einem Dokument, daß eine Reiserücktransportversicherung im Krankheitsfall bescheinigte. Mir war klar, daß Julius entführt worden war. Du bist ja nicht ssolch ein armer Schlucker. Ich verlangte sofort nach einem Polizisten. Doch statt dem kam eine Viertelstunde später jemand, von dem ich dir nichts weiter sagen darf als daß diese Person mir gesagt hat, daß Julius nun in ihrer Obhut sei und man deinen Brief gefunden habe, Richard. Diese Person konnte mich sehr drastisch überzeugen, daß es mir nichts einbrächte, die Polizei zu bemühen, da Julius nicht gefunden würde. Mir und euch wurde lediglich versichert, daß ihr informiert würdet und nicht daran gedacht werde, dem Jungen was anzutun, ja ihm sogar die Rückkehr nach England zu sichern. Tut mir Leid, daß ich dir nicht mehr sagen kann, Richard. Aber wie gesagt, die hatten drastische Argumente parat, die mich nicht an der Glaubwürdigkeit zweifeln ließen."
"Hast du Catherine davon erzählt?" Fragte Richard Andrews. Joe und Catherine nickten gleichzeitig. Mr. Andrews dachte darüber nach, ob er den Brickstons reinen Wein einschenken sollte. Denn wenn die "Drastischen Argumente" nicht durch Zauberkraft vorgetragen wurden, würde er sich lächerlich machen. Falls doch, sollte Joe fragen, was sei.
"Wie ging es aus?" Fragte Martha Andrews weiter.
"Ich wurde einige Wochen später entlassen. Catherine glaubte mir meine Geschichte und stimmte zu, nichts weiter zu unternehmen, falls sich erwies, daß Julius wirklich wieder zurückkehrte. Da du, Martha, ja telefoniert hast, um uns zu sagen, daß Julius wieder in England und in Sicherheit sei, atmeten wir auf."
"Was man so Sicherheit nennen mag", warf Mr. Andrews ein. Dann sagte er:
"Um sowas zu verhindern, haben wir ihn in ein Sommerlager gehen lassen. Wer auch immer dich dabeigekriegt hat, Joe, wird sich sowas nicht noch mal einfallen lassen, wenn hunderte von anderen Halbwüchsigen dabeisind."
"Sommerlager kann man das nicht nennen", warf Martha Andrews ein. "Julius wohnt bei einer Gastfamilie im Rahmen eines Austauschprojektes. Die Leute, mit denen ihr zu tun hattet, haben das genehmigt, um weitere Schwierigkeiten zu vermeiden."
"Gegen meinen Einwand", mußte Richard Andrews klarstellen. "Aber ihr kennt das vielleicht, daß es in Italien Parkplätze gibt, wo die Autos garantiert nicht beschädigt werden, da die Pächter der Maffia Tribut zolllen müssen und die sogenannte ehrenwerte Gesellschaft sich die Einnahmequelle nicht von Kleinkriminellen verderben lassen will. Ähnlich läuft das nun mit Julius."
Catherine verzog das Gesicht etwas, aber nur etwas. Dann sagte sie:
"Wenn Julius bei Verbrechern ausgebildet wird, wie du es hier andeutest, hättest du doch die Polizei einschalten können, Richard. Das läuft doch bei euch nicht so, daß eine Sekte oder Verbrecherorganisation ungehindert tun kann, was sie will."
"Joe sagte was von gewichtigen Argumenten, die ihn zwingen, nicht zu verraten, von wem er im Krankenhaus besucht wurde. Ich persönlich kann auch nichts tun, da diese Leute sich gut abgesichert haben. Da kann die Polizei nicht so einfach durchgreifen, da alles legal läuft, aber mit dem Ziel, ihre Anschauungen durchzusetzen. Ich habe schon einen Anwalt gefragt, ob ich da nicht wieder rauskomme. Der sagte nur, daß ich sehr hohe Abfindungen hätte zahlen müssen, um den Aufwand zu begleichen, den Julius' Ausbildung schon mit sich gebracht hat. Außerdem sei am Schulvertrag nichts anrüchiges, und die Schule selbst sei auch häufig geprüft und für in Ordnung befunden worden."
"Die Leute vertreten die Auffassung, daß die ihnen anvertrauten Kinder eine bestimmte Geisteshaltung lernen sollen, allerdings keine religiöse oder auf bestimmte Personen ausgerichtete, weshalb da rechtlich nichts zu machen ist", ergänzte Martha Andrews die Lüge ihres Mannes. Denn er hatte natürlich keinen Rechtsanwalt aufgesucht. Was hätte der ihm auch raten können?
"Aber ihr bekommt regelmäßig was von ihm zu hören?" Fragte Joe.
"Natürlich", sagte Martha Andrews schnell und fügte hinzu, daß er über Ostern ja auch bei Ihnen gewesen wäre. Damit nahm sie Richard Andrews jede Möglichkeit, von der neuerlichen Entführung seines Sohnes an den Ostertagen zu berichten.
"Wissen die Gasteltern denn, wo Julius hingeht?" Fragte Joe etwas gepresst sprechend.
"Wie gesagt, die kennen das Umfeld, in dem Julius' Schule tätig ist", sagte Martha Andrews. Das reichte Joe. Er entspannte sich allmählich. Offenbar war er mit sehr großem Unbehagen in dieses klärende Gespräch gegangen. Martha Andrews, die ihren Studienkameraden doch einigermaßen kannte, malte sich aus, daß er mit Sachen konfrontiert worden war, die seinen Verstand überfordert hatten. Wenn jemand vom Schlag Professor McGonagalls bei ihm aufgetaucht war und irgendwas totes in ein Lebewesen verwandelt hatte, vielleicht auch umgekehrt, war die Einschüchterung perfekt, fand Mrs. Andrews. Da brauchte die Person dann nur noch ihre Forderungen und Anweisungen zu diktieren, um ihr Ziel zu erreichen.
So beließen es die Andrews' dabei, nur noch mal klarzustellen, daß sie nur das taten, was für Julius das beste sei, ohne ihn und sich in eine Atmosphäre der Bedrohung einzuhüllen.
Zwischen Frühstück und Mittagessen beratschlagten die Andrews' und Brickstons, was sie in den nächsten Wochen unternehmen würden. Klar war, daß die Andrews' nicht mit einem Auto durch Paris fahren würden. Allerdings war Mr. Andrews auch nicht davon begeistert, die Metro zu benutzen, da gerade zu den Stoßzeiten dort ein sehr großes Gedränge und damit eine Idealbedingung für Taschendiebe vorhanden war. So einigte man sich darauf, daß Joe oder Catherine die Andrews' bei Bedarf an einen bestimten Standort bringen oder von dort abholen würde.
Nach dem Mittagessen nahmen die Andrews' an einer großen Stadtrundfahrt teil, um sich die Sehenswürdigkeiten von außen anzuschauen, die sie in den nächsten Wochen besichtigen wollten. Mrs. Andrews wollte unbedingt den Louvre besuchen, das berühmte Museum, in dem unter anderem die Venus von Milo und die Mona Lisa von DaVinci ausgestellt wurden. Beide zusammen wollten am nächsten Morgen auf den Eiffelturm, bevor der Hauptandrang der Touristen diesen um die 300 Meter hohen Stahlkolloss erstürmte. Mr. Andrews gedachte auch, einige Fachkollegen zu besuchen, die hier lehrten oder forschten. Catherine, die sich in dieser großen Stadt sehr gut auskannte, zeigte ihren Gästen, wo sie preiswert zu Abend essen konnten, falls sie nicht mit den Brickstons zusammenessen wollten. Dann wollte sie noch wissen, ob Richard Andrews sich gut genug in der Landessprache ausdrücken konnte und hörte ihn spielerisch ab. Sie befand, daß er damit nicht verhungern würde und kehrte mit ihren Gästen in die Rue de Liberation zurück.
Nach einem siebengängigen Abendessen, das Catherine zu Ehren ihrer Gäste angerichtet hatte, gab sie sowohl Martha als auch Richard Andrews einen Stadtplan von Paris, auf dem auch die Metro-Bahnhöfe und -verbindungen eingezeichnet waren. Sie sagte:
"Paris ist groß, und ihr werdet vielleicht nicht überall zu zweit zusammensein. Paßt also gut auf die Pläne auf! Die helfen euch, wieder zu uns zzurückzukommen."
"Machen wir", sagte Richard Andrews.
Abends im Gästezimmer der Brickstons flüsterten Martha und Richard Andrews miteinander. Richard fragte seine Frau:
"Sag mal, mußtest du so tun, als sei nun alles eitel Sonnenschein? Was wäre gewesen, wenn Catherine oder Joe darauf bestanden hätten,zu erfahren, wo Julius genau ist?"
"Dann hätte ich den Namen des Dorfes erwähnt. Nur die Zauberer kennen es doch", erwiderte Martha Andrews. Dann fragte sie:
"Denkst du, Joe wurde mit Gewalt dazu gebracht, Julius auszuliefern?"
"Möglich ist es, nachdem mir diese Mrs. Priestley diesen Fesselzauber aufgehalst hat. Hoffentlich kommt hier keine von diesen Eulen aus Hogwarts angeflogen."
"Du hast doch gesagt, daß du nichts mehr von denen hören oder lesen willst", erinnerte Martha ihren Mann an dessen eigene Worte.
"Glaubst du, was ich will interessiert die? Ich wundere mich nur, daß die kein weiteres Geld für diesen Hexenclub Hogwarts haben wollen. Wahrscheinlich hat diese Priestley dran gedreht, daß Julius aus einem besonderen Topf für Muggelstämmige gesponsert wird." Das Wort "Muggelstämmige" kam ihm dabei mit großer Verachtung über die Lippen.
"Denkst du, Catherine und Joe hätten uns eingeladen, weil sie ein schlechtes Gewissen haben?" Fragte Martha Andrews.
"Hörte sich das so an, als habe Joe ein schlechtes Gewissen? Der hat doch Angst. Das hast du doch wohl auch gesehen."
"Sehr gut sogar. Und als du von Verbrechern gesprochen hast, hat Catherine das Gesicht verzogen. Sie denkt wohl, wir tischen ihr da irgendwas auf."
"Stimmt! Freie Bürger müssen sich doch nicht rumschubsen lassen. Wo Julius hingeht, ist noch unsere Sache, solange er nicht volljährig ist. Die müssen doch glauben, in England würden Eltern ihre Kinder verkaufen, wofür sie noch Geld bezahlen. Das war nicht so toll, wie wir uns präsentiert haben."
"Denkst du, Joe hat Catherine erzählt, was er uns nicht erzählen wollte?" Bohrte Martha Andrews nach.
"Das wird er uns nicht erzählen. Wenn sie sein Vertrauen genießt, wird sie es uns auch nicht sagen, allein schon, um ihn zu schützen."
"Zu schützen?"
"Wirklich, Martha, du stellst heute Fragen wie ein Quizsendungsmoderator. Wenn Joe in Gefahr ist, bei Verrat dessen, was ihm passiert ist verhext oder gar getötet zu werden, wird sie nicht wollen, daß rauskommt, daß er ihr was erzählt hat. Er braucht nur zu sagen, daß man ihn umbringt oder gar die Kleine, wenn die mitkriegen, daß er nicht geschwiegen hat. Gangster sind das, Martha. Die Priester haben recht, zumindest dabei. Magie, das heißt immer schwarze Magie, Teufelsverehrung. Ich glaube zwar noch nicht an einen Teufel, aber halte es für möglich, daß es unter diesen Hexenmeistern einen gibt, der ihn glänzend verkörpern kann."
"Richard, jetzt gehst du aber zu weit. Wenn jeder von denen mit unsereinem umspringen könnte, wie er oder sie will, hätte uns Professor McGonagall damals gleich erledigt und sich Julius unter den Arm geklemmt. Daß sie es nicht getan hat, beweist, daß die bestimmten Gesetzen unterliegen, wie wir auch. Außerdem hast du das mit dem Brief über die Sekte doch angezettelt. Du hast dich auch gegen Madame Dusoleil ausgelassen und sie undankbar angepöbelt. Ich habe dir immer gesagt, daß wir mitspielen müssen, um überhaupt noch etwas mitzubekommen. Aber nein, weil das eben unwissenschaftliches Zeug ist, hat der Herr beschlossen, das Schicksal unseres Sohnes fremden Leuten zu überlassen", zischte Martha Andrews, der die eingeschränkte Ansicht ihres Mannes mißfiel. "Jetzt nimmst du diese Leute auch noch in Schutz. Würde mich nicht wundern, wenn diese Hogwarts-Leute dir immer wieder Eulen schicken, weil du ja so brav mitspielst."
"Komisch, wegen deiner Beharrlichkeit habe ich dich damals geheiratet. Aber daß sie zur Sturheit ausufert, ist seltsam", äußerte sich Martha Andrews.
"So? Ich habe dich damals wegen deiner klaren Sicht der Dinge geheiratet, weil ich mir sicher war, daß du etwas erkennen wirst, was ich übersehe. Aber jetzt stelle ich fest, daß du dich einschüchtern, manipulieren und vor anderer Leute Karren spannen läßt, ohne deine Rechte einzufordern", revanchierte sich Mr. Andrews.
"Ach ja? Ich hätte also sagen sollen, daß ich mich nicht für unseren Sohn interessiere? Ich hätte weiterhin sagen sollen, daß unsere Welt die einzig echte ist und alles andere verboten gehört? Du glaubst doch wohl nicht, daß die sich davon hätten beeindrucken lassen. Weißt du, was dann passiert wäre? Die hätten wen geschickt, der oder die uns einen Wisch unter die Nase hält, wo draufsteht, daß wir Julius zur Adoption freigeben, da wir offenkundig in seiner Erziehung versagt haben. Irgendwie hätten wir unterschreiben müssen, und Julius wäre für alle Zeiten aus unserem Leben verschwunden. Du hast ihm nicht nur Geld, sondern auch Halt, Wissen und Aufmerksamkeit gegeben, Richard. Ich habe das meine dazugetan, um Julius zu dem zu machen, was er, wie ich hoffe, immer noch ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du sowas wirklich willst, nur weil er nicht nach Eton und dann nach Oxford geht, mit besten Empfehlungen an seine Professoren, mit denen du ja gute Kontakte pflegst. Du verhältst dich kindisch, Richard Andrews! Außerdem wäre keine Garantie gegeben, daß die uns in Ruhe gelassen hätten. Die haben uns doch geschrieben, daß Julius von uns beiden über mehrere Generationen zurück diese Eigenschaften vererbt bekam. Hättest du noch mal neu anfangen wollen? Hätten wir ein neues Kind haben und uns sicher sein können, daß es von diesen Leuten nicht behelligt wird? Und auch ohne Kind hätte man uns nie in Ruhe gelassen. Wir wissen zu viel. Sollten die meinen, uns den Jungen fortzunehmen, sind wir die nicht los, Richard. Deshalb spiele ich mit, weil ich logisch geschlossen habe, daß ich nur dann meine Rechte auf Julius geltend machen kann, wenn ich mich auch für sein Schicksal interessiere. Du hättest dich wirklich gütlich mit dieser Priestley oder mit Madame Dusoleil einigen müssen. Allein die Tatsache, daß Julius über Ostern zu ihr durfte, ohne daß wir noch gefragt wurden, zeigt, daß Desinteresse der falsche Weg ist. Vielleicht solltest du nach unserer Rückkehr diese fünfzig Galleonen bezahlen, die dieses Ministerium haben will. Ich habe es ja probiert. Die wollen von mir kein Geld."
"Bei denen ist eine Ehe wohl reine Gütertrennung ohne gemeinschaftlichen Zugewinn, wie?" Knurrte Mr. Andrews. "Was mein ist, ist doch auch deins."
"Das gilt wohl nur für Geld. Denn Unseren Sohn hast du durch deine Sturheit und Verbohrtheit verspielt, ohne mit mir darüber zu sprechen", schloß Martha Andrews ihren Tadel.
"Das ist doch genau das, was die wollen, Martha. Wir sollen gespalten werden. Wir sollen uns gegenseitig herunterputzen, damit wir nicht gegen sie ankommen. Ist doch wunderbar", entgegnete Richard Andrews gerade noch so leise, daß außerhalb des gemütlichen Zimmers niemand hören konnte, was vorging.
"Ach, dann meinst du, ich sollte mich schön brav hinter dich stellen und abnicken, was du da anrichtest, Richard? Ich denke mal, dafür hast du mich wirklich nicht geheiratet. Oder du hast dir die falsche Frau ausgesucht."
"Das kommt mir auch so vor", dachte Richard Andrews wortlos und spielte mit den Möglichkeiten, bei einer anderen Frau nicht diesen Schlamassel erlebt zu haben. Vielleicht war Intelligenz in beiden Ehepartnern doch nicht der Schlüssel zur erfolgreichen Zweisamkeit. Doch das sagte er nicht laut, weil er damit nicht nur Julius' sondern vor allem sein Leben für gescheitert erklärt hätte. Dazu war er jedoch nicht bereit. So sagte er im Flüsterton:
"Wir dürfen Catherine und Joe nicht anmerken lassen, daß wir uns nicht immer verstehen. Nachher stellen sie doch noch zusätzliche Fragen, und ich weiß nicht, ob ich die beantworten will." Seine Frau sah diese Einsicht als Erfolg ihrer Argumente, kostete diesen Erfolg jedoch nicht aus, sondern bejahte diese Bemerkung nur. In Gedanken jedoch war sie nun mehr denn je überzeugt, daß der Kontakt zu Hogwarts und Julius wichtiger war als daß sie immer nach einer Übereinkunft mit ihrem Mann suchte.
Weil die beiden sich nicht mehr zu sagen hatten, wünschte jeder dem anderen eine gute Nacht und drehte sich in die bequemste Schlafstellung.
Auch im Schlafzimmer der Brickstons wurde geflüstert. Joe sah seine Frau mit einer Mischung aus Unbehagen und Erwartung an und fragte:
"Meinst du, die lassen es darauf beruhen? Martha ist sehr scharfsinnig, was das hinterfragen von Sachen angeht. Glaubst du, du kommst da noch unerkannt weg?"
"Es geht mir nicht darum, unerkannt wegzukommen. Das dies unmöglich ist, ist mir klar, Joe. Irgendwann würde ein Vertreter des Zaubereiministeriums etwas äußern, das auf mich oder Maman rückschließen lässt. Aber ich werde den Zeitpunkt bestimmen, wann und wie die beiden es erfahren, daß sie mich dazu zwangen, Julius zu Maman zu schicken. Denkst du denn, wenn Babette und ich hiergeblieben wären, wäre das besser gelaufen? Ich hätte Julius persönlich nach England bringen müssen, um nicht gegen unsere Schulpflichtbestimmungen zu verstoßen, Joe. Sowohl Maman als auch ich haben einen Ruf, den wir nicht verlieren dürfen, allein um Babettes Willen. Wir müssen so korrekt sein, wie es geht, ohne uns selbst einzuschränken."
"Ach ja? Wie willst du denn den Andrews' beibringen, daß Julius deinetwegen bei deiner überdrehten Mutter in Klausur ging?"
"Joe, vorsichtig! Wir haben uns damals vor sechs Jahren darauf geeinigt, daß meine Abstammung kein Grund ist, uns gegenseitig Bosheiten an den Kopf zu werfen. Das gilt auch für meine Mutter. Denk daran, daß sie dir viel Arbeit abgenommen hat, als es darum ging, ein für Babette angenehmes Umfeld zu finden, wo sie aufwachsen kann. Du weißt doch noch, daß das Ministerium gemeint hat, du wärest als Vater ungeeignet. Wenn Maman nicht für dich gesprochen hätte, hättest du heute keine Tochter."
"Was nicht das schlechteste wäre", dachte Joe. Andererseits war sein Leben dadurch interessant, abwechslungsreich und vor allem einzigartig. Das einzige, was ihn störte, war die stets im Hintergrund lauernde Angst vor seiner Schwiegermutter. Sie gab viel, aber das ließ sie sich bezahlen, wußte Joe. Als er vor drei Jahren gegen die Übereinkunft verstoßen hatte und Catherine eine total unmögliche, weltfremde Person nannte, die ohne ihren Zauberkrempel und ihn doch vor die Hunde ginge, wie ein elternloser Säugling, hatte sie ihn nur böse angefunkelt. Er glaubte damals, daß Catherine mit Babette von ihm fortgehen würde. Doch als Catherine mit der Kleinen einen Ausflug machte, fauchte seine Schwiegermutter, Madame Faucon, aus dem Kamin im Partyraum und stellte ihn zur Rede. Als er in einem Anfall von Wut alles wortwörtlich wiederholt hatte, was er Catherine gesagt hatte, zog die Hexe ihren Zauberstab und sprach unheimliche Worte. Joe wollte fortspringen, als ein goldener Lichtstrahl auf ihn zuschoß. Doch irgendwie hatte er seinen Körper nicht mehr gefühlt. Dann knallte es, und er lag in seinem eigenen Pullover eingewickelt, als habe etwas diesen riesenhaft vergrößert. Doch dann hatte Madame Faucon den Pullover fortgenommen und ihn, der vor Kälte zitterte und sich unkontrolliert bewegte, fortgetragen. Er hatte nichts sehen können, außer grauem Nebel, der alles, was weiter als eine Hand breit von seinem Gesicht entfernt war, verschwimmen ließ. Er hatte gemerkt, daß ihm alle Zähne aus dem Mund verschwunden waren und konnte nicht sprechen, sondern nur laut schreien, mit der Stimme eines Säuglings. Madame Faucon hatte ihn im Badezimmer auf ein Bord gelegt und in Windeln gewickelt. Als er nicht zu schreien aufhörte, stopfte sie ihm einen Schnuller in den Mund und steckte ihn in einen Strampelanzug. Dann sagte sie:
"So also wäre Catherine ohne dich? Nun wirst du einen Tag erleben, wie es ist, hilflos zu sein, nur schreien zu können und zu hoffen, daß dich wer füttert und säubert. Morgen nehme ich diesen Fluch wieder von dir, wenn du weißt, daß wir uns nicht von euch Muggeln wie unmündige Kinder herumschubsen lassen."
Tatsächlich hatte es einen vollen Tag gedauert. Joe hatte versucht, dem Drang zu widerstehen, bei Hunger zu schreien, es aber nicht geschafft. Mit dem, was dann dabei herauskam, fühlte er sich auch sehr unangenehm hilflos. Doch schließlich hatte Madame Faucon mit einem merkwürdigen Elixier und einem Zauberspruch seine richtige Gestalt wieder zurückgebracht. Seit diesem Zeitpunkt hütete er sich vor jeder Äußerung, die Catherine gegenüber respektlos klang. So machte er nun, wo sie ihn wieder verärgert ansah, einen schnellen Rückzieher.
"Ist gut, Catherine. Daß der Junge bei deiner Mutter gut aufgehoben war, wissen wir ja nun. Es mag auch sein, daß sie ihm mehr bieten konnte als ich. Aber du mußt einsehen, daß ich das nicht glauben wollte, daß Julius zu euch gehört."
"Es ist erwiesen, Joe. Maman hat das mit eigenen Augen ergründet, und ich habe ihn auch als einen von uns erlebt. Es war also blühender Blödsinn, Maman mit einer Pistole zu bedrohen. Aber sie trägt dir das nicht mehr nach."
"Gut zu wissen, Catherine. Aber jetzt möchte ich wissen, was du vorhast. Wolltest du dich hinstellen, sagen, daß du Julius' Vater verraten hast und dann noch um Verständnis bitten? Es ist doch schon sehr arrogant, die beiden einzuladen und so zu tun, als wüßten wir von nichts."
"Du hast recht. Wenn es nur darum ginge, ihnen die Wahrheit zu erzählen, wäre es sehr überheblich, sie formvollendet einzuladen und dann so vor den Kopf zu stoßen. Das muß anders angestellt werden. Meine Gründe sind andere. Ich habe dir doch erzählt, daß unser schlimmster Feind wieder aufgetaucht ist, Joe."
"Dieser Lord Du-weißt-schon-wer", bestätigte Joe mit schwer zu verbergendem Spott.
"Genau, Joe. Nun ist es die wahnsinnige Überzeugung dieses bösen Zauberers, daß alle Kinder, die zaubern können, aber nicht über zehn oder zwanzig Generationen von anderen Zauberern abstammen, Dreck sind, den man nach Belieben wegfegen darf. Nun ist es auch so, daß Martha und Richard Andrews über mehrere Generationen von Nichtmagiern hinweg von Zauberern abstammen und diese Gabe in Julius zusammengeführt und verstärkt haben. Was bei Julius ging, geht in fünf von sechs Fällen auch bei jedem weiteren Kind. Der dunkle Lord könnte auf die Idee kommen, sie beide umzubringen. Aber auch, wenn er nur einen der beiden tötet, hätte er schon einen zu viel ermordet. Da ich nicht einfach hingehen oder wen schicken kann, um ihr Haus wie das unsere mit Sicherheitszaubern zu versehen, mußte ich sie davon überzeugen, herzukommen. Hier sind sie sicher genug, solange wir nicht wissen, was der dunkle Magier genau plant und tut. Hinzu kommt die Gelegenheit, das Haus der Andrews' in ihrer Abwesenheit gegen böse Magier zu schützen. Das ist jedoch eine langwierige Sache und daher nicht durchführbar, wenn Richard Andrews so vehement gegen uns eingestellt ist. Ich schlage also zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn ich die beiden hier bei uns habe. Um Julius' Willen ist es mir wichtig, daß er noch Eltern hat, wenn die Sommerferien enden und darüber hinaus. Denkst du denn, ich wollte ihn von seinen Eltern fortreißen? Langsam solltest du Maman und mich gut genug kennen, daß wir sowas nicht vorhaben."
"Gut! Wenn die beiden hier sind, sind sie vielleicht sicher. Aber du wirst ja wohl nicht hinter den beiden herlaufen können, wenn sie durch Paris und Umgebung reisen, vielleicht auch mal nach Bordeaux oder zu den Schlössern der Loire fahren möchten, solange sie in Frankreich sind. Wie soll das denn gehen?" Fragte Joe zurecht.
"Indem ich ihnen etwas mitgebe, das mich warnt, wenn etwas schlimmes bevorsteht und mir zeigt, wo sie gerade sind, um direkt eingreifen zu können, ohne daß sie mitbekommen, daß ich eingreife."
"Der Stadtplan", fiel es Joe schlagartig ein und trieb ihm die Farbe aus dem Gesicht. Catherine lächelte.
"Ich habe in jeden Stadtplan mit Zaubertinte mächtige Runen der Wacht und Behütung geschrieben und mit den dazu passenden Formeln das Papier verzaubert, sodaß jeder Stadtplan eine magische Aura erzeugt, in der die Taten böser Zauberer unverzüglich eine Reaktion auslösen, nämlich die, daß ich alarmiert werde. Das ist der Curattentius-Zauber, den jede gute Hexenmutter beherrschen sollte, wenn sie ein Kind nicht mit einem Verbindungsarmband versehen möchte. Außerdem schützt dieser Zauber auch vor schwachen Flüchen oder magischer Fernbeobachtung, wenn nicht derjenige, der den Zauber wirkte, dies will. Voldemort und seine Handlanger können die Andrews' nicht fernorten, und wenn einer von ihnen sich nähert, bekomme ich bescheid. So ist das, Joe. Was nützt es einem Kind, wenn es im Mutterschoß geborgen und geschützt ruht, wenn es doch einmal geboren werden muß."
"Du hast recht, Catherine. Aber was ist mit Babette? Tante Madeleine ist doch völlig anders als deine Mutter."
"Aber nicht verantwortungslos, Joe. Ihr Schloß hat genau denselben Zauber um und in sich, wie unser Haus und das Haus mamans in Millemerveilles. Außerdem bekommt Babette ein Verbindungsarmband um. Tante Madeleine hat das mit ihr doch vor der Abreise ohne Geschrei und strenges Wort geklärt."
"Du Hexe! Auch mit deiner Verwandtschaft muß ich immer wieder feststellen, daß ich dich genauso liebe, wie vor dem Tag, als du mit diesem Zauberstab frische Brötchen aus der Luft geholt und Kaffee ohne Herd und Kaffeemaschine gekocht hast", sagte Joe erleichtert, sich alles von der Seele geredet zu haben. Dafür bekam er von Catherine einen leidenschaftlichen Kuß.
"Auf jeden Fall hast du mir sehr viel neues eröffnet, Joe, was in unserer Schule nicht gelehrt wurde", hauchte sie ihrem Mann zu und drückte ihn noch einmal zärtlich an sich. Dann wünschten auch die Brickstons sich eine gute Nacht und drehten sich in ihre Lieblingsschlafstellung.
__________
Am nächsten Tag besuchten die Andrews die bekanntesten Sehenswürdigkeiten. Mr. Andrews gönnte sich und seiner Frau ein sündhaftteures Frühstück auf dem Eiffelturm, wo sie die von einer leichten gelblichen Dunstglocke eingetrübte Aussicht über Paris genossen. Danach ging es am Elysée-Palast vorbei, wo der französische Staatspräsident residierte, über die Boulevards und Plätze der Millionenstadt, die sich auf die Zielankunft der Fahrer der Tour de France vorbereitete. Zum Mittag aßen sie in einem der versteckten Restaurants, die Catherine ihnen am Vortag empfohlen hatte und bummelten weiter durch die Riesenstadt. Martha Andrews bewunderte es, wie seelenruhig die Einheimischen in ihren schicken Kleidern umhergingen und offenbar keinem Druck unterworfen waren. Sie dachte an Julius, wie dieser diese Megastadt wahrgenommen haben würde. Dann dachte sie daran, daß ihr Sohn wohl nun von Hogwarts aus direkt in dieses geheimnisvolle Millemerveilles reisen würde, ohne Zwischenhalt in London, nur weil ihr Mann durch seine Sturheit das eingebrockt hatte. Wie sah es dort aus, in Millemerveilles? Würde man ihr weiterhin schreiben, wie es Julius erginge? Sie hoffte es doch.
"Mist verdammt!" Fluchte Richard Andrews, als er wegen seiner Unachtsamkeit voll in einen frischen Hundehaufen trat. Martha Andrews rümpfte die Nase und förderte ein Paket Papiertaschentücher aus ihrer Sommerjacke. Dann grinste sie wie ein Schulmädchen und antwortete:
"Du hast recht, Richard. Das ist Mist." Sie gab Richard mehrere Papiertaschentücher und sah ausdrücklich woanders hin, während er sich den besudelten Schuh reinigte, soweit dies ging.
Eine Frau in einem silbergrauen Sommerkleid, mit dunkelblonder Dauerwelle und tiefgrünen Augen kreuzte den Weg der Andrews. Sie sah den breitgetretenen Hundehaufen und den mit Ekel und Wut im Gesicht dastehenden Richard Andrews. Sie rümpfte die Nase und schüttelte leicht den Kopf.
"C'est impossible!" Grummelte sie für Martha Andrews unverständlich. Mr. Andrews gab gereizt etwas zurück, was seine Frau nicht verstehen konnte. Die Fremde nickte und ging mit einem knappen Grußwort weiter.
"Was Hat sie gesagt, Richard?" Wollte Martha Andrews wissen. Ihr Mann pfefferte das beschmutzte Taschentuch weit über die Straße, wo es unvermittelt unter den nächsten Autoreifen kam und erwiderte:
"Die meinte, daß das eine Unmöglichkeit sei. Ich gab nur zurück, daß die hier nicht gründlich genug saubermachen könnten. Offenbar hat sie das nicht beleidigt, sondern ihrer Meinung entsprochen."
"Wahrscheinlich auch eine Touristin", meinte Mrs. Andrews. Mr. Andrews schüttelte den Kopf.
"Die sprach pariser Dialekt, wenn ich meinen Spracherfahrungen trauen darf. Immerhin war ich ja schon einige Male hier. Alain Lavoissier wohnt ja hier."
"Ach der Werkstoffexperte, der hier an der Universität lehrt?" Wollte Martha Andrews wissen. Ihr Mann nickte. Dann gingen die beiden weiter, diesmal auf die Wege achtend, um nicht in weitere stinkende Fußfallen zu tappen.
Abends besuchten die Andrews ein Konzert für Orchester und Klavier und gönnten sich einen Schlummertrunk in einem gediegenen Weinlokal in der Nähe der Rue de Liberation. Dann kehrten sie um elf Uhr in das Haus der Brickstons zurück, voller Erlebnisse, ermüdet und vom guten französischen Wein leicht berauscht.
Die nächsten Tage verstrichen wie es für Paris-Touristen zum Programm gehörte. Das Wetter klarte immer mehr auf, die Dunstglocke über der Stadt, eine Hinterlassenschaft der vielen Autos und Fabrikabgase, löste sich mehr auf und gewährte doch mehr frische Luft, die besonders in den Parks der alten Königsresidenzen so richtig zur Geltung kam. Mrs. Andrews besuchte das Museum im Louvre, während ihr Mann zu Alain Lavoissier fuhr und sich lange mit ihm unterhielt.
Am vierten Juli traf ein Brief ein, der in einem Umschlag aus hellrosa Seidenpapier steckte. Es handelte sich um ein Stück Pergament, auf das eine schön geschwungene Handschrift in smaragdgrüner Tinte geschrieben worden war. Der Umschlag trug die Anschrift:
Martha Andrews
Rue de Liberation
Paris
Julius' Mutter konnte die Sprache nicht lesen und überlegte sich, ob sie damit zu Catherine oder ihrem Mann gehen sollte. Richard würde diesen Brief umgehend zerreißen und fortwerfen, ohne ihr vorgelesen zu haben, was darin stand. Wenn jedoch Einzelheiten über Julius' Aufenthalt in der Zauberersiedlung Millemerveilles beschrieben wurden, war es nicht sonderlich klug, daß Catherine das las. Dennoch wollte und mußte sie wissen, ob es Madame Dusoleil war, die ihr diesen Brief geschickt hatte und was sie schrieb. So überwand sie ihre Bedenken und ging zu Catherine, als Richard sich mit Joe über ein Computersystem für noch bessere Produktionsautomaten unterhielt. Catherine nahm Brief und Umschlag, besah sich beides und fragte dann:
"Ist das von der Gastmutter von Julius, Martha?"
"Wird wohl sein", erwiderte Mrs. Andrews etwas beklommen. Catherine verscheuchte die Beklemmung ihrer Gästin mit einem Lächeln und las den Brief erst leise, dann ins Englische übersetzend:
"Sehr geehrte Madame Andrews, Ich möchte auf Ihre berechtigte Frage antworten und teile Ihnen mit, daß Ihr Sohn Julius wohlbehalten mit meinen schulpflichtigen Töchtern zusammen aus Beauxbatons eingetroffen ist. Jeanne und ihre Kameraden haben ihn bereits in ihre Mannschaften eingebunden, sodaß ihm gewiß nicht langweilig wird. Er fühlt sich hier sehr wohl, wenngleich er immer noch Probleme hat, sich ungezwungen zu benehmen.
Ich respektiere es sehr, daß Sie Ihn zur Höflichkeit und vornehmen Zurückhaltung erzogen haben und möchte zuversichtlich hinzufügen, daß diese erlernten Eigenschaften ihm hier wie anderswo viele Türen öffneten und öffnen werden. Doch als Mutter von drei Kindern vermisse ich doch eine gewisse Lebhaftigkeit, die nicht auf Anweisung, sondern von selbst geäußert wird. Ich gehe davon aus, daß Julius hier lernt, ohne Verletzung gesellschaftlicher Verhaltensregeln seine eigene Energie für sich zu entdecken und positiv auszuschöpfen.
Da ich, was nicht zu vermeiden war, von seinem Dilemma weiß, in dem er derzeitig steckt, seien Sie versichert, daß es weder meine Absicht noch die meiner respektablen Nachbarn und Freunde ist, Julius gegen Sie aufzuhetzen oder Ihnen völlig zu entfremden. Daher werde ich Ihnen jede Woche einen kurzen Brief mit Angaben über seinen Aufenthalt zukommen lassen.
Im Namen meiner Familie sowie von Julius selbst, möchte ich Ihnen meine besten Wünsche für Sie und Ihren Mann Richard aussprechen.
Camille Dusoleil"
"Was heißt das, sie vermißt eine gewisse Lebhaftigkeit? Julius hat gelernt, daß zuviel Unsinn ihm eher schadet als anderen", wunderte sich Martha Andrews.
"Ich habe das so übersetzt, wie es da steht, Martha. Offenbar meint Madame Dusoleil, daß Julius Angst davor hat, sich weiter vorzuwagen als von ihm verlangt wird", vermutete Catherine Brickston.
"Ich denke, sie wird froh sein, wenn Julius ihr keinen Ärger macht. Vielleicht hat er auch Angst vor einer Dame, die dort lebt. Als er letztes Jahr von Joe weggeholt wurde, hat eine andere Dame ihn betreut, eine Lehrerin. Wahrscheinlich hat die ihm eingeschärft, er möge sich ja benehmen. Die haben sehr eindrucksvolle Überredungsarten", erwiderte Martha Andrews. Catherine sah Mrs. Andrews kurz mit einer verstörten Miene an, zwang sich aber sichtlich zur Selbstbeherrschung. Martha Andrews deutete diesen Ausdruck so, daß Catherine nicht wußte, wie sie nun mit dieser Antwort umgehen solle.
"Das kommt vor, Martha. Manchmal haben wildfremde Leute sich mehr Respekt verschafft als die eigenen Eltern. Babette zum Beispiel kuscht, wenn Maman in der Nähe ist, während sie Joe fast wie einen nützlichen Idioten ansieht. Da habe ich schon manche Meinungsverschiedenheit mit Joe ausgefochten, weil er dachte, Maman wolle ihm Babette abspenstig machen."
"Du sagtest, daß deine Mutter in der Nähe von Marseille lebt, Catherine. Das ist doch ein weiter Weg von da nach hier, oder?"
"Ja, ist es. Wenn Maman herkommt, bleibt sie meistens für eine Nacht hier", gab Catherine Auskunft.
"Joe hat letztes Jahr den Eindruck auf mich gemacht, als habe er auch Angst vor deiner Maman, Catherine", wagte Martha Andrews es, eine direkte Bemerkung zu machen, von der sie dachte, sie würde die Brickstons verärgern. Doch Catherine nickte nur.
"Sie ist ihm willentlich überlegen. Er merkrte das und begehrte auf. Sie stauchte ihn zusammen. Nun ist er immer auf der Hut vor ihr."
"Soso, Catherine! Wann kommt sie denn üblicherweise zu Besuch? Ich meine, hast du ihr gesagt, daß wir eure Gäste sind?" Erkundigte sich Martha Andrews weiter.
"Natürlich! Ich habe ihr mitgeteilt, daß ihr bei uns die Ferien verbringt. Sie hätte kein Problem damit, weil ich ja zwei Gästezimmer habe, für den Fall, daß eine ganze Familie mit Kindern zu Besuch ist. Insofern kann Maman auch hier übernachten, falls sie dies wünscht."
Mrs. Andrews gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Sie wollte nicht zuviel fragen, weil Catherine auf die Idee kommen könnte, ihrerseits zu fragen, wer diese Madame Dusoleil war, wann und wo die Andrews' sie kennengelernt hatten und so weiter. Tatsächlich fragte Catherine:
"Möchtest du Madame Dusoleil eine Antwort schicken, Martha?"
"Natürlich möchte ich eine Antwort schicken, Catherine. Allerdings hat mein Mann, wie du wohl mitbekommen hast, nicht soviel Verständnis für das, was Julius in den Sommerferien macht. Er meinte, man solle ihn nicht damit behelligen, sofern nichts ernsthaftes passiere. Aber ich werde dir eine Antwort diktieren, wenn ich sie formuliert habe", antwortete Martha Andrews.
Catherine nickte einwilligend und versprach, sich bereitzuhalten.
Eine halbe Stunde später hatte die Mutter von Julius eine Antwort aufgeschrieben und legte sie Catherine mit der Frage hin, ob sie das so schreiben könne oder ob die Übersetzung zu Mißverständnissen führen könne. Catherine lächelte und erwiderte:
"Dafür helfe ich dir doch, damit keine Mißverständnisse aufkommen. Wenn ich was finde, was bei der Übersetzung falsch aufgefaßt werden kann, frage ich dich, wie du es gemeint hast. Dann schreibe ich lieber einen Satz mehr, als etwas fehldeutiges niederzuschreiben."
Martha Andrews beruhigte diese Antwort. Zur Sicherheit las Catherine den Text des Antwortbriefes noch mal halblaut vor:
"Sehr geehrte Madame Dusoleil, ich bedanke mich für Ihre schnelle und umfassende Mitteilung über das Befinden meines Sohnes Julius. Sie haben meine Einwilligung, daß er im Rahmen dessen, was Sie erwähnt haben, an weiteren Aktivitäten dieser Art teilnehmen darf, wenngleich Sie verstehen müssen, daß mir im Wissen um die Gefahr gerade der sportlichen Dinge nicht so wohl ist und nur die Versicherung, ihm könne nichts passieren, was nicht sofort vollständig behoben werden kann, die Entscheidung für seine weitere Betätigung am Sport Ihrer Gemeinde ermöglicht hat. Allerdings möchte ich Sie bitten, falls Sie dies noch nicht getan haben, auf die älteren Jugendlichen einzuwirken, Julius nicht über seine Leistungsgrenzen hinaus zu belasten.
Catherine übersetzte den Brief korrekt und warf ihn in einem Umschlag in den nächsten Briefkasten ein. Sie fragte Martha Andrews nur, ob sie wirklich keine Briefmarke aufkleben sollte. Martha Andrews gab darauf nur zur Antwort, daß die Empfängerin das Porto nachzahlen würde. So sei es vereinbart worden.
Wenige Tage später traf Julius' Brief aus Millemerveilles ein. Martha Andrews schaffte es noch, den Pergamentumschlag vor ihrem Mann zu verbergen, als dieser aus Joes Arbeitszimmer kam, nachdem er über Joes Computer elektronische Nachrichten an seine Firma geschickt hatte. Sie freute sich, daß es Julius gut ging. Sie wollte Richard Andrews den Brief zeigen, unterließ es jedoch, als sie auf ihre Frage, was er tun würde, wenn Julius an sie schreibe die Antwort bekam:
"Sollte eine dieser Hexenvögel hier durchs Fenster reinfliegen, würde ich das Vieh eigenhändig erwürgen. Ich will von Julius nur hören oder lesen, falls ihn diese Bande nicht mehr haben will. Aber ich fürchte, das ist nur ein Wunschtraum."
Martha Andrews war zwar etwas traurig über diese Verbohrtheit, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Richard Andrews wiederum dachte darüber nach, was diese Frage sollte. War es möglich, daß seine Frau mit diesen Hexen und Zauberern in Kontakt stand? Sollte er sie zur Rede stellen? Besser nicht! Wäre sie nicht mit denen in Kontakt, täte er ihr Unrecht. Wenn sie Kontakt zu denen hätte, gäbe es nur Streit zwischen ihr und ihm, was Catherine und Joe nicht verborgen bleiben konnte. Nein, er mußte etwas anders vorgehen.
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Das zweite Wochenende in Paris versprach sonnig und warm zu werden. Keine Wolke zog über den Morgenhimmel, als die Andrews' eine Bootspartie auf der Seine machten und die französische Hauptstadt aus der Flußfahrerperspektive besichtigten. Nach einem zweiten Frühstück in einem gemütlichen Straßencafé abseits der Champs-Elysées ging es noch zu einem Spaziergang in einen der großen Stadtparks, bevor die Sonne am höchsten stand. Am Nachmittag machten sie einen Ausflug nach Versaille, dem ehemaligen Hauptschloß der französischen Könige, wo auch der Friedensvertrag am Ende des ersten Weltkrieges unterschrieben worden war.
Als sie abends um acht Uhr von ihrem Ausflug zurückkehrten, wurden sie schon von Joe Brickston an der Haustür abgefangen. Der Bekannte Martha Andrews' machte einen angespannten, ziemlich nervösen Eindruck, als stehe er vor einer bedrohlichen Situation und müsse aufpassen, rechtzeitig loszurennen, um noch davonzukommen.
"Hallo, Joe", grüßte Richard Andrews den Computerspezialisten, der ohne es eigentlich geplant zu haben mit einer echten Hexe verheiratet war. Joe sagte leise:
"Catherines Mutter ist zu Besuch, Richard. Sie unterhält sich mit Catherine in der Küche."
"Na und?" Fragte Mr. Andrews. Seine Frau nickte nur. Sie kannte Madame Faucon ja von den Ostertagen von vor über einem Jahr noch.
"Sie wird heute und morgen hier übernachten. Manchmal tut sie das, wenn sie was wichtiges in Paris zu erledigen hat. Dann hat sie hier das Kommando", flüsterte Joe. Richard Andrews grinste nur breit. Dann verfiel er in Nachdenken. Er schwieg einige Sekunden. Dann fragte er:
"Gehört ihr das Haus oder dir?"
"Catherines Verwandte haben uns dabei geholfen, das Haus zu erwerben, Richard", antwortete Joe auf diese Frage. Richard schien dies die Bestätigung für etwas zu sein, was ihm in den Sinn gekommen war. Er nickte. Er dachte an Kredite, freundliche Worte gewissen Leuten gegenüber, all die Dinge, die es einem erleichterten, ein eigenes Haus günstig zu kaufen. Wahrscheinlich mußte Joe dafür gewisse Bedingungen hinnehmen, die er nur schluckte, weil seine Familie eine Menge davon hatte.
"Catherine hat erzählt, daß ihr ein zweites Gästezimmer habt, Joe. Ich denke nicht, daß wir deine Schwiegermutter stören, oder sie uns", sagte Martha Andrews ruhig.
"Sie kann nur kein Englisch", meinte Joe dazu nur. Richard bemerkte dazu, daß er die hiesige Landessprache ja einigermaßen beherrschte, um eine einfache Unterhaltung führen zu können, falls die Dame dies wolle.
Madame Faucons Stimme hallte durch das Haus. Sie klang erfreut, wenngleich energisch, als sie Mrs. Andrews von der Küche aus anrief. Richard Andrews blieb für einen Sekundenbruchteil starr stehen, als er die ungefähr 1,60 Meter große Frau im hellblauen Seidenkleid sah, die erhaben im Türrahmen stand und ihn mit ihren saphirblauen Augen musterte. Das schwarze Haar, mit dem strengen Knoten im Nacken rief in ihm unwillkürlich unerwünschte Erinnerungen an eine andere ältere Dame wach, die ihn vor zwei Jahren auf drastische Weise davon überzeugt hatte, daß es wider aller Beteuerungen seiner Eltern und Lehrer Magie und Hexerei gab. Die Besucherin schien sein kurzes Unbehagen zu bemerken und sah ihn aufmerksam an, als warte sie darauf, daß Richard Andrews entweder auf sie losstürzen oder vor ihr fortlaufen wolle. In ihrem Blick lag eine ungeahnte Energie. Offenbar, so erkannte Richard Andrews, hatte diese Frau noch keine Sehhilfen nötig. Er zwang sich dazu, die anerzogene und in den Jahren als Führungspersönlichkeit antrainierte Würde zurückzugewinnen und stand nun hoch und erhaben der Dame im blauen Kleid gegenüber. Vielleicht sollte er sich nicht zu sehr in Erinnerungen an unangenehme Dinge verlieren, da ihm sowas leicht als Schwäche ausgelegt werden könnte, dachte der Direktor einer Forschungsabteilung einer Großen chemischen Fabrik in England.
"Bonsoir, Monsieur Andrews", begrüßte die Dame im blauen Kleid Richard Andrews. Dieser erwiderte den Gruß. Dann wurde er etwas gefragt, was zu verstehen für seinen Sprachenverstand jedoch einige Zeit dauerte. Madame Faucon fragte ihn in ihrer offenbar natürlichen Sprechgeschwindigkeit, ob es ihm im Hause ihrer Tochter gut erginge. Er antwortete kurz und knapp, um seine nicht ganz so guten Sprachfähigkeiten nicht zu überfordern, daß Martha und er sich wohlfühlten. Dann übersetzte er es seiner Frau, die den Gruß erwiderte.
Madame Faucon fragte etwas, was Martha Andrews nicht verstehen konnte. Sie hörte nur den Namen ihres Sohnes heraus. Mr. Andrews schien über diese Frage etwas ungehalten zu sein, wenngleich er sofort wieder um Fassung rang und eine Antwort gab, die im Vergleich zum schnellen Wortfluß von Joes Schwiegermutter etwas holperig klang. Er wartete kurz, ob Madame Faucon etwas erwidern würde, bevor er seiner Frau übersetzte:
Madame Faucon fragte mich, ob wir schon etwas von Julius gehört hätten. Catherine muß ihr erzählt haben, daß er hier irgendwo in Frankreich sei. Ich sagte ihr, daß wir vereinbart hätten, nur jede Woche einmal miteinander zu telefonieren."
"Sie wird sich gewundert haben, daß du sie so verstört angesehen hast", flüsterte Mrs. Andrews ihrem Mann zu. Dann sagte sie noch laut: "Sage ihr bitte, daß wir vereinbart haben, daß wir jede Woche einmal von ihm oder seinen Gasteltern hören! Nachher fragt sie noch, wieso wir Julius nicht besuchen, wenn er schon im selben Land untergebracht ist."
Richard Andrews sprach zu Madame Faucon, die genau zuhörte. Sie fragte etwas zurück. Wieder geriet Mr. Andrews in eine leichte Unruhe. Offenbar wußte er nicht genau, was Madame Faucon fragte, oder ihm fiel so schnell keine Antwort ein. Als er schließlich irgendwas gesagt hatte, was von Catherines Mutter mit einem Kopfnicken bedacht wurde, atmete Richard Andrews erleichtert auf und wandte sich an seine Frau.
"Die hat mich doch tatsächlich gefragt, wo genau Julius nun sei, weil sie die Gegend in Südfrankreich gut kenne, und ob wir deshalb hier wären, um gegebenenfalls dorthin zu fahren. Ich antwortete darauf nur, daß wir nur zu Besuch bei Catherine und Joe seien und Julius nur zufällig im selben Land sei, da er letztes Jahr schon einmal dort war."
Beim Abendessen saß Madame Faucon rechts von Joe Brickston, während Richard Andrews rechts neben Catherine saß. Martha Andrews saß ihrem Mann gegenüber und hörte zu, wie er sich mit Madame Faucon unterhielt. Sie gewann dabei den Eindruck, als müsse Richard sich sehr anstrengen, als stehe er unter ständigem Leistungsdruck. Sie vermutete, daß es die Fremdsprache war, die ihn so forderte. Zwischendurch übersetzte er oder Catherine, was gesagt wurde. So bekam Martha Andrews mit, daß es um Paris und London ging, welche Unterschiede es in den beiden Städten gäbe und welche Gemeinsamkeiten. Außerdem unterhielt man sich über Musik, Politik und sonstige allgemeine Dinge, die zu einer einfachen Unterhaltung paßten. Als jedoch Mr. Andrews gefragt wurde, wie sich Julius im Internat fühle und betrage, da sich Madame Faucon für Babette eine ähnliche Schulbildung vorstellen könne, wurde er sehr ausweichend. Martha Andrews bekam trotz der Unkenntnis des Französischen mit, wie ihr Mann förmlich darum kämpfte, nicht mehr sagen zu müssen als unbedingt nötig war. Er verzichtete darauf, alles zu übersetzen. Irgendwann fragte Catherine Martha:
"Du spielst doch Schach, wie Joe, hast du irgendwann mal gesagt, ist das richtig?"
"Ja, das stimmt", erwiderte Mrs. Andrews. Mr. Andrews übersetzte diesen kurzen Wortwechsel, wohl erleichtert, von der unangenehmen Unterhaltung über seinen Sohn abzulenken. Madame Faucon sagte etwas, wobei sie sehr erfreut klang und sah Mrs. Andrews dabei genau an.
"Madame Faucon sagt, sie spiele auch sehr gerne Schach, Martha. Sie fragt, warum du ihr das nicht schon vor zwei Jahren erzählt hättest. Sie fragt, ob du Zeit und Lust hättest, mit ihr noch eine Partie zu spielen, bevor wir zu Bett gehen."
"Hmm, interessieren tut es mich allemal, Richard. Joe spielt ja nicht mehr so regelmäßig, und seit Julius im Internat ist, habe ich ja nur noch Fernschachpraxis. Für ein Spiel brauche ich ja noch nicht einmal Französischkenntnisse."
"Très bien, Madame", sagte Madame Faucon, nachdem Catherine ihr übersetzt hatte, was Martha Andrews gesagt hatte. Joe meinte nur:
"Martha, wenn du der den kleinen Finger reichst, nimmt sie die ganze Hand, wenn's um Schach geht. Catherine bitte nicht übersetzen!"
"Quesque tu as dit, Joe?" Fragte Madame Faucon. Dieser sagte irgendwas auf französisch, doch offenbar war es nicht das, was seine Schwiegermutter gnädig stimmte. Denn sein Gesichtsausdruck war der eines ertappten Lügners, der um eine brauchbare Rechtfertigung rang. Madame Faucon ließ über Catherine mitteilen, daß sie nach dem Abendessen gerne eine Partie mit Mrs. Andrews spielen würde.
Worauf sich Martha Andrews eingelassen hatte, erfuhr sie erst, als sie um kurz vor elf Uhr abends nach einer mehrstündigen Schachpartie den letzten möglichen Zug ausführte, um nicht doch noch zu verlieren. Doch Madame Faucon führte ihre Schachfiguren so geschickt, daß die Partie in einem Remis endete. Als sich Madame Faucon für diese Partie bedankte, was Catherine übersetzte, die dabeisaß, erwiderte Martha Andrews nur:
"Ich habe es bis jetzt nicht erlebt, daß ich eine so ausgezeichnete Gegnerin hatte, die sich so schnell auf mein Spiel eingestellt hat, daß ich tatsächlich in einem Remis endete. Das war eine lehrreiche Erfahrung für mich."
"Für Maman war es auch sehr faszinierend", gab Catherine wider, was Madame Faucon wohl gesagt hatte. Dann verabschiedeten sich die Hausbewohner und Gäste zur Nacht.
Im Flüsterton sprachen die Andrews' über den Tag und über Madame Faucon. Martha Andrews wollte nun wissen, was ihren Mann so derartig angestrengt hatte. Dieser erwiderte:
"Die Alte wollte wissen, ob es sehr teuer sei, Julius auf eine Internatsschule zu schicken, wie wir uns mit den Lehrern verständigten und ob er Schulfreunde hätte, die schon einmal zu Besuch gekommen seien. Ich mußte im Eiltempo Geschichten zusammenbrauen, die einigermaßen glaubwürdig rüberkamen. Ich konnte ja nicht einfach sagen, daß sie das nichts anginge. Die sieht mir nämlich nicht so dumm aus. Weißt du, was mir zuerst durch den Kopf ging, als ich die sah?"
"Nein, Richard", flüsterte Mrs. Andrews.
"Ich dachte erst, diese McGonagall zu sehen. Doch die beiden haben doch unterschiedliche Gesichter."
"Ach wegen des Haarknotens, Richard? Das mag für diese Generation die klassische Haartracht gewesen sein, ob die nun zu uns oder zu den Magiern gehörten."
"Bist du verrückt das zu sagen?" Fauchte Mr. Andrews.
"Entschuldigung, daß ich mal wieder etwas gesagt habe, was dich ärgert! Wieso wollte sie eigentlich von uns wissen, wie Julius untergebracht ist?" Hakte Martha Andrews nach.
"Angeblich haben sie und Catherine für Babette schon einen Platz in einer Oberschule sicher, die jedoch so exklusiv sei, daß Babette dort wohl intern untergebracht würde. Da wir ja Erfahrung damit hätten, hielt sie es für legitim, uns zu fragen. Ich hätte fast gesagt, daß das sowieso völlig blödsinnig sei, uns zu fragen, weil Julius zum einen ein Junge sei und zum anderen in England in die Schule geht. Nachher soll Babette in eine reine Mädchenschule, vielleicht der, wo Catherine war."
"Catherine war in keiner reinen Mädchenschule, Richard. Sie hat mir erzählt, daß in ihrer Oberschule auch Jungen waren."
"Wie dem auch sei, ich mußte viel aus dem Stehgreif erzählen. Ich habe nicht mit der spanischen Inquisition gerechnet, als ich herkam."
"Wieso spanische Inquisition?" Fragte Mrs. Andrews. Ihr Mann erwiderte sofort:
"Die wollte alles von uns wissen. Wessen Idee das war, Julius in ein Internat zu schicken, was wir uns davon versprechen und wie Julius das aufgenommen habe. Sie meinte, daß Kinder mit elf oder zwölf ja unterschiedlich entwickelt seien. Die einen müßten noch an der Hand geführt werden, während die anderen schon erwachsen täten und möglichst gar nichts mehr von ihren Eltern hinterhergetragen bekommen wollen. Ich fragte sie, woher sie diese Meinung habe. Sie meinte dazu nur, daß sie das in ihrem langen Leben so mitbekommen habe, auch und gerade durch Catherine. Aber weißt du was Joe ihr aufgebunden hat, als er nicht haben wollte, daß sie erfährt, was er dir über ihre Schachleidenschaft gesagt hat? Er hat ihr gesagt, daß er dir lediglich gesagt hätte, daß er ja nicht so gut spielen könne, wie du. Das hat sie ihm aber nicht abgekauft. Sie meinte dazu nur, daß er nicht so dreingeschaut habe, als wenn er eine Schwäche einräume, sondern so, als wolle er sich unfein über jemanden auslassen, und sie sei es schließlich von ihm gewöhnt, daß er nicht immer höflich zu ihr sei."
"Leicht paranoid, wie?" Wunderte sich Mrs. Andrews.
"Ich fürchte, die hat recht. Joe mag sie nicht. Ich bin zwar kein Experte für Körpersprache, aber wie er sie ansieht und auf der Hut ist, wenn sie den Mund auftut, hat er entweder eine Stinkwut auf sie, ekelt sich vor ihr oder hat einen höllischen Horror vor ihr, will aber nicht als Angsthase vor ihr in Deckung springen. Sie hat das Kommando, hat er uns gegenüber behauptet. Wer weiß, was die ihm angedroht hat, wenn er ihr dumm kommt."
"Das geht uns nichts an", stellte Martha Andrews fest, der der Gedanke Unbehagen bereitete und sie das auf jeden Fall vor ihrem Mann verbergen mußte.
"So könnte ich auch ihr gegenüber argumentieren, wenn sie wieder was über Julius wissen will."
"Wundere mich, daß du das nicht gemacht hast, Richard. Du hättest doch sagen können, daß wir darüber nicht einfach sprechen, weil wir nicht wollen, daß unsere Familie zum Gesprächsthema für wildfremde Leute wird. Das kommt für einen fremden Gesprächsteilnehmer zwar wie eine Unverschämtheit rüber, aber muß akzeptiert werden."
"Dafür reicht mein Französisch nicht aus. Ich bin ja schon froh, wenn ich einfache Antworten geben konnte. Ich stelle fest, daß ich vielleicht noch mal einen Auffrischungskurs besuchen sollte. Vielleicht mache ich das sogar hier in Paris, oder da, wo es nicht so teuer ist."
"Auf jeden Fall kann die Schach spielen", gab Martha mit ehrlicher Bewunderung zu. "Ich habe es selten erlebt, daß jemand so schnell auf meine vorgeplanten Züge kommt und im Vorfeld Gegenmaßnahmen ergreift. Ich dachte eigentlich, alle möglichen Züge präzise vorherberechnen zu können. Aber die kann das auch."
"Wenn du das sagst, Frau Turniersiegerin", erwiderte Mr. Andrews leicht genervt. Ihn hatte Schach nie so richtig begeistert. Er konnte die Figurenbewegungen und kannte einige brauchbare Kombinationen von Zügen. Aber sonst war Schach für ihn nur dann ein gutes Mittel, die Zeit zu verbringen, wenn es nichts interessantes zu besprechen, zu sehen oder zu lesen gab.
"Am besten, wir schlafen jetzt. Du wolltest doch morgen mit mir ins Ballett. Da kommen wir bestimmt spät heim", meinte Martha Andrews. Ihr Mann nickte und schaltete seine Nachttischlampe aus. Er drehte sich in seine bequemste Schlafstellung und versank sofort in tiefen Schlaf. Martha Andrews indes überschlug die Ereignisse des Abends, was ihr Mann ihr erzählt und was sie selbst beobachtet hatte. Sie blieb bei zwei Dingen hängen: Der Anspannung von Richard, als er mit ihr gesprochen hatte und dem Schachspiel. Sie mußte ihrem Mann rechtgeben, daß Madame Faucon bestimmt nicht einfältig war. Sie hielt Madame Faucon vielmehr für eine sehr gründliche Menschenbeobachterin, die einschätzen konnte, mit wem sie wie umgehen mußte, um ihre Ziele zu erreichen. Diese art von Einfühlung war das Erfolgsrezept mächtiger Leute, wußte die Computerprogrammiererin. Sowas lernte keine einfache Hausfrau. Dazu mußte sie mit vielen Menschen Kontakt halten, und dies dann, wenn es um wichtige Sachen ginge. Irgendwie hatte Madame Faucon erkannt, daß Richard und Martha Andrews nicht gerne über Julius' Schule sprachen. Offenbar interessierte sie es, wieso die Andrews' dieses Thema vermieden, wenn sie es doch so gewollt hatten, daß Julius eine Internatsschule besuchte. Wenn Madame Faucon nun den Eindruck bekommen haben sollte, daß man Martha und Richard Andrews gezwungen habe, Julius dorthin zu schicken, wo er nun war? Hatte Catherine vielleicht was erwähnt, was Joe passiert war?
Das Schachspiel war ihr unheimlich gewesen, so faszinierend es auch für sie war. Madame Faucon hatte so gründlich alle Anstrengungen vereitelt, die Martha Andrews unternommen hatte, um das Spiel zu gewinnen, daß die Computerprogrammiererin und leidenschaftliche Schachspielerin den Eindruck bekommen hatte, Madame Faucon habe ihre Gedanken gelesen und somit alle Züge mitgedacht, die Martha Andrews vorhergeplant hatte. Es erschien ihr sogar so, als habe Madame Faucon schon gegen sie Schach gespielt, so wie es üblicherweise ist, wenn langjährige Gegner wieder und wieder an Wettkämpfen teilnahmen. Irgendwann war der Punkt erreicht, wo sich beide zu gut kannten, um sich noch Vorteile zu verschaffen oder in Fallen des Anderen zu tappen. Doch Mrs. Andrews wußte genau, daß sie gegen Madame Faucon nie gespielt hatte. Also blieb ja nur die gute Intuition. Wirklich nur das?
Dann kam noch dieser "höllische Horror", den Richard gemeint hatte. Sie hatte auch den Eindruck, daß es mehr war als Respekt und bedachte Zurückhaltung, was Joe seiner Schwiegermutter gegenüber empfand. Hatte sie ihm tatsächlich etwas angedroht, oder gar angetan? Wenn das zweite der Fall war, was konnte es gewesen sein, daß er es sich hatte gefallen lassen und nichts dagegen unternehmen wollte? Lag es an der Familie, daß er nicht riskieren wollte, Catherine und Babette zu verlieren? Sicher, wenn seine Frau ihn aus einem Grund verlassen würde, der mit seinem Verhalten ihrer Mutter gegenüber zu tun hatte, wären sieben Jahre seines Lebens eine verschwendete Zeit geworden, die Anstrengungen, das Fremdsein und die damit verbundenen Nachstellungen, die schönen und die traurigen Tage mit der Familie, alles wäre für nichts und wieder nichts gewesen. Das war es ja auch, was Martha Andrews bei ihrem Mann nicht verstand. Er gab ohne große Überlegungen seine Familie auf, weil er sich nicht mehr für Julius interessierte und damit auch sie, Martha, aus seinem Leben zu drängen drohte, weil mit Julius ja auch sie zu seinem Leben gehörte und nicht so ohne weiteres auf ihren Sohn verzichten würde, wenngleich sie keine Gewalt oder Zwangsmaßnahmen ausüben würde. Joe mußte da offenbar mehr Interesse an seiner Familie haben, wenn er sich was auch immer von den Verwandten seiner Frau gefallen ließ.
Konnte es vielleicht sein, daß Madame Faucon auch eine echte Hexe war? - Nein, das erschien Martha Andrews doch zu paranoid, sowas zu denken. Sie wußte, daß die Zaubererwelt sich weitgehend im Verborgenen abspielte. Sogenannte Muggel, Leute ohne magische Talente, bekamen von dieser Welt erst was mit, wenn Kinder von ihnen übernatürliche Anlagen aufwiesen. Das wußte sie. Sonst blieben diese Leute unter sich. Eine Hexe würde sich also nicht mit einem Nichtzauberer einlassen, wenn nicht jemand aus der Familie bereits entsprechende Fähigkeiten gezeigt hatte. Außerdem, und deshalb hielt Martha Andrews einen solchen Gedanken für einen Anflug von Verfolgungswahn, müßte dann ja auch Catherine eine Hexe sein. Doch dafür benahm sie sich zu normal, also so, wie jede Frau aus der Welt der technisch-wissenschaftlichen Welt.
"Bevor ich mich wie Richard in Verschwörungsphantasien verliere, schlafe ich besser erst einmal", dachte Mrs. Andrews und drehte sich in ihre bevorzugte Schlafstellung.
Am nächsten Tag trafen sich Madame Faucon und die Andrews vor dem Gästebadezimmer der Brickstons. Die ältere Dame kam gerade aus dem Bad, umwölkt von duftenden Dampfschwaden. Die Badewanne glänzte noch leicht feucht, als Mr. Andrews das Badezimmer betrat. Er wusch, rasierte und kämmte sich, zog Hemd und Hose an und verließ das gemütliche Bad, um zum Frühstück hinunterzugehen.
"Guten Morgen, Monsieur Andrews! Es wird wohl ein schöner Tag werden", begrüßte ihn Madame Faucon sehr flott sprechend. Er überlegte, was er sagen wollte und wie er es auf Französisch aussprechen mußte.
"Ich denke schon, daß heute wieder viel Sonne scheint, Madame."
"Das richtige Wetter für eine Landpartie, nicht wahr?" Setzte Madame Faucon die allgemeine Unterhaltung fort. Mr. Andrews nickte. Dann sagte er auf Französisch:
"Meine Dame und ich wollen heute ins Nationalballettt gehen. Es gibt den Schwanensee."
"Ach, dieses Stück! Marie Reinier tanzt die Hauptrolle, wenn ich das richtig gelesen habe. Waren die Karten schwer zu bekommen?"
"Sagen wir's so, Martha ist es mir wert", gab Mr. Andrews ausweichend zurück.
Madame Faucon beließ es bei dieser Antwort. Dann fragte sie, ob es für Richard genauso anstrengend sei, seiner Arbeit nachzugehen, wie es für Joe war. Er bejahte dies unverzüglich. Dann fügte er hinzu:
"Ich will ja was vom Leben haben."
"Hinzu kommen ja noch die Verpflichtungen für die Familie, nicht wahr?" Fragte Madame Faucon.
"Martha verdient Geld selbst. Der Junge kriegt für seine Schule genug Geld, wenn das auch ziemlich heftig teuer ist, Madame."
"Aber bis jetzt funktioniert es doch offenbar", wandte die Mutter Catherines ein. Mr. Andrews fühlte sich wieder in die Enge getrieben. Er wollte ja nicht ausplaudern, daß er Julius zum einen lieber gestern als morgen aus Hogwarts holen würde und zweitens jeden Kontakt mit dieser Schule verweigerte. So sagte er:
"Solange man uns julius nicht nach Hause schickt, muß es wohl gehen."
"Blanche, das haben wir gestern doch schon diskutiert", mischte sich Joe mit starkem englischen Akzent ein. Die Angesprochene nickte zwar zustimmend, sah ihren Schwiegersohn dabei jedoch vorwurfsvoll an. Joe hielt es offenbar für geboten, kein weiteres Wort zu sagen. Dafür sagte Mr. Andrews:
"Wir hatten und haben genug um die Ohren mit Julius' Schule. Die Lehrer vertreten Auffassungen, die nicht voll mit dem zusammenpassen, was Martha und ich für richtig halten. Wir lassen sie aber machen, weil Julius dadurch besser lernt. Kein Elternpaar gibt ein Kind freiwillig weg, wenn es an ihm hängt, Madame."
"Hmm, das stimmt wohl", erwiderte Madame Faucon. "Allerdings ist einem Kind ja nicht immer damit geholfen, daß es von den Eltern an der Ausbildung seiner Fähigkeiten gehindert wird, nur weil die Eltern denken, es besser zu können."
Diese Worte, die eine Sekunde brauchten, um bei Mr. Andrews anzukommen, trafen ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube. Was wußte dieses Weib davon, mit welchen Problemen Martha und er zu kämpfen hatten?
"Was meinen Sie damit, an der Ausbildung hindern, Madame?" Forschte Mr. Andrews nach. Madame Faucon war auf diese Frage vorbereitet und antwortete sogleich:
"Daß auch meine Tochter im Internat war, wie ich Ihnen bereits sagte. Sie hätte nie das lernen können, was sie heute kann und was ihr Leben bereichert, wenn mein Mann und ich sie damals nicht dorthin geschickt hätten. Das meine ich damit, Monsieur Andrews."
"Ja, und Babette soll in dieselbe Schule", sagte Joe auf Englisch. Madame Faucon räusperte sich und wies in an, doch weiter Französisch zu sprechen, solange Mrs. Andrews nicht im Raum sei, die ihre geehrte Muttersprache nicht beherrsche. Doch Joe zog es vor, den Raum zu verlassen. Catherine trat ein. Mr. Andrews kam sich vor, wie vor einem Wetterhäuschen, wo eine Frau im Regenmantel herauskam, wenn der Mann in der Sommerkleidung sich durch seine Tür zurückzog.
"Tante Madeleine hat uns informiert, daß sie mit der Kleinen einen Ausflug durch die Bretagne macht, Maman. Sie hat gesagt, daß Babette sehr quirlig ist."
"Madeleine läßt sie ja auch gewähren", wandte Madame Faucon etwas vorwurfsvoll ein.
Mr. Andrews dachte sich nichts dabei. Offenbar waren sich Madame Faucon und diese Tante Madeleine in vielen Punkten uneinig, wie Babette zu erziehen sei. Das ging ihn nichts an. Er war jedoch froh, daß die Kleine ihm nicht dauernd vor den Füßen herumlief.
Als Mrs. Andrews ins Esszimmer kam, wurde gefrühstückt, und Catherine sprach wieder Englisch, wobei sie übersetzte, was ihre Mutter an Zwischenbemerkungen einstreute. Mr. Andrews wurde einmal von Madame Faucon gefragt, ob Julius schon irgendwelche Berufswünsche geäußert habe. Richard Andrews mußte sich sehr beherrschen, nicht "Zauberer" oder "Hexenmeister" zu sagen. Das hätte er zwar mit einer unverkennbaren Ironie gesagt, aber dann wären die Fragen fällig gewesen, wieso er das wolle. Außerdem kannte Mr. Andrews nur das Wort für "Hexe" im Französischen, da er für seine Sprachstudien keine Begriffe aus der Märchen- oder Fabelwelt gebraucht hatte. Seltsamerweise zauberte der Gedanke ein leichtes Grinsen auf das Gesicht des Chemikers, wenn er sich vorstellte, daß Julius wohl auch nicht alle Wörter kennen konnte. Ihm war zwar mitgeteilt worden, daß Julius wohl in diesem Millemerveilles, von dem der Teufel wissen mochte, wo es lag, einen Schnellsprachkurs verpaßt bekommen hatte. Wie genau der abgelaufen war, wußte er jedoch nicht.
"Früher wollte Julius Astronaut werden, weil ihn der Weltraum interessiert. Mag sein, daß er das irgendwann wirklich wird. Im Moment interessiert ihn wohl außer der Raumfahrt auch die Botanik, also die Pflanzenkunde. Das letzte Mal, als ich mich mit ihm darüber unterhalten habe, meinte er auch, sich für Heilkunde zu interessieren. Die bieten ihm ja auch alle möglichen Auswahlmöglichkeiten, wo er lernt", sagte Mr. Andrews, nach einer kurzen Bedenkzeit. Madame Faucon meinte dazu nur:
"Na dann ist er ja ganz der Sohn seiner Eltern, nicht wahr?"
"Wir werden sehen", wandte Mr. Andrews ein, bevor er seiner Frau übersetzte, was Madame Faucon und er sich gerade gesagt hatten. Mrs. Andrews nickte zustimmend. Dann bat sie:
"Catherine oder Richard, sag bitte Madame Faucon, daß ich sehr zuversichtlich bin, daß Julius genau ergründet, worin er am besten ist und genug Hilfe hat, das auch anzugehen."
Catherine übersetzte es schnell, und ihre Mutter nickte zustimmend. Richard Andrews warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, vermied es jedoch, zuviel Ausdruck in seinen Blick zu legen, um nicht peinliche Fragen ausgeliefert zu sein.
Nach dem Frühstück verabschiedeten sich die Andrews' von Madame Faucon und verließen das Haus in der Rue de Liberation.
Als sie zum Mittagessen in einem kleinen Lokal saßen flüsterte Mr. Andrews nur:
"Mußte das sein, diese Bemerkung, daß Julius schon rausbekomme, was er am besten könne? Ich hätte fast geflucht, daß gerade das was er angeblich so gut kann nicht das ist, was ich von ihm erwartet habe."
"Ach, dann hätte ich vielleicht brav den Mund halten sollen? Mir war danach, es so hinzustellen, als seien wir mit ganzer Überzeugung dafür, was Julius lernt. Ich weiß nicht, was die Brickstons Madame Faucon erzählt haben. Aber Wenn sie nichts von Julius erzählt haben, müssen wir auch nicht den Anschein erwecken, als wäre da was im Unklaren."
"Wie dem auch sei, Martha. Ich werde das Gefühl nicht los, als interessiere sich diese alte He..., ähm, Person zu sehr für unsere Familie", sagte Mr. Andrews leise.
"Wieso hättest du Madame Faucon fast eine Hexe genannt?" Flüsterte Martha Andrews.
"Wegen ihrer Neugier, Martha. Aber mit diesem Begriff bin ich doch besser vorsichtig. Ich will sie nicht beleidigen."
"Sehr nobel", pflichtete Martha Andrews ihrem Mann bei.
Sie verbrachten einen schönen Nachmittag und einen hochanspruchsvollen Ballettabend, bevor sie müde und voller neuer Eindrücke ins Haus der Brickstons zurückkehrten. Catherine empfing sie und erklärte, daß ihre Mutter bereits abgereist und wohlbehalten an ihrem Heimatort angekommen sei. Sie habe sich sehr gefreut, eine so versierte Schachspielerin getroffen zu haben.
"Maman fragt, ob sie nächste Woche wieder mit dir spielen kann, Martha. Sie hat am nächsten Samstag einen Besuch in der Nähe von Paris zu machen und möchte wieder hier übernachten. Sie kommt am Freitag an und wird dann bis Sonntag bleiben."
"Ich bin auch sehr beeindruckt gewesen, Catherine. Wenn sie mir Revanche gewährt, nehme ich an", erwiderte Martha Andrews mit erfreutem Lächeln.
"Du und Schach, Martha. Das ist wie eine Schulmädchenromanze bei dir", bemerkte Richard Andrews, als er mit seiner Frau allein im Gästezimmer war. Sie grinste nur.
"Nenne es lieber die Entsprechung einer besonders innigen Liebesbeziehung, Richard."
In der Nacht träumte Richard Andrews, er habe einen Brief von Julius bekommen, indem stand, daß er von Millemerveilles die Nase voll habe und schnellstmöglich da wegwolle. Er schrieb auch, daß Catherine ihn an diese Hexen und Zauberer ausgeliefert habe, weil ihre Mutter das so wollte. Mr. Andrews stellte Catherine zur Rede, was sie ihm vorenthalten habe, wurde jedoch ausgelacht.
"Wie kommst du darauf, daß ich Julius an Zauberer und Hexen ausgeliefert habe, Richard?" Fragte sie ihn. Er packte sie beim Kragen und drohte ihr, sie zu schlagen und zu töten, wenn sie nicht zugebe, daß sie mit diesen Leuten zusammenarbeite. Sie lachte nur. Da zog Richard Andrews eine Pistole aus der Hemdstasche und feuerte drei Kugeln auf Catherine ab. Diese brach vor ihm zusammen und rührte sich nicht mehr. Da ergriff ihn Panik, und er floh aus dem Haus, direkt in einen Feuerball rennend, der von der anderen Straßenseite aus angeflogen kam. Der heftige Schreck riss ihn aus dem Schlaf. Keuchend atmend, mit hämmerndem Herzschlag, fand er sich auf seiner seite des großen Doppelbettes, in dem seine Frau und er schliefen.
"Verdammte Alpträume!" Knurrte Mr. Andrews. Doch dann überlegte er. War es wirklich so abwegig, daß Julius gezielt von Catherine und Joe an diese Hexen und Zauberer ausgeliefert worden war? Aber dann hätten sie ihm doch alles sagen können und müssen, allein um klarzustellen, auf welcher Seite sie standen. Sie hätten ja auch auf die Einladung verzichten können. Die Gefahr, enttarnt zu werden, war doch wesentlich größer, wenn sie, die Andrews', lange genug bei ihnen zubrachten. Falls sie wirklich mit der Zaubererwelt paktierten, ihr möglicherweise angehörten, wäre es dumm, erst alles so geheim wie möglich zu halten, sich dann aber der Gefahr auszusetzen, daß alles ans Licht kam. Er dachte nicht, daß die Brickstons Martha und ihn für so dumm hielten. Also, so schloß er, stimmte Joes Geschichte, daß er von Leuten aus dieser fremden Zivilisation unter Druck gesetzt worden war. Doch wollte er sicherstellen, nicht am Ende doch wie ein dummer August im Zirkus herumgeschubst und ausgelacht zu werden, weil er nicht durchschaute, was anderen vielleicht offensichtlich war.
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In den nächsten Tagen tat sich nichts, was Richard Brickston zu weiteren Grübeleien oder Alpträumen veranlaßt hätte. Erst als am Mittwoch Joe beim Frühstück leise zu Richard sagte, daß er sich oft wünsche, er könne in England leben und fern ab von der Verwandtschaft seiner Frau, erinnerte sich Mr. Andrews daran, Nachforschungen anzustellen. Er fragte Joe mit gespielter Besorgtheit:
"Wieso möchtest du nicht hier leben, Joe? Sind deine angeheirateten Verwandten zu lästig?"
"Bevormundend ist das richtige Wort, Richard. Seit Babette da ist, bin ich als Vater nur ausführendes aber nicht bestimmendes Element in der Familie. Manchmal könnte ich meiner werten Schwiegermutter den Hals umdrehen. Aber das lasse ich besser bleiben. Du hast das jetzt auch nicht gehört, klar?"
"Wenn du meinst", erwiderte Mr. Andrews.
Ein Telefonanruf für Richard Andrews brachte diesen dazu, an diesem Tag ohne seine Frau loszufahren. Ein Studienkollege hatte ihn zu einem Kurzvortrag über flexible Kunststoffe geladen. Das kam Richard recht, denn wenn er allein war, konnte er etwas anleiern, von dem er seiner Frau nichts erzählen wollte. So fuhr er um neun Uhr morgens mit einem Taxi los, während Martha Andrews beschloß, sich die Truppenschau des 14. Juli alleine anzusehen, weil Joe und Catherine sie nicht begleiten konnten. Im Haus herumsitzen wollte sie nicht. Sie wollte gerade das Haus verlassen, als ein Telefonanruf für sie und Richard eintraf. Catherine nahm den Anruf entgegen und gab den Hörer dann an Martha weiter.
"Hallo, hier Martha Andrews."
"Hallo, Mrs. Andrews. Ihr Mann hat uns ja die Rufnummer Ihrer Gastgeber gegeben", meldete sich die Stimme einer älteren Dame, die Mrs. Andrews als die von Mrs. Stalker erkannte, einer direkten Nachbarin.
"Ich habe gestern abend zufällig fünf merkwürdige Leute in langen Gewändern gesehen, wie sie um Ihr Haus herumschlichen und dabei mit irgendwelchen Zollstöcken und Instrumenten hantiert haben. Ich rief die Polizei, da ich davon ausging, daß es Einbrecher sein könnten. Doch als die Beamten kamen, waren die Unbekannten fort. Es kam mir vor, als hätten sie sich in Luft aufgelöst, bevor der Streifenwagen in der Straße ankam. War schon unheimlich. Die Polizei hat dann geprüft, ob irgendwelche Einbruchsversuche in Ihr Haus stattgefunden hatten. Weil sie nichts fanden, zogen sie wieder ab. Es war mir irgendwie unheimlich, diese Leute zu sehen. Die hatten so schwarze Kleidung an, wie Priester oder Teufelsanbeter. Sah mir nach einer Art magischem Ritual aus, wenn Sie verstehen, was ich meine."
Martha Andrews schluckte, fing sich jedoch so schnell, daß Mrs. Stalker am anderen Ende der Telefonverbindung zwischen Paris und London nicht hören konnte, wie aufgeregt sie war.
"Halbwüchsige, die Kerker und Drachen gespielt haben waren das wohl. Julius hat vor Jahren mal mit solchen Typen Kontakt gepflegt und denen erzählt, daß unser Grundstück schön groß wäre für Komplett nachgespielte Szenen von Hexenmeistern."
"Die Jugend von heute", meinte Mrs. Stalker dazu nur und lachte gekünstelt. "Außerirdische, Drachen, Dämonen und UFOs, das fasziniert diese Bande immer noch. Aber Ihr Sohn ist doch bei Ihnen, oder?"
"Er besucht Bekannte, die etwas weiter weg wohnen, Mrs. Stalker. Brieffreunde, die ihm seine Schule vermittelt hat", erwiderte Mrs. Andrews schnell.
"Was sollten die dann hier?" Fragte Mrs. Stalker.
"Womöglich haben die etwas in unseren Briefkasten geworfen, eine Mitteilung, in etwa: "Der Bund der schwarzen Meister verflucht dich und deine Eltern."."
"Jaja, das paßt zu Ihrem Filius, Madam. Der hat das schon öfter gemacht, weiß ich noch zu gut. Dann werde ich das auf sich beruhen lassen", meinte Mrs. Stalker.
"Beobachten Sie unser Haus ruhig weiter, solange wir nicht da sind. Nachher haben die lediglich geprüft, ob man da einsteigen kann, und ob jemand das mitbekommen würde. Ich kann bestimmt besser schlafen, wenn ich weiß, daß unser Haus nicht unbeobachtet dasteht."
Mrs. Stalker verabschiedete sich und legte den Hörer auf. Als Martha Andrews den Hörer auflegte, fragte Catherine, was das solle mit der Bande von Halbwüchsigen. Martha Andrews erklärte ihr, daß Julius früher in einer Rollenspieltruppe mitgespielt habe, bis sein Vater ihm mit einem Machtwort den Umgang mit solchem Unsinn verboten habe. Die Leute von damals waren aber eine verschworene Gemeinschaft. Womöglich hatte Julius ihnen geschrieben, daß er unterwegs sei und sie für die Nachbarschaft irgendwelchen Hokuspokus ausführen sollten.
"Soso", kommentierte Catherine das nur und lächelte. Dann zog sie sich in ihr Arbeitszimmer zurück, in dem sie, wie sie den Andrews' erklärt hatte, für historische Institute alte Dokumente prüfte und gegebenenfalls bewertete. Deshalb war es auch keinem erlaubt, dieses Zimmer zu betreten. Martha und Richard respektierten diese Geheimhaltung, da sie ja selbst in empfindlichen Berufszweigen tätig waren, wo es wichtig war, Informationen unter Verschluß zu halten. So fuhr Martha Andrews los, um einen guten Platz für die Truppenschau zu ergattern, bevor ihr Mann wieder da war.
Catherine Brickston grinste, als sie in ihrem Arbeitszimmer saß. Martha Andrews nahm es wohl sehr viel lockerer mit der Zauberei, wenn sie so nüchtern eine Ausrede erfinden konnte, die dem, was da wirklich passiert war, entsprach, aber es dadurch auch sofort zur Nebensache machte. Denn die Leute in den dunklen Umhängen, die ihres Wissens nach mitternachtsblaue Umhänge der magischen Sicherungsgruppe waren, hatten nichts anderes zu tun, als einen langwierigen Zauber gegen böswillige Magier zu wirken, der die Andrews' vor Nachstellungen der Todesser bewahren würde, wenn sie wieder in London waren. Sie selbst hatte vor einigen Tagen die Basismagie aufgebaut, um die an Ort und Personen gebundene Kraft zu schüren, indem sie für wenige Stunden nach London gereist und dort im Schutz eines Tarnumhangs in die Winston-Churchill-Straße gegangen war. Ihre Mutter hatte mit ihr vereinbart, den Sanctuafugium-Zauber um das Haus der Andrews' zu legen, weil sowohl Madame Faucon als auch Madame Brickston davon ausgingen, daß Julius doch noch vor Schulende zu seinen Eltern zurückkehren würde. Außerdem wollte sie nicht, daß einem der Andrews' etwas zustieß, was auf Voldemort und seine Handlanger zurückgeführt werden konnte. Daß die Ministeriumsleute beobachtet wurden, war nicht vorgesehen. Das mußte bereinigt werden. Außerdem wollte sie sich über die Reaktion Martha Andrews' mit jemanden unterhalten, den das sehr interessierte. So schrieb sie einen Brief, den sie mit einer in einem schalldichten Dachbodenraum wohnenden Eule an das englische Zaubereiministerium versandte, daß die Erinnerung der Mrs. Stalker so abgeändert werden möge, daß sie die Tätigkeiten der Zauberer tatsächlich nur für halbstarke Muggel hielt. Mrs. Andrews hatte mit ihrer Ausrede eine solide Grundlage geschaffen, das ganze ohne bleibende Risiken für die Geheimhaltung über die Bühne zu bringen. Dann ging sie in den Partyraum des Hauses, entzündete den Kamin und begab sich mit Floh-Pulver nach Millemerveilles.
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Rodney Underhill: Etwa 40 Jahre alt, 1,76 Meter groß, durchschnittlich trainiert gebaut, braunes Haar und ebenso braune Augen. So kannte man ihn seit zehn Jahren beim britischen Auslandsgeheimdienst, der seit dem Ende der Spannungen zwischen der NATO und dem Ostblock hauptsächlich auf die Abwehr von Industriespionage ausgerichtet war. Er war gut bekannt mit einigen führenden Unternehmern, die in den Bereichen Elektronik, Fernverständigungstechnik und Chemie internationales Ansehen gewonnen hatten. Darunter war auch der Direktor der Abteilung Forschung und Entwicklung der Kunststofffabrik Omniplast in London, Richard Andrews. Mit Richard Andrews verband Rodney Underhill eine lange Freundschaft, die bis in die Grundschulzeit zurückreichte und auch die Oberschule überstand. Man hatte sich gegenseitig unterstützt, sofern ihre Arbeitgeber dies nicht verboten. Rodney hatte Richard Andrews dabei geholfen, den Verdacht auszuräumen, eine ausländische Firma habe sich unerlaubt in den Besitz von wichtigen Produktionsplänen gebracht, womöglich durch den Verkauf der Pläne von wichtigen Firmenmitarbeitern. Im Gegenzug hatte Richard Andrews aus eigener Tasche einige Gelder locker gemacht, die Underhill dabei geholfen hatten, für eine Mission, über deren Ziel und Verlauf er nichts preisgegeben hatte, eine glaubwürdige Tarnexistenz als reicher Mittelstandsunternehmer zu bestreiten. Auch hatte Richard Andrews ihm bei chemischen Analysen geholfen, wenn Materialien ohne Aufsehen auf Art und Herkunft geprüft werden sollten. So konnten sich Underhill und Andrews stillschweigend in ihren Karrieren voranbringen. Doch als vor zwei Jahren Julius, der einzige Sohn der Andrews' auf eine höhere Schule wechseln sollte, war eine Merkwürdigkeit nach der anderen passiert. Erst hatte Richard Julius nicht nach Eton geschickt, wo er und Rodney Underhill ihren Oberschulabschluß gemacht hatten. Dann wollte Richard etwas über eine Schule namens Hogwarts wissen. Den Namen kannte er nur deswegen noch, weil er ihn sich in seinem privaten Geheimcode notiert hatte, bevor er die Suche danach aufnahm. Denn irgendwie hatte ihm jemand bei der Suche falsche Spuren vorgelegt und ihm Steine in den Weg gelegt. Als er eines Morgens aufgewacht war, konnte er sich nicht daran erinnern, diese Schule jemals gesucht zu haben. Erst als Richard ihn wieder um Hilfe bat, diesmal um einen Peilfunksender, kam etwas von der ersten Suche wieder in sein Bewußtsein, aber nur auf Grund der versteckten und verschlüsselten Notizen. Das Projekt mit dem Peilfunksender war so heftig schiefgelaufen, daß Rodney Underhill unter Androhung eines Disziplinarverfahrens verpflichtet wurde, jede private Tätigkeit nur noch ohne Hilfsmittel des Dienstes auszuüben.
Dann, in diesem Jahr zur Osterzeit, war Richard Andrews zu ihm gekommen und hatte ihn angefleht, seine Verbindungen spielen zu lassen, weil Julius von einer merkwürdigen Person namens Priestley entführt worden sei. Als er jedoch richtig in Schwung kommen wollte, hatten seine Vorgesetzten die Schotten endgültig dichtgemacht. Sie hatten ihm den Zugang zu den Außenstellen versperrt und dann noch den bequemen Bürostuhl für die Leitung des Industriespionagezweiges unterm Hintern fortgezogen und ihn zu Schreibarbeiten verdonnert, weil sie ihm schlüssig beweisen konnten, daß Julius zum einen nicht entführt und zum zweiten wohlbehalten über die Ferien in seiner Schule verblieben sei. Sein Chef hatte ihn mit einem bedauernden Gesichtsausdruck ins Gebet genommen und klargestellt, daß weitere Unsinnsaktionen für Privatleute zu unterbleiben hätten, wenn Rodney nicht auch noch diesen Posten verlieren wolle.
"Wir sind nicht Hollywood, Mr. Underhill. Unsere Arbeit ist zu ernst, um sie mit sinnlosen Auswüchsen eines offenbar paranoiden Zeitgenossens zu verquicken. Auch wenn Dr. Andrews ein sehr guter Freund von Ihnen ist, werden Sie zukünftig jedes Ansinnen seinerseits zurückweisen, klar?"
"Selbstverständlich", hatte Rodney Underhill geantwortet. Ihm lag schon was daran, seine gute Stelle nicht zu verspielen.
So war der Geheimdienstmitarbeiter nicht gerade gut gelaunt, als er am zweiten Mittwoch im Juli einen Anruf bekam, dessen Inhalt ihm sagte, daß sein Freund Richard wieder Probleme hatte.
Als Rodney Underhill von seiner Tagesroutine erschöpft seine kleine Wohnung im Norden Londons betrat, klingelte das Telefon. Er ging an den Apparat und meldete sich mit seiner Telefonnummer.
"Ah, Mr. Freemont", kam Richard Andrews' Stimme merkwürdig hallend aus der Hörmuschel. "Ich habe Ihren Anruf von gestern erhalten. Natürlich bin ich bereit, die Konditionen zu akzeptieren, die Sie mir bieten. Ich befinde mich derzeitig in Paris und wäre nicht abgeneigt, die weiteren Abwicklungen im persönlichen Gespräch zu klären."
"Wo logieren Sie?" Fragte Rodney Underhill leicht ungehalten.
"Bei Bekannten, den Brickstons. Allerdings wäre es mir lieb, Sie an einem anderen Ort zu treffen. Geht es?"
"Wenn es so dringend ist, komme ich sofort vorbei. Können Sie mir sagen, welche Verhandlungsgrundlage ich erwarten kann?"
"Es geht um einige Details über die ursprünglichen Daten. Mir geht es darum, da noch etwas zu verifizieren. Können Sie Ihre Abteilung dafür bemühen, oder ist dies nun nicht mehr möglich?"
"Ich kann gewisse Arbeiten noch delegieren, Mr. Andrews. Ich komme in vier Stunden Bei Ihnen in Paris an. Ich werde dort im Hotel Central ein Zimmer nehmen. Wenn ich dort bin, rufe ich Sie über Ihr Mobiltelefon an. In Ordnung?"
"Jawohl", erwiderte Mr. Andrews. Dann sagte er wie Beiläufig:
"Catherine Brickston und ihre Mutter Blanche Faucon haben mir eine gastliche Grundlage bereitet. Ich bin froh, so gut untergebracht zu sein."
"Joh, dann bis nachher, Dr. Andrews", sagte Mr. Underhill noch und trennte die Verbindung, die ganz normal und unverschlüsselt war, wenn man von der Verschlüsselung des Mobilfunksignals zwischen Sender und Endgerät absah. Mr. Andrews bedankte sich noch mal und trennte die Verbindung.
Rodney Underhill stöhnte zwarkurz auf, als er den Telefonhörer auf die Gabel gelegt hatte, gab sich dann aber einen Ruck. Er hatte Richard schon einiges zu verdanken, wo er mit den bürokratischen Mitteln seiner Behörde zu lange gebraucht hätte. Viele Leute bildeten sich ein, Geheimagenten wären spontane, über allen Dingen schwebende Profis, die nicht wie X-beliebige Beamten dem allgegenwärtigen Papierkrieg unterworfen waren. Dies war grundlegend falsch. Andererseits erleichterte dieses Vorurteil den Geheimdienstmitarbeitern doch die Arbeit, weil sie eben wie andere Beamten arbeiteten und nicht auffielen.
"Hätte ich ihm damals nicht diese Angewohnheit verpaßt, diese Orakelsprache zu benutzen", dachte Underhill für sich. Denn Richard Andrews hatte ihm mit dem geschäftsmäßig klingenden Anruf drei wichtige Dinge mitgeteilt.
Er fühlte sich seit einiger Zeit bedrängt, deshalb das mit dem gestrigen Anruf. Dann hatte er von Verhandlungen gesprochen, was für Underhill als Suche nach bestimmten Informationen zu verstehen war. Drittens ging es um die Abstammung der Gastgeber, über die sich Richard offenbar nicht so sicher war. Er hatte die Namen genannt, die ihn interessierten: Catherine Brickston und Blanche Faucon. Also mußte der Geheimdienstmitarbeiter nur noch die Bekannten in Frankreich anrufen, die nicht über seine Dienststelle zu erreichen, sondern rein private Kontakte des Geheimdienstmitarbeiters waren.
Da es wohl um Personensuchen ging, bemühte er einige Leute im Zentralregister des französischen Einwohnermeldeamtes, sowie einige Leute, die in Kirchenarchiven und Universitäten arbeiteten. Allen schärfte er ein, bloß nicht zu auffällig vorzugehen. Um die eigentlichen Namen denen gegenüber nicht zu offen angeben zu müssen, erfand er vier weitere Namen, die in die Suche eingebunden werden sollten. Würde jemand der Behörden auf die Suchaktion aufmerksam, mußte derjenige ja nicht wissen, nach wem gesucht wurde. Nun galt es, das Warum zu klären. Was lag dem Freund aus Schulzeiten daran, diese Namen prüfen zu lassen? Das würde er in vier Stunden wissen.
Wie in einem klassischen Spionagefilm benutzte Underhill einen Decknamen, um aus England nach Frankreich zu reisen. Alte Zöpfe ließen sich eben doch nicht so leicht abschneiden, und sowohl seine Behörde, als auch der Rest der Welt mußte nicht wissen, daß er wieder für Richard Andrews was anrichten sollte. Seinem Chef teilte er mit, daß er zum Arzt mußte, weil ihm von seinem letzten Abendessen schlecht war. Ein guter Freund von ihm, der eine Arztpraxis betrieb, bescheinigte ihm eine Magenverstimmung auf Grund überalterter Nahrung und schrieb ihn für zwei Tage krank. Dann verkleidete er sich so, daß er nicht als Rodney Underhill erkannt werden konnte und charterte unter dem Namen Herbert Freemont, Geschäftsmann aus London, einen Privatjet, der ihn drei Stunden später in Paris absetzte. Das Geld dafür hatte er sich für solche Fälle zurückgelegt, als er die bereits erwähnte Tarnexistenz nicht mehr benötigte und nicht vom Dienst bezogene Gelder verwahrt hatte. Er wußte, daß er schon längst ein Fall für die Dienstaufsicht wäre, wenn er nicht zu geschickt mit diesen Geldern umgegangen wäre. Vom Landesverrat bis zur Unterschlagung, möglicherweise auch Bestechlichkeit, hätten seine Straftaten gereicht. Das wußte Underhill. Aber die Bewegungsfreiheit, die er genoß, weil ihm in bestimmten Situationen nicht alle Paragraphen einfielen, an die er sich halten mußte, hatte ihm schon oft gewisse Vorteile verschafft.
Niemand am Flughafen Orly hätte in dem hellblonden Mann mit den grauen Augen und dem hellblonden Oberlippenbart den nun zum Innendienst versetzten Rodney Underhill erkannt, dessen taubenblauer Nadelstreifenanzug, das blütenweiße Hemd mit gestärktem Kragen und der schwarz-roten Krawatte, sowie der graublaue Regenschirm in der rechten Hand und der schwarze Hut und die ebenso schwarzen Lackschuhe italienischer Fertigung, verliehen Underhill den äußeren Anstrich eines britischen Geschäftsmannes. Er wußte, daß die Franzosen genauso ihre Vorurteile hatten, wie die Briten den Franzosen gegenüber. Er spielte bewußt mit dem Bild, daß sich die Einheimischen hier von britischen Geschäftsleuten machten. Er war schon wieder so auffällig, daß er nicht weiter beachtet werden würde.
Als er mit seinem Wochenendkoffer zur Autovermietung Voitures Vites hinüberschlenderte, fiel ihm die junge Frau mit den kurzen schwarzen Haaren auf, die in einer dunklen kurzärmeligen Jacke um das Gepäckband herumwanderte, als suche sie einen Koffer oder jemanden, den sie erwartete. Er traute seinen Augen nicht, als er die fast unmerkliche, schlanke und längliche Ausbeulung in der Jacke der Fremden sah. Unwillkürlich mußte er an eine Waffe denken. Doch für eine Handfeuerwaffe war diese Ausbeulung nicht klobig genug, und für ein Messer fehlte ihm die etwas stärkere Ausbuchtung am oberen Ende. Rodney Underhill hatte in seiner Laufbahn nur auf dem Schießstand geschossen, meistens mit Pistolen, um sich im Falle eines Angriffes verteidigen zu können. Aber mit Waffen kannte er sich aus.
Bei der Autovermietung lieh er sich einen hellbeigen Renauld, der bereits einige Beulen aufwies, als sei er schon lange im berüchtigten Pariser Verkehrsdschungel unterwegs gewesen. Er packte seinen Koffer auf den Rücksitz und fuhr zum Hotel Central, in dem er schon häufiger unter verschiedenen Namen logiert hatte. Dort bezog er ein Zimmer mit Aussicht auf die Frontseite und rief die Mobiltelefonnummer von Richard Andrews von seinem eigenen Handy an.
"Hallo, Dr. Andrews. Hier Freemont. Ich bin nun am verabredeten Ort. Kommen Sie zu mir, wenn sie Zeit haben!" Lautete seine kurze Mitteilung. Rodney Underhill glaubte, eine gewisse Erleichterung zu vernehmen, als Richard Andrews antwortete:
"Das finde ich sehr entgegenkommend, Mr. Freemont. Ich werde in zwanzig Minuten bei Ihnen eintreffen. Welches Zimmer bewohnen Sie?"
"Zimmer 421", teilte Underhill nüchtern mit. Dann wurde die drahtlose Telefonverbindung getrennt.
Rodney Underhill bereitete mit der antrainierten Routine eines Untergrundarbeiters, der eine geheime Besprechung vorhat, das Treffen mit Richard Andrews vor. Hierzu gehörte auch, daß er im Radio des Zimmers den Sender mit der lautesten Rockmusik suchte, aus dem Koffer eine spiegelnde Folie zog und diese bereitlegte, um sie an das große Fenster zu heften, auf daß von draußen niemand sehen solte, wer gerade bei ihm war. Allerdings mußte er sich vergewissern, daß niemand große Notiz von Richard nahm, wenn dieser im Hotel eintraf. So rief er genau zum verabredeten Zeitpunkt bei der Rezeption an, um eine belanglose Frage zu stellen, deren Beantwortung einige Zeit dauern mußte, den Portier jedoch vom Blick auf die Eingangshalle abhielt. Da Richard wußte, wo er hinmußte, war es ein leichtes für den in unauffälliger Straßenkleidung steckenden Chemiker, unbeachtet den Fahrstuhl zu erreichen und damit in den vierten Stock zu fahren. Dort suchte er Zimmer 421 und klopfte einmal kurz und zweimal lang. Dieses jungenhafte Spielchen mit den Klopfzeichen hatten sie schon vor Eton mit Begeisterung gepflegt.
Rodney Underhill öffnete die Tür. Er trug nun Jeans und Pullover, keinen Geschäftsleuteanzug.
"Ja, das hat doch mal geklappt", begrüßte Richard den alten Freund, als sich hinter ihnen die Tür geschlossen hatte. Drinnen rockten die Rolling Stones "Zuneigung zum Teufel".
"Sehr sinnig", knurrte Mr. Andrews, als er das seinen Ohren nicht bekömmliche Musikstück erkannte. Dann setzte er sich mit Rodney an den kleinen Tisch des Hotelzimmers.
"Also, die Musik ist laut genug. Wenn du dein Handy ganz ausgeschaltet hast - ich auch - kann uns auch niemand damit belauschen. Ich gehe zwar nicht von Wanzen aus, aber du ziehst ja auch immer noch Handschuhe und Schutzbrille an, wenn du einen brodelnden Topf auf den Herd stellst, nicht wahr?" Meinte Underhill scherzhaft.
"Berufskrankheiten sind nützlich, solange man sie braucht, unnötig, wenn man einen anderen Beruf hat und lästig, wenn man sie auch zu Hause pflegt", wußte Mr. Andrews zu antworten. Beide Männer lachten. Hier, mit dem jeweils anderen, durfte sich jeder der gestandenen Herren wieder wie mit 15 Jahren betragen, ohne an Ansehen einzubüßen. Julius würde diese freundschaftliche Atmosphäre von seinem Vater niemals mitbekommen, um nicht den Respekt zu verlieren, den er seinem Vater schuldete. Doch war dieser Respekt überhaupt noch vorhanden?
"Ich habe wieder das Problem, daß ich nicht weiß, ob man mir nicht übel mitspielt, Rod. Du hast mir damals geholfen, dieses Hogwarts zu suchen und meinen Sohn von dieser June Priestley zurückzuholen. Du hast erzählt, daß dir die Leute deiner Firma Knüppel zwischen die Beine geworfen haben. Kannst du dir vorstellen, wieso?"
"Weil ich einem Amateuragenten von eigenen Gnaden auf den Leim gekrochen bin", erwiderte Rodney Underhill. Dann sagte er etwas ernsthafter:
"Die Frage habe ich bis heute nicht beantwortet. Das mit diesem Hogwarts weiß ich nur noch, weil ich es mir aufgeschrieben habe. Irgendwer hat es geschafft, mich davon abzubringen, weiter danach zu suchen. Manchmal denke ich, jemand hat mich hypnotisiert und mir eine falsche Erinnerung vorgegaukelt. Hätte ich die Angaben, die du gemacht hast, nicht gut verschlüsselt und versteckt, wüßte ich nicht einmal mehr, daß ich den Auftrag von dir bekommen hätte."
"Genau wie mit dem Peilsender. Wie haben das deine Leute begründet, daß er nicht funktioniert hat?"
"Interferenzen im Satellitenempfang durch unerwartete Sonnenwindausbrüche", antwortete Rodney Underhill schlagfertig. "Die konnten diesen Sender nicht mehr orten, und was sie bekamen war ein Wellensalat, der von mehreren Stellen gleichzeitig kam. Ich habe das Ortungsprotokoll damals heimlich photokopiert. Meine Vorgesetzten haben mich daraufhin ersucht, solche Operationen nicht mehr durchzuführen, weil sie nicht einmal gerechtfertigt waren. Aber was wolltest du mit dem Sender?"
"Ich wollte dieses Hogwarts suchen und finden. Irgendwie ist das gegen Funkwellen abgeschirmt."
"Ach komm, Richard! Das klingt ja nach Science Fiction. Die Außerirdischen haben eine Zentrale auf der Erde eingerichtet und bereiten die Invasion unseres Planeten vor", wandte Rodney Underhill ein.
"Dazu komme ich gleich noch, Rodney. Zu dem Punkt mit dieser Mrs. Priestley, die meinen Julius verschleppt hat. Ich habe dir damals dieses Pergament gezeigt, auf dem sie mir die Gründe beschrieben hat, weshalb sie meinte, ihn in Gewahrsam nehmen zu müssen."
"Auf dem Ding stand nichts mehr drauf, als du es mir gabst, Richard. Wie soll ich etwas gelesen haben, was noch nicht einmal mit unsichtbarer Tinte geschrieben wurde? Ich habe das Ding unter UV-Licht, Infrarotlicht und unter ein Bügeleisen gelegt, um verborgene Schriftzeichen zu sehen. Nix da! Wo immer du das Ding herhattest, da steht nichts drauf."
"Das werde ich dir erklären, falls du Zeit und Muße hast, mir zuzuhören, weil es lang dauert und sehr abstrus klingt", erwiderte Mr. Andrews.
"Ja, ich gebe zu, daß dies alles Sachen sind, die nicht so einfach zu erklären sind, Richard. Aber was hast du nun für ein Problem?"
"Ich fürchte, wir werden beobachtet, meine Frau und ich", begann Mr. Andrews. Dann erzählte er Rodney mit leichtem Unbehagen die ganze Geschichte, was sich in den letzten Jahren zugetragen hatte. Rodney schüttelte zwar zwischendurch den Kopf, zuckte die Achseln und rümpfte die Nase, unterbrach seinen Freund jedoch nicht in der Ausführung. Mr. Andrews endete mit den Worten:
"Ich gehe davon aus, daß diese Zauberer und Hexen gezielt darauf ausgehen, meine Frau und mich unter ihren Willen zu zwingen, um Julius für ihre dunklen Pläne einspannen zu können. Mir kommt es so vor, als seien Catherine und ihre Mutter entweder Handlanger oder Drahtzieher dieser Aktion. Deshalb möchte ich gerne wissen, wann und wo sie in unserer Welt erstmalig erwähnt wurden."
"Moment, Richard. Der Berufsparanoiker bin ja wohl ich. Du willst mir ernsthaft erklären, daß es echte Hexen und Zauberer gibt, die in versteckten Schlössern Jugendliche in Magie ausbilden, auf Besen fliegen oder gar teleportieren können? Sicher, was mir passiert ist ist nicht so einfach zu erklären. Aber Magie, Richard? Das klingt doch eher nach einer Sekte, die dir mit Holographien und Tricks was vorgegaukelt hat."
"Entschuldigung, Rod, aber du verlierst offenbar dein Talent, alles zu hören, was wichtig ist. Ich erzählte dir, daß mir persönlich eine Pistole mit einer Art Energieschlag aus der Hand gefegt wurde, ja mir sogar eine Art Fessel aus einer unsichtbaren Kraft angelegt wurde, als ich Julius verteidigen wollte. Außerdem habe ich meinen Sohn mehr als einmal auf einem echten Hexenbesen ..."
"Richard! Dabei dachte ich immer, daß du auf diesen Mumpitz nichts gibst. Die haben euch Drogen eingetrichtert und dazu suggestive Befehle gesprochen, nach dem Motto: "Sie sehen Ihren Sohn. Er fliegt auf einem Besen!" In jeder billigen Spionageserie kommt sowas vor, wo mit mystischen Tricks hantiert wird, um Leute in eine bestimmte Stimmung zu versetzen. Sicher ist das kriminell, was die mit euch machen. Aber das hat nichts mit Magie zu tun, zumindest nicht mit solcher, wo einer einen Zauberstab schwingt und verbotene Formeln deklamiert."
"Ich sehe schon, du glaubst mir kein Wort. Das verübel ich dir auch nicht. Ich selbst habe lange gebraucht, um das zu begreifen, daß es völlig real war, daß wir Kontakt zu echten Hexenmeistern haben, ja daß es eine ganze Zivilisation solcher Leute gibt. Ich bereue es, dir nicht das Geld dieser Leute zur Ansicht geben zu können. Aber ich habe nun einmal alles von mir gewiesen, was mit dieser Welt zu tun hat. Das mit diesem verfluchten Brief, der mit einer magischen Stimme Beschimpfungen brüllt, wenn man ihn aufmacht, nimmst du mir ja dann auch nicht ab, oder?"
"Klingt verheerend", erwiderte Rodney mit leichtem Spott in der Stimme.
"Hoffe mal lieber, daß du nicht etwas mitkriegst, was deine Meinung total umkrempelt, Rodney! Im Moment möchte ich von dir nur wissen, woher Madame Blanche Faucon stammt und wie Catherine und Joe sich kennengelernt haben. Ich glaube den beiden nämlich kein Wort mehr."
"Gut, wenn du die Beziehung zu deiner Bekannten vergiften willst, weil du ihr nachspionieren läßt, Richard, dann werde ich so diskret wie möglich vorgehen. Ich habe die entsprechenden Leute schon in Marsch gesetzt. Meine Dienststelle kennt die nicht und muß auch nichts davon mitbekommen, da ich unter vier verschiedenen Decknamen operiert habe, die ich mir alle selbst zugelegt habe."
"Ich hoffe, daß ich mich gründlich getäuscht habe, Rod. Denn wenn nicht, dann gnade uns beiden Gott!"
"Huch, auf einmal wieder religiös, Richard? Du warst es doch, der die Pastoren als Heuchler und Machthungrige Bezeichnet hat, die über den Aberglauben und das Unwissen ihrer Anhänger ihre Stärke beziehen."
"Ich habe in den letzten beiden Jahren einiges neu lernen müssen, Rod. Vielleicht haben diese Schwarzröcke doch irgendwo recht."
"Das bleibt jedem selbst überlassen", erwiderte Rodney Underhill, der wie Richard Andrews nie viel von Glaubenssachen gehalten hatte, sehr zum Unmut seiner frommen Großmutter, die römisch-katholisch getauft und erzogen worden war.
"Wann kannst du mit ersten Rückmeldungen rechnen?" Fragte Richard Andrews. Rodney Underhill alias Herbert Freemont erwiderte:
"In einem Tag habe ich alle ohne Aufsehen erhältlichen Informationen da, Richard. Dann kann ich dich wieder anrufen."
"Besser nicht du mich, sondern ich dich. Dann kann ich klären, daß ich unbeobachtet zu dir kommen kann."
"Wie du meinst, Richard. Am besten sage ich dir dann am Telefon, daß die Verhandlungen abgeschlossen werden können, wenn sich alles als normal herausstellt. Falls ich was anderes sage, kommst du zu mir, aber nicht mehr hier ins Hotel. Wir treffen uns besser an einem Ort, wo möglichst viele Leute herumwuseln."
"Einverstanden", willigte Richard Andrews ein. Dann verließ er das Zimmer 421 im Hotel Central, erleichtert, mal jemanden außerhalb der Familie von den Sachen erzählt zu haben, die ihm seit zwei Jahren Kopf- und Magenschmerzen bereiteten, aber auch enttäuscht, Rodney Underhill nicht überzeugt zu haben. Doch er wußte, daß er selbst solch eine Geschichte nie glauben würde, wenn sie irgendwer anderes erzählte. Deshalb verscheuchte er den Gedanken daran, versagt zu haben und fuhr zu den Brickstons zurück.
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Martha Andrews war zwar keine Freundin von Soldaten und Kriegsgerät, doch wenn sie schon einmal in Paris war, wollte sie sich diese größte Schau des Jahres nicht entgehen lassen. Sie betrachtete die Panzer, Kampfwagen, Flugzeuge und Hubschrauber, die entweder durch die Straßen gefahren wurden oder über dem Stadtzentrum kreisten. mehrere Stunden dauerte das Spektakel, hunderttausende von Zuschauern standen an den Straßenrändern und jubelten "Vive la France!" oder "La grande Nation!" Martha war froh, als die Parade zu ende ging und sie sich vorsichtig aus dem Gewühl von Menschen herausarbeiten konnte. Sie achtete sorgsam darauf, ihre Wertsachen zu kontrollieren, denn die Menge Menschen bot bestimmt ein Schlaraffenland für Taschendiebe, die es besonders auf arglose Touristen abgesehen hatten. Ein oder zweimal hatte sie auch den Eindruck, jemand würde gezielt auf sie zukommen. Doch ein konzentrierter Blick dem Entgegenkommenden zugeworfen, vertrieb diesen, wenngleich er oder sie nicht davonlief, wie ein erwischter Übeltäter, sondern sich diskret aber unmißverständlich in die Menge zurückzog, die die Straßen bevölkerte.
Martha Andrews atmete auf, als sie es geschafft hatte, in die weniger übervölkerten Nebenstraßen zu gelangen und in Ruhe ihren Weg fortsetzen konnte.
Am frühen Nachmittag genehmigte sie sich ein leichtes Mittagessen in einem Vorort von Paris, der eine Stunde mit Metro und Bus von der Rue de Liberation entfernt lag. Sie genoß die Ruhe, die sie in dem Straßencafé fand und dachte über die bisherige Ferienzeit nach. Sie fragte sich wieder, wie es angehen mochte, daß Madame Faucon so gut gegen sie Schach gespielt hatte und was ihren Freund Joe derartig verstörte, daß er immer so auf der Hut vor seiner Schwiegermutter war. Dabei fiel ihr ein Satz ein, den Julius nach dem Abschied der Brickstons am Ostermontag vor über einem Jahr geäußert hatte: "Er nannte sie eine alte Hexe."
Joe sollte seine Schwiegermutter als "alte Hexe" bezeichnet haben? Gut, abwegig war das nicht, da viele Schwiegersöhne Probleme mit den Eltern der Ehefrau hatten und leicht zu Schimpfwörtern neigten. Aber was, wenn es in diesem Falle tatsächlich stimmte? Immerhin hatte sie damals ohne darüber nachzudenken mitbekommen, daß Madame Faucon Julius Respekt eingeflößt hatte. Hinzu kam, daß sie nur mit den Augen klimpern mußte, um Joe bei der Stange zu halten. Dann war da ja noch das Ding mit der verschwundenen Vase, die erst wieder auftauchte, als Madame Faucon und Julius sie allein gesucht hatten. Angeblich war die Imitation einer altchinesischen Vase von Babette hinter einem Stapel alter Zeitschriften und Papier versteckt worden. Doch die Vase war so groß, daß das ein schieres Kunststück gewesen sein mußte, sie so zu verbergen, daß sie vorher niemand finden konnte. Dann waren da noch frische Aprikosen, die die ältere Dame in einer Kühlbox mitgenommen hatte, sowie Gewürze und Zutaten für ein französisches Abendessen, daß sie und Catherine aus Dankbarkeit für die Gastfreundlichkeit der Andrews' zubereitet hatten. Doch das alles konnte auf ganz natürliche Weise erklärt werden. Sie blieb bei ihrem Gedanken, daß echte Hexen und Zauberer sich nicht von sich aus mit Nichtzauberern einlassen würden. Oder doch? Sie beschloß, Julius einen Brief zu schreiben und ihn wie beiläufig zu fragen, ob sowas möglich sei. Wenn seine Antwort zurückkam, würde sie mehr wissen.
Den Nachmittag verbrachte sie noch in einem sogenannten Internet-Café, etwas revolutionäres, wo Leute an Computern, die an das weltweite Datennetz angeschlossen waren, Recherchen und elektronische Post austauschen konnten, für eine gewisse Gebühr die Stunde. Sie prüfte dort die auf ihrem Privat-E-Mail-Konto eingegangenen Nachrichten, antwortete auf die wichtigsten und gab aus purer Neugier in ein Internetsuchsystem die Begriffe "Hogwarts", "Millemerveilles" und "Catherine Brickston" ein. In keinem Fall erhielt sie eine Erfolgsmeldung. Nur einmal kam die Frage, ob sie "Mille Merveilles" meine oder nicht. Sie war sich sicher, daß der Name der Stadt oder des Dorfes als ein Wort geschrieben wurde. Da sie des Französischen ja nicht mächtig war, konnte sie nicht gezielt nach den Lebensläufen von Catherine Brickston oder ihrer Mutter suchen. So zog sie unverrichteter Dinge wieder ab und kehrte zum Haus der Brickstons zurück.
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Catherine landete nach einer kurzen Reise mit Floh-Pulver im Marmorkamin eines geräumigen Ess- und Festsaales, der einer Königsfamilie zur Ehre gereicht hätte. Ein kleines Wesen mit einer grünen Gurkennase, goldenen Augen, groß und rund wie Tennisbälle und Fledermausohren, das in ein einfaches Geschirrtuch gekleidet zu sein schien, war gerade dabei, den Saal gründlich zu putzen. Als Catherine aus dem Kamin stieg, hielt das kleine Geschöpf bei seiner Arbeit inne und verbeugte sich kurz. Dann rief es mit einer hohen, piepsigen Stimme:
"Meisterin Eleonore! Catherine Brickston ist gerade eingetroffen!"
"Verstanden, Gigie!" Kam die Stimme einer Frau aus einem der angeschlossenen Räume zurück. Das kleine Wesen fuhr eifrig mit seiner Putzerei fort. Catherine schüttelte die Asche ab, die die Floh-Pulver-Reise auf ihrer Kleidung hinterlassen hatte und ging über die noch nicht geputzten Parkettdielen zur großen Flügeltür, die vom Kamin her rechts zu erreichen war. Die Tür öffnete sich und eine füllige Frau in einem Kleid aus kupferroter Seide trat auf sie zu.
"Was führt dich zu mir, Catherine?" Fragte Madame Delamontagne, die Dorfrätin von Millemerveilles, in deren Haus Catherine angekommen war.
"Neuigkeiten. Deine Tochter ist bei Maman?"
"Jawohl, Catherine. Mein Mann ist zur Zeit in Paris bei Minister Grandchapeau. Wir sind also ganz allein im Haus."
"Gut, Eleonore. Ich habe mindestens zwei Stunden Zeit, bevor entweder Monsieur oder Madame Andrews zurückkommt. Die Zeit möchte ich gerne nutzen, um was mit dir zu besprechen."
"Wie du möchtest. Es ist noch Kaffee von heute Morgen da, und Gigie hat frische Croissants gebacken."
"Sehr gut, Eleonore", erwiderte Catherine Brickston. Dann begab sie sich mit der Hausherrin in die Küche, wo sie sich an einen Tisch setzten. Madame Delamontagne verzichtete darauf, ihre Hauselfe Gigie anzuweisen, sie und ihre Besucherin zu bedienen und holte Geschirr und Kaffeekanne, sowie das Blech mit den frischen Croissants persönlich zum Tisch herüber. Dann forderte sie Catherine auf, ihr zu erzählen, weshalb sie es vorzog, direkt zu ihr zu kommen, anstatt ihr einen Brief per Eule zu schicken.
Catherine berichtete der Dorfrätin kurz aber detailiert, was in den letzten Wochen geschehen war und endete damit:
"Die Einschätzung des englischen Zaubereiministeriums stimmen wohl. Martha Andrews hat keine Probleme mit unserer Welt. Sie fühlt sich wohl nur bevormundet, was Julius angeht. Doch irgendwie glaube ich, daß sie in einem Dilemma steckt, weil sie sich nicht gegen ihren Mann ausspielen lassen möchte. Es ist vielleicht nicht schlecht, wenn wir ihr zeigen können, daß es nicht die Absicht ist, Julius auf Dauer aus seinem Elternhaus fortzuhalten. Briefe alleine bringen es ja nicht."
"Du meinst, wir sollten Julius zu dir schicken, damit er seine Eltern sehen und sprechen kann?"
"Ich fürchte, da werden uns die Briten kräftig widersprechen. Immerhin hat sich Monsieur Andrews ja offen gegen die dortigen Vertreter des Ministeriums gestellt. Nein, ich denke eher an etwas anderes. ...."
"Ich werde tun, was möglich ist", erklärte Eleonore Delamontagne nach Catherines erläuterungen. Dann fragte sie:
"Julius hat geschrieben und gesagt, daß er von seiner Mutter Schach erlernt habe. Ich kann mir vorstellen, daß Blanche das mittlerweile ausprobiert hat. Wie ist es zwischen den beiden ausgegangen?"
"Hätte mich jetzt auch gewundert, wenn du das nicht gefragt hättest", dachte Catherine nur für sich und sagte laut:
"Maman und Martha Andrews haben ihr Spiel unentschieden beendet."
"Remis? Das hat ihr bislang nur eine abgetrotzt, das war ich", erwiderte Eleonore Delamontagne lächelnd.
"Ich hätte Maman nur gerne gesagt, sie möchte nicht zuviel über Julius fragen, weil sie sich dadurch verdächtig macht. Aber sie hat mir gesagt, daß wir uns ohnehin nicht allzulange verbergen sollten. Irgendwann würde jemand verraten, wer damals die Verbringung des Jungen nach Millemerveilles bewirkt hat. Da würde ich es am liebsten selbst erledigen."
"Wie gesagt, Catherine: Ich werde sehen, was ich tun kann. Damit kannst du wohl leben, oder?"
"Es geht nicht um mich, Eleonore. Mir geht es um Julius. Wenn er den Eindruck gewinnt, wir hielten seine Eltern für schädlich oder gefährlich, könnte er irgendwann auf die Idee kommen, entweder sie oder uns zu hassen. Schon schlimm genug, daß es bei einem Halbblütigen schon derartigen Schaden angerichtet hat und ..."
"Du brauchst nicht weiter darauf einzugehen, Catherine. Mir sind die Theorien hinlänglich bekannt", erwiderte Eleonore Delamontagne. Dann erzählte sie Catherine, was in den letzten Wochen geschehen war. Als Catherine die Dinge erfuhr, über die sich Madame Dusoleil nicht ausgelassen hatte, grinste sie. Dann meinte sie:
"Ich hätte nicht übel Lust, Camille noch zu besuchen, um mir erzählen zu lassen, was genau passiert ist. Aber ich sollte meine Zeit nicht über Gebühr ausreizen. Falls Richard oder Martha früher in mein Haus zurück will, als ich denke, könnte es kompliziert werden."
"Verständlich", sagte Eleonore Delamontagne. Sie trank ihre Tasse leer und wollte die Besucherin zum Kamin geleiten, damit sie mit Floh-Pulver nach Paris zurückreisen konnte. Da klopfte eine Schleiereule ans Küchenfenster. Die Dorfrätin öffnete das Fenster und ließ den Postvogel ein, der einen Umschlag am rechten Bein trug. Sie nahm den Umschlag und sah zu, wie die Eule davonflog.
"Das kommt von Beauxbatons. Offenbar hat die ZAG-Kommission schon alle Endergebnisse fertig", stellte Madame Delamontagne fest und legte den Umschlag auf den Tisch. Deutlich erkannte Catherine zwei Wappen: Zwei Zauberstäbe, die gekreuzt übereinanderlagen und je drei goldene Funken versprühten, sowie das Siegel der Ausbildungsabteilung des französischen Zaubereiministeriums. Eleonore öffnete den Umschlag und entnahm ihm zwei Pergamentbögen. Sie überflog den in königsblauer Tinte geschriebenen Text und strahlte über ihr rundes Gesicht.
"Dreizehn ZAGs, Catherine. Einer mehr als ich damals hatte."
"Und zwei mehr als ich damals bekommen habe, Eleonore", stöhnte Catherine neidvoll. "Wo sie mir alle in den Ohren lagen: "Das hätte Mamans kleines Töchterchen doch besser machen müssen", oder "Jetzt füttert dich deine Maman bestimmt nicht mehr, weil du nichts dafür gebracht hast.""
"Du weißt ja heute, wer das alles gesagt hat. Das waren Leute, die nicht einmal zweistellige ZAGs geschafft haben. Außerdem hast du ja bewiesen, daß ein ZAG erst der Anfang aber nicht das Ende der Reise ist."
"Ich freue mich für Virginie. Damit dürfte sie Barbara als Saalsprecherin beerben."
"Das ist schon sicher, Catherine. Wenn Barbara im nächsten Jahr den Abschluß gemacht hat, wird sie Saalsprecherin des grünen Saales sein", bestätigte Madame Delamontagne. Catherine lächelte. Dann meinte sie:
"Ich schicke ihr morgen eine Eule mit einem Glückwunschbrief."
"Ja, mach das", erwiderte Eleonore Delamontagne.
Catherine kehrte in ihr Haus zurück, wo sie gerade noch die Asche von ihrer Kleidung befördern und diese mit einem Staubsammelzauber in den Kamin zurückbefördern konnte, bevor es an der Tür läutete. Martha Andrews kehrte zurück und berichtete Catherine, was sie alles besichtigt hatte.
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Richard Andrews kehrte nach seinem Gespräch mit Rodney Underhill ins Haus der Brickstons zurück, wo er seine Frau und Catherine in ein aufregendes Gespräch über die Truppenparade zum 14. Juli vertieft fand. Er selbst hütete sich davor, sich anmerken zu lassen, daß er einen bestimmten Verdacht gegen Catherine und ihre Mutter hegte und bereits Schritte eingeleitet hatte, um diesen zu bestätigen oder zu verwerfen. So begrüßte er die beiden Frauen freundlich und hörte sich an, was Catherine an diesem Tag alles erlebt hatte. Dann, als er sich sicher war, daß es die beiden Frauen interessierte, erzählte er ihnen, wie er sich mit Fachkollegen unterhalten hatte. Weil er dabei Begriffe einstreute, die für Nichtchemiker unverständlich und daher uninteressant waren, verloren Martha und Catherine bald die Lust, ihm zuzuhören. Das war seine Absicht gewesen, und er freute sich innerlich, so von seinen wahren Erlebnissen abgelenkt zu haben.
Am Morgen des nächsten Tages weckte das Handy von Richard Andrews seine Frau und ihn um sechs Uhr morgens. Am anderen Ende der drahtlosen Verbindung war Rodney Underhill. Der Freund des Chemikers, der sich im Moment Herbert Freemont nannte, begrüßte Richard förmlich, wie ein Geschäftsmann, der einen dringenden, entscheidenden Grund hatte, so früh anzurufen.
"Mr. Andrews, hier Freemont! Bei unserer vereinbarten Transaktion ist es zu interessanten Abweichungen im Ablauf gekommen. Können Sie mich in zwei Stunden im Café Matin Bleu aufsuchen. Es befindet sich zwischen der Champs-Elysées und der Place de la Concorde."
"Kann ich tun, Mr. Freemont", erwiderte Richard Andrews. Er holte den von Catherine ausgeliehenen Stadtplan hervor und ließ sich die Straße genau beschreiben. Dann sagte er:
"Ich bin dann in zwei Stunden da."
"Was ist passiert, Richard?" Fragte seine Frau verständlicherweise, weil ihr Richard sehr aufgeregt vorkam.
"Ein Mitarbeiter an der Londoner Universität, der mit unserer Forschungsgruppe zu tun hat, muß mich dringend sprechen. Er kam deshalb extra nach Paris, weil die Unterlagen einzeln besprochen werden müssen. Ich soll ihn in einem Café treffen, damit wir dorthin fahren können, wo er die Unterlagen deponiert hat. Ich werde wohl vor heute Abend nicht mehr mit dir zusammensein können, Martha."
"Konntest du nicht einmal auf Arbeit verzichten, Richard? Catherine und Joe wollten uns doch Erholung gönnen. Aber der Herr Direktor ist ja so unentbehrlich", beschwerte sich Martha.
"Martha, ich verdiene mein Geld nicht durch Rumsitzen und Hoffen, daß die Anderen alles richtig machen", wies er seine Frau energisch zurecht. Doch diese ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie hob ihre Stimme über das normale Maß und tönte zurück:
"Ich auch nicht, Richard. Ich muß auch hart arbeiten, um das zu bekommen, was ich verdiene. Aber ich weiß, wo meine Grenzen liegen und daß ich nicht für alles und jeden zu jeder Zeit da sein muß."
"Das ist der Unterschied zwischen dir und mir, Martha. Du bist nur Angestellte, ich bin Direktor, wenn auch nur einer Abteilung. Also brauchen wir uns nicht mehr über das Für und Wider zu streiten, weil es sinnlose Energieverschwendung ist."
"Wenn das Treffen für deine also auch meine Zukunft wichtig ist, dann geh hin! Nachher muß ich mir noch vorhalten lassen, dich bei einer wichtigen Sache behindert zu haben. Dann muß ich mir heute einen anderen Tagesplan zurechtlegen. Ich wollte an und für sich mit dir zum Künstlerviertel, vielleicht auch ins Curie-Museum für naturwissenschaftliche Großereignisse. Aber allein habe ich da keine Lust zu."
"Moser nicht rum, Martha! Ich werde sehen, daß ich die Angelegenheit so schnell regeln kann, wie es die notwendige Gründlichkeit gebietet."
Martha Andrews willigte ein. Ihr blieb ja nichts anderes übrig.
So verabschiedete sich Richard Andrews um acht Uhr von den Brickstons und seiner Frau und ging zur Metrohaltestelle, um zum Stadtzentrum zu fahren. Martha Andrews fragte Joe, ob es Orte in Paris gäbe, die für sie noch interessant genug wären, um dort alleine hinzufahren. Catherine verriet ihr, daß es auf dem Markt sehr interessant sei, weil dort die verschiedensten Händler und ihre Waren zu bestaunen waren. Da Martha jedoch meinte, wegen der Sprache Probleme zu bekommen, bot Catherine an, sie zu begleiten. Martha Andrews nahm das Angebot an.
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Rodney Underhill traute seinen Ohren nicht, als ihn seine Kontaktperson aus dem Einwohnermeldeamt Paris anrief und mitteilte:
"Das ist ja interessant, Monsieur Lundi. Von den vier Namen, die Sie mir angegeben haben, sind zwei nicht existent und bei den Namen Brickston und Faucon habe ich Schwierigkeiten bekommen, an Geburts- und Heiratsurkunden zu gelangen. Catherine Brickston hat ihre Geburtsurkunde erst zwei Tage vor ihrer Hochzeit ausgestellt bekommen, angeblich weil die ersten verlorengegangen seien. Blanche Faucon, ihre Mutter, hat keine Geburts- und Heiratsurkunde in den Akten. Die ist nur gemeldet, aber mit einer Adresse in Marseille, jedoch ohne weitere Papiere, die auf ihren Werdegang hindeuten. Könnte es sich um Schläfer handeln?"
"Bitte?" Fragte Rodney Underhill.
"Ja, Spione, die für einen bestimmten Auftrag ins Land geschleust werden und unter dem Deckmantel einer normalen Identität jahrelang leben, bis der Auftrag ausgeführt werden muß."
"Sie lesen zuviel Spionageromane oder sehen sich übertriebene Hollywood-Filme an, Monsieur", erwiderte Underhill.
"Ja, aber wieso sind von den vier Namen nur zwei registriert und dann noch so merkwürdig?"
"Das ist nicht Ihr Problem", fertigte der zurzeit auf eigene Faust arbeitende Geheimdienstmann aus England seinen Gesprächspartner ab. Dann fragte er ihn, was er bekomme und erhöhte die geforderte Summe noch um zehn Prozent, um sich der Verschwiegenheit des Kontakters zu versichern. Als jedoch noch weitere Anrufe eintrafen, die ihn stutzig machten, war sich Rodney Underhill sicher, daß er in ein Wespennest stechen würde, wenn er nicht augenblicklich andere Stellen mit dieser Sache beauftragte. So hatte Catherine ihren Personalausweis wie die Geburtsurkunde knapp zwei Tage vor der Hochzeit mit Joseph Brickston aus England bekommen. Ihre Tochter Babette ging auf keine bekannte Grundschule des Landes, war vom Schulamt als Internatsschülerin in der Schweiz registriert worden. Da wollte er noch nachhaken, aber so vorsichtig wie möglich. Das hieß, daß er wohl nichts herausbringen würde, da er ja nicht offiziell nachforschen durfte, was wer machte und wo. Über Blanche Faucon gab es zwar Ausweispapiere, aber keinen einwandfreien Lebenslauf. Alles, was sie betraf, bezog sich auf ihr Alter, ihren Wohnort und den Familienstand, der jedoch auch nicht durch eine Heiratsurkunde belegt war. Wer auch immer für Blanche Faucon zuständig war, hatte ihr unbürokratisch die wichtigsten Papiere besorgt. Schläfer, so wußte Rodney Underhill, waren da doch besser abgesichert, gerade um den Schein des normalen Bürgers zu wahren. Er selbst hatte einmal einen Kollegen getroffen, der fünf Jahre unter dem Namen eines berühmten Schiffsbauingenieurs in Belgrad gelebt hatte, mit allem, was Verwaltungen der Welt in Händen und Schubladen haben mußten, um einem Menschen seine Existenzberechtigung zu geben. Er, Rodney Underhill, ging davon aus, daß es an und für sich nicht geplant war, daß Catherine Brickston und Blanche Faucon registriert wurden. Das wiederum bedeutete, daß sie sich eigentlich im Verborgenen aufhielten. Nach alledem, was Richard Andrews ihm erzählt hatte, wurde es Rodney doch etwas unheimlich zu Mute.
"Die leben in ihrer eigenen Welt, Rod. Die wollen nicht haben, daß jeder von ihnen weiß. Angeblich halten sie alles geheim und sorgen dafür, daß niemand von ihrem Tun etwas mitbekommt oder im Gedächtnis behält. Diese Leute würden dich vielleicht töten, wenn du ihre Geheimnisse verraten willst", hatte Richard gestern gesagt und dabei sehr verängstigt dreingeschaut, als bete er eine verbotene Formel herunter, die einen Dämon aus einem düsteren Reich heraufbeschwören konnte. Vielleicht war doch mehr an Richards Erzählungen dran, als sich der zu nüchterem Denken erzogene und gedrillte Geheimdienstmann eingestehen wollte. Wenn, so seine Überlegungen, diese "Zauberer" ihre eigene Welt hatten, kannten sie vielleicht nicht alle bürokratischen Notwendigkeiten der normalen Welt. Richard hatte was von einer eigenen Währung erzählt, die in dafür vorgesehenen Bankhäusern deponiert würde. Das wäre noch ein Ansatzpunkt. Er kannte einen Bankier in Paris, der für säumige Schuldner zuständig war und sich auf das Aufspüren versteckter Konten verstand. Allerdings stand dieser Mann bei den Franzosen in Lohn und Brot und würde seine Geldgeber sofort informieren, wenn jemand von anderswo ihn um seine Dienste bitten würde. Das mußte er also vergessen.
Rodney Underhill erkannte, daß er sich womöglich auf eine gefährliche Situation eingelassen hatte, wahrscheinlich aber auf eine, wo seine Neugier nicht gut für ihn sein mochte. So ging er an sein Gepäck, das er in London wegen der Nutzung eines Privatflugzeuges nicht durch die Sicherheitskontrollen hatte bringen müssen. Er öffnete den Wochenendkoffer und holte die drei kleinen Päckchen hervor, die gut zwischen Handtüchern und Socken verborgen waren. Jedem Päckchen entnahm er etwas. Aus dem einen holte er zwei Metallrohre, aus dem zweiten Griffe und Abzüge von Pistolen, aus dem dritten je zwei Magazine für eine der zerlegten Handfeuerwaffen, die so klein waren, daß sie bequem in einer großen Manteltasche verstaut werden konnten. Er setzte die beiden Schußwaffen zusammen und lud jede mit einem Magazin. An und für sich lehnte er es ab, bewaffnet herumzulaufen, da es seiner Auffassung nach nicht gerade intelligent war, sich auf Gewalt zu verlassen. Aber in manchen Fällen warf er diese Bedenken über Bord und sicherte sich doch gegen gewaltsame Auseinandersetzungen ab. Zu den Pistolen steckte er sich noch sein Taschenmesser ein, sowie eine Taschenlampe. Er verließ das Hotelzimmer und begab sich mit seinem Mietwagen zum Café Matin Bleu, wo er pünktlich um acht Uhr auf Richard Andrews traf. Mit diesem fuhr er los, um ungestört reden zu können.
Richard Andrews nickte nur und sah sehr ernst aus, als er Rodney Underhills Zusammenfassung hörte. Der Freund des Chemikers meinte noch:
"Wenn die wirklich was zu verbergen haben, sollten wir die Polizei einschalten, Richard. Nachher ist es wirklich eine Sekte, die abgeschieden von der restlichen Welt existiert und ab und an Leute zu uns schickt, um neue Mitglieder zu werben oder durch frisches Blut die Inzucht in den eigenen Reihen zu verhindern."
"Das mit der Inzucht stimmt, Rod. Die suchen nach Kindern, die magische Kräfte haben, um sicherzustellen, daß ihre mutierte Art nicht ausstirbt", erwiderte Richard Andrews, während Rodney Underhill sich durch das Verkehrsgewühl von Paris kämpfte.
"Ach das mit diesen Zauberern, Richard. Du hast erzählt, die hätten Martha und dir echte Zauberei vorgeführt?"
"Du hast es wirklich verlernt, wichtiges mitzubekommen", knurrte Richard Andrews. Rodney sah ihn warnend an und meinte:
"Wenn ich dir nicht so vertrauen würde, wäre ich nicht an der Sache dran, also motz nicht rum! Ich hinterfrage lieber zweimal, bevor ich etwas als gesicherte Erkenntnis akzeptiere. Es wäre interessant, wenn du von dieser McGonagall, oder wie die Hexe geheißen hat, ein Foto hättest, das ich durch einen Computer laufen lassen könnte."
"Die hat damals die Sicherheitstruppe ausgetrickst, die ich engagiert habe, um gerade das zu erreichen, daß ich Fotos von ihr kriege. Die fand es offenbar nicht schwierig, professionelle Objekt- und Personenschützer zu umgehen. Naja, das waren dann wohl auch keine Profis."
"Du hast erzählt, du hättest die Zaubersachen deines Sohnes verbrennen wollen. Warum hast du nicht etwas davon heimlich weggetan, um es untersuchen zu lassen. Dieser Flugbesen, von dem du erzählt hast, hätte mich schon sehr interessiert."
"Junge, ich habe die Briefe von denen analysiert. Ich habe die Polizei auf diese Hogwarts-Schule angesetzt und auf diese Priestley. Ergebnis: Null, Nichts, negativ. Den Besen hättest du zerlegt und festgestellt, daß er aus gut verarbeitetem Holz und Reisigzweigen besteht. Aber die Flugmagie hättest du so nicht entdeckt."
"Vielleicht doch, Richard. Du sagtest doch, als du in dieser Schule warst, hätte kein elektronisches Gerät mehr funktioniert. Wenn das wegen magischer Energie so ist, müßte doch jedes Zauberding, das du unter elektronische Messgeräte legst, diese beeinflussen, sodaß sie irgendwie spinnen, zumindest von der üblichen Arbeitsweise abweichen. - Du siehst also, daß ich mir schon Gedanken um deine Geschichten mache."
"Ja, das sehe ich ein, Rod. Ich werde das in Erwägung ziehen, solche Messmethoden einführen zu lassen. Ich kenne ja noch einige Burschen aus der alten Liga, die Physik studiert haben. Das wäre interessant, ob die das auswerten könnten."
"Aber wenn es nur ein starkes Magnetfeld war, daß in dieser sogenannten Zaubererschule erzeugt wurde, fällt auch jedes Handy aus oder spinnt manche Digitaluhr."
"Magnetfelder lassen keinen Holzbesen fliegen, Rod, und der war aus Holz, ohne Eisenkern", hielt Richard Andrews seinem Freund entgegen. Dann schlug er ihm was vor.
"Fahren wir doch zu der Adresse, wo diese Madame Faucon wohnen soll. Ich besorge ihr sogar ein paar frische Blumen. Falls sie dort nicht wohnt, ja niemals dort gewohnt hat, ist die Sache klar. Dann haben die eine falsche Adresse angegeben."
"Das klingt auf jeden Fall vernünftiger als dieser Hokuspokus-Kram, den du mir erzählt hast", sagte Rodney Underhill.
"Ich weiß, du glaubst es noch immer nicht. Ich hoffe auch nur, daß du nicht gezwungen wirst, deine Ansichten so radikal zu ändern, wie ich es wurde", wiederholte Richard Andrews etwas, das er bereits am Vortag gesagt hatte. Rodney Underhill sagte dazu nichts.
So fuhren die beiden zum Flughafen, wo der von Rodney gecharterte Privatjet bereitstand. Sie mußten zwei Stunden warten, bis die Formalitäten für den Flug nach Marseille, sowie die Wartung und Betankung des kleinen Düsenflugzeuges abgeschlossen war. Der Pilot der Maschine begrüßte "Mr. Freemont" und seinen Gast und führte sie zu ihren gemütlichen Sitzplätzen. Richard Andrews staunte nur noch.
"Woher hast du denn das Geld, um dir so'ne Maschine zu mieten, Herbert?" Fragte Richard, wobei er tunlichst darauf bedacht war, seinen Freund mit dessen Decknamen anzusprechen. Dieser machte eine Geste, die Nebensächlichkeit ausdrücken sollte und sagte dazu:
"Der Handel vor zwei Jahren hat mir ein gewisses Polster verschafft. Diesen Ausflug kann ich mir gönnen."
"Die Treibstoffkosten kriegst du wieder", erwiderte Richard Andrews entschlossen.
"Muß nicht sein, Richard. Aber wenn du meinst, ich schicke dir die Rechnung, wenn du wieder auf unserer schönen Insel bist."
Die Maschine startete und flog in einem großen Bogen über Paris hinweg, bis sie die Reiseflughöhe für einen Inlandsflug erklommen und das Reisetempo erreicht hatte.
"Wenn ich rauskriege, daß dieses Weib da nicht wohnt, wo sie angeblich wohnen soll, fliegt heute noch der Deckel von der Hölle", knurrte Richard, gerade so laut, daß es vom Dröhnen der zwei Triebwerke übertönt wurde. Rodney Underhill alias herbert Freemont klappte die Lehne seines Sitzes etwas zurück und entspannte sich. Bis Marseille würde eine knappe Stunde Flugzeit verstreichen. Diese Zeit wollte er etwas ausschlafen. Richard Andrews, der nicht auf einen kurzen Ausflug nach Südfrankreich gefaßt gewesen war, überlegte schon, was er seiner Frau erzählen sollte.
Der Flug verlief etwas ruckelig, da unterwegs eine Schlechtwetterfront mit Regenwolken und heftigen Windböen die Maschine auf- und abschüttelte, sie schlingern und wackeln ließ, bis der Pilot sie über die Wolken ziehen und so aus dem Gröbsten heraushalten konnte. Als dann endlich der Flughafen der französischen Mittelmeerstadt unter dem kleinen Düsenflugzeug ausgebreitet lag, wandte sich Rodney Underhill an seinen Freund.
"Wir nehmen uns ein Taxi vom Flughafen. Die Adresse ist in einem Ort, etwa fünfzehn Kilometer nördlich der Stadt. Ich habe keine Lust, meinen Namen noch mal unter einen Automietvertrag zu setzen, wegen der Datenspuren. Sollten wir nichts verdächtiges finden, müssen wir eben wieder zurück."
"Verstehe ich, Herbert", erwiderte Richard. Dann fragte er:
"Was machen wir, wenn uns die Dame zum Essen bittet? Immerhin sind wir ja schon fast bei zwölf Uhr angekommen."
"Dann nehmen wir die Einladung an, Richard. Soll sie doch ihrer Tochter erzählen, daß wir sie heute besucht haben, weil deine Geschäfte dich halt in diese Gegend geführt hätten. Was die Adresse angeht, so sagst du einfach, daß du dich bei der Auskunft erkundigt hättest. Sie ist dort registriert."
"Gut, Herbert."
Die Maschine landete hinter einem Jumbojet der Air France, der ebenfalls aus Paris kam und noch Passagiere aufnehmen sollte, um nach Südafrika weiterzufliegen. Das kleine Privatflugzeug nahm sich wie ein Spatz unter Adlern aus, als es zu der angewiesenen Halteposition rollte. Dann wurde die Treppe des Privatjets ausgeklappt, und die beiden Passagiere verließen das Flugzeug. Dem Piloten hatten sie gesagt, er möge in vier Stunden für den Rückflug zur Verfügung stehen. Rodney wollte dann von Paris aus wieder nach London fliegen, wenn er Richard abgesetzt hatte.
Die beiden Männer mußten nicht durch eine aufwändige Sicherheitskontrolle. Das hätte Rodney auch in eine ernste Lage gebracht, weil er die beiden Waffen mitführte. So vermieden die beiden Freunde den Strom der ankommenden Passagiere aus aller Herren Länder und wollten direkt zum Taxistand vor dem Ankunftsgebäude. Doch dort stand kein freier Wagen mehr. Das letzte Taxi setzte gerade mit einer vierköpfigen Familie beladen aus seiner Wartebucht und brummte auf die Straße richtung Innenstadt. Rodney Underhill sah betreten drein. Es könnte noch Minuten dauern, bis ein weiterer Wagen eintraf.
Richard stellte sich etwas abseits von Rodney, um nicht allzu sehr mit ihm zusammen aufzufallen. Erst wenn ein freies Taxi kam, wollte er sich zu seinem Freund begeben. Eine kleinwüchsige Frau mit rotbraunen Locken, die in ein scharlachrotes Sommerkleid gehüllt war und eine Brille mit ovalen Gläsern trug, näherte sich von einer nicht zu überblickenden Seite des Ankunftsgebäudes her und ging auf Richard zu. Sie fragte ihn auf Französisch:
"Entschuldigen Sie, Monsieur? Warten Sie auch auf ein freies Taxi?"
Richard erschauerte, weil ihm die Stimme der Frau wie kaltes Windgeheul in den Ohren klang.
"Äh, ich nicht spreche Französisch, Madame", erwiderte Richard, der seine ohnehin nicht zu guten Sprachkenntnisse nun fast vollständig vergessen zu haben schien. Er und Rodney hatten sich darauf geeinigt, nur mit Madame Faucon Französisch zu sprechen, aber sonst zu leugnen, diese Sprache zu beherrschen.
"Verzeihung, Monsieur", erwiderte die Fremde. Dann ging sie zu Rodney und fragte ihn dasselbe. Auch Rodney tat so, als verstehe er absolut nichts. Er sagte auch nichts, sondern schüttelte nur den Kopf und machte eine bedauernde Geste.
Die Fremde ging daraufhin weiter, mit Blick auf eine Telefonzelle.Sie betrat die Glaskabine und nahm den Hörer des Telefons ab. Dann wählte sie wohl eine Nummer, sagte etwas in die Sprechmuschel und legte den Hörer wieder auf. Richard wunderte sich zuerst, daß die Unbekannte wohl keine Münzen eingeworfen hatte, sah dann aber für einen Sekundenbruchteil die kleine Chipkarte, mit der sie wohl telefoniert hatte. Dann ging die Fremde fort.
Wenige Minuten später trafen zwei Taxis ein. Der erste Wagen sollte wohl vorbestellt worden sein. Der zweite Wagen war frei. So fuhren Richard Andrews und Rodney Underhill aus Marseille heraus und in eine kleine aber saubere Satellitenstadt hinein, wo Madame Faucon leben sollte. Der Taxifahrer brachte sie zu der angegebenen Straße und Hausnummer. Die Straße bot mit ihren sauberen Bürgersteigen und ordentlich gepflegten Vorgärten den Eindruck gutbürgerlicher Ruhe. Rodney Underhill zahlte dem Taxifahrer zum Fahrpreis ein ordentliches Trinkgeld und stieg als erster aus.
Als das Taxi fortrollte, sahen sich die beiden Freunde an. Richard bedeutete Rodney, zuerst auf das Türschild zu sehen. Dieser nickte und ging an das Haus heran, in dem Madame Faucon leben sollte. Er besah sich das Bronzetürschild und kehrte zurück.
"Da steht "Blanche Faucon" drauf. Die wohnt hier wirklich."
"Das glaube ich erst, wenn ich sie leibhaftig vor mir sehe", sagte Richard Andrews. Er warf noch einmal einen Blick auf seine Uhr. Sie zeigte halb zwölf. Er trat an die Tür und klingelte. Ein warmes Ding-Dong erscholl im Haus. Doch niemand regte sich drinnen.
"Na, wollen wir wetten, daß hier niemand wohnt?" Fragte Richard Andrews. Da erklang die Stimme eines älteren Herren von der Straße her.
"Wenn Sie zu Madame Faucon möchten, Messieurs, die ist im Moment nicht daheim."
Rodney und Richard blickten sich an. Dann fragte Richard auf Französisch mit starkem englischen Akzent:
"Wir wollten sie besuchen. Mein Name ist Richard Andrews. Ich wohne derzeit bei ihrer Tochter und kam heute wegen Geschäften nach Marseille. Da dachte ich, ihr Grüße von ihrer Tochter ausrichten zu können. Wo ist Madame Faucon denn?"
"Ach die ist bei ihrer Schwester Madeleine in Lyon. Das kann aber dauern. Da sind Sie beide wohl umsonst gekommen", erwiderte der ältere Herr, der einen grauen Anzug trug.
"Dann müssen wir wohl unverrichteter Dinge wieder fort", meinte Richard Andrews. Der ältere Herr nickte zustimmend und trat in das Haus zurück, vor dessen offener Tür er stand.
"Die Angaben stimmen soweit", stellte Richard Andrews fest. Rodney grinste.
"Sind wir jetzt zufrieden, Richard. Oder willst du mir jetzt erzählen, die hätte wen engagiert, um uns diese Geschichte zu erzählen, womöglich einen Zau..., einen von diesen Leuten?"
"Falls dem so wäre, dann hätte die ja erfahren müssen, daß wir herkommen wollten, bevor wir hier gelandet sind. So schnell kann da nichts laufen, denke ich. Am besten fahren wir wieder zurück, bevor wir noch dumm auffallen. Ruf uns ein Taxi, Herbert!"
Rodney Underhill nahm sein Handy aus der Tasche und wählte die Auskunft, um ein Taxiunternehmen zu erfragen. Als er ein Taxi bestellt hatte, legte Rodney wieder auf und steckte das Handy zurück in die Jackentasche.
Mit dem Taxi, welches eine Viertelstunde später eintraf, ging es zum Flughafen. Dann ging Rodney Underhill zum Büro für Privatfluganmeldungen und kam nach zehn Minuten wieder.
Als das kleine Düsenflugzeug wieder in Paris landete, meinte Rodney zu Richard:
"Ich werde noch den Nachmittag und die Nacht hier zubringen. Dann fliege ich nach London zurück. Nachher kommen meine Vorgesetzten noch auf die Idee, ich hätte wiedermal was unsinniges angestellt."
"Es tut mir Leid, dich damit behelligt zu haben, Rod. Ich dachte, die würde da nicht wohnen", erwiderte Richard. Rodney Underhill schüttelte zurückweisend den Kopf. "Wenn ich nicht diese Merkwürdigkeiten herausgefunden hätte, wäre ich schon längst wieder fortgeflogen, Richard. Du hast mich nicht gegen meine Überzeugung in was reingezogen. Allerdings der Rest dessen, was du mir erzählt hast, ist für mich immer noch unglaublich. Ich weiß jedoch, daß du nie was sagst, wenn du es nicht selbst glaubst oder belegen kannst."
"Das ist alles wahr, Rodney", sagte Richard zur wiederholten Bestätigung, daß er seinem Freund nichts vorgeflunkert hatte. Dieser nickte ihm wohlwollend zu. Dann verließen sie den Flughafen und fuhren mit Rodneys Mietwagen, den er vorsorglich in einem Parkhaus außerhalb des Flughafenbereichs geparkt hatte, zu einer Straße, die in der Nähe der Rue de Liberation lag. Es war nun halb fünf am Nachmittag. Richard ging die restlichen paar hundert meter zu Fuß zum Haus der Brickstons. Rodney Drehte den Wagen um und fuhr in Richtung Hotel Central davon. Er glaubte zwar immer noch nicht an die Geschichten von Hexen und Zauberern, die auf Besen fliegen, sich in Luft auflösen oder Gegenstände in andere Gegenstände verwandeln konnten, wollte jedoch von London aus noch einmal genauer nachhaken, was es mit Catherine Brickston und ihrer Mutter auf sich hatte.
Er begab sich in das Hotel Central, wo er sein Quartier bezogen hatte. Der Portier begrüßte ihn freundlich. Als er den Schlüssel für Zimmer 421 entgegen nahm, wies ihn der Hotelbedienstete darauf hin, daß eine schriftliche Nachricht für Herbert Freemont eingetroffen sei. Er fragte sich, ob das eine Nachricht der Autovermietung war, der er sein Hotel angegeben hatte, um die Wagenpapiere zu bekommen oder die Flugüberwachung, die noch etwas näheres über seinen Flug nach London am nächsten Tag wissen wollte. So nahm er den Umschlag, gab dem Portier ein Francstück und fuhr im Aufzug zum vierten Stockwerk hinauf. In seinem Zimmer öffnete er den Umschlag und stutzte, weil er ein weißes Pergamentstück zwischen die Finger bekam. Er zog den zusammengefalteten Bogen aus dem Umschlag und glättete ihn auf dem Tisch im Hotelzimmer. Er dachte an das, was Richard ihm erzählt hatte, daß diese sogenannten Zauberer ihre Briefe immer auf Pergament schrieben. Dieser Gedanke brachte ein spöttisches Grinsen auf das Gesicht des Geheimdienstlers. Er nahm das nun in voller Länge ausgebreitete weiße Pergament hoch und las die in smaragdgrüner Tinte niedergeschriebene Nachricht:
Mr. Herbert Freemont alias Rodney Underhill
Hótel Central, chambre 421
Paris
France
Im fehlerfreien Englisch stand dann unter der Adresse:
Sehr geehrter Mr. Underhill, zu unserem Bedauern mußten wir feststellen, daß es uns nicht erspart bleibt, mit Ihnen persönlich in Kontakt zu treten, da Sie in den Besitz von Kenntnissen gelangten, die für Sie, sowie auch Ihre gewohnte Umwelt schwer zu verstehen, ja schwer zu verarbeiten sind. Um die für Sie und uns beste Lösung dieses Problems zu finden, bitten wir Sie darum, heute abend gegen 7 Uhr auf dem Parkplatz vor Ihrem Hotel auf unseren Mitarbeiter Solon Latierre zu warten. Er wird Sie erkennen und zu uns geleiten.
Es steht Ihnen frei, ein Peilgerät zur Ortung Ihrer Person mitzuführen oder nicht, da es nichts nützen wird.
In der festen Überzeugung, daß Sie ohne Probleme mit uns kooperieren werden, verbleiben wir
Mit freundlichen grüßen
Rafael Flaubert, Abteilung zur Wahrung magischer Geheimhaltung
P.S. Werfen Sie diesen Brief am besten nach dem Lesen in die Luft, da er sogleich in Flammen aufgeht, sobald Sie ihn gelesen haben!
Rodney Underhill überflog den Text noch mal und mußte dann lachen. Solche Instruktionen am Schluß kannte er von amerikanischen Spionagefilmen. Er schmunzelte und warf den Brief spielerisch in die Luft. Kaum hatte das Pergamentstück seine Hände verlassen, explodierte ein kleiner Feuerball aus blauen Flammen aus der Mitte des Pergaments und verzehrte es so rasch, daß schon nach einer Zehntelsekunde nur noch feiner schwarzer Staub übrig war, der sich zerstreuend auf den Boden herabsank. Der Feuerball war so schnell in sich zusammengesunken und erloschen, daß Rodney an seinem Verstand zu zweifeln begann. Nun war von dem Brief nichts mehr übrig. Kein Beweis war verblieben, daß er eine solche Nachricht bekommen hatte. Er prüfte den Umschlag, auf den seine Hotelanschrift gedruckt war, mehr nicht. Die Fremden hatten mit der Vertraulichkeit des Hotelpersonals gerechnet, vielleicht auch ein hohes Trinkgeld springen lassen, um sicherzustellen, daß nur Rod diesen merkwürdigen Brief bekam. Das mußte er genauer prüfen.
"Hier Herbert Freemont, Zimmer 421", meldete sich der Freund Richard Andrews', als er nach dem Abheben des Telefonhörers die Zentrale des Hotels bekommen hatte. Er verlangte die Rezeption und fragte den Portier, der ihm die Nachricht übergeben hatte, von wem die Mitteilung übergeben worden war. Der diensthabende Portier sagte:
"Ein Bote hat ihn gebracht, ein junger Herr in der Uniform der Schnelldienst-Kompanie, Monsieur. Also ganz seriös."
"Danke, Monsieur", erwiderte Rodney Underhill und legte den Hörer wieder auf.
Rodney überlegte, ob und wie er sich auf diese Verabredung einlassen sollte. Einerseits hatte ihm der Brief gezeigt, daß man seinen richtigen Namen kannte und auch wußte, mit wem er Kontakt hatte. Andererseits war dieses Pergamentstück tatsächlich sofort verbrannt, als er es losgelassen hatte. Dies waren doch gewisse Punkte, die ihn daran glauben ließen, Richard könne tatsächlich recht haben. Doch es hätte ja sein können, daß irgendwer eine raffinierte Methode erfunden hatte, verräterische Briefe nach dem öffnen sich selbst vernichten zu lassen. Vielleicht hatte er nur Glück gehabt, daß er so schnell mit dem Lesen durch war. Doch der Zufall, daß der Brief erst verpuffte, als er aus Rodneys Händen herausflog, erschien doch zu merkwürdig. Daß jemand herausbekommen haben könnte, wer Rodney wirklich war, ließ ihn an Verrat denken. Doch niemanden seiner Kontaktleute hatte er seinen richtigen Namen verraten. Die konnten ihn also nicht verraten haben. Blieb also entweder Richard, um ihm zu beweisen, daß es tatsächlich unheimliche Dinge in der Welt gab, oder jemand hatte ihn direkt beobachtet, ja womöglich fotografiert, wiedererkannt und nun ein Druckmittel, um ihn ... Natürlich! Jemand hatte ihn beobachtet und belauscht. Im Hotelzimmer hier konnte das nicht passiert sein, da Rodney das Radio angedreht hatte und Lauscher damit zur Verzweiflung gebracht hatte. Blieben also nur das Auto und das Flugzeug. Für das Auto sprach, daß in die Tiefgarage jeder hineinkonnte, der im Hotel wohnte oder arbeitete. Gegen das Auto sprach, daß es ausschließlich für den Londoner Geschäftsmann Herbert Freemont ausgegeben worden war und er davon ausgehen mußte, daß dieser Deckname und die Verkleidung seiner eigenen Dienststelle nicht bekannt war, da er sie ausschließlich einmal und nur in Richards Anwesenheit benutzt hatte. Alles mußte seine Firma ja auch nicht wissen!
Für das Flugzeug als Ablegeort für ein Minimikrofon, eine Wanze, sprach, daß eventuell jemand in London ausschließlich auf reiche Leute als Ziel einer Erpressung ausging, die ein Flugzeug anmieteten. Da er innerhalb des Fliegers mit Richard aber nur über die Verwandtschaft von Catherine gesprochen und Richard immer den Decknamen Herbert Freemont benutzt hatte, sprach auch etwas gegen das Flugzeug als Versteck für ein Abhörgerät. Was also hatte denen, die ihm den Selbstvernichtungsbrief zugeschoben hatten, den Tip gegeben, Rodney Underhill sei nicht Herbert Freemont?
"Ich werde den Teufel tun, mich wie ein Schulbube einschüchtern und dann kassieren zu lassen", dachte Rodney Underhill und drehte das Radio an. Es stand noch auf der Rockmusikwelle, die er am Vortag benutzt hatte, um sein Gespräch mit Richard zu übertönen und dröhnte:
"Ganz wie eine böse Hexe schlug sie den Zauberbann
über meine arme Seele, das ich's kaum beschreiben kann."
Rodney grinste gehässig. Dann entschloß er sich, diese geforderte Verabredung nicht einzuhalten. Er wollte das Auto zurückbringen und dann seinem Piloten mitteilen, daß er aus irgendeinem dringenden Grund bereits weitergeflogen sei. Er wollte möglichst schnell möglichst weit kommen, bevor die Verabredungszeit anbrach. So packte er schnell seinen Koffer und fuhr hinunter, um sich abzumelden. Die Prozedur ging relativ schnell. So gelangte "Mr. Herbert Freemont" um kurz nach 5 aus dem Hotel Central und fuhr mit dem Mietwagen zum Flughafen. Um sechs Uhr hatte er es geschafft, den chaotischen Feierabendverkehr der Riesenstadt zu durchqueren und den Flughafen zu erreichen, wo er zum einen eine Nachricht für den Piloten der Privatmaschine hinterließ, er könne die Maschine am nächsten Tag allein zurückfliegen. Weil er die Charter im Voraus bezahlt hatte, war das wohl kein Problem für die Firma, die ihm den Privatjet überlassen hatte. Danach erkundigte er sich nach einem Flug innerhalb Frankreichs, der möglichst schnell starten sollte. Man teilte ihm mit, daß alle Inlandsflüge bereits ausgebucht seien und sonst auch kein freier Platz in einer Maschine zu bekommen war. So nahm er sich ein Taxi und fuhr zum Ostbahnhof, wo er kurz vor sieben eintraf und auf gut Glück einen Schnellzug erwischte, mit dem er in Richtung belgische Grenze fahren würde. Als der Schnellzug den Bahnsteig hinter sich gelassen hatte, atmete Rodney auf. Er saß in einem Großraumwagen, den er sich mit zehn anderen Fahrgästen teilte, darunter eine Familie mit drei kleinen Kindern. Wer auch immer meinte, ihn kassieren zu wollen, würde alle Zeugen beseitigen müssen, was er nur sehr skrupellosen Leuten zutraute. Um noch mehr Leute um sich herum zu haben besuchte Rodney den Speisewagen, wo er sich für einen Wucherpreis ein mehrgängiges Menü bestellte, das ihn ohne Hast und unnötige Verzögerung anderthalb Stunden zum Besuch dieses Wagons berechtigte. Dann verließ er den Speisewagen und ging mit seinem Koffer, den er immer mit sich trug, in einen anderen Großraumwagen, wo mindestens zwanzig Leute saßen. Er erwischte noch einen freien Platz und tat so, als wolle er lesen. Damit vermied er es, daß irgendwer ihn ansprach. Er wollte im Falle, daß jemand ihn gezielt anrief so tun, als verstehe er kein Französisch. Dem Schaffner, der die Fahrkarten kontrollierte, zeigte er seinen Fahrausweis vor, ließ diesen abstempeln und nahm ihn schweigend zurück.
.
Um kurz vor halb neun war die Grenzkontrolle für die Einreise nach Belgien. Rodney zeigte den Reisepass auf den Namen Herbert Freemont und wurde nicht weiter behelligt. Die Prozedur dauerte ungefähr eine Viertelstunde, dann fuhr der Zug weiter auf den belgischen Geleisen. Rodney war aus Frankreich raus! Wenn das das Ziel der Unbekannten war, hatten sie es zwar erreicht, aber ohne ihn zu kriegen. So gut hatten sie ihn also doch nicht ...
"Mr. Freemont aus London?" Fragte eine Männerstimme in den Großraumwagen hinein. Rodney verhielt sich ganz still. Er war darauf trainiert, nicht aufzufallen, wenn jemand ihn beim Namen oder einem Decknamen nannte. Wie oft waren Außenagenten schon aufgeflogen, weil sie sich nicht so gut beherrschen konnten und bei der nennung ihres Namens zusammengezuckt waren oder sich umdrehten.
"Mr. Herbert Freemont?" Fragte die Stimme wieder. Rodney drehte sich nur flüchtig um, wie jemand, der sehen will, ob wer antwortet. Dabei sah er einen jungen Mann in einem eleganten Anzug aus mitternachtsblauem Samt, mit weißem Hemd und ebenso mitternachtsblauer Krawatte. Hinter ihm ging eine winzige Frau mit rotbraunen Locken her, die Rodney sofort wiedererkannte. Es war die Dame, die Richard und er am Taxistand des Marseiller Flughafens gesehen hatten. Ohne eine Miene zu verziehen drehte sich Mr. Rodney Underhill wieder um, auf die Zeitung blickend, die er gerade las. Dabei dachte er darüber nach, wie groß der Zufall sein mochte, daß dieses winzige Persönchen mit den rotbraunen Haaren und der Brille mit den ovalen Gläsern ausgerechnet hier in diesem Zug wieder auftauchte und befand, daß es kein Zufall sein konnte. Doch hier waren genug Leute um ihn herum. Wer auch immer das war, hier würde er oder sie nichts gegen ihn unternehmen können, wenn nicht der ganze Zug in Panik geraten sollte. So war es auch. Die beiden, die Herbert Freemont sprechen wollten, gingen durch den Wagen, verließen ihn und gingen in den nächsten Wagen hinüber. Wahrscheinlich, so dachte Rodney, würden sie abwarten, wann und wo er aussteigen würde. Denn daß die Unbekannte ihn erkannt hatte, mußte er mit sicherheit annehmen.
Es dauerte noch eine geraume Zeit, bis die Endstation des Zuges, der Brüsseler Hauptbahnhof, in Sicht kam und Rodney Underhill sich zum Aussteigen fertig machen mußte. Er nahm seinen Koffer und suchte die kleine Toilettenkabine auf, wo er schnell sein blondes Haar entfärbte und den Schnurrbart abnahm. Er nahm die Kontaktlinsen heraus, die seine braunen Augen überdeckt hatten und zog sich schnell einen einfachen Pullover und eine Jeanshose an. Wer da aus der Kabine kam, war in keinem Detail mehr als Geschäftsmann Herbert Freemont zu erkennen. So stieg Rodney aus dem Zug und mischte sich geschickt unter die anderen Fahrgäste. Im Training hatte man ihm eingeschärft, daß er bei Bedrohung in einer Gruppe unbeteiligter weniger gefährdet war, wenn jemand ihn verhaften oder gar ermorden wollte. Da Rodney seine möglichen Gegenspieler ja schon gesehen hatte, konnte er sich darauf einrichten, ihnen auszuweichen, wenn sie auftauchten. Doch ein Problem hatte er noch:
Der Wochenendkoffer, den er mitgenommen hatte, war derselbe, wie der von Herbert Freemont. Da in dem Koffer die Waffen und noch diverse andere nützliche Dinge waren, hatte Rodney ihn nicht im Zug lassen und somit ohne den Rest von erkennbarer Ähnlichkeit mit Herbert Freemont aussteigen können. So mußte er schnell sehen, daß er einen Wagen oder eine Straßenbahn bestieg, um weiterzukommen, bevor es denen, die ihm nachstellten, gelang, ihn doch noch zu erkennen. Er ging zum Taxistand, vermied es jedoch, gleich in den vordersten Wagen zu steigen. Falls jemand ihm auflauerte, konnte er oder sie über funk oder Handy einen Mitarbeiter anweisen, als Taxifahrer getarnt die Zielperson aufzunehmen. Er wartete, bis die ersten vier Wagen besetzt waren und ging dann zum fünften Wagen, der von einem Herrn so alt wie Rodney selbst gefahren wurde. Rodney wies ihn auf Englisch an, ihn zum Flughafen zu bringen. Zwar würde innerhalb der nächsten zwei Stunden wegen der Nachtruhe kein Flugzeug mehr starten, aber vielleicht erwischte er noch eins Richtung London, besser Birmingham oder Edinburgh, weil er davon ausgehen konnte, daß man ihn vielleicht in London erwartete, wenn er denen aus dem Zug entwischen konnte. Das Katz-und-Maus-Spiel gehörte für Rodney zum alltäglichen Geschäft und war von ihm nicht verlernt worden, nur weil die Staaten osteuropas nun nicht mehr die bösen Feinde der westlichen Zivilisation sein wollten. Doch eines war und blieb bei diesem Spiel immer spannend: Die Antwort auf die Frage, wer eigentlich die Katze war.
Bis eben hatte Rodney sich treiben lassen, war in Deckung gegangen und suchte nun sein Heil in der Flucht auf die heimische Insel. Doch diese Aktionen weckten auch die Neugier, wer ihn eigentlich jagte, weshalb und wohin. Das dachte er kurz, als das Taxi aus seiner Wartebucht herausscherte und vom Bahnhofsvorplatz abfuhr. Der Taxifahrer konnte wohl kein Englisch. Nur das Wort für Flughafen schien ihm geläufig zu sein, da es, wie Rodney wußte, in fast allen Ländern der Welt mehr und mehr das entsprechende Wort der eigentlichen Sprache verdrängte. Der Mann fuhr auf eine Schnellstraße und beschleunigte den Wagen, einen silbergrauen Mercedes. Als jedoch kein Auto mehr vor oder hinter dem Taxi zu sehen war, geschah etwas, daß Rodney nie für möglich gehalten hatte, auch wenn Richard ihm davon berichtet hatte.
Mit einem lauten Knall sprang der Wagen vorwärts, hob dabei leicht vom Boden ab und landete unmittelbar danach in einer mittelalterlich gepflasterten Straße, die sich durch merkwürdig gebaute Häuser zog. Quietschend bremste der Wagen. Die Türen flogen wie von starken Elektromotoren bewegt auf, und der Fahrer sagte auf Französisch:
"Monsieur, wir haben das Ziel erreicht. Die Fahrt kostet Sie nichts. Ich nehme nämlich kein Muggelgeld."
"Wo sind wir?" Fragte Rodney auf Englisch, als habe er nicht verstanden, was der Fahrer da gerade gesagt hatte.
"Tun Sie bitte nicht so, als könnten Sie kein Französisch, Monsieur Underhill. Ich wurde instruiert, darauf zu warten, daß Sie am Hauptbahnhof ein Taxi nehmen und bei mir zusteigen sollten. Professeur Fixus hat mir vom Bahnhof aus noch eine schnelle Mitteilung zukommen lassen, daß Sie den fünften Wagen nehmen würden. Also habe ich mich so weit zurückfallen lassen, daß Sie bei mir einsteigen mußten. Ich habe den Auftrag, Sie in der Irrlichtallee abzusetzen, wo unser Ministerium liegt. Muggelautos sind hier nur für wenige Minuten gestattet. Also steigen Sie bitte aus, Monsieur!"
"Und was ist, wenn ich nicht will, Sie Taschenspieler?" Fragte Rodney wütend und sah den Fahrer an.
"Das ist kein Problem", sagte der Fremde und zog einen schlanken Stab aus Kiefernholz unter seinem Sitz hervor, tipte damit gegen das Armaturenbrett und wünschte:
"Angenehmen Aufenthalt!"
Mit einem lauten Knall flog das Dach des Mercedes nach hinten auf und mit der Wucht, als sei unter Rodney eine Mondrakete losgegangen, wurde er mit seinem Koffer und dem Sitz aus dem Wagen geschleudert, flog senkrecht nach oben und segelte zielgenau auf den breiten Marmorbalkon eines imposanten Gebäudes mit zehn Stockwerken, das aus Granitblöcken und schwarzem und rotem Marmor erbaut worden war. Die Leute in dieser seltsamen Straße lachten, als sie den fliegenden Geheimagenten erblickten und klatschten Beifall für die gelungene Landung auf dem Balkon.
Rodney wußte nun endgültig, daß er es mit echter Hexerei zu tun hatte. Was Richard erzählt hatte stimmte in allen Punkten. Er wußte nun auch, daß sie ihn nicht mehr unbehelligt davonziehen lassen würden. Entweder würden sie ihn behexen, damit er tat, was sie wollten, ihn verwandeln, vielleicht in ein Sofakissen, wenn sie nicht gleich mit einem Todesfluch oder ähnlichem sein Leben beenden wollten. Alle Geschichten, die er in der Kindheit über Hexen, Zauberer, Dämonen und Elfen gelesen oder gehört hatte, rasten im Überschalltempo durch seinen Verstand. Doch er konnte nichts brauchbares finden, um sich hier und jetzt zu retten. Das einzige, was er hatte, waren seine Pistolen im Koffer. Er klappte den Koffer auf und zog die eine Waffe heraus, die er obenauf gelegt hatte, um im zweifelsfall nicht wehrlos zu sein.
"Die Waffe geben Sie besser her!" Befahl eine tiefe Frauenstimme auf Englisch. Rodney drehte sich um, zielte und drückte ab, noch ehe die Fremde ihren Zauberstab aus Rotbuchenholz auf ihn gerichtet hatte. Peng! Der Schuß hallte wie in einer Bergschlucht von den Häuserwänden dieser Straße wider. Piiioing! Die Kugel prallte kurz vor dem veilchenblauen Umhang der Fremden von einer Art unsichtbaren Panzer und sauste als unschädlicher Querschläger davon. Rodney erinnerte sich daran, daß es in einigen Geschichten hieß, Zauberwesen, insbesondere Werwölfe und Vampire, könnte man nur mit reinen Silber- oder Goldgeschossen treffen und töten, stand für einige Zehntelsekunden starr da. Dann zielte er auf den unbedeckten Kopf der Hexe. Er wollte gerade abdrücken, als ihn eine unsichtbare Kraft packte, hochriss und nach hinten überwarf. Die Pistole ging zwar noch los, doch die Kugel schwirrte wirkungslos in den Nachthimmel hinauf. Dann entriss ihm ein roter Blitz von irgendwo her die Waffe und warf Rodney zu Boden.
"Aus!" Dachte Rodney der Selbstaufgabe nahe. "Jetzt haben sie dich am Hintern."
"Stehen Sie auf!" Befahl die Hexe im blauen Umhang und zeigte mit ihrem Zauberstab auf den Geheimdienstler.
"Dahin, wo Sie herkommen und hingehören!" Fauchte Rodney Underhill trotzig wie ein Kind, das nicht zeigen will, daß es Angst hat.
"Da werde ich auch wieder hingehen, wenn die Angelegenheit, deretwegen ich hier bin, erledigt wurde", sagte die Fremde. Ein Mann, wohl ein Zauberer, trat von hinten an Rodney Underhill heran und meinte auf Französisch:
"Das hätte auch schiefgehen können, Alecto."
"Hätte es nicht, Hector. Die Drachenhautrüstung unter meinem Umhang wehrt alle Geschosse rund herum ab. Er hätte mich nicht treffen können", erwiderte die Hexe. Rodney meinte dazu nur:
"Das mag für Bleikugeln gelten, Hexe."
"Für alle Kugeln, Muggel", kam die prompte Antwort der Fremden zurück. "Daß die Muggel immer noch glauben, Silber oder Gold sei grundsätzlich magisch, nur weil es Zauberer gibt, bringt die eines Tages noch um."
Der Zauberer, der wohl Hector hieß und derjenige war, der Rodney schon im Zug gesucht hatte, half dem nun kleinlauten Geheimdienstler auf die Beine und führte ihn widerstandslos in das Büro, das hinter der zweiflügeligen Balkontür aus Bronze und Kristall lag. Die Hexe, die wohl auf den Vornamen Alecto hörte, folgte und winkte der Tür mit dem Zauberstab, als sie hindurch war. Ohne Knarren schlossen sich beide Flügel. Mit leichtem Klick wurde eine verborgene Verriegelung geschlossen.
Auf einem breiten Schreibtisch standen große Kerzenleuchter, deren weiße Kerzen in einem warmen gelben Licht erstrahlten, als Hector mit seinem Zauberstab winkte. Dann öffnete sich die schwere Eichenholztür des Büroraums und zwei weitere Frauen und ein Mann, ein Herr im heidekrautfarbenen Umhang, der einen breitkrempigen schwarzen Filzhut unter dem rechten Arm und einen schwarzen Vollbart mit grauen Strähnen im Gesicht und einen Kranz grauschwarzer Haare auf dem Kopf trug, betraten den Arbeitsraum. Eine der Hexen war hoch und schlank wie eine Bohnenstange und besaß goldblondes, schulterlanges Haar, das von einer silbernen Schnur hinter dem Nacken zusammengehalten wurde. Sie sah den Londoner Besucher wider Willen aus türkisfarbenen Augen an. Neben ihr wirkte die zweite Hexe noch winziger, als sie ohnehin schon war. Es war die Frau, die hinter Hector durch den Zug gegangen war, die er mit Richard in Marseille getroffen hatte, die ihn nun durch ihre Brille mit ovalen Gläsern vorwurfsvoll ansah, wie eine Lehrerin ein ungehorsames Schulkind zu betrachten pflegte.
"Willkommen in der Irrlichtallee 60, im belgischen Ministerium für Magie, Monsieur Freemont, oder sollte ich Sie mit ihrem Geburtsnamen ansprechen, Monsieur Underhill. Soweit uns in der Kürze der Zeit mitgeteilt werden konnte, arbeiten Sie für einen geheimen Nachrichtendienst Großbritanniens. Allerdings, so erfuhr ich auch, waren Sie nicht im Rahmen Ihrer beruflichen Verpflichtungen in Frankreich tätig. Um der Höflichkeit Willen möchte ich nicht versäumen, die Damen, den jungen Herren und mich vorzustellen. Die Dame, die Sie in dieses Büro geleitet hat, ist eine Kollegin aus dem englischen Ministerium für Zauberei, Alecto Hooks, meine alles überragende Kollegin Leonie Ruiter", wobei er auf die hoch aufgeschossene Hexe deutete, "sowie die respektable Madame Professeur Boragine Fixus aus marseille, die an der Zaubererschule Beauxbatons unterrichtet", sagte er und deutete auf die winzige Frau mit der Brille. "Der junge Herr, der Sie im Zug aufsuchen sollte, ist Monsieur Hector Jare. Ich selbst bin Monsieur Simon van Heldern, Leiter der Abteilung zur Wahrung der Geheimhaltung der Magie vor Nichtmagiern und damit die höchste Instanz in diesem Land, die mit Ihrem Fall zu tun hat."
"Mit meinem Fall? Was meinen Sie damit?" Wollte Rodney Underhill wissen, der sein antrainiertes Gefühlsunterdrückungsvermögen ausschöpfte und ganz ruhig dastand und beinahe gelangweilt wirkte.
"Sie wurden als mögliche Gefährdung der von uns mit allen im Rahmen Menschenleben achtender Mittel betriebenen Geheimhaltung der Zauberei vor Nichtmagiern angezeigt, und zwar von Professeur Fixus", sagte die hohchgewachsene Hexe, die als Leonie Ruiter vorgestellt worden war. Rodney blieb äußerlich immer noch ruhig. Er dachte konzentriert daran, seinen Herzschlag langsam zu halten. Das Training erlaubte ihm, seine körperliche Verfassung in gewissen Grenzen zu kontrollieren, um nicht in Schweiß auszubrechen oder unvermittelt rot anzulaufen.
"Ich wurde angezeigt? Wie lustig", sagte Rodney spöttisch klingend.
"Für Sie vielleicht, Monsieur, aber keineswegs für uns", sprach die als Professeur Fixus vorgestellte kleine Frau mit einer Stimme, die wie scharfes Windgeheul durch Türritzen klang. "Ich habe Sie und Monsieur Andrews am Flughafen gesehen. Ich kenne Monsieur Andrews' Gesicht, weil er bei uns aktenkundig ist. Ich erfuhr, daß er Sie als Freund und kompetenten Helfer in seine Familiensituation einweihte und damit auch mit unserer Existenz vertraut machte. Das ist ihm jedoch per Gesetz untersagt, und er weiß es auch. Ich habe sie daher solange beobachtet, wie Sie durch marseille fuhren, zu Ihrem Flugapparat zurückkehrten und beschloß, Sie in Paris höchstselbst zu überwachen. Ich teilte dem französischen Zaubereiminister mit, was geschehen war und bekam die Anweisung, mit der Abteilung zur Geheimniswahrung zusammenzuarbeiten. An und für sich hätten sie heute abend Madame Spinoza antreffen sollen, die in Frankreich die Abteilung für Geheimniswahrung führt. Aber Sie meinten, sich uns durch eine schnelle Flucht entziehen zu können. Es war gut, daß ich Sie weiter unter Beobachtung hielt. So erfuhren wir, daß Sie ihr Fluggerät allein nach England zurücksenden wollten und zum Bahnhof fuhren, wo Sie den Zug nach Brüssel nahmen. Monsieur Jare und ich stiegen im Schutz von Tarnumhängen zu und warteten, bis wir in die Nähe der Grenze kamen. Dann suchten wir den Wagen, wo Sie saßen und fanden Sie. Dann war es nur noch eine Kleinigkeit, zu arrangieren, daß Sie hier in Brüssel von uns in Empfang genommen werden. Zum Glück für Sie und uns gehören Sie nicht zur Kategorie der in die Enge getriebenen Ratte, die um sich beißt und kratzt, wenn man sie fangen will."
"Mein Name ist Rodney Underhill, Leutnant des britischen Geheimdienstes, Registrierung ...", setzte Rodney Underhill an, die übliche alleinige Aussage zu machen, die im Falle einer gelungenen Enttarnung und Gefangennahme zu machen war. Professeur Fixus fiel ihm ins Wort:
"... 2-789-121. Versuchen Sie bitte nicht, Ihr übliches Geplänkel mit der antrainierten Aussageverweigerungstaktik. Ich vermag, Ihre Gedanken zu erfassen. Ich bin registrierte Telepathin."
Das saß! Rodney Underhill hatte sich schon die ganze Zeit gefragt, wieso diese Zauberer auf ihn verfallen waren, woher sie seinen richtigen Namen kannten und auch wußten, was ihm Richard erzählt hatte. Es war im Moment egal, weshalb Richard ihm das erzählt hatte. Aber wenn diese kleine Hexe dort vor ihm wirklich Gedanken lesen konnte, war alles klar für ihn. Er hatte mal davon gehört, daß russische Geheimdienste mit außersinnlich begabten Leuten arbeiten würden. Doch bis zu diesem Tag hatte er immer geglaubt, echte Gedankenleser oder Hellsehr seien nur ein Wunschtraum für Geheimdienste und ein Alptraum für deren Gegenspieler.
"Soso, Sie können also Gedanken lesen?" Wandte sich Rodney an Professeur Fixus. "Dann scheint es Ihnen egal zu sein, daß das, was wer denkt, dessen persönliches Eigentum ist, solange er oder sie nicht bereit ist, das gedachte preiszugeben, oder haben Sie in Ihrer merkwürdigen Welt keine Gesetze?"
"O doch, die haben wir. Doch das Gesetz der Geheimhaltung war in diesem Moment alles überragend", sprang Monsieur van Heldern ein. Dann verlas er kurz, was die Runde der Hexen und Zauberer erfahren hatte und welche Maßnahmen zu treffen waren.
"Dem französischen Ministerium für Zauberei zu Paris ging gegen 12.30 Uhr eine Mitteilung von der hier anwesenden Professeur Boragine Fixus zu, dernach sie zwei Nichtmagier am Flughafen von Marseille, Frankreich, antraf, die sich darüber verständigt hatten, zu beweisen oder zu widerlegen, daß eine Madame Blanche Faucon Mitglied der Zaubererwelt ist, indem ihr an ihrem angegebenen Wohnort ein überraschender Besuch abgestattet werden sollte. Bei den nichtmagischen Personen handelte es sich nach Aussage von Professeur Fixus um einen blondhaarig erscheinenden Mann namens Rodney Underhill, der unter dem Decknamen Herbert Freemont auftrat, sowie dem bei den Zaubereiministerien zu Großbritannien und Frankreich hinlänglich aktenkundigen Doktor der organischen Chemie Richard Andrews. Auf Grund der unter dem Aktenzeichen, das hier nichts zur Sache tut, registrierten Befähigung Professeur Fixus', verbalisierte Gedanken ohne Lautäußerung von von ihr gesehenen Personen zu erfassen, erfuhr sie, daß Rodney Underhill zum einen ein Mitarbeiter eines geheimen Nachrichtenbeschaffungsdienstes in Großbritannien und zum zweiten im vollen Umfang in die zwischen Dr. Richard Andrews und der magischen Gesellschaft bestehenden Verbindung über dessen magisch talentierten Sohn Julius ins Bild gesetzt sei. Sie folgte daher dem Gebot, Gefahren für die allen Zaubereigesetzen übergeordnete Geheimhaltung der Zauberei vor nichtmagischen Personen anzuzeigen und gab im vollen Umfang über die von ihr erfahrenen Einzelheiten der Gefährdung Auskunft. Im Zuge einer sofortigen Gegenmaßnahme wurde sie aufgefordert, zusammen mit dem französischen Mitarbeiter der Abteilung zur Geheimhaltung Solon Latierre sicherzustellen, daß die aufgekommene Bedrohung beseitigt wird, ohne dem darin verwickelten Nichtmagier, Rodney Underhill, körperlichen oder geistig-seelischen Schaden zuzufügen."
"Na und?" Gab Rodney verächtlich zurück.
"Sie zogen es vor, sich durch die Flucht der erfolgreichen Durchführung dieser Maßnahme zu entziehen und lösten somit eine stille Fahndung nach Ihnen aus, die hier in Brüssel zu Ihrer Festsetzung führte. Soviel zur behördlichen Seite dessen, was Sie und uns betrifft."
"Und jetzt?" Fragte Rodney, der mit seinem Leben abschloß, da er nicht glaubte, daß er mit dem, was er nun wußte, unbehelligt davonkommen würde.
"Da die telepathische Kenntnisgewinnung im Rahmen der Zaubereigesetze nicht vor Gericht anerkannt wird, sofern nicht in Anwesenheit von Zeugen wahrheitsgemäß ausgesagt wurde, was bereits auf telepathischem Weg erfahren wurde, mußten wir Sie herzitieren, um von Ihnen alles zu erfahren, was Sie wissen, wie Sie in den Besitz des Wissens gelangten und wie Sie damit umzugehen planten", sagte Leonie Ruiter, die sich von Monsieur van Heldern die Erlaubnis zu sprechen eingeholt hatte. Rodney grinste gehässig. Dann stieg eine Welle von Angst in ihm auf, die er in den letzten Jahren nicht mehr gespürt hatte. Sie würden ihn foltern oder unter Wahrheitsdrogen setzen, vielleicht, das konnte er sich sogar vorstellen, unter einen magischen Zwang nehmen, um zu hören, wie Richard ihm alles erzählt hatte, was er in den letzten beiden Jahren erfahren hatte. Professeur Fixus, die wohl seine Gedanken mithörte, lächelte überlegen, sah den Agenten dann aber beruhigend an.
"Und wenn ich mich weigere, mich von Ihnen verhören zu lassen, da Sie meiner Auffassung nach kein Recht dazu haben?"
"Dann bleibt uns als sichere Alternative die Korrektur Ihres Erinnerungsvermögens. Das würde in Ihrem Fall dazu führen, daß Sie alles vergessen, was Sie seit ihrem Start nach Paris erlebt haben, da wir nicht genau erfahren konnten, welche Erinnerungen wir gezielt verändern können und welche nicht", sagte Alecto Hooks. "Wir greifen nicht zu Gewaltmaßnahmen. Denn dann wären Sie schon liquidiert worden, wie es früher in Organisationen wie der Ihren hieß."
"Das wäre aber sehr dumm von Ihnen, wenn Sie mir zwei volle Tage aus dem Gehirn löschen, Ladies und Gentlemen. Denn dann würde ich mich fragen, was so heftig auf meinen Schädel eingedroschen hat, mich zum Arzt begeben, der feststellt, daß ich von irgendwo her eine Amnesie erlitten habe und nachforschen, wie das passiert ist. Meine Organisation würde sich das nicht tatenlos ansehen ..."
"Ihre Organisation weiß nicht, wo Sie waren und was Sie taten. Halten wir uns nicht mit solchen überflüssigen Diskussionen auf!" Sagte Madame Ruiter und hob ihren Zauberstab. Unvermittelt schossen goldene schlanke Ketten aus den Lehnen des Stuhls, auf dem Rodney saß, legten sich fest um seine Arme und den Brustkorb. Auch um seine Fußgelenke schlängelten sich magische Ketten und banden sie fest an die Stuhlbeine. Rodney versuchte, sich mit aller Gewalt mit dem Stuhl umzuwerfen, doch der Stuhl stand wie einbetoniert auf dem Boden. Alecto Hooks sah Monsieur van Heldern an, der nickte. Die Hexe aus England zog aus einer Tasche ihres blauen Umhangs eine Flasche mit einer kristallklaren Flüssigkeit. Wie von selbst flog ein kleiner Trinkbecher zu ihr. Sie füllte etwas von der Flüssigkeit in das Trinkgefäß und ging auf den gefesselten Geheimdienstler zu. Dieser warf seinen Kopf herum, als sie sich seinem Mund näherte. Doch Hector Jare tipte mit seinem Zauberstab an den Hals Rodney Underhills, der das Gefühl hatte, in einen Schraubstock geraten zu sein. Wehrlos mußte er es sich gefallen lassen, wie Alecto Hooks ihm den Inhalt des kleinen Bechers einflößte und ihn dazu zwang, zu schlucken. Dann erst gab Hector den Nacken des Agenten frei.
Unvermittelt fühlte sich Rodney frei und unbeschwert, als säße er nicht in einem Verhör, sondern am Strand eines weiten Meeres und genieße Sonne Wind und Wellen. Dann hörte er eine Frage, wie aus weiter Ferne:
"Wie heißen Sie?"
"Rodney Underhill", antwortete Rodney ohne nachzudenken. Ja ihm war es auf einmal ein Bedürfnis, alle Fragen zu beantworten, die ihm gestellt würden, ohne zu lügen oder was zu verheimlichen.
"Was taten Sie in Paris?" kam die nächste Frage, die er sofort wahrheitsgemäß beantwortete. Er dachte überhaupt nicht an Widerstand. Wozu auch? Die Situation war nicht gefährlich, und wer da fragte, durfte ruhig alles wissen, fand der Geheimdienstler.
So wurde er eine Stunde lang befragt und erzählte haarklein alles, was er erlebt, gesagt und getan hatte. Was ihm Richard erzählt hatte, mit wem er Kontakt aufgenommen hatte und woher er diese Kontaktleute kannte. Alles in allem sprudelte es aus Rodney heraus, was nicht einmal seine Vorgesetzten von ihm erfahren hätten. Doch das Wahrheitselixier, das er hatte schlucken müssen, versetzte ihn in diese Stimmung, alles auszuplaudern, wenn er danach gefragt wurde. Kein Schmerz zwang ihn dazu, alles zu sagen. Er dachte nicht einmal daran, daß man ihm ein Wahrheitselixier eingeflößt hatte. Madame Ruiter, Monsieur Jare und Ms. Hooks notierten die Aussagen wortwörtlich. Monsieur van Heldern, der die Fragen stellte, hatte vor sich einen großen Schreibblock, über dem eine giftgrüne Schreibfeder von selbst herumsauste und alles, was Rodney sagte, wortgetreu auf die Pergamentseiten schrieb. Dann war das Verhör vorbei. Monsieur van Heldern kontrollierte die Mitschriften und sagte dann:
"Es ist nicht einfach, Mademoiselle Hooks. Monsieur Andrews hat so detailiert und häufig seine Erlebnisse geschildert, daß mit einer einfachen Gedächtniskorrektur nichts gewonnen ist, ohne Gefahr, tatsächlich unliebsame Gedächtnislücken zu hinterlassen. Ich schlage vor, den Muggel unter einen magischen Eid zu nehmen, daß er die Dinge, die er erfahren hat, nicht an weitere Personen weitergibt. Der magische Eid schützt ihn auch vor den primitiven Verhörmethoden der Muggel."
"Wenn Sie meinen, daß dies sicherer sei, machen wir es so, Monsieur van Heldern", stimmte Alecto Hooks etwas mißmutig zu.
Als die Wirkung des Wahrheitselixiers abklang, brachte ein Mitarbeiter von Monsieur van Heldern einen schwarzen Steinblock in das Büro und stellte ihn auf den Tisch. Rodney, dem nun klarwurde, daß er gerade dem teuflischsten Wahrheitsserum zum Opfer gefallen war, von dem er je gehört hatte, protestierte. Dann sagte Monsieur van Heldern mit befehlsgewohnter Stimme:
"Wir verlangen von Ihnen, daß Sie mit beiden Händen auf diesem Stein schwören, alles, was Ihnen Richard Andrews erzählt hat, für alle Zeiten für sich zu behalten. Weigern Sie sich, diesen Eid zu schwören, erfolgt die radikale Gedächtniskorrektur, bei der sicherlich eine Woche erlebter Ereignisse aus ihrem Erinnerungsschatz verlorengeht."
"Ach, ich schwöre auf diesen Stein. Was passiert, wenn ich mich nicht daran halte und gleich zu Hause alles ins Internet schreibe, was ich hier mitbekommen habe?"
"Die Magie des Eidessteins ist so mächtig, daß Sie es nicht schaffen, den Eid zu brechen, ohne ein sehr schlechtes Gewissen zum einen und körperliche Schwächung zum anderen zu erleiden. Dagegen werden Sie schwer Widerstand leisten können. Allerdings kann Sie auch niemand gegen Ihren Willen mit nichtmagischen Methoden zum Verrat zwingen."
"Ich denke gerade daran, wie es ist, wenn ich meinen Vorgesetzten mitteile, was ich erlebt habe. Sie würden mich für geisteskrank erklären. Insofern wäre es dumm von mir, das alles weiterzuerzählen", erkannte Rodney, der kurz überlegt hatte, was passierte, wenn er am nächsten Tag zu seinen Vorgesetzten gehen und ihnen von Hexen und Zauberern erzählte. Also legte er widerstandslos beide Hände auf den Stein und schwor, über alles, was er von Richard Andrews gehört und danach erlebt hatte zu schweigen, solange er lebte und nur die Dinge zu berichten, die nicht mit Magie und einer Welt der Zauberei zu tun hatten, weder mit gesprochenen Worten, noch in geschriebener Form. Kaum hatte er die ihm vorgebetete Eidesformel gesprochen, kribbelte es in seinen Händen. Der Stein erwärmte sich so stark, daß Rodney glaubte, eine eingeschaltete Herdplatte zu berühren. Er wollte die Hände fortziehen, weil er Angst hatte, sich zu verbrennen. Doch er bekam die Hände nicht von der rauhen Oberfläche des Steines. So fühlte er, wie die Hitze gerade so stark wurde, daß sie nicht schmerzte, wie ein Strom unbeschreiblicher Kraft durch seinen Körper floss und ihn irgendwie mit dem Stein verband. Dann war der Zauber auch wieder vorbei. Der Stein kühlte von einer Sekunde zur anderen auf die Temperatur herunter, die er besessen hatte, als der Eid begonnen wurde. Rodney bekam seine Hände ohne Probleme frei und sah die Hexen und Zauberer an.
"Diese magische Bindung hält vor, bis Sie sterben, Monsieur Underhill. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, diese Verbindung zu lösen: Ein Ministerialbeamter trennt die Verbindung mit Hilfe dieses Steines wieder, oder das gesamte Wissen, das zu verschweigen Sie geschworen haben, geht aus Ihrem Gedächtnis verloren", erklärte Monsieur van Heldern.
Der Rest war eine Kleinigkeit. Rodney wurde mit dem Taxi, das ihn in diese merkwürdige Straße geschafft hatte, zum brüsseler Flughafenhotel befördert, wo er die Nacht verbrachte und am nächsten Morgen nach London zurückflog.
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Richard Andrews kehrte mit gemischten Gefühlen in das Haus der Brickstons zurück. Er wußte nun genauso wenig, wie vorher auch. Jedoch hatte er nun noch Rodney Underhill in seine Probleme mit hineingezogen und dachte daran, ob das von diesen Zauberern hingenommen würde, falls die das herausfinden würden. Er beschloß, sich nichts anmerken zu lassen. So unterhielt er sich mit Catherine wie beiläufig darüber, daß er aus geschäftlichen Gründen den ganzen Tag unterwegs war, konnte sie damit abwimmeln, daß er über seine Geschäfte selbst nichts erzählen durfte und bat seine Frau um Entschuldigung, weil er sie den Tag über alleingelassen hatte. Sie erwiderte darauf nur:
"Ich habe heute einen schönen Tag verbracht, Richard. Ich war auf dem Wochenmarkt, wo ich frisches Obst und Käse gekauft habe, und dann war ich mit Catherine zusammen in preiswerten Modegeschäften. Es ist faszinierend, wie schön sich eine Frau anziehen kann, wenn sie nicht darauf besteht, Dior, Lagerfeld oder ähnliches zu tragen, ohne viel Geld ausgeben zu müssen. Die nächsten Parties können kommen."
"Ach, du hast einen Frauentag verbracht", gab Richard etwas gehässig klingend zurück. Catherine lachte nur schallend und meinte:
"Wer in dieser Stadt ist, sollte auch alles nutzen, was sie zu bieten hat, sofern es legal ist und nicht gegen die eigenen Anschauungen verstößt. Julius hat es letztes Jahr sehr gut gefallen, bis Joe mit ihm fortfuhr."
"Soso", sagte Richard, der nicht darauf angesprochen werden wollte, daß sein Sohn gegen seinen ausdrücklichen Willen von diesen Hexen und Zauberern fortgeholt und zur Rückkehr in dieses Hogwarts getrieben wurde.
"Was hast du heute abend vor?" Fragte Richard Andrews seine Frau. Diese entgegnete, daß sie noch nichts geplant habe, da sie nicht wußte, wann er wiederkommen würde. Richard Andrews schlug vor, einen Theaterbesuch zu machen. Es gäbe in Paris ein Schauspielhaus, das englische Dramen in der Originalversion aufführen würde. So war der Abend doch noch gut zu füllen, dachte der Chemiker. Seine Frau nickte zustimmend. Das gab ihr die Gelegenheit, eine ihrer Neuanschaffungen auszuführen.
Catherine wollte die beiden Gäste mit dem Wagen zum Theater fahren. Die Vorstellung war für acht Uhr abends angesetzt. An diesem Tag gab es "McBeth" von William Shakespeare, das Richard Andrews nur noch oberflächlich kannte, da er zu Eton-Zeiten immer für Wissenschaft und Geschichte mehr Aufmerksamkeit gezeigt hatte als für Kunst und Literatur. Ihm fiel nur ein, daß in diesem Stück drei böse Hexen vorkamen, was seine frohe Stimmung etwas eintrübte. Doch nun hatte er es Martha versprochen, und er wollte nicht als Wortbrüchiger dastehen, zumal Catherine und Joe sich entschlossen, auf eigene Rechnung mitzukommen. Joe sah zwar so aus, als wäre ihm nicht nach Shakespeare zu Mute, aber Catherine überzeugte ihn davon, daß er so schnell keine Gelegenheit bekommen würde, ins Theater zu gehen, wenn Babette von ihrer Großtante zurückkam.
Kurz vor der Abfahrt vom Haus der Brickstons läutete das Telefon. Catherine ging an den Apparat und meldete sich. Dann lachte sie. Strahlend wandte sie sich Richard zu, der gerade in seinem feinsten Ausgehanzug die Treppe vom Gästezimmer herabstieg.
"Maman ist dran, Richard. Sie möchte dich um Verzeihung bitten, daß sie heute nicht da war, als du sie besuchen wolltest."
Richard Andrews stutzte. Sollte er sich tatsächlich so verrannt haben, daß Madame Faucon und Catherine Hexen waren und das doch nicht stimmte? Doch dann freute er sich. Wenn Madame Faucon wirklich dort wohnte, wo er sie an diesem Tag besuchen wollte, war alles in Ordnung und Rodney Underhill hatte da wohl was nicht richtig mitbekommen.
"Madame Faucon?" Fragte Richard, als er den Telefonhörer an Mund und rechtes Ohr gelegt hatte.
"Ja, Monsieur", erwiderte Madame Faucons Stimme erheitert.
"Ich war heute aus beruflichen Gründen in Südfrankreich und wollte Sie besuchen, nachdem mir die Adressenauskunft gesagt hat, wo bei Marseille Sie wohnen", sagte Richard Andrews.
"Ich weiß. Monsieur Rousseau hat mich angerufen, nachdem Sie fortgegangen waren, Sie und Ihr Kollege oder Partner oder Freund. Ich bin ja im Moment in Lyon bei Madeleine."
"Ja, das sagte uns Ihr Nachbar, wohl Monsieur Rousseau, als wir vor Ihrer Tür standen. Was macht Babette?"
"Die freut sich, mit ihren Großcousins zusammenzusein. Ich war nur für einige Minuten bei ihr. Ihr gefiel es offenbar nicht, daß ich sie besuchen wollte", erwiderte Madame Faucon.
"Ich hoffe, das hat Sie nicht enttäuscht", bekundete Richard Andrews.
"Ich weiß, daß Babette es nicht sonderlich leiden kann, wenn jemand wie ich ihr gewisse Grenzen aufzeigt. Meine Schwester ist da doch sehr tolerant. Ich hoffe meinerseits, daß Sie keinen nutzlosen Tag verbringen mußten, weil Sie mich nicht antrafen."
"Wie gesagt hatte ich in Marseille zu tun. Es wäre wohl nicht über einen kurzen Höflichkeitsbesuch hinausgegangen", sagte Richard schnell, um nicht betonen zu müssen, daß er nicht damit gerechnet hatte, sie überhaupt anzutreffen.
"O dann sollten Sie sich von meiner Tochter erläutern lassen, wielange ein Höflichkeitsbesuch in Frankreich dauert. Vielleicht hätten Sie Ihre Geschäfte nicht an diesem Tag ordentlich abschließen können, wenn ich Sie hätte empfangen können. Vielleicht ist es so gut, wie es geschehen ist, Monsieur Andrews."
"Wenn Sie das sagen, möchte ich nicht widersprechen", erwiderte Richard und dachte nur, was für ein Heuchler er doch sein konnte.
"Nun, wir werden uns wohl am Wochenende wiedersehen. Ich habe Ihrer Frau versprochen, mit ihr Schach zu spielen. Da sie eine ähnlich große Verehrung für das Spiel der Könige hegt, wie ich, werde ich diese Zusage natürlich einhalten."
"Ich werde es meiner Frau sagen, Madame. Auf Wiederhören!"
Richard hielt Catherine den Hörer hin, die dann mit ihrer Mutter weitersprach, während Richard das dunkelblaue Satinkleid bewunderte, das seine Frau angezogen hatte.
"Das war nicht teuer?" Fragte er, bevor er sich besinnen konnte und ein Kompliment machte.
"Nein, war es nicht, Richard. Außerdem möchte ich ja doch repräsentativ wirken, wenn ich mit dir ins Theater gehe", sagte Martha Andrews lächelnd.
Nachdem Catherine das Telefongespräch mit ihrer Mutter beendet hatte, zog sie sich zurück und tauchte etwa eine Viertelstunde später in einem violetten Rüschenkleid wieder auf, geschminkt und an jedem Arm zwei silberne Armbänder. Das schwarze Haar war mit irgendeinem Wundermittel der Kosmetik seidig und fließend gemacht worden. Joe hatte einen Anzug angezogen, den er wohl zum Antritt seines Berufs getragen hatte, fand Richard. Der Anzug sah zwar immer noch würdig aus, war jedoch wohl schon zehn Jahre alt.
"Mußte das sein, Joe?" Zischte Catherine ihrem Mann zu, als der sich in seiner Ausgehkleidung zeigte. Joe fragte, was sein mußte. Catherine stubste ihn an und meinte:
"Du hast mindestens fünf Anzüge im Schrank, die nicht älter als ein Jahr sind. Martha hat sich extra was feines gekauft, Richard pflegt auch einen gehobenen Kleidungsstil, da werde ich dich nicht im ältesten Anzug ausgehen lassen, Mon cher", wies Catherine ihren Mann zurecht. Dieser trollte sich mißmutig, kehrte nach zwei Minuten in einem schicken dunkelgrauen Anzug mit blaßblauem Hemd und silbergrauer Fliege zurück. Dann ging es ins Theater.
Richard tat so, als verfolge er das Stück. In Wirklichkeit dachte er jedoch an komplizierte chemische Vorgänge, um nicht an die Hexen im Stück und die Hexen des englischen Zaubereiministeriums denken zu müssen. Zu seiner Erleichterung fiel es seiner Frau nicht auf, da sie selbst zu sehr dem Geschehen folgte.
Nach der Vorstellung besprachen Catherine, Martha und Joe das Stück und die Schauspieler. Catherine fragte nach, was manche Ausdrücke bedeuteten, da sie wohl aus älterer Zeit stammten. Martha übersetzte die altenglischen Begriffe ins moderne Englisch und beschrieb auch, was Shakespeare damit sagen wollte.
"Wir haben dieses Stück in der Oberschule gelesen, Catherine. Im Theater ist es wesentlich interessanter als wenn ein Lehrer jede Stunde einzelne Dialoge und Bühnenbilder durchkaut", wandte Joe ein.
In einem Restaurant aßen die vier Theaterbesucher zu Abend und tranken guten Wein. Nur Joe trank keinen Alkohol, da er noch fahren mußte. Spät in der Nacht kehrten sie dann ins Haus der Brickstons zurück, wo sie sich ohne große Abschiedszeremonien in ihre Schlafzimmer zurückzogen.
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Das Wochenende kam und mit ihm Madame Faucon. Martha freute sich richtig, mit der Mutter Catherines Schach spielen zu können. Richard Andrews, der nicht viel für Schach übrighatte, machte einen Ausflug in die Stadt, wo er seinen Bekannten Alain Lavoissier besuchen wollte. So saßen Madame Faucon und Martha Andrews allein vor dem Schachbrett und setzten die Figuren, wie jede meinte, damit einen Vorteil erringen zu können. Martha Andrews dachte immer wieder an das Schachspiel, daß sie vor einigen Monaten in Hogwarts beobachtet hatte. Ihr lief immer noch ein kalter Schauer den Rücken hinunter, wenn sie die lebendigen Figuren über das Brett laufen sah, wie sie sich ruppig, ja brutal vom Feld schleuderten, wenn sie schlugen und daß sie auch zueinander sprechen konnten, wie echte Menschen, die ein böser Magier zum Dasein als Schachfiguren verdammt hatte. Gloria, Julius und dieses ältere Mädchen, Prudence Whitesand, hatten ihr versichert, daß diese Figuren immer schon Schachfiguren waren und keinen Schmerz im menschlichen Sinne empfinden konnten. Dennoch hatte sie manchen Alptraum von mörderischen, lebensgroßen Schachfiguren gehabt, die sie umringt hatten und mit Schwertern oder Dreschflegeln bedrohten. Wenn Richard sie am nächsten Morgen fragte, was sie in der Nacht so beunruhigt hatte, sprach sie immer davon, daß sie sich wohl um Julius sorgte, weil er, Richard, ja keinen Kontakt mehr mit Hogwarts haben wollte. Das führte meistens dazu, daß er ihr einen kurzen Vortrag hielt, daß sie beide sich hatten entmündigen lassen und er nicht einsah, ständig den dummen Maxen zu geben, der sprang, wenn die sagten, wie hoch er springen sollte. Da ihnen beiden das mit der zeit zu langweilig wurde, fragte er nicht mehr nach dem Grund für ihre Alpträume oder gar, was sie genau geträumt hatte, und ihr blieb erspart, über ihren Besuch in Hogwarts zu sprechen, zumal außer den direkt an sie gehenden Briefen von dort nichts kam, was Richard hätte mitbekommen können. Die Briefe landeten grundsätzlich dann im Briefkasten, wenn sie allein zu Hause war und von dort aus Programme oder Präsentationen erstellte. Julius hatte den Zauberern wohl gesagt, wann sie Zeit zum lesen der Briefe hatte.
"Läufer von b5 nach d7! Schach!" Sagte Martha Andrews, ohne die entsprechende Figur zu ziehen. Als sie feststellte, daß sich der weiße Läufer, den sie ziehen wollte, nicht von selbst auf das befohlene Feld stellte, lief sie leicht rot an und zog den Läufer von Hand die zwei Felder schräg nach rechts vorn. Die Figur bedrohte nun den schwarzen König, der auf dem Feld f5 stand. Catherine trat in das Wohnzimmer. Sie umwehte ein Duft einer chinesischen Sojasoße, die wohl für das Mittagessen angerührt worden war. Madame Faucon sagte ihrer Tochter etwas auf Französisch, was Catherine natürlich nicht verstand. Catherine lachte und übersetzte sofort:
"Maman wundert sich, daß du diesen Läufer erst nicht gezogen hast, Martha. Sie meint, du hättest wohl gedacht, der ginge von selbst auf das Feld."
"Ich entschuldige mich bei deiner Maman, Catherine. Ich bin das Spiel mit Computern gewöhnt. Da tippe ich das Start- und das Zielfeld ein. Vielleicht war ich zu sehr auf die nächsten Züge konzentriert, daß ich meinte, den Läufer nur durch einen Befehl verschieben zu können", sagte Martha Andrews schnell. Sie wollte nicht verraten, daß sie das tatsächlich mitbekommen hatte, daß Schachfiguren durch reine Kommandos ihre Plätze wechselten. Sie hegte zwar die dumpfe Ahnung, daß Catherine vor einem Jahr für Julius' Reise nach Millemerveilles verantwortlich war, aber da sie das nicht begründen oder gar beweisen konnte, mußte sie davon ausgehen, daß sie unrecht hatte.
"Maman sagt, daß Computer leblose Dinger seien. Sie täten vielleicht so, als ob sie Schach spielten. Doch sie wiederholten ja nur die Züge, die andere vorher in sie einprogrammiert hatten", übersetzte Catherine etwas, das ihre Mutter auf Marthas Erklärung erwidert hatte. Martha meinte nur:
"Computer mögen leblos sein, aber die faszinierendsten und zugleich störanfälligsten Maschinen, die der Mensch erfunden hat. Ein Fehler beim Programmieren kann ein laufendes System abstürzen lassen, also es so heftig stören, daß es zusammenbricht und neu gestartet werden muß. Das ähnelt schon einem primitiven Lebewesen."
"Maman fragte, ob Julius nicht viel Schach mit seinen Schulkameraden spiele, was ich bejaht habe, Martha. Du hast es mir ja erzählt und ja auch für den Brief diktiert, den ich übersetzt habe."
"Ja, stimmt. Julius hat meine Leidenschaft geerbt und ist im Moment bei Leuten, von denen eine ihn im letzten Jahr in einem Schachturnier erst im Endspiel besiegen konnte. Auch wenn mir einiges dabei suspekt ist, freue ich mich, daß ich ihm zumindest das mitgeben konnte, was er dort, wo er gerade ist, anwenden kann."
"Maman fragt, ob du die Gastmutter von Julius persönlich getroffen hast."
"Bis jetzt noch nicht, Catherine", erwiderte Martha. Madame Faucon räusperte sich kurz aber vernehmlich, weil Martha Catherine angesprochen hatte und nicht "Madame Faucon" gesagt hatte. Sie entschuldigte sich und formulierte eine Antwort, die an die Mutter Catherines gerichtet war:
"Also, Madame Faucon, ich habe Madame Dusoleil noch nicht persönlich getroffen. Ich traf ihre älteste Tochter einmal, als sie bei Julius ein Austauschjahr gemacht hat und habe Fotos gesehen, wie er vor einem Jahr dort untergebracht war, wo er jetzt ist. Aber Madame Dusoleil schreibt mir." Martha hatte den Namen der Hexe aus Millemerveilles deshalb beruhigt genannt, weil Catherine ihn ohnehin kannte. Außerdem konnte sie ruhig sagen, daß sie Jeanne schon getroffen hatte, solange sie nicht erwähnte, wo und warum.
"Maman fragt dich, ob du gewisse Verhaltensrichtlinien ausgemacht hast. Immerhin ist Julius ja erst zwölf Jahre alt", übersetzte Catherine eine Antwort ihrer Mutter. Martha schüttelte bedächtig den Kopf und überlegte, was sie sagen sollte. Dann wandte sie sich Madame Faucon zu und sprach:
"Ich kann nicht mehr tun als meinem Sohn schreiben, daß er sich so benehmen soll, wie es dort angebracht ist und mich bedanken, daß Madame Dusoleil ihn gut versorgt. Allerdings hat sie zwei Töchter, von denen die eine fast mit der Schule fertig ist und die andere wohl in Julius' Alter ist. Da ich weiß, wie in England das erste Frühlingserwachen bei Halbwüchsigen so um zwölf oder dreizehn Jahren einsetzt, würde ich lediglich anraten, aufzupassen, daß Julius sich nicht ohne es zu wollen über bestehende Anstandsgrenzen begibt. Zumindest aber ist er in körperlichen Belangen aufgeklärt. Richard hat dafür gesorgt."
"Warum?" Übersetzte Catherine das einzige Wort, daß Madame Faucon darauf erwiderte.
"Ich möchte nicht zu indiskret erscheinen, Madame. Aber als Julius mit neun Jahren anfing, über Jungen und Mädchen, was sie unterscheidet und wozu was bei wem gedacht ist zu reden, als sei es etwas locker flockiges und dabei zum teil derbe Ausdrücke gebrauchte, hat Richard ihn erst ausgeschimpft und dann beschlossen, ihm alles genau zu erklären, keine Fragen unbeantwortet zu lassen. Das hat er deshalb getan, damit Julius nicht von wildfremden Leuten unzureichend informiert würde. Dann meinte er zu mir, daß wir nun wohl damit rechnen müßten, daß Julius sich demnächst für Mädchen seines Alters interessiere. Aber bis heute war er dazu wohl zu schüchtern." Die letzten Worte brachte sie mit einem amüsierten Lächeln heraus.
"Gehörte zu dieser Ausbildung auch der Tanzunterricht, von dem du mir erzählt hast?" Fragte Catherine, bevor sie übersetzte, was Martha gesagt hatte. Mrs. Andrews nickte zustimmend, fügte aber noch hinzu:
"Das mit dem Tanzen war etwas anderes, weil eine Schulkameradin Unterricht nehmen wollte und dafür einen Partner brauchte. Richard hat seit unserer Hochzeit keinen Schritt mehr getanzt und hielt diese Idee für unsinnig und dazu noch für zu teuer für einen Neunjährigen, der Flausen im Kopf habe und für derlei Sachen wohl nicht zu begeistern wäre, weil es doch wohl viel Disziplin voraussetze."
"Tanzen ist für Jugendliche unterschiedlich, nicht wahr. Die einen wollen nur auffallen, ohne sich gesellschaftlich zu betätigen. Die anderen wollen andersgeschlechtliche Altersgenossen kennenlernen, und die dritten finden es nur sportlich, sich zur Musik zu bewegen", übersetzte Catherine die Antwort ihrer Mutter. Martha sagte:
"Ich habe ihm zugeredet, sich stets darüber bewußt zu sein, daß die Tänze, die er lernte, nur in besonderen Kreisen vorkamen und dort eben auch bestimmte Anstandsregeln eingehalten werden müßten. Wenn ich das im letzten Jahr richtig mitbekommen habe, hat er an einem richtigen Ball teilgenommen, mit besagter gleichaltriger Tochter seiner jetzigen Gastmutter. Deren älteste Tochter hat Julius dann noch über Weihnachten zu einem Tanzabend ausgeführt, weswegen er nicht zu uns in die Ferien kam. Offenbar entwickelt sich Julius von uns weg, was erschreckend aber auch beruhigend für mich ist. Solange ich erfahre, was er tut, mit wem und warum, habe ich keine Probleme damit. Deshalb ist mir das auch wichtig, mit Madame Dusoleil Kontakt zu halten." Martha Andrews sagte dies aus zwei Gründen:
Einmal wollte sie klarstellen, daß sie ihre Verantwortung als Mutter nicht ohne weiteres abgeben wollte, und zum anderen mußte sie rechtfertigen, warum Julius nicht immer bei seinen Eltern war. Sie fragte sich jedoch, wieso Madame Faucon so interessiert an ihrer Einstellung zu Julius' Schule und Ferienaufenthalt war. Weil diese Frage immer drängender wurde, sprach sie sie einfach laut aus. Was immer die Antwort sein mochte, sie würde damit zurechtkommen.
"Darf ich fragen, weswegen sich deine Mutter so für Julius interessiert? Ich habe den Eindruck, daß sie gezielt das Gespräch auf ihn gebracht hat."
"Weil Maman Julius im letzten Jahr zu Ostern ja kennenlernte und den Eindruck bekommen hat, daß er irgendwie gerne die Schule besucht, in die ihr ihn geschickt habt, aber nicht weiß, ob ihr das auch wirklich wollt, was er da lernt. Wir waren ja zusammen im Zoo, weißt du ja. Da habe ich auch als Übersetzerin fungiert."
"Achso, und weil Richard sich so benimmt, daß er bloß nichts erzählen soll, was mit unserem Sohn zu tun hat, wollte deine Mutter nun testen, wie ich die Dinge sehe", sagte Martha Andrews zu Catherine gewandt. Diese übersetzte. "C'est ça" war die Antwort. Das brauchte Catherine nicht zu übersetzen. Das kannte Martha Andrews schon. "So ist es" hieß es.
Die Schachpartie wurde fortgesetzt und dauerte noch an, als Catherine Geschirr und Schüsseln aus der Küche hereintrug. Madame Faucon stand auf, nachdem sie sich durch einen fragenden Blick bei Mrs. Andrews die stille Erlaubnis zur Unterbrechung der Partie eingeholt hatte. Auch Martha Andrews war hungrig und geschafft. Das Spiel auf dem Tisch wies noch nicht darauf hin, wer es gewinnen würde oder wielange es noch gespielt werden mußte.
Madame Faucon half ihrer Tochter beim Auftragen des Essens und wechselte mehrere Worte mit ihr, die für Julius' Mutter so klangen, als weise sie Catherine mit der Überlegenheit einer erfahrenen Köchin zurecht.
Joe war nie ein Freund chinesischer Küche gewesen, wußte Martha noch aus ihrer Studienzeit. Doch was Catherine gekocht hatte, Hühnchen mit Bambussprossen, Pilzen und Paprika, dazu eine große Schüssel Reis, aß er mit echter Leidenschaft. Offenbar hatte er nach der Hochzeit mit Catherine seine Geschmäcker geändert, stellte Martha Andrews fest. Als sie die ersten Bissen runtergeschluckt hatte, mußte sie Joe zustimmen. Solch ein Essen zu ignorieren war ein Versäumnis.
Joe unterhielt sich mit seiner Schwiegermutter. Catherine übersetzte nicht, weil der Redefluß zu schnell ging und vieles nicht unbedingt für Martha wichtig oder bestimmt war. Die Mutter von Julius Andrews bekam nur mit, daß Joe etwas ungehalten wirkte, aber wieder wie ein Tier, das auf der Hut ist, schnell in Sicherheit zu springen oder fortzurennen, wenn es eine unmittelbare Gefahr spürt. Madame Faucon wirkte wie eine Lehrerin, die einen ungehorsamen Schüler zurechtwies. Offenbar gab es eine offene Meinungsverschiedenheit zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn. Catherine, die mitbekam, daß ihr Gast sich für das unverständliche Wortgefecht interessierte, beugte sich zu Martha Andrews und flüsterte auf Englisch:
"Die beiden verstanden sich nie, verstehen sich heute noch nicht und werden sich wohl auch in hundert Jahren noch nicht verstehen."
"Das ist wohl der Kulturunterschied", flüsterte Mrs. Andrews. Dann fügte sie schnell hinzu:
"Sie müssen sich ja auch nicht verstehen, solange sie sich respektieren."
"Wovon träumst du nachts, Martha?" Fragte Joe unvermittelt aus dem französisch geführten Gespräch heraus auf Englisch. Seine Schwiegermutter sah ihn sehr furchteinflößend an. Dann wandte sie ihr Gesicht Mrs. Andrews zu und sah sie sehr interessiert an, als erwarte sie, eine wichtige Sache zu hören.
"Ich wollte euch nicht stören oder gar beleidigen, Joe. Aber ich denke doch, daß ich mit meinen Schwiegereltern keine Probleme hatte, selbst wenn Richards Mutter meinte, ich müßte besser zu Hause bleiben, um ihm ein gemütliches Heim zu bereiten, wie sie es bei ihrem Mann getan habe. Richard verdiene doch genug Geld für uns alle. Ich habe ihr damals gesagt, daß ich nicht für teures Geld eine höhere Mädchenschule besucht und Mathematik und Informatik studiert hätte, wenn ich nur Hausfrau sein wollte. Das mußte sie einsehen. Sie meinte zwar bis zu ihrem Tod noch, ich sei als Berufstätige nicht gerade die fürsorglichste Ehefrau gewesen, hat aber respektiert, daß wir unser Leben so führen, wie wir es führen. Mit meinem Schwiegervater hatte ich ein ähnliches Problem, weil der meinte, Julius bräuche jemanden, der auf ihn achte, wenn Richard arbeite, da Richard ja nicht an feste Zeiten gebunden sei. Aber auch er hat eingesehen, daß ich Julius nicht weniger achte als andere Mütter, nur weil ich einen eigenen Beruf hätte. Richard kam mit meinen Eltern auch nicht klar, weil die ihm zu wenig Familiensinn und Sturheit unterstellt haben. Aber wir haben uns immer irgendwie auf einen Mittelweg geeinigt. Genau das denke ich, tut ihr doch auch. Nicht mehr und nicht weniger habe ich Catherine erzählt."
"Du hast recht, daß du natürlich nicht mit unserer Situation vertraut bist, um dich einzumischen. Aber es ist ja doch was anderes, wenn ich als Ausländer hier jeden Tag um meine Anerkennung kämpfen muß, dann auch noch von einer verwitweten Dame darauf hingewiesen werde, wie ich meine Tochter zu erziehen habe oder wie ich mich Catherine gegenüber ... aber lassen wir das! Mit Respekt kommst du nicht weiter, wenn du denselben Respekt erwartest, den du selbst aufbringen sollst. Oder glaubst du, meine Schwiegermutter respektiert mich? Deshalb fragte ich, wovon du nachts träumst, Martha", versetzte Joe sichtlich gereizt. Martha bekam schon ein schlechtes Gewissen, sich derartig unbedacht zu dieser Situation, wie auch immer sie entstanden war, geäußert zu haben. Aber eine Entschuldigung würde die Sache nicht so einfach vom Tisch befördern.
Madame Faucon sprach zu ihrer Tochter. Diese übersetzte, was Martha gesagt hatte. Dann antwortete Madame Faucon etwas, in einem sehr erhaben klingenden Tonfall, wobei sie Martha aufmerksam ansah. Catherine übersetzte:
"Maman respektiert Joe. Täte sie dies nicht, sagt sie, so würde sie ihm nicht helfen, sich in unsere Gesellschaft einzuleben. Das kommt ihm wohl wie Bevormundung vor, ist jedoch ..."
"Catherine, wenn du diesen Mumpitz schon übersetzt, dann ohne Heuchelei!" Fuhr Joe ihr dazwischen. "Wenn du meinst, unsere Familiensituation auseinandersortieren zu müssen, dann sage ihr, daß diese Sorcière mich für unfähig hält, ihre Familie so normal zu sehen, daß ich keine Schwierigkeiten damit habe, wie sie jedesmal wenn sie herkommt, das Kommando übernimmt und alles hinschmeißt, was ich in einer Woche aufgebaut habe, wenn Babette da ist. Es ist schon lustig, daß sie kein Veto eingelegt hat, als Catherine die Kleine zu ihrer Tante gebracht hat."
"Joe, du bringst mich jetzt aber in eine schwere Bredullie", erwiderte Catherine, während ihre Mutter Joe ansah, als müsse sie überlegen, ob sie ihn tadeln, loben oder wie Luft behandeln solle. Joe fragte seine Frau nur:
"Wieso, Catherine? Du mußt das doch nicht übersetzen."
"Ich muß ihr doch zumindest sagen, daß du dich immer noch unwohl fühlst, wenn sie da ist."
"Das weiß sie schon, Catherine."
"Leute, ich will und werde mir das nicht anhören. Das ist nicht mein Ding, mich in eure Familiensituation reinziehen zu lassen. Ich entschuldige mich dafür, daß ich meine Meinung gesagt habe und den Eindruck erweckte, ich hätte ein Recht, mich dazu zu äußern. Aber meinetwegen müßt ihr euch jetzt nicht herumstreiten. Dann gehe ich besser an die frische Luft und komme wieder, wenn ihr euch beruhigt habt. Dann braucht ihr auch nichts zu übersetzen und könnt euch ungezwungen unterhalten." Sprach's und stand auf, obwohl vor ihr noch ein halbvoller Teller mit Reis und Hühnchen stand.
"Excusez moi, Madame", sagte Madame Faucon und deutete mit einer energischen Bewegung auf den gepolsterten Stuhl, von dem Martha gerade aufgestanden war. Sie sagte was, und Catherine übersetzte:
"Maman möchte sich bei dir entschuldigen, daß du den Eindruck hast, hier nicht erwünscht zu sein. Um ihr zu zeigen, daß du nicht verärgert bist, setz dich ruhig wieder hin und iss in Ruhe weiter. Wir klären das, was da gerade aufgekommen ist. Du brauchst dich nicht darum zu scheren."
Madame Faucon sah Martha sehr genau an. Mrs. Andrews seufzte und setzte sich wieder hin, nahm Löffel und Gabel zur Hand und aß weiter.
Sie schaffte es wirklich, den Teller leer zu essen, ohne weiter auf den Wortwechsel zu achten. Er fand hauptsächlich zwischen Joe und seiner Schwiegermutter statt. Catherine saß nur dabei und hörte zu. Als Martha mit dem Hauptgang fertig war, meinte Joe zu ihr:
"So, hast du deinen Teller brav leergegessen? So wie mit dir verfährt meine werte Schwiegermama jedesmal, nur noch heftiger."
"Ich habe gesagt, Joe, daß ich mich entschuldige, weil ich mich unbedacht über euch geäußert habe. Also haltet mich bitte da heraus!!" Erwiderte die Mutter von Julius Andrews.
"Was ist eigentlich mit Richard? Wollte er mittags wieder hier essen oder woanders?" Fragte Catherine, als sie das Geschirr abräumte. Mrs. Andrews sagte:
"Richard wird wohl bei seinem Fachkollegen essen, Catherine. Er ist auch nicht so ein großer Freund der chinesischen Küche. Aber für mich darfst du für heute Abend was zurückstellen, falls noch etwas da ist."
"In Ordnung, Martha", sagte Catherine.
Mrs. Andrews nutzte das schöne Wetter aus, um einen zweistündigen Spaziergang zu machen. Anschließend setzte sie die Schachpartie fort, die Madame Faucon und sie zum Mittagessen unterbrochen hatten.
Es dauerte wohl noch zwei Stunden, bis Martha Andrews den letzten Zug ausführte, der Madame Faucon in eine aussichtslos scheinende Situation trieb. Doch Catherines Mutter sah sehr zufrieden aus, als sie die neue Anordnung der Schachfiguren begutachtete. Sie dachte zwei Minuten nach, setzte dann einen verbliebenen Turm und sagte etwas, daß Martha Andrews nicht verstand. Sie besah sich nur die Figuren und stellte fest, daß sie zu früh diesen Zug getan hatte. So stand sie nun dumm da. Ein Rückzug würde ihren König direkt bedrohen, ja ins Schachmatt treiben, und den König zu versetzen bedeutete den Verlust ihres letzten Springers, was zwangsläufig zur Überlegenheit von Madame Faucons Figuren führte. Madame Faucon hatte gewonnen, denn ihre Figuren konnten noch frei bewegt werden, ohne den König in den nächsten vier Zügen in Schach geraten zu lassen. Sie hatte gewonnen.
"Très bien, Madame. Formidable."
"Für Sie vielleicht", erwiderte Martha Andrews leicht geknickt. Dann lächelte sie. Für sie war diese Niederlage nur ein weiterer Schritt zur Verbesserung ihrer Spielkunst und kein Weltuntergang.
"Revanche?" Fragte Madame Faucon. Martha Andrews sah auf ihre kleine Armbanduhr, die anders als die ihres Mannes noch ein richtiges Ziffernblatt und Zeiger besaß. Es waren noch fünf Minuten bis halb sechs. Catherine wollte für sieben Uhr das Abendessen vorbereiten, blieben also nur anderthalb Stunden Zeit, um eine weitere Partie zu spielen. Dennoch nahm sie die Revanche mit einem Nicken an.
Während des Spiels kam Richard Andrews von seinem Besuch zurück. Er sah die beiden Frauen spielen und sah einige Minuten zu. Dann zog er sich zurück und unterhielt sich mit Joe Brickston, der nach dem Streit am Mittagstisch in seinem Arbeitszimmer saß und irgendwelche Computerprogramme bearbeitete. Kurz vor sieben schaffte es Martha Andrews, durch eine geschickte Kombination mehrerer Züge das Spiel zu gewinnen. Madame Faucon lächelte. Offenbar war es für sie auch ein Gewinn, mal zu verlieren, dachte Martha. Sie hatte nicht den Eindruck, daß Madame Faucon ihr den Sieg geschenkt hatte. Denn was sie nun wußte: Madame Faucon war eine ebenso leidenschaftliche Schachspielerin, wie sie selbst. Sie würde sich einen Sieg nicht entgehen lassen, nur um höflich zu sein.
Beim Abendessen wurde so gut wie gar nicht gesprochen. Joe sah demonstrativ auf seinen Teller, gab nur einfache Antworten auf Fragen, wie ein Automat und beließ es ansonsten dabei, daß er zuhörte, wie sich Richard mit Madame Faucon unterhielt. Martha Andrews streute die üblichen Komplimente über das Essen in die Unterhaltung mit Catherine und ihrer Mutter ein. Dann fragte Madame Faucon etwas, wo Mrs. Andrews nur den Namen ihres Sohnes heraushörte. Richard sah perplex Joes Schwiegermutter an und dann seine Frau. Dann fragte er auf Englisch:
"Was hast du Madame Faucon erzählt, daß Julius bei zwei Mädchen in Urlaub sei, oder habe ich das falsch verstanden?"
"Ja, ich habe ihr durch Catherine mitgeteilt, daß Julius in einer Familie mit zwei Töchtern wohnt. Warum sollte ich das nicht, Richard?"
"Ich habe nicht gesagt, daß du das nicht dürftest", erwiderte Richard mit gezwungen ruhiger Stimme und fuhr dann fort: "Ich wundere mich nur, woher du weißt, wer in dieser Familie wohnt. Das hast du mir nicht erzählt."
"Natürlich habe ich dir das erzählt, Richard. Nur du hattest andere Dinge, an die du denken mußtest und hast es wohl überhört", erwiderte Martha Andrews schlagfertig. Richard hatte sich nie dafür interessiert, bei wem Julius in den Sommerferien war, wer das Mädchen war, das mit ihm den Sommerball besucht hatte und daß dessen ältere Schwester mit Julius den Winterball besucht hatte. Letzteres durfte sie ihm auch nicht erzählen, da das ja bedeutete, ihm zu beichten, daß sie gegen seine strickte Abneigung mit den Leuten in Hogwarts gesprochen hatte.
"Du hast recht", sagte Richard. Nur Martha wußte, daß er das nicht glaubte. Aber sie beide wollten nicht vor den Brickstons in Streit geraten, wer wem was warum erzählt oder verschwiegen hatte. Madame Faucon sah Richard Andrews erwartungsvoll an, weil sie immer noch auf die Antwort auf ihre Frage wartete. Richard Andrews schaute direkt an ihr vorbei zu Joe und fing unvermittelt ein anderes Gesprächsthema an, in dem es um die Beschleunigung von Steuerungsprozessen ging, die auch in einer Chemiefabrik wichtig waren. Joe ging auf dieses Gespräch ein und redete drauf los, als habe jemand einen Einschaltknopf bei ihm gedrückt. Madame Faucon ließ sich das eine halbe Minute lang bieten, dann wiederholte sie die Frage an Mr. Andrews. Dieser sah Madame Faucon kurz an, sagte was und fuhr dann auf Englisch fort, mit Joe zu reden. Dabei sah er seine Frau an, wenn er über Programme und Rechner sprach. Doch Martha fühlte, daß er sie als Gehilfin für eine Ablenkungstaktik benutzen wollte. Sie fragte nun auf Englisch:
"Wieso antwortest du nicht auf die Frage von Madame Faucon, Richard? Wenn es was ist, was du ihr nicht sagen möchtest, sage es ihr doch!"
"Dazu äußere ich mich nicht", sagte Richard schnell und unmißverständlich gereizt. Catherine übersetzte, was er gesagt hatte. Richard funkelte sie an. Die Adern auf seiner Stirn traten bläulich-rot hervor.
"Catherine, ich kann deine Sprache sprechen, zumindest soweit, um nicht zu verhungern. Du mußt deiner Mutter nichts übersetzen, wenn ich es ihr nicht sage."
"Monsieur Andrews ...", begann Madame Faucon mit einer nicht mehr für gepflegte Tischgespräche gebräuchlichen, sondern eher tadelnden Stimme und sagte etwas zu ihm, was dieser mit einem verärgerten Lachen niederschlug. Dann aber entfuhr ihm ein Wortschwall, der wohl in keinem richtigen Satz, sondern so hintereinander weg ausgesprochen wurde. Madame Faucon rümpfte erst die Nase, dann bekam ihr Gesicht einen sehr verärgerten Ausdruck. Schließlich zischte sie Richard etwas zu, was diesen verärgerte: "Fermez votre bouche!"
Martha hatte diesen Befehl das letzte mal von einer Schachfigur ihres Sohnes gehört, als diese der gegnerischen Königin ins Wort fiel und sie davon abhielt, ihre übertriebenen Beschwerden zu äußern. Sie hatte Mrs. Priestley anschließend gefragt, was es bedeutete, und diese hatte grinsend geantwortet:
"Das heißt "Halten Sie Ihren Mund", Mrs. Andrews."
Das war schon ein starkes Stück, Richard den Mund zu verbieten, dachte Martha Andrews. Andererseits wußte sie nicht, weshalb er sich vorher so aufgeregt hatte und wieso Madame Faucon nun so wütend war. Joe saß mit hämischem Grinsen auf seinem Stuhl, mied jedoch den Blick seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Mr. Andrews sah seine Frau an und sagte entrüstet:
"Diese alte - Matrone will mir doch glatt das Wort verbieten, Martha. Muß ich mir das gefallen lassen?"
"Frag mich sowas nicht!" Erwiderte Mrs. Andrews. Richard sagte dann:
"Natürlich wirst du jetzt nichts sagen, was Catherine oder ihre Mutter verärgern wird. Das respektiere ich. Aber dann respektiert ihr bitte auch, daß ich mir sowas nicht bieten lasse. Wenn deine Maman meint, ich hätte ihr alles zu erzählen, was sie von mir wissen will, nur weil du, Martha so auskunftsfreudig bist, hat sie sich getäuscht. Wenn sie meint, mir das Maul verbieten zu können, dann soll sie eben ohne mich weiteressen. Ich werde noch ein paar Anrufe machen. In der Firma wissen die zumindest, meine Meinung zu achten."
Mr. Andrews warf hörbar das Besteck auf den halbvollen Teller, schnellte von seinem Stuhl hoch und verschwand ohne weiteres Wort aus dem Esszimmer, bevor Catherine ihn zurückrufen konnte. Joe meinte nur:
"Sollte ich auch machen, wenn mir deine Mutter wieder dumm kommt, Catherine."
"Da mein Mann selbst wissen muß, was er tut, werde ich mich nicht für ihn entschuldigen", stellte Martha klar. "Was immer ihn wütend machte, wird er nicht so schnell vergessen, Madame Faucon."
"Maman hofft, daß euer Sohn sich besser benehmen kann", übersetzte Catherine Brickston das, was ihre Mutter sagte. Martha Andrews lächelte kalt. Sie dachte daran, daß Julius früher mit seinem Vater oder vor seinen Lehrern nicht gerade ein Ausbund an Gehorsam war. Doch wenn ihm diese Hexen und Zauberer mit ihren Fähigkeiten züchtigten, hatte er das bestimmt schnell verlernt. Laut sagte sie:
"Julius hat schon frühzeitig lernen müssen, daß es nicht immer zuträglich ist, sich gegen andere Leute aufzulehnen. Andererseits hat er mit seinen zwölf Jahren schon gewisse Kenntnisse und damit auch eine eigene Meinung, die er jedem erklärt, der sie hören will und ihm das sagt. Ich kenne die Dame nicht persönlich, die mir schreibt, was mit Julius los ist. Aber ich weiß, daß er im letzten Jahr bei einer wohl alleinstehenden Lehrerin gewohnt hat, die ihm bestimmt früh gesagt hat, wann er über seine Grenzen gegangen ist. Intelligent genug, um diese Grenzen zu erkennen, ist er hoffentlich."
Catherine übersetzte das und danach die Antwort ihrer Mutter:
"Das hängt ja auch an den Personen, mit denen er zu tun hat, ob er sich gut einfügen kann oder Probleme hat. Maman geht davon aus, daß du bestimmt schon einen Brief bekommen hättest, wenn die Familie, bei der Julius untergekommen ist, irgendwas an seinem Benehmen auszusetzen hätte. Ich konnte ihr ja nicht einfach sagen, was in den Briefen stand, die du bekommen hast."
"Die haben ihre Methoden, Martha. Wenn die Julius fügsam halten wollen, wird er sich da nicht gegen wehren können", mischte sich Joe ein, der sich ausmalte, wo Julius war, dachte Martha. Diese fragte Joe auch nicht, von wem er sprach. Sie bat Catherine darum, folgendes möglichst wörtlich zu übersetzen:
"Nur, damit Sie wissen, warum es eben so gekracht hat, Madame, nicht als Entschuldigung: Mein Mann war und ist gegen eine Unterbringung unseres Sohnes bei Leuten, die er über seine Schule kennenlernte. Ich habe damit keine Probleme, solange ich weiß, wo und bei wem er ist und erfahre, wie es ihm geht, solange mich niemand über Gebühr zur Kasse bittet. Ich schlage vor, daß Sie, Madame Faucon, Richard nicht weiterhin über Julius ausfragen möchten, da dies etwas ist, was nur uns direkt betrifft. Ich habe Ihnen nur das erzählt, von dem ich finde, daß es jeder wissen darf. Richard hat da andere Ansichten. Jedem das seine."
"Das nimmt Maman zur Kenntnis", übermittelte Catherine die Antwort ihrer Mutter. Joe grinste nur, wurde jedoch stocksteif, als Madame Faucon ihn genau ansah.
Der Rest des Abends verlief in ruhiger Atmosphäre. Martha und Joe diskutierten die neuesten Entwicklungen auf dem Computersektor und sprachen davon, wie welche Änderung sich in den nächsten Jahren auswirken würde. Madame Faucon half ihrer Tochter beim Abräumen des Geschirrs und unterhielt sich mit ihr. Richard war wohl im Gästezimmer und telefonierte dort über sein Handy mit Leuten aus seiner Firma. So um zehn Uhr herum zog sich Martha Andrews zum Schlafen zurück. Sie wünschte Catherine und ihrer Mutter "Bonnenuit" und suchte das Badezimmer auf, wo sie sich wusch und umkleidete. Dann ging sie ins Gästeschlafzimmer, wo ihr Mann gerade aufgeregt in sein Handy sprach:
"... Wie, du hast einen Verweis von deinen Vorgesetzten bekommen? Du hast doch gesagt, daß du das Flugzeug privat bezahlt hast. - Ach, die sind dir draufgekommen, daß du einen Ausflug gemacht hast? Ja klar! - Das ist allerdings dumm! Vor allem, weil es ja unsinnig war. - Ich hoffe, daß du keinen größeren Ärger kriegst. - Sicher helfe ich dir wieder, wenn du was brauchst. - Martha will schlafen. Ich sage dann mal Danke und tschüs!"
"Wer war das denn?" Fragte Martha neugierig. Richard sagte schnell:
"Das war ein alter Schulkamerad von mir, der in Birmingham arbeitet. Der hat sich für teuer Geld eine Privatmaschine ausgeliehen, ist damit für zwei Tage auf den Kontinent geflogen und hat dort beim Glücksspiel mehrere Tausender verzockt. Der konnte die Flughafengebühren nicht mehr vollständig bezahlen, als er heimflog. Jetzt hat er einen Abriss von seinem Chef bekommen, daß er nicht für dekadente Verschwendungssucht bezahlt würde und ein Risiko für die Firma sei, weil Spieler grundsätzlich erpressbar oder bestechlich seien. Ich hätte dem sofort die Papiere gegeben, wenn der in meiner Abteilung arbeiten würde."
"Soso", erwiderte Martha. Sie legte sich hin und langte nach der Nachttischlampe, um sie auszuschalten. Richard sah seine Frau erwartungsvoll an, als erwarte er noch etwas von ihr zu hören. Dann sagte er:
"Was hast du der Alten erzählt. Wir wissen doch gar nicht, was mit Julius los ist. Oder bekommst du etwa Briefe von dieser Dusoleil-Hexe?"
"Ich weiß von Julius, wo er hinfährt und daß Madame Dusoleil wohl drei Töchter hat, von denen eine ungefähr so alt wie er selbst sein soll. Ich wurde gefragt, ob ich mir Gedanken mache, daß Julius anfinge, sich für Mädchen seines Alters zu interessieren. Da habe ich Madame Faucon nur mitgeteilt, daß du Julius aufgeklärt hättest und er wisse, wie was wann zu tun und zu lassen ist. Es wäre äußerst dumm gewesen, nichts zu erzählen. Wir wären total merkwürdige Eltern, wenn uns nicht interessiere, was unser Sohn in den Ferien oder in der Schule erlebt."
"So, wären wir das?" Versetzte Richard Andrews trotzig aber leise genug, daß niemand außerhalb des Zimmers es hören würde, wenn er oder sie nicht an der Tür lauschte.
"Das habe ich dir hundertmal gesagt, Richard. Egal was wir den Leuten erzählen, wichtig ist, daß wir immer wissen, was mit Julius los ist, was er so erlebt und was wir dazu meinen. Was auch immer Madame Faucon gesagt hat: Wenn es mit Julius zu tun hat, warst du heute abend nicht gerade mit Klugheit geschlagen."
"Abgesehen davon, daß ich mir weder von meiner Frau noch von meinem Sohn vorschreiben lasse, wie klug ich zu sein habe, hast du bei unserer Eheschließung doch den Eid geleistet, deinem Mann zu gehorchen. Das heißt, ich gebe die Richtung vor, du die Methoden. So haben wir uns doch abgestimmt, oder?"
"Ich korrigiere mich. Du warst nicht nur nicht mit Klugheit geschlagen, sondern bist es immer noch nicht, wenn du nun diesen albernen antiquierten Hochzeitsspruch als Rechtfertigung für deine Sturheit heranziehst. Ich habe diesem Pastor, den deine Eltern unbedingt haben wollten, gesagt, daß ich dir treu sein werde, sowie alle vernünftigen Entscheidungen mittragen werde, die du fällst. Der Kerl hat doch damals so verdutzt dreingeschaut, weil ich seine "Frau sei lieb und Folgsam"-Formel derartig ausgehebelt habe. Aber was ich gesagt habe, halte ich auch ein. Wenn es vernünftig ist, hast du meine volle Zustimmung. Also was wollte Madame Faucon wirklich von dir?"
"Wie gesagt, die fragte mich, ob ich es gutheiße, daß Julius in einer Familie mit zwei halbwüchsigen Töchtern lebe und daß du ihr gesagt hättest, daß er schließlich von mir alles erfahren hat, was einen Jungen zum Mann und ein Mädchen zur Frau macht. Ich fand das zu persönlich und habe ihr gesagt, daß es meine Sache sei, was ich meinem Sohn beibringe und das nur getan hätte, damit mir nicht irgendeine dumme Pute einen ungewollten Enkel andreht. Das habe ich wörtlich gesagt und meine das auch so. Als sie dann meinte, ich möge mich doch gesitteter ausdrücken, und es sei doch wiedermal typisch, daß jemand, der "ihre großartige Muttersprache" lerne, immer gleich die schlimmsten Schimpfwörter aufschnappe und benutze. Ich wies sie darauf hin, daß ich mich nicht wie ein unreifer Schuljunge zurechtweisen lasse und sie mit meiner Ausdrucksweise leben müsse, wenn sie meine, mich aushorchen zu müssen. Das wiederum veranlaßte die gnädige Frau, mir einen Kurzvortrag über Gastrecht und Gastpflichten zu halten, den ich mit den Worten zurückwies, daß sie genauso nur Gast sei und auch Ihre Verwandtschaft mit Catherine kein Privileg sei, erwachsene Leute herumkommandieren zu müssen. Sie meinte nur, ich möge mir vergegenwärtigen, daß ich in diesem Haus weniger zu bestimmen hätte als sie, da sie ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn viel Unterstützung geboten habe. Ich gab nur zurück, daß mir das egal sei, weil es mich nicht interessiere und sie nur eine von vielen älteren Damen sei, die meinen, jüngere Männer wie unmündige Kinder zu behandeln, aber keine Ahnung von Jungen hätten, weil sie entweder gar keine Kinder oder nur Töchter gehabt hätten. Dann verbot die Alte mir doch den Mund. Das habe ich dann nicht auf mir sitzen lassen. Du erzählst dieser Dame bitte nichts mehr über unsere Familie! Ich bin mir nicht sicher, ob die nicht doch mehr weiß als wir uns vorzustellen wagen."
"Deshalb bist du doch am Donnerstag in Marseille gewesen, um herauszufinden, ob Madame Faucon dort wirklich wohnt. Offenbar bist du darüber enttäuscht, wie?" Versetzte Martha Andrews nur. Ihr war dieses ganze Theater zu albern, wenngleich der Hintergrund zu wichtig war, um ihn einfach zu verschweigen.
"Ich war dort geschäftlich und wollte ihr nur einen kurzen Besuch abstatten, Martha. Ich bin kein Polizist, der alles nachprüft, was ihm nicht schmeckt", erwiderte Richard etwas betroffen. Um nicht noch mehr über seine Unternehmungen mit Rodney Underhill auszuplaudern, wünschte er Martha eine gute Nacht.
Als Richard schon ganz ruhig neben ihr lag, dachte Mrs. Andrews wieder über das nach, was sie an diesem Tag erlebt hatte. Da waren die beiden Schachpartien, bei denen sie wiederum das Gefühl verspürt hatte, Madame Faucon könne sich sehr genau auf ihre Spieltechnik einstellen. Schließlich war da dieser Vorfall am Abend, der Richard so wütend gemacht hatte. War es wirklich so abgelaufen, wie er es ihr gerade erzählt hatte, oder verschwieg er vielleicht etwas wesentliches. Sie würde am nächsten Morgen Catherine fragen. Dazu wollte sie früh aufstehen. Richard, der nur von einem Wecker oder Telefon aus einem tiefen Schlaf gerissen werden konnte, wachte erst um acht Uhr herum auf, wußte seine Frau. So würde sie noch genug Zeit haben, mit Catherine zu sprechen. Dennoch ließ sie das Gefühl nicht los, daß Catherine und Madame Faucon mit den Andrews' ein psychologisches Spiel spielten. Sie dachte, daß die beiden Frauen testeten, wie sie und Richard zu Julius standen, ja was sie taten, wenn bestimmte Fragen gestellt wurden. Das konnte, falls diese Vermutung stimmte, nur dann einen Sinn machen, wenn sowohl Catherine, die als letzte ihr bekannte Person mit Julius Kontakt vor seiner Millemerveilles-Reise hatte, als auch ihre Mutter Blanche Faucon zur Zaubererwelt gehörten, ja direkt für Julius' derzeitigen Aufenthalt verantwortlich waren. Doch es wäre schiere Dummheit, sie direkt darauf anzusprechen. Wenn sie wirklich Hexen waren, so könnten sie auf die Idee kommen, ihr und Richard etwas anzutun oder zumindest Maßnahmen ergreifen, um Julius' Eltern endgültig unter Druck zu zwingen. Wenn es keine Hexen waren, wofür auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit sprach, würden sie Martha für verrückt halten. Aber, so fiel es ihr ein, daran hatte sie ja schon letzte Woche gedacht. So drehte sie sich um und schlief ebenfalls ein.
Wie geplant stand Mrs. Andrews am nächsten Morgen eine Stunde früher als ihr Mann auf und schaffte es, leise und schnell in ihre Alltagskleidung zu steigen. Dann ging sie hinunter zu Catherine, die gerade in die Küche ging. Mit ihr unterhielt sie sich noch mal über den gestrigen Abend. Catherine bestätigte alles, was Richard Andrews seiner Frau berichtet hatte. Mit dieser Gewißheit war der Tag für Martha Andrews ein sehr schöner.
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Als die Andrews nach dem Frühstück aus dem Haus gingen, um den wunderbaren Morgen zu genießen, winkte Catherine ihre Mutter in ihr Arbeitszimmer, das durch einen Zauber gegen nach außen dringende Geräusche abgeschirmt war. Sie schloß die Tür und bot ihrer Mutter einen Platz an. Als die beiden Hexen saßen, fragte Catherine:
"Welchen Sinn hatte das, was zwischen dir und Richard Andrews vorgefallen ist, Maman?"
"Du meinst, ich hätte den Muggel nicht so provozieren oder gar demütigen sollen, Catherine? Er hat mir nur bewiesen, daß ihm merkwürdigerweise nichts mehr am Schicksal seines Sohnes gelegen ist. Ich habe eine ganz simple Frage gestellt, die jeder Vater mit einem Satz hätte beantworten können: "Das geht Sie nichts an." oder "Die Sache ist so und so." Es stimmt schon, was Camille mir berichtet hat. Nicht mehr und nicht weniger wollte ich wissen."
"Du spielst mit dem Gemüt von Martha und Richard, Maman. Ich meine das jetzt nicht als Kritik an dem, was du tust, sondern als Feststellung. Du weißt doch, daß wir uns irgendwann offenbaren müssen, wenn wir verhindern wollen, daß die Andrews' sich ohne es zu wollen in Gefahr begeben."
"Catherine, wie du habe auch ich nur das getan, was die Gesetze uns vorschreiben. Du wolltest damals nicht als Informantin genannt werden, und ich legte keinen Wert darauf, meine Fürsorge für Julius zu bekunden, da gerade Monsieur Andrews eine höchst feindselige Einstellung zu unserer Welt entwickelt hat. Um festzustellen, wie feindselig sie ist, ohne ihm zu sagen, wer ich bin, mußte ich die Fragen stellen, die ich gestellt habe. Daß er mir dann respektlos kommt, konnte ich nicht hinnehmen. Er verläßt sich auf seine Autorität, vergisst dabei aber gerne, daß er hier keinen hohen Rang hat und daher vorsichtig mit anderen Leuten umgehen muß, ohne sich zu fragen, ob es Hexen, Zauberer oder Muggel sind. Seine Frau entspricht wiederum Camilles und Julius' Beschreibung. Das deckt sich auch mit der Beobachtung, die mir Madame Priestley mitgeteilt hat, ebenso wie Madame Porter. Sie weiß, daß es für ihren Sohn keinen anderen Weg gab und geben wird, als die Zaubereiausbildung. Es mag sein, daß sie nicht begeistert ist, daß ihr vieles aus den Händen genommen wurde. Keine Mutter wird dies unkritisch hinnehmen. Aber sie möchte zumindest mit uns zusammenarbeiten, um des Jungen Willen, wahrscheinlich auch, um für ihn noch eine Rolle zu spielen. Madame Priestley teilte mir mit, daß Martha für Julius ein umfangreiches Gelddepot in Gringotts eingerichtet hat, um dessen Ausbildung zu garantieren, sofern er nicht vorzeitig der Schule verwiesen wird, was meine Kolleginnen in Hogwarts für Unwahrscheinlich halten. Ich persönlich empfinde es als sehr wichtig, Julius nicht für alle Zeiten von seinen Eltern fernzuhalten. Das ergebe nur zwei Alternativen. Er begänne, sich selbst zu hassen, weil er anders ist, oder er begänne, seine Eltern zu hassen, weil sie ihn nicht als das anerkennen, was er ist. Daß der dunkle Lord offenbar diese Entwicklung genommen hat, ist dir hinlänglich bekannt, wenngleich außer Dumbledore und der Liga zur Abwehr dunkler Künste niemand davon weiß, daß er einen Muggelvater hat."
"Und seine Handlanger, Maman", fügte Catherine noch hinzu.
"Du hast recht, Catherine. Um das Thema von eben abzuschließen, meine Tochter, mir ging es darum, auszuloten, ob wir weiterhin nur mit Martha Andrews Kontakt halten sollen, mit beiden Eltern gleichgestellten Kontakt pflegen oder den Kontakt bis auf weiteres ganz unterlassen sollen. Ich habe befunden, daß wir mit Martha Andrews weiterhin Kontakt halten müssen."
"Du hast sicherlich von Madame Delamontagne gehört, daß ich am Mittwoch kurz bei ihr war. Wie findest du das, was wir ausgehandelt haben?"
"Es findet meine Zustimmung. Ich habe Eleonore bereits gebeten, die notwendigen Schritte einzuleiten."
"Gut, Maman. Mehr wollte ich nicht zu dieser Sache wissen", beendete Catherine das Gespräch.
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Da Madame Faucon bereits am Nachmittag nach dem Mittagessen zur Heimfahrt aufbrach, vertrieb sich Martha Andrews die Zeit in den großen Parks von Paris. Ihr Mann begleitete sie dabei. Dabei stellte er eine Frage, die sie erst einmal stutzig machte:
"Wie wäre es, wenn wir nächste Woche für mehrere Tage nach westen, zur Cóte D'azur fahren, um uns Nizza und Monaco anzusehen? Ich habe langsam den Eindruck, diese Stadt hat ihren Eindruck auf mich langsam verloren."
"Warum meinst du, schon so früh für einige Tage fortzumüssen, Richard?" Fragte Mrs. Andrews.
"Ja, wie gesagt. Im Grunde haben wir in diesen zwei Wochen doch alles gesehen, was Touristen sich so ansehen, wenn sie herkommen. Wir waren in Theatern und Balletthäusern, haben uns die Einkaufsstraßen und die Sehenswürdigkeiten angesehen. Du hast sogar die Truppenparade am 14. Juli miterlebt. Ich denke, wir sollten das ausnutzen, wenn wir schon einmal hier sind, uns das restliche Land anzusehen."
"Dann ausgerechnet in Städte fahren, von deren Bewohnern du einmal gesagt hast, daß die vor lauter Müßiggang und Überfluß das Menschsein verlernt hätten? Das ist aber nun sehr verwunderlich, Richard. Ich habe eher den Eindruck, du möchtest so weit wie möglich von Madame Faucon fort, wie Joe."
"Wie kommst du denn darauf?" Fragte Richard etwas unbehagt.
"Du hast dich heute morgen mit ihr beim Frühstück überhaupt nicht unterhalten. Letztes Wochenende hast du sie zumindest beim Frühstück angesehen und mit ihr gesprochen. Dann, nach dem Mittagessen heute, sahst du sehr glücklich aus, als sie abgereist ist. Da sie offenbar häufiger am Wochenende vorbeikommt, könnte es sein, daß du ihr aus dem Weg gehen möchtest."
"Die ist mir nun völlig egal, Martha. Jetzt wo ich weiß, daß sie die große Königin nur spielen kann, weil sie Catherine und Joe mit einem Kredit für das Haus unterstützt hat, ist sie für mich nur eine neugierige alte Witwe, die meint, sich in anderer Leute Belange reinhängen zu können. Ich meinte, dir einen Gefallen tun zu können."
"Neh, du sprachst von dir, daß dir die Stadt nichts mehr neues zu bieten hat, Richard."
"Ach, dann meinst du, noch was neues entdecken zu können?"
"Hier gibt es mehrere Museen, die ich noch nicht besucht habe. Für manche brauche ich einen Tag, um die Kunst richtig zu genießen. Ich bleibe gerne hier."
"Alain sprach davon, daß ab morgen ein Kongreß in Toulouse stattfinden würde. Wenn du hier in Paris bleiben möchtest, fahre ich dorthin. Die Veranstaltung geht bis zum 24. Juli. Allerdings müßte ich dann heute noch losfahren. Alain könnte mich mitnehmen, wenn ich ihm vor fünf Uhr sage, daß ich mitkomme."
"Interessant. Da ich offenbar nicht aus der Stadt will, braucht Richard etwas, was ihn allein aus der Stadt treibt", dachte Martha Andrews und fragte laut:
"Um was geht es bei dem Kongreß?"
"Fragen der Rohstoffrückgewinnung in der Kunststoffchemie bei geringem Energieverbrauch. Da sollen neue Ansätze vorgestellt werden. Vielleicht kann ich mit meiner Firma was aushandeln, daß ich die Reisespesen ersetzt bekomme, sofern ich für uns was brauchbares finde."
"Dann möchte ich von dir nur noch wissen, was du Julius zum Geburtstag schreiben willst", kam Martha Andrews ansatzlos auf etwas, wovor sich ihr Mann wohl am meisten drücken wollte.
"Wie will ich ihm denn was schreiben. Ich habe keine dieser abgerichteten Viecher, die diese Leute verwenden. Du willst mir doch nicht einreden, daß ein ordinärer Briefträger in dieses Kaff Millemerveilles fahren kann."
"Vielleicht nicht nach Millemerveilles, aber womöglich zu einer Adresse, von wo aus ein Brief nach Millemerveilles abgeschickt werden kann. Mrs. Priestley hat uns doch geschrieben, daß wir Julius auch anschreiben können, wenn wir eine bestimmte Postleitzahl benutzen, sofern uns niemand eine Eule schickt", flüsterte Martha Andrews, die wie ihr Mann darauf bedacht war, niemand unbefugten mithören zu lassen, was sie miteinander besprachen. Mr. Andrews erwiderte darauf nur:
"Wenn die nicht wollen, daß wir Julius nach Hause holen, muß er wohl auch nichts von mir zum Geburtstag lesen, Martha. Ich zweifel auch daran, daß sie was von dir wissen wollen. Oder hast du da gegenteilige Informationen?"
"Es geht mir nicht darum, was die wollen, sondern was ich denke, was Julius von uns erwartet. Niemand hat uns mitgeteilt, daß wir keinen Sohn mehr haben, und ihm wohl auch nicht, daß er keine Eltern mehr hat. Die würden bestimmt nicht diesen Aufwand mit der Strafgebühr und der Unterbringung anderswo betreiben, wenn sie es von Anfang an darauf angelegt hätten, ihn uns wegzunehmen. Das wäre wesentlich einfacher gewesen."
"Ach ja? Wie einfach denn?"
"Sie hätten dich und mich aus dem Weg räumen und Julius mit einem Vergessenstrank oder dergleichen behandeln können. Da sie es nicht taten, gehe ich davon aus, daß es auch nicht geplant ist, es in Zukunft zu tun."
"Wie gesagt, ich sehe nicht ein, Julius per Postkarte zum Geburtstag zu gratulieren und zu schreiben, er möge sich gut amüsieren und bald zu uns nach Hause kommen. Wenn die meinen, ihn haben zu müssen, sollen die ihm einen schönen Geburtstag bescheren. Basta!"
"Also verstehe ich das so: Du willst Julius nur zum Geburtstag gratulieren, wenn du ihn sofort mit nach Hause nehmen darfst?"
"Einfach formuliert aber nicht unzutreffend", erwiderte Mr. Andrews.
"Wie du meinst", sagte Mrs. Andrews leicht verärgert. "Dann wünsche ich dir für deinen Kongreß viel Erfolg und interessante Neuerkenntnisse!"
Richard Andrews wußte, daß er im Moment dabei war, nach seinem Sohn auch seine Frau zu verlieren. Doch das war ja nicht seine Schuld. Er hatte es nicht in der Hand, was mit Julius geschah, obwohl er kein Verbrecher war und auch nicht geisteskrank, hatten ihm seinen Sohn fortgenommen. Wenn er an ihn heranwollte, mußte er bei anderen Abbitte leisten, was sein Stolz verbot. Martha schien da anderer Meinung zu sein. Vielleicht hielt sie Kontakt zu diesen Dusoleils. Vielleicht war sie auch schon wieder in Hogwarts gewesen. Immerhin hatte er ja nicht immer auf sie aufpassen können. Doch wenn er nun noch anfing, seine eigene Frau zu verdächtigen, mit diesen Leuten zu paktieren, stand er bald ganz allein da. Dann würde ihm auch seine Arbeit und seine wissenschaftliche Betätigung nichts mehr bringen. Denn was nützte eine Wissenschaft, die von einer kleinen Gruppe von menschenähnlichen Wesen lächerlich gemacht werden konnte? Was brachte viel Geld, wenn er es horten mußte, weil nichts und niemand da war, es mit ihm zusammen auszugeben? Nein! Martha wollte er nicht an diese Zaubererbagage verlieren! Allerdings hatte sie recht. Er wollte nicht im Haus der Brickstons sein, falls eine dieser Posteulen anschwirrte und ihnen per Brief anbot, Julius zum Geburtstag zu gratulieren. Bei einem Kongreß, wo hunderte von Zeugen waren, würden es sich diese Leute schon mehrmals überlegen, ihm einen Gruß per Eule zu schicken. Und wenn der Geburtstag vorbei war, konnte er seelenruhig nach Paris zurückfahren, als wäre nichts besonderes passiert."
So rief Mr. Andrews mit seinem Handy seinen Bekannten Alain Lavoissier an und sagte die Teilnahme am Kongreß zu. Er fuhr mit Martha ins Brickston-Haus zurück und packte einige Sachen zusammen, darunter zwei Anzüge und den Fotoapparat. Um kurz vor halb sechs traf Alains Wagen vor dem Brickston-Haus ein und holte Richard Andrews ab. Der Forschungsdirektor einer weltberühmten Chemiefabrik, umarmte seine Frau zum Abschied und stieg in den Wagen.
"Soviel zu meinen Ferien", sagte Martha Andrews, als sie Catherine eröffnet hatte, daß sie nun eine ganze Woche zeit für sich alleine hatte, aber nichts rechtes damit anfangen konnte, weil sie an Julius denken mußte.
"Julius hat am 20. Geburtstag. Er wird dreizehn Jahre alt. Letztes Jahr war er schon ohne uns an diesem Tag. Dieses Jahr wird es nicht anders sein. Ich werde dir heute noch einen Brief diktieren, in dem ich ihm gratuliere. Ich hoffe, wenn ich den morgen einwerfe, kommt er mindestens am 21. Juli dort an, wo er jetzt wohnt."
"In Ordnung, Martha! Joe hat auch was angenommen, wofür er fortreisen muß. Du hast ja mit diesem Dr. Richley in Cambridge in Amerika schon zu tun gehabt. Der will Joes Optimierungsprogramm für Festspeicherelemente haben. Da Joe von seiner Firma aus gehalten ist, mit den Interessenten erst einmal zu unterhandeln, fliegt er morgen früh nach New York los, um dann zum MIT, dieser Superuniversität für Technik, weiterzureisen. Ich fürchte, wir werden eine reine Frauenwohngemeinschaft bilden, sofern niemand anderes meint, dich oder mich noch für etwas einspannen zu müssen", sagte Catherine.
Am Abend schrieb Mrs. Andrews einen Brief an Julius, den sie Catherine morgen früh mitgeben wollte. Sie schrieb:
Hallo, Julius!
Da ich davon ausgehe, daß dieser Brief wohl erst einen Tag nach deinem Geburtstag bei dir ankommen wird, möchte ich dir nachträglich zum dreizehnten Geburtstag gratulieren. Leider kann ich dir zu diesem Anlaß nichts schenken, da ich für diesen Fall kein Paket schnüren und irgendwem in die Hand drücken kann. Mit den Briefen ist das schon merkwürdig. Aber wenn ich nun noch Päckchen oder große Pakete verschicken will, wird das wohl unmöglich zu schaffen.
Ich hoffe, daß die Dusoleils dir einen sehr schönen Geburtstag bereitet haben. Ich weiß, daß es schöner wäre, wenn du deinen Geburtstag wieder mit uns feiern könntest, aber ich kann nicht verschweigen, daß dein Vater ein richtiger Sturkopf ist, der lieber gar nichts mehr mit dir zu tun haben will, als sich damit abzufinden, daß du mit Leuten zusammenbist, die etwas anders sind als wir. Zumindest bin ich froh, daß du in deiner Schule einige Freunde gefunden hast. Vielleicht kommen ja einige von denen wieder zu dir, falls deine Gastfamilie das erlaubt. Mindestens aber, denke ich, werden sie dir Briefe schicken, so wie ich.
Ich habe während unseres Urlaubs hier in Paris mit Catherines Mutter Schach gespielt. Es war schon unheimlich, fand ich, wie gut und schnell sie sich auf meine Spielweise eingestellt hat. Ich habe endlich eine Gegnerin gefunden, die meine Fähigkeiten richtig fordert. Das schreibe ich dir, weil ich denke, daß sie dich wieder zum Schachspielen anhalten werden. Nachdem, was du mir ja geschrieben hast, gibt es bei denen ja eine Dame, die eine fanatische Schachspielerin ist. Vielleicht hast du gegen sie auch schon gespielt. Auf jeden Fall wünsche ich dir viel Erfolg beim Turnier, wenn es wieder stattfindet. Grüße mir bitte auch die junge Dame, die ich im Mai in Hogwarts getroffen habe, Mademoiselle Jeanne Dusoleil. An deine Gastmutter werde ich wohl noch einen Extrabrief schreiben, aber bis dahin
viel Spaß und lass dich nicht ärgern oder zu Sachen anhalten, die du nicht machen willst!
Deine dich immer noch liebende Mutter Martha
Martha Andrews steckte den Brief gerade in einen Umschlag, um ihn zu adressieren. Catherine mußte diesen Brief ja nicht übersetzen. Da klopfte etwas ans Fenster des Gästezimmers.