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Julius Andrews - Auf seinem Weg in die Zaubererwelt von Thorsten Oberbossel

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Nach dem Abendessen unterhielten sich Julius und Professeur Faucon noch etwas über die Zauberergesetze. Sie war beeindruckt, daß der Junge aus einer Muggelfamilie sich so schnell in die wichtigsten Gesetze eingelesen hatte. Anschließend zeigte sie ihm ihren Arbeits- und Postbearbeitungsraum.

Julius hatte sich immer vorzustellen versucht, ob das Arbeitszimmer einer älteren Hexe ohne Familie so aussehen mußte, wie es in vielen Märchenbüchern erwähnt wurde. Er erwartete einen Kellerraum, ein großes Laboratorium mit dampfenden Kesseln und dunklen Büchern über geheime Hexenkünste, und als Haustier einen Raben, eine Katze oder zumindest Ratten oder Mäuse. Er sah sich enttäuscht. Sicher, es gab Bücher, die in Regalen rundherum aufgereiht waren, einen wuchtigen Eichentisch mit Federhaltern und Tintenfässern, einen kleinen Kamin in einer Ecke und eine Ansammlung von Pergamentrollen. Doch nichts hier deutete auf Magie hin, wenn man nicht nahe genug an die Bücher herantrat, um ihre Titel zu entziffern. Dann sah Julius die sieben größeren Käfige, die von der Decke herabhingen. Vier davon standen im Augenblick leer. In einem Käfig döste eine Schleiereule, in einem weiteren ein Waldkauz, und im dritten Käfig plusterte sich gerade eine Waldohreule auf.

"Ich sehe dir an, daß du nicht das siehst, was du erwartet hast, Julius. Hast du gedacht, ich würde hier mindestens zwei große Hexenkessel, einen Haufen Frösche oder Spinnen und jede Menge Zaubertrankzutaten lagern?" Fragte die Verwandlungslehrerin von Beauxbatons. Julius sagte dazu nichts. Aber sein Gesicht sprach Bände.

"Das ist mein Arbeitsraum, wo ich auch die Post bearbeite. Hier stehen nur die wichtigsten Bücher aus meiner Bibliothek. Ich habe zwar auch ein kleines Labor für Zaubertränke, aber das zeige ich keinem. Versuch auch nicht, die Bücher hier ohne meine Erlaubnis zu entwenden. Sie würden sich ungemein wehren", warnte die Hexe den Zauberschüler noch, als sie sah, wie er versuchte, eines der vielen Bücher aus einem Regal zu ziehen.

Eine Schneeeule flatterte gerade durch ein Oberlicht in das Zimmer hinein und ließ einen veilchenblauen Briefumschlag auf den Eichenholztisch fallen. Dann flog sie wieder davon.

"Ah, Catherine hat mir geschrieben, daß sie in London angelangt ist", komentierte die Hexe den Brief und nahm ihn vom Tisch. Dann gab sie Julius einen Stapel Pergamentrollen und drei Federn und ein Tintenfaß.

"Damit du dich hier nicht langweilen kannst, wenn es draußen regnet oder stürmt."

Um zehn Uhr schickte Sie Julius zu Bett und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.

Julius holte einen Pyjama aus dem Koffer und zog sich um. Als er in das Himmelbett geklettert war, lauschte er noch mal in die anbrechende Nacht hinaus. Er konnte fernes Meeresrauschen vernehmen, sowie das Zirpen von Grillen oder anderen Nachtinsekten. Er sah noch mal auf seine Uhr: Viertel nach zehn. Er löschte die kleine Öllampe auf dem Nachttisch und drehte sich zum Schlafen um.

Bevor ereinschlief, dachte er noch mal an den Tag, den er verbracht hatte. Wieso hatte sein Vater noch mal versucht, ihn durch einen Trick von Hogwarts fernzuhalten, obwohl er doch nun wissen sollte, daß man ihn überall finden würde? Hätte er seinen Eltern schreiben sollen, welche Gefahr bei Mißachtung der Zauberergesetze drohte, nämlich daß seine Eltern ihn womöglich verlieren würden? Wohin hatten sich seine Eltern abgesetzt? Schließlich noch: War das, was Professeur Faucon mit ihm anstellte wirklich nur Amtshilfe, oder tat sie dies auch, weil sie Catherine einen Gefallen tun und Julius vor unbeabsichtigten Verfehlungen in der Zaubererwelt bewahren wollte?

Dann sah er Joe vor sich, wie er vom Schlafgesang seiner Schwiegermutter außer Gefecht gesetztwurde und nun auf seinem Teppich lag, bis ihn die Morgensonne wecken würde. Er erinnerte sich daran, daß sein Vater kurz zuvor noch mit Joe gesprochen hatte. Hatte er ihm vielleicht gesagt, wo er mit seiner Mutter hingefahren war?

Dann fragte sich Julius, was die nächsten Tage ihm bringen würden. Vielleicht zog ihn die alte Hexe zu Hausarbeiten heran, wenn sie nicht gerade seine Hausaufgaben kontrollierte. Denn das würde sie bestimmt tun, wenn sie ihm schon Pergament und Schreibsachen gab.

Julius drehte sich noch einmal um und schlief dann wirklich ein.

 

 

Am nächsten Morgen klopfte Madame Faucon an die Zimmertür und rief auf Französisch:

"Guten Morgen! Es ist Zeit zum Aufstehen!"

Julius räkelte sich und sah mit verschlafenen Augen auf die Armbanduhr. Sie zeigte sieben Uhr. Er gähnte noch mal und rief in der hier üblichen Landessprache zurück:

"Ich bin wach! Ich komm schon!"

"Im Badezimmer habe ich einen Umhang und farblich dazu passende Socken hingelegt. Also leg die Muggelkleidung wieder in den Koffer zurück!" Verkündete Catherines Mutter noch. Julius hörte den Befehlston heraus, obwohl die Anmerkung auch unverbindlich hätte sein können. "Zieh bloß keine Muggelsachen an!" Hieß es wohl für ihn.

Julius wußte von Catherine, daß sie sich immer im Badezimmer umkleidete. Er zog sich also noch einen Bademantel über und ging hinüber ins Gästebad, wo er einen mitternachtsblauen Umhang, eine Garnitur dunkelblaue Unterwäsche und hellblaue Socken vorfand. Zehn Minuten lang beschäftigte er sich mit seiner Körperpflege, bis der Spiegel über dem Waschbecken keine Einwände mehr hatte. Dann schlüpfte er in die bereitgelegte zaubererkleidung, mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, weil er wußte, daß Catherine die Sachen als junges Mädchen getragen hatte.

Schüchtern betrat Julius die Wohnküche, wo bereits der Tisch gedeckt war. Die Hexe von Beauxbatons hatte sich einen rosaroten Umhang angezogen und dirigierte gerade mit ihrem Zauberstab einen ovalen Teller mit Backwerk, der punktgenau in der Mitte des Tisches aufsetzte.

"Du läufst herum, als hättest du Angst, die Kleidung könnte dich bei der ersten falschen Bewegung einschnüren", bemerkte Madame Faucon etwas belustigt klingend. "Catherine hat die seit zwölf Jahren nicht mehr angezogen. Außerdem war der Umhang früher orangerot. Catherine hat mir geschrieben, daß du keine Probleme mit Umhängen hast, auch wenn du in den Ferien mit diesen langen Muggelhosen herumläufst. Hat man dir das in Hogwarts nicht gleich im ersten Moment beigebracht, daß Umhänge für Jungen und Mädchen gleichermaßen korrekte Kleidungsstücke sind?"

"Selbstverständlich", erwiderte Julius, wobei er sich fragte, wie es sich anfühlte, wenn er öffentlich damit herumlief. Sicher, er hatte Aurora Dawns Ravenclaw-Spielerumhang getragen, als er sie in den letzten Weihnachtsferien besucht hatte. Aber in einer richtigen Siedlung von Zauberern und Hexen war das doch was anderes.

Schweigend nahm er das Frühstück ein. Es gab frische Brötchen, Butter und Marmelade aus verschiedenen Früchten. Dazu gab es Kaffee oder heiße Schokolade. Julius wußte nicht, ob es höflicher war, wenig zu essen oder viel. Deshalb wartete er nach dem zweiten Brötchen erst, bis Madame Faucon sagte, daß er ruhig noch mehr essen könne. Immerhin sei er ja noch im Wachstum und brauche daher seine Ration an Nahrung.

Nach dem Frühstück holte die Hexe ein kleines Becherglas mit einer scharlachroten Flüssigkeit hinter einem Kupferkessel hervor und hielt es dem Jungen unter die Nase.

"Was soll ich denn damit?" Fragte er, als er den fruchtigen Geruch von Aprikosen, Johannesbeeren und Möhrensaft einatmete.

"Das wird dir helfen, dich hier besser zurechtzufinden", sagte die Hexe sanft. Julius überlegte sich, ob es ein Fügsamkeitstrank sein könnte, den zu verabreichen Snape Kevin und Fredo schon mal angedroht hatte. Aber er hatte doch sowieso nicht vor, irgendwas zu tun, was wie Aufsessigkeit erscheinen mochte. Dafür hatten seine Eltern ihn schon zu tief in den Schlamassel hineingeritten.

"Das ist nur ein Trank zum besseren Verstehen und Sprechen einer Fremdsprache. Du hast zwar gut gelernt, aber Mißverständnisse können immer noch auftreten", sagte Madame Faucon ruhig. Dann sah sie Julius erwartungsvoll an. Er fragte sich, ob sie ihn vielleicht vergiften wolle, um möglicherweise jede Spur seiner Anwesenheit bei ihrer Tochter zu verwischen. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Catherine wußte bestimmt schon wo er war. Also nahm er das Becherglas und stürzte das Gebräu hinunter, daß merkwürdig in seinem Rachen Prickelte.

Als er es bis zum letzten Tropfen getrunken hatte, spürte er eine merkwürdige Lockerheit seiner Zunge und ein Gefühl, wacher als bisher zu sein. Dann sprach Madame Faucon mit ihm, und er verstand sie noch besser als bisher. Sie sprach schneller, womöglich mit für sie üblicher Geschwindigkeit, und Julius verstand sie immer noch Wort für Wort. Dann antwortete er, ohne groß über die Wörter und die Satzstellungen nachzudenken, und merkte, daß alles so flott von ihm rüberkam, als habe er die Sprache schon immer gesprochen.

"Wunderbar. Jetzt brauche ich nicht mehr so langsam zu reden. Jetzt fehlt nur noch eine Sache, damit du nicht verlorengehen kannst, wenn ich dich gleich in die freie Natur hinauslasse", sprach Madame Faucon. Sie trat an den großen Küchenschrank und zog eine Schublade auf. Mit einem Handgriff holte sie zwei bunte Armbänder heraus und prüfte sie. Dann legte sie sich eines davon um das linke Handgelenk und zog es fest. Danach tippte sie mit ihrem Zauberstab einmal an einen roten Stein, der in das Band eingearbeitet war und gab Julius das zweite Armband.

"Leg dir das um das rechte Handgelenk!"

"Ist das eine Art Peilgerät für Zauberer?" Fragte Julius, dem eine gewisse Ahnung gekommen war.

"Ich weiß nicht, was Muggel unter Peilgeräten verstehen. Wenn sie damit Orter meinen, also Gegenstände, die man aus großer Entfernung aufspüren kann, ist die Bezeichnung zutreffend. Ich kenne das englische Wort nicht dafür. Aber wir sagen Verbindungsbänder dazu. Ich trage das Armband, daß auf dein Armband abgestimmt ist. Leg es dir um!"

Julius zögerte noch etwas. Wenn er sich dieses Armband jetzt umlegte, konnte sie ihn womöglich überall aufspüren, wie auch immer. Doch der strenge Blick der Hexe gemahnte ihn, sich nicht auf eine Streiterei mit ihr einzulassen. So befolgte er die Anweisung und schnürte sich das Armband um das rechte Handgelenk.

Madame Faucon tippte einen grünen Stein des Armbandes von Julius mit dem Zauberstab an. Julius spürte eine schwache Schwingung im Armband. Dann fühlte es sich wieder an wie vorher.

"So, das ist es. Ich kann dich mit meinem Armband finden, wenn du verlorengegangen oder in Schwierigkeiten geraten sein solltest. Außerdem kann ich dich damit rufen, wenn ich wünsche, daß du zu mir zurückkehrst. Spürst du das?" Fragte sie und tippte mit dem Zauberstab an einen blauen Stein ihres Armbandes. Julius spürte sofort ein leichtes Zittern des Armbandes. Er nickte.

"Faszinierend", sagte er. "Das geht aber nicht über Funkwellen, oder?"

"Möchtest du mich beleidigen, junger Mann? Das würde ich dir nicht empfehlen. Reine Magie, von den Steinen untereinander aufrechterhalten. Wenn ich dich suche, kann ich mein Armband dazu benutzen, zu spüren, in welcher Richtung du dich aufhältst und wie weit du entfernt bist. Wenn ich dir das Signal, das du eben gespürt hast, einmal gebe, heißt das, daß in zehn Minuten Essenszeit ist. Kriegst du das Signal zweimal, sind es nur noch fünf Minuten bis zum Essen. Und wenn du bei dem dreimaligen Signal nicht zur Tür reinkommst, finde und hole ich dich. Versuche es nicht darauf ankommen zu lassen, daß ich dich holen muß! Ich lege Wert auf Pünktlichkeit."

"Und was ist, wenn ich wo bin, wo der Rückweg mehr als zehn Minuten dauert?" Wagte Julius eine Frage.

"Das hatte ich vergessen zu sagen. Du kannst mit diesem Armband nur sieben Kilometer von hier fortgehen. Überschreitest du diese Reichweite, werde ich alarmiert und kann dich durch das Signal zur Umkehr aufrufen. Kehrst du nicht um, gilt dasselbe wie bei der Zehn-Minuten-Vorwarnung. Auch darauf solltest du es nicht ankommen lassen. Immerhin habe ich den Auftrag, dich zivilisiert in meiner Obhut zu halten, und Gefangenschaft oder gar Verwandlung zur Strafe wäre ein sehr drastischer Ausnahmezustand für dich."

"Will sagen, ich sollte keinen Ausnahmezustand auslösen", erwiderte Julius.

"Sehr richtig. Ich begrüße es immer, wenn gerade Jungzauberer und -hexen deines Alters schon begreifen, daß sie nicht gleich die größten sind, weil sie meinen, sich gegen alles auflehnen zu müssen, was Erwachsene ihnen zeigen. Da wirst du noch früh genug mit anfangen."

"Sie arbeiten jetzt?"

"Richtig. Du kannst dich ruhig im Dorf umsehen. Ich habe heute morgen noch mal auf meine Freund-Feind-Karte gesehen. Im Moment treiben sich hier keine bösen Magier herum."

"Freund-Feind-Karte?"

"Sowas braucht man, wenn man sich mit den dunklen Künsten beschäftigt und deren Abwehr unterrichtet. Sie zeigt dir, welche Leute in deiner Umgebung oder auf dem Kontinent herumlaufen, die dir verbunden sind oder deine Feinde sind."

"Das nehme ich jetzt erst einmal hin, wie Sie es sagten, Madame. Aber was mache ich in diesem Zaubererdorf, wenn ich mir die Sehenswürdigkeiten angeschaut habe?" Fragte Julius.

"Das besprechen wir, wenn du wider da bist. Millemerveilles ist nicht gerade klein und hat einiges zu bieten. Sowas kriegst du in Hogwarts erst ab der dritten Klasse geboten, wenn ich richtig orientiert bin."

"Und Sie lassen mich jetzt schon herumlaufen?"

"Ich habe keine andere Wahl. Ich muß soviele Dinge für das nächste Schuljahr vorbereiten. Aber wenn die Zeit es zuläßt werde ich dir schon Gesellschaft leisten, oder du mir. Also nutze deinen Freiraum klug! Stell nichts verbotenes an und mach keinen Ärger!"

Julius sagte nur "Ja, mach ich" und verließ durch eine Eichenholztür das große Haus. Er sah es sich von außen an und bewunderte die acht Giebel am Dach, die vier runden Schornsteine und das reine Weiß der Wandfarbe. Dann fiel ihm der große Garten mit Rasen, Büschen und Beeten auf. Sofort schlich er um das Haus herum und begutachtete die Pflanzen, von denen einige bestimmt Küchenkräuter waren. Er sah Gemüsebeete und Obstbäume, die mit weit ausladenden Kronen erste Schattenbilder auf den Boden warfen.

Als er das Haus und die Gartenanlagen umrundet hatte, ging er die Kopfsteinpflasterstraße entlang und sah sich die kleinen und großen Häuser in verschiedenen Farben an. Er prägte sich die Häuserzeile genau ein, um sie später wiederzufinden. Dann ging er weiter, einem Wegweiser nach, der ihn auf die Dorfmitte aufmerksam machte. Er wollte sich erst einmal ansehen, was im Zentrum des Dorfes vorhanden war, bevor er das Zaubererdorf durchstreifte. Eine gute Sache hatte das frühe Aufstehen schon, fand Julius. Es war noch schön kühl und ruhig.

Als Julius die Dorfmitte erreicht hatte, waren nach seiner Uhr nur zehn Minuten verstrichen. Er sah einen großen Teich, der von großen Bronzefiguren umringt wurde, die alle irgendwelche Zaubergeschöpfe darstellten. Er sah eine Nachbildung eines Drachens mit einem Dreizackschwanz, ein Einhorn, einen Greifen und eine Meerjungfrau, allerdings zehnmal so groß wie die, die er vor vier Jahren mit seinen Eltern in Kopenhagen gesehen hatte. Dazwischen standen Wassermänner mit dicken Bäuchen, Zwerge mit Laternen, Hämmern oder Schaufeln, Feen mit winzigen Flügeln oder Feuersalamander, wie sie Prudence Whitesand ihm und Kevin mal gezeigt hatte, als sie ihre Hausaufgaben für Pflege magischer Geschöpfe gemacht hatte. Er stellte fest, daß die Figuren wohl die Himmelsrichtungen anzeigten. Der Drache wies mit seine Maul nach Süden, die Meerjungfrau blickte nach Norden, der Greif wies mit seinem Schnabel genau nach osten und das Einhornhorn deutete genau nach Westen. So bildete der Dorfteich eine große Windrose und Sonnenuhr in einem.

Julius fragte sich, ob in dem Teich magische Geschöpfe lebten, Grindelohs vielleicht. Aber ohne Zauberstab wollte er das nicht herausfinden. Außerdem würden derartige Geschöpfe wohl nicht lange geduldet.

Julius vergewisserte sich noch mal, daß er aus der Greifenrichtung gekommen war. Dorthin würde er ja zurückgehen müssen. Dann sah er sich bei den Gebäuden in der Dorfmitte um und entdeckte ein imposantes Gebäude aus weißem Marmor, das von einem grünen Park umgeben war. Offenbar war das das Gringotts-Gebäude, das Catherine erwähnt hatte. Tatsächlich war es nicht gerade so hoch wie das in der Rue de Camouflage in Paris oder das in der Winkelgasse in London. Ein Kobold in schmucker Gringotts-Uniform saß vor dem Eingang auf einem bequemen Stuhl und warf dem Jungen einen neugierigen Blick zu. Julius drehte sich weiter und sah neben Gringotts einen Laden, der ein kleines Schaufenster besaß. Julius traute sich, näher heranzutreten und stellte fest, daß in diesem Laden Hüte und Umhänge verkauft wurden. Neben dem Bekleidungsladen lag ein Geschäft, das der Auslage im Schaufenster nach eine Apotheke sein mußte. Julius staunte nicht schlecht, als er im Schaufenster ein grünliches Etwas sah, daß wie ein kleinwüchsiger Mensch oder Zwerg aussah, aber große rote Blätter auf dem Kopf trug. Julius trat näher an das Schaufenster heran und las das Preisschild, das am Sockel unter dem Ding angebracht war:

"Mandragora 800 Galleons"

"War zu erwarten", dachte Julius bei sich. Er wunderte sich nicht, daß eine getrocknete Alraune derartig teuer war.

Julius bummelte weiter an den Schaufenstern entlang. Er staunte über die magischen Gebrauchsgegenstände, Zauberbücher, Kessel und Phiolen. Im Moment war hier noch kein Betrieb. So konnte der Junge aus England sich in Ruhe an den Schaufensterscheiben die Nase plattdrücken. Dabei stellte er fest, daß er wohl die französische Sprache sprechen konnte, aber nicht die Titel und Warenbezeichnungen verstehen konnte. Er nahm sich vor, bei Gelegenheit im Zaubertrankbuch nachzulesen, was für einen Trank ihm Madame Faucon gegeben hatte. Doch im Moment fühlte er sich sehr wohl.

Ein Johlen und Schwirren über ihm ließ Julius zusammenfahren. Dann blickte er hoch und sah sieben halbwüchsige Hexen, höchstens siebzehn Jahre alt, die in violetten Quidditch-Umhängen auf glänzenden Besen dahinflogen. Eine der Junghexen sah den in Mitternachtsblau gekleideten Hogwarts-Schüler und ließ sich absinken. Julius versuchte, einen gelassenen Eindruck zur Schau zu stellen. Es war ja auch nicht so ungewöhnlich für ihn, Hexen oder Zauberer auf Besen zu sehen. Die junge Hexe drehte eine Schleife in der Luft und flog dann im steilen Winkel auf ihn zu, während ihre Kameradinnen in eine Kreisbahn über ihr und ihm einschwänkten.

"Hallo, Junge! Was machst du denn schon so früh auf den Straßen?" Rief sie Julius in sehr schnellem Tempo zu. Julius erwiderte:

"Jungen Hexen beim fliegen zusehen!"

"Soso! Dafür stehst du früh auf?"

"Warum nicht", erwiderte Julius keck und sah wieder zu dem Schaufenster hinüber, vor dem er stand. Die Hexe landete federnd neben ihm wie die Aurora Dawn vom Mannschaftsbild von 1982.

"Du bist zu Besuch hier, richtig?" Fragte sie Julius und schüttelte ihr kastanienbraunes Haar aus. Julius nickte und sagte:

"Richtig. Ich bin gestern erst angekommen." Er vermied die Frage, woran sie das gemerkt habe. Das war ja ein Dorf hier. Jeder kannte jeden, und Fremde fielen auf, vor allem dann, wenn sie so herumliefen, als würden sie sich noch nicht auskennen. Dann fragte die junge Hexe noch:

"Du gehst nicht nach Beauxbatons, richtig? Dann hätte ich dich da ja schon sehen müssen."

Julius wußte nicht, wie er auf so eine direkte Frage eingehen sollte und sagte nur:

"Es gibt ja noch andere Schulen für angehende Zauberer."

"Und Hexen. Aber Beauxbatons ist nun einmal die beste", warf die junge Quidditch-Spielerin ein. Eine Kameradin von ihr rief herunter:

"Heh, Seraphine, wir kommen zu spät zum Training. Ist der Bursche nicht noch zu jung für dich?"

"Was denkst du, was ich von ihm will?" Fragte die Hexe, die wohl Seraphine hieß zurück. Die Hexe, die von oben gerufen hatte, ließ sich herabsinken wie in einem Fahrstuhl. Julius staunte über diese Technik.

"Sieh an, du kommst nicht aus Frankreich, obwohl du sehr gut Französisch kannst. Du kuckst nämlich so, als hättest du noch nie einen Ganymed 8 in Aktion gesehen", grinste Seraphine und fing Julius Blick mit ihren walnußbraunen Augen ein. Dann landete die Kameradin Seraphines neben Julius. Der Hogwarts-Schüler verschluckte sich fast vor Schreck. Er erkannte die junge Hexe wieder. Sie besaß eine braungetönte Haut und mittellanges schwarzes Haar und dunkelbraune Augen. Sie schien Julius auch wiederzuerkennen und lächelte.

"Ach, hast du doch deinen Weg hierher gefunden. Seraphine, das ist der junge Herr, der meiner Mutter zu Füßen gefallen ist, als wir unsere neuen Schulsachen geholt haben. Er war mit der Tochter unserer geschätzten Professorin Faucon zusammen."

"Ach du warst das. Jeannes Mutter hat sich ja richtig gefreut, daß sie noch so gut auf junge Zauberer ..."

"Seraphine, schwätz nicht so viel dummes Zeug", tadelte die gerade gelandete Hexe, die wohl Jeanne hieß und nicht so schelmisch und offenherzig war wie Seraphine. Dann sagte sie:

"Komm, die anderen warten. Die Bande von Bruno ist schon ganz scharf drauf, uns zu blamieren."

Seraphine nickte und verabschiedete sich von Julius. Dann schwangen sich beide auf ihre Besen und stießen sich ab, wieder wie in einem Fahrstuhl. Denn die Besen stiegen in waagerechter Lage nach oben, nicht in einem Steigungswinkel wie die englischen Rennbesen.

Julius sah den Hexen nach, wie sie im Geschwindflug und laut johlend weiterflogen. Er ärgerte sich, daß er seinen Fotoapparat nicht mitgenommen hatte. Das wär's doch gewesen, fliegende Hexen zu knipsen. Nur dann hätte er sich als Muggel offenbart, denn seine Kamera hatte den üblichen elektronischen Krimskrams, den nur Muggelapparate besaßen.

Julius bummelte weiter die Schaufenster entlang und fand auch einen Laden für Besen aller Gebrauchsarten. Im Schaufenster stand ein Sauberwisch 10 neben einem Ganymed 8 und einem Nimbus 2001. Was das Hinweisschild aussagte, konnte Julius nur bruchstückhaft entziffern. Doch er fand zumindest heraus, daß hier vom guterhaltenen Gebrauchtbesen zum brandneuen Verkaufsschlager alles zu bekommen war, sogar Importware aus England, Australien, Rußland und Transsylvanien. Um nicht wehmütig zu werden, weil seine Eltern ihm keinen Besen kaufen würden, ging er schnell weiter und las ein Schild, das auf eine magische Menagerie hinwies. Julius, der außer den Meerjungfrauen im See und den Unwesen aus Lupins Unterricht keine magischen Geschöpfe gesehen hatte, war Feuer und Flamme, den Laden zu besuchen. Er lief an das Schaufenster, wo er einen Raben mit purpurfarbenem Gefieder auf einer Stange sitzen sah. Der Vogel blickte ihn mit gelben Augen an und tippte mit seinem goldfarbenen Schnabel gegen die Scheibe. So hatte sich Julius ein Hexentier vorgestellt. Daneben hockte in einem Gitterkäfig eine große Spinne, deren Panzer bläulich glänzte. Julius las über der Tür die Öffnungszeit neun Uhr und ging weiter. Seiner Uhr nach würde es noch eine halbe Stunde dauern, bis dieses Geschäft öffnete.

Über einem großen roten Gebäude, das die Form eines Fünfecks besaß, pprangte ein Schild, das eine ockergelbe Eule auf tiefblauem Grund zeigte. Julius hatte davon gehört und gelesen, daß die Postämter der Zaubererwelt dieses Erkennungszeichen führten. Und dieses Postamt war bereits geöffnet. So trat Julius in die große Halle ein.

Um den Eulen eine angenehme Umgebung zu schaffen, waren nur wenige Kerzen in der weitläufigen Halle entzündet worden. Julius erkannte an jeder der fünf Wände je zehn lange Mahagoniestangen, die in Abständen von vielleicht einem Meter mit Messingringen an der Wand befestigt waren. Auf den Stangen saßen die unterschiedlichsten Eulenvögel, vom Winzling bis zum Uhu. Dem Hogwarts-Schüler fiel auf, daß jede Wand in einer anderen Farbe gestrichen war. Eine Wand schimmerte bronzefarben. Eine Wand erschien in haselnußbraunem Farbton, die dritte rostrot, die vierte dunkelblau und die fünfte meergrün. Julius brauchte nicht erst die silbernen verschnörkelten Schriftzüge über den Eulenstangen zu lesen, um zu begreifen, daß hier jedem Erdteil Posteulen zugeteilt waren.

Auf der Bronzewand prangte der Schriftzug ASIA, auf der haselnußbraunen AFRICA, auf der rostroten AUSTRALIA, auf der königsblauen AMERICA und auf der meergrünen EUROPA.

Jetzt erst nahm er die zwanzig Hexen und Zauberer zur Kenntnis, die in signalroten Umhängen mit einer winzigen ockergelben Eule an den Schulterstücken hinter den hohen Schaltern aus Eichenholz und Bronze saßen oder in der Halle herumliefen, mit Futtersäcken, in denen es zappelte, mit Stapeln von Briefen, die zu der einen oder anderen Wand gebracht wurden. Eine Hexe von dreißig oder vierzig Jahren trat hinter einem Schalter hervor und kam auf Julius zu. Der Junge sah sie verlegen an. Er wollte sich nur umsehen. Er hatte nicht unbedingt vor, eine Eule von hier aus loszuschicken. Aber jetzt war er einmal hier, warum sollte er sich nicht zumindest einmal erkundigen, was alles möglich war?

"Kann ich Ihnen behilflich sein, Monsieur?" Fragte die Hexe höflich. Julius nickte und sagte:

"Ich habe noch nie ein so großes Postamt besucht und weiß nicht, was von hier aus abgeschickt werden kann und wieviel dies kostet."

Die Hexe nickte und winkte dem Jungen, ihr an ihren Schalterplatz zu folgen. Sie holte unter dem Pult ein ledergebundenes Buch hervor und klappte es auf.

"Wie Sie wohl schon bemerkt haben, sind wir in diesem Postamt in der Lage, jeden Kontinent per Eule zu erreichen. Unsere Posteulen können zwar wie jede private Posteule gezielt Personen oder Gebäude anfliegen, sie können jedoch auch die internationalen Abkürzungen benutzen, die nur den amtlichen Posteulen zur Verfügung stehen. Dadurch verkürzt sich die Zeit zwischen Absendung eines Briefes und den Erhalt einer möglichen Antwort auf nur ein Zehntel der üblichen Zeiten, bei interkontinentalen Zustellungen gar auf ein Fünfzigstel, falls ein Telegramm geschickt werden soll. Wenn Sie einen gewöhnlichen Brief versenden möchten, Monsieur, so haben Sie die Wahl zwischen Standard- und Expressversand. Der Expressversand benötigt nur die Hälfte der üblichen Zustellzeit, kostet dafür auch das doppelte.

Wenn wir den Auftrag bekommen, eine Post auf einen anderen Kontinent zuzustellen, wird für die Standardgebühr derselbe Betrag erhoben, egal ob der Empfänger an der nächstliegenden Küste oder auf der anderen Seite des Zielkontinents zu finden ist. Für die Expressversion gilt dasselbe, eben nur zum doppelten Preis bei halber Transportdauer."

"Und wieviel ist das in Zahlen?" Fragte Julius, nachdem die Hexe ihre Erklärung beendet hatte.

"Nun, für einen Standardbrief kostet der Transport innerhalb Europas inklusive den britischen Inseln fünf Knuts. Falls eine Antwort erwartet wird zehn. Die Expressversion macht dann zehn für eine einfache Zustellung und zwanzig, falls eine Antwort erwünscht wird. So zahlt der Empfänger keine Gebühren für die Benutzung der amtlichen Schnellverbindungen. Wünschen Sie, einen Zauberer oder eine Hexe in Übersee anzuschreiben, werden für diesen Dienst fünfzehn Knuts bei Standard und eine Sickel für den Expressversand erhoben. Bei einer erwünschten Antwort sind das dann eine Sickel und ein Knut für den Standard- und zwei Sickel und zwei Knuts für den Expressversand. Dabei ist es unerheblich, ob Sie nach Afrika oder Australien schreiben."

"Was ist mit Empfängern, die nicht ständig an einem Ort bleiben?"

"Für die gilt der Interkontinentaltarif, da eine Eule ja von Marseille, was ja nicht weit von hier fort liegt, bis Wellington in Neuseeland fliegen könnte. Im Grunde genommen sind wir noch billig dafür, daß eine Eule womöglich tagelang suchen muß, falls sie den Empfänger nicht auf direktem Wege anfliegen kann."

"Aber immerhin schneller als wenn ich eine private Posteule losschicken würde", wandte Julius ein. Er spielte mit dem Gedanken, einen Brief an Aurora Dawn zu schicken. Da er nicht wußte, ob sie noch in Australien war oder schon in England, käme ihm der Tarif für ortsungebundene Hexen und Zauberer gerade recht. Das ganze würde jedoch an einer Sache scheitern: Julius besaß kein Zauberergeld. Er hatte den Rest dessen, was Cynthia Flowers ihm damals überlassen hatte, plus die fünf Sickel von Glorias Onkel Victor in seinem Schulkoffer eingeschlossen, da er ja davon ausgegangen war, kein Zauberergeld zu brauchen. Er überlegte sich, ob er unverrichteter Dinge aus dem Postamt gehen sollte, als ihm eine Idee kam:

"Wenn ich jetzt aber kein Kleingeld verfügbar habe, um einen Standardbrief zu versenden, könnte ich dann auch bei Gringotts eine Überweisung machen, die als Zahlungsmittel angenommen wird?"

Die Hexe lachte verhalten. Offenbar wußte sie nicht ob sie Julius für einen Angeber halten sollte, der nichts bezahlte, was weniger als eine Galleone kostete oder ihn bedauern sollte, weil er offenbar kein Geld dabei hatte. Dann sagte sie:

"Sie sind hier zu Gast, richtig? - Nun, falls Sie im Moment kein passendes Geld bei der Hand haben sollten, könnten Sie sich in Gringotts oder jedem Laden Wechselgeld aushändigen lassen. Den Aufwand einer Zahlungsanweisung für eine Postzustellung zu veranlassen, wäre zuviel des guten, wenn Sie mich fragen, Monsieur."

Julius nickte zustimmend und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Ihm fiel nämlich jetzt erst so richtig auf, wie hilflos er in diesem Dorf war, wenn er kein Geld besaß. Er konnte nirgendwo etwas einkaufen oder in Auftrag geben. Das war neu für ihn. Denn sonst hatten seine Eltern ihm immer ein Urlaubstaschengeld von dreißig Pfund mitgegeben, das er nach Belieben ausgeben konnte. Er mußte jedoch damit auskommen. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, sich gut zu überlegen, ob etwas nötig war, um dafür Geld auszugeben. Doch hier, in einer Zauberersiedlung, wo er bestimmt einiges interessante erleben oder kaufen konnte, war ihm nur ein Dach über dem Kopf und gutes Essen sicher, zum Preis möglicher Hausaufgabenkorrekturen oder möglicher Handreichungen, die er seiner Gastgeberin machen mußte.

Julius wollte sich gerade bei der freundlichen Posthexe für die Information bedanken und sagen, daß er sich überlegen würde, ob er einen Brief verschicken wolle, als die Tür aufging und zwei Junghexen eintraten, von denen er eine kannte.

Julius hatte geglaubt, er sei der einzige Hogwarts-Schüler in Millemerveilles. Doch als er Prudence Whitesand, seine ältere Hausmitbewohnerin erkannte, die mit einer strohblonden Hexe ihres Alters das Postamt betrat, wunderte er sich genauso wie die ältere Ravenclaw. Julius sah verlegen zur großen goldenen Wanduhr über der Eingangstür und sah, wie der Sekundenzeiger den letzten Sprung hin zum großen Zeiger machte, der auf der Zwölf stand. Der Stundenzeiger ruhte gerade genau auf der Neun.

Prudence unterbrach die auf Französisch geführte Unterhaltung mit der anderen Junghexe und kam zu Julius herüber. Sie trug einen sonnengelben Umhang mit weißem Spitzenbesatz, der sich ohne Knittern ihren Bewegungen anpaßte.

Sie sprach Julius auf Englisch an. Doch der Hogwarts-Schüler verstand kein Wort davon, außer seinem Namen. Julius erschrak. Er wußte, daß sie Englisch mit ihm sprach. Doch warum verstand er sie nicht mehr?

Er überlegte, und dabei fiel ihm auf, daß seine Gedanken in französischer Sprache in seinem Kopf herumgingen.

Prudence sprach wieder, und Julius sah an ihrem Gesicht, ihren Gesten und der Körperhaltung, daß sie glaubte, er wolle sie veralbern. Dann sagte er auf Französisch:

"Prudence. Entschuldigung, daß ich dich nicht in unserer Landessprache anspreche. Aber man hat mir gesagt, daß es höflicher sei, hier die übliche Landessprache zu sprechen."

"Aber guten Tag hättest du mir doch sagen können. Außerdem wollte ich nur wissen, wo du hier untergekommen bist, und wielange du hierbleibst", erwiderte Prudence in astreinem Französisch. Ihre Begleiterin sah Julius an und sagte:

"Du bist Julius Andrews aus Hogwarts? Wieso redest du dann nicht auf Englisch mit deiner Hauskameradin? Oh, entschuldigung! Ich habe mich nicht vorgestellt. Prudence, machst du das?"

"In Ordnung! Julius, das ist Virginie Delamontagne, meine Brieffreundin aus Beauxbatons. Virginie, das ist Julius Andrews, der letztes Jahr in unser Schulhaus eingezogen ist und sich erstaunlich gut mit Zauberkräutern und Astronomie auskennt und für sein Alter ein sehr großes Zaubertalent besitzt."

Julius und Virginie tauschten ein höfliches "Sehr erfreut" aus. Dann sagte Julius leise zu Prudence:

"Ich habe kein Zauberergeld hier, um einen Brief zu schicken. Meine Eltern haben mich ohne Geld in die Ferien geschickt, weil sie dachten, daß ich keines brauchen würde."

"Dann warte mal hier", erwiderte Prudence auf Französisch. Sie sah Julius dabei merkwürdig an, als verwundere oder beunruhige sie was an ihm.

Julius trat leise vom Schalter zurück und wartete, bis Prudence und ihre Brieffreundin ihre Eulensendungen aufgegeben hatten. Dann kam Prudence an Julius vorbei und winkte ihm, ihr zu folgen. Er ging mit der Hauskameradin aus dem Postamt. Virginie folgte den beiden und wunderte sich.

Prudence nahm Julius bei Seite und fragte:

"Ist was mit dir passiert? Ich dachte, deine Muggeleltern wollten dich nicht mehr unter Zauberer lassen. Warum kannst du so gut französisch sprechen, dafür aber kein englisches Wort mehr verstehen?"

"Ich versuche was. Kannst du mir Pergament und Schreibzeug geben?" Erwiderte Julius, der eine Idee hatte. Prudence zog wortlos eine kleine Pergamentseite aus ihrem Umhang und gab Julius einen Füllfederhalter. Julius schrieb, und er merkte, daß er hierbei noch die englische Sprache konnte, auch wenn er nicht wußte, wie die Wörter ausgesprochen werden mußten:

"Prudence, ich habe heute morgen einen merkwürdigen Zaubertrank getrunken, um die Landessprache ohne langes Lernen zu sprechen. Jetzt aber merke ich, daß ich dadurch meine eigene Sprache verlernt zu haben scheine. Ich kann nur noch schreiben und lesen.

Ich bin hier sozusagen hinversetzt worden, weil es Probleme gab, über die ich jetzt nichts erzählen möchte. Ich würde gerne einer Bekannten aus unserer Welt schreiben und sie fragen, was ich tun soll, um hier nicht dumm aufzufallen. Kannst du mir bis zum Schulbeginn zwei Sickel und zwei Knuts leihen. Du kriegst dann drei Sickel zurück, inklusive Leihzins."

Prudence las die kurze Mitteilung, nickte Julius verständnisvoll zu, dann zog sie aus einer gut geschützten Tasche ihres Umhangs einen kleinen Lederbeutel und zählte Julius drei Sickel in die Hand. Dann drehte sie den Zettel um und schrieb schnell eine Antwort. Sie reichte Julius den Zettel und der las und verstand alles, ohne Probleme, wenngleich er wieder nicht wußte wie sich die Wörter aussprechen ließen:

"Oha, Julius! Von so einem Trank habe ich gelesen. Er soll den Einwanderern gereicht werden, die in einem fremden Land arbeiten wollen. Aber ich weiß nicht, wie er genau wirkt. Mach dir darum erstmal keine Sorgen! Ich gebe dir drei Sickel. Die reichen für einen Brief mit erwartteter Antwort. Betrachte sie als notwendige Aushilfe zwischen Schulkameraden. Ich will die nicht wiederhaben, zumindest nicht als Geldbetrag. Wenn du meinst, sie mir wiedergeben zu müssen, dann kauf mir lieber was schönes dafür in der Winkelgasse, wenn du wieder nach England zurückkehrst."

Julius flüsterte Prudence auf Französisch einige Dankesworte zu und ließ sich noch einen Bogen Pergament von ihr geben. Dann kehrte er ins Postamt zurück, wo er sich in eine ruhige Nische setzte, wo eine Kerze brannte und schrieb:

 

Sehr geehrte Ms. Dawn,

zum ersten möchte ich mich dafür entschuldigen, daß ich ihr Angebot, mich zur Quidditch-Weltmeisterschaft mitzunehmen, nicht annehmen kann, da meine Eltern dies verboten haben und mich darüber hinaus aus England fortschickten.

Zum zweiten möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich im Moment in Millemerveilles, einem Dorf von Hexen und Zauberern in Frankreich untergebracht bin, da es gewisse Probleme gab, die das hiesige Zaubereiministerium veranlaßten, mich aus der Muggelwelt herauszuholen. Ich wurde in die Obhut einer beamteten Hexe gegeben, die für mich sorgen soll, bis geklärt ist, was weiter mit mir geschehen soll. Dabei ist mir in meiner Muggelnaivität etwas passiert, was ich nicht absehen konnte.

Um die französische Sprache, die ich nur sehr wenig beherrsche, fließend sprechen zu können, bekam ich einen scharlachrot glänzenden Zaubertrank, der dünnflüssig war und wie ein Gemisch aus Aprikosen, Erdbeeren und Möhrensaft roch, zu trinken. Er ließ mich auf Anhieb alles gesprochene verstehen und ohne Zögern die Sprache sprechen. Doch nun scheint es, daß ich kein englisches Wort mehr sprechen oder beim Hören verstehen kann. Nur schreiben und lesen kann ich meine Heimatsprache noch.

Kennen Sie diesen Trank? Wissen Sie, was ich mir da eingebrockt habe?

Hochachtungsvoll

Julius Andrews

 

Er faltete den Brief zusammen und ging zu dem Schalter, an dem er vorhin die Informationen bekommen hatte. Die Hexe dort bediente gerade noch ein Zaubererehepaar, dann lächelte sie Julius an. Er legte drei Sickel auf den Tresen und zeigte den zusammengefalteten Pergamentbogen.

"Ich möchte diesen Brief an eine Mademoiselle Aurora Dawn schicken. Da ich nicht weiß, ob sie gerade in Australien oder in England ist, möchte ich den Express-Suchtarif zahlen."

Die Hexe nickte und besah sich den zusammengefalteten Zettel. Sie holte einen ockergelben Umschlag. Sie bat Julius darum, den vollen Namen der Empfangsperson und den Schriftzug "Antwort erbeten" aufzuschreiben, und auf der Anderen Seite des Umschlags die Adresse des Absenders zu notieren. Julius bekam hierfür ein kleines Tintenfaß mit smaragdgrüner Zaubertinte und eine Falkenfeder. Er notierte als Absender:

Julius Andrews Maison du Faucon Millemerveilles France

und als Adresse:

 

Aurora Dawn
Haus der Morgendämmerung
Sydney
Australien
oder unterwegs in England

Antwort erbeten!

Dann steckte er den zusammengefalteten Brief in den Umschlag, verschloß diesen und reichte ihn der Hexe. Diese besah sich die Adresse und nickte. Dann winkte sie zu der Australien-Wand hinüber und rief damit eine Schleiereule herbei. Julius erkannte einen rostroten Ring am rechten Fuß des Vogels und ein Ledertäschchen für den Brief am linken Bein. Sie steckte der Eule den Brief zu und flüsterte ein paar leise Worte. Dann schwang sich der Vogel in die Luft und flog durch eine der großen Auslassluken hinaus aus dem Postamt.

Die Hexe nahm die drei Sickel und zählte Julius siebenundzwanzig Knuts auf den Tresen. Der Junge nahm das Wechselgeld und verließ erleichtert das Postamt.

Draußen wartete Prudence Whitesand mit Virginie Delamontagne auf Julius. Virginie, die einen sandfarbenen Umhang trug, deutete auf zwei Flugbesen, die an der westlichen Wand des Postgebäudes lehnten.

"Prudence hat vorgeschlagen, daß du mit uns zum Quidditch-Feld fliegen kannst. Sie meint, du könntest gut spielen für einen Muggelgeborenen", sagte Virginie. Prudence errötete merklich. Offenbar wollte sie nicht, daß Julius erfuhr, daß sie jemandem von seiner Herkunft erzählt hatte. Julius zuckte zwar mit den Achseln. Doch dann nickte er.

"Ich habe gedacht, daß ich es besser nicht laut sagen soll, daß meine Eltern nicht zaubern können. Man riet mir davon ab, um die Leute hier nicht unnötig aufzuregen", sagte Julius ruhig.

Prudence errötete noch mehr. Dann räusperte sie sich und sprach:

"Ich habe nur gesagt, daß du dafür, daß du erst vor einem Jahr erfuhrst, daß du Zauberer bist, sehr schnell sehr gut fliegen gelernt hast. Virginie hat daraus geschlossen, was deine Eltern sind. Ich hoffe, du bist mir nicht böse."

"Erstens kann ich nichts daran ändern, was meine Eltern sind. Zweitens soll man über verschüttete Milch nicht klagen, heißt es. Ich wollte nur nicht, daß alle hier meinen, ich sei irgendwie abgedreht."

"Unsere Eltern reden nicht gerne über Muggel, weil es in Frankreich gewisse Probleme mit Muggelstämmigen gab und gibt. Das ist der Grund, weshalb dir dieser Jemand geraten hat, deine Herkunft nicht herumzuerzählen. Aber ich sage es keinem, allein schon, um Prudence nicht dumm aussehen zu lassen", grinste Virginie. Dann winkte sie Julius.

"Wir haben leider nur zwei Besen. Das heißt, du mußt schon mit einer von Uns zusammen fliegen. Hast du das schon einmal ausprobiert?"

"Nein, habe ich nicht", erwiderte der Hogwarts-Schüler schüchtern. Virginie und Prudence sahen sich kurz an. Dann deutete die französische Junghexe auf ihren Besen. Julius besah sich das Fluggerät. Es handelte sich nicht um eines, daß er kannte. Er sah jedoch gleich, daß der Stiel schlank und gerade ausgerichtet war und die Reisigbündel im Schweif in tadellosem Zustand waren. Er las die verschnörkelte Inschrift GANYMED 8 auf dem hochglanzpolierten Stiel.

"Inspektion beendet?" Fragte Virginie nach einer halben Minute des Schweigens. Julius fuhr zusammen und nicktte heftig. Dann sah er, wie Virginie den Besen mit einer leichten Handbewegung in die Aufstiegsposition ansteigen ließ und mit der Leichtigkeit einer Kunstturnerin aufsaß.

"Du steigst hinter mir auf, weil du noch kürzere Beine hast als ich. Dann streckst du deine Arme gerade aus, umfaßt mich dabei und hältst dich mit einer Hand vor der Anderen fest, wobei du zwischen meiner linken und rechten Hand den Stiel halten mußt, damit ich uns ausbalancieren kann. Wenn ich "Hopp" sage, stoßen wir uns gleichzeitig ab. Dann fliege ich uns. Du mußt dich nur festhalten. Da du selber fliegen kannst, wirst du keine Probleme haben, dich mit mir in die Kurven zu legen oder Lageänderungen zu fliegen. Wir werden keine wilden Manöver fliegen. Also, sitz auf!"

Julius folgte den Ratschlägen der jungen Hexe und schwang sich auf den Besen. Er stellte sicher, daß er sich nicht auf den Umhang Virginies setzte, bevor er die Arme um ihren Körper herum nach vorne streckte und seine Hände so um den Stiel legte, das sie genau zwischen denen der Beauxbatons-Schülerin lagen. Dann sah er Prudence, wie sie abhob und mit dem geliehenen Besen aufstieg.

"Hopp!" Rief Virginie und drückte ihre Beine durch. Julius stieß sich gleichzeitig mit ihr vom Boden ab. Der Besen stieg federleicht auf. Julius staunte, daß er mit zwei Reitern keine Probleme hatte, an Höhe zu gewinnen. Als der Besen auf gleicher Höhe mit Prudence Whitesand war, bugsierte Virginie das Fluggerät in eine sanfte Rechtskurve, zog an der Brieffreundin aus Hogwarts vorbei und übernahm die Führung.

"Na, wie ist es? Anders als Quidditch-Manöver, wie?" Fragte Virginie, ohne ihren Kopf Julius zuzuwenden.

"Erinnert mich an Fahrradfahren, wo einer auf dem Gepäckträger sitzt", erwiderte Julius.

"Ich weiß zwar nicht, was Fahrradfahren ist, aber es hört sich so an, als würde man dabei nicht fliegen. Ich mach jetzt ein wenig Tempo, damit wir das Quidditchfeld noch vor halb zehn erreichen", entgegnete Virginie.

Julius spürte, wie der Ganymed 8 beschleunigte und dabei ruhig und zielstrebig über die Häuser von Millemerveilles dahinglitt. Prudence folgte im Abstand von zehn Metern und hielt den Besen dabei in einer perfekten Waagerechten.

Julius konzentrierte sich auf das Zauberarmband, das er am rechten Handgelenk trug. Professeur Faucon hatte ihn darauf hingewiesen, daß er nur sieben Kilometer von ihrem Haus fortgehen konnte. Wie weit lag das Quidditchfeld entfernt.

Nach fünf Minuten Flug kündigte Virginie die Landung an und lehnte sich leicht nach vorne. Der Ganymed neigte sich dem Boden zu und glitt sachte nach unten. Jetzt konnte Julius auch ein weites Feld erkennen, aus dem an zwei Seiten hohe Pfosten ragten. Beim Näherkommen konnte Julius die goldenen Torstangen mit den Ringen erkennen, drei auf jeder Seite des Feldes. Schließlich konnte Julius auch die Sitzreihen rund um das Spielfeld erkennen. Er sah verschiedene Hexen und Zauberer, die wohl in Prudences Alter sein mochten, aber auch vier Erwachsene und Kinder, die nicht älter als er waren. Sie saßen auf den Sitzen um das Spielfeld oder standen in der Mitte zusammen. Julius sah die violett gekleideten Hexen und sieben Jungzauberer in waldmeistergrünen Umhängen. Virginie gab Julius noch einige Anweisungen für die Landung:

"Strecke deine Beine leicht vorwärts, damit du beim Aufsetzen mitbremsen und dich selbst hinstellen kannst! Achtung, wir landen!"

Julius streckte die Beine etwas vor und hielt sich gut fest. Im sanften Sinkflug und mit abnehmender Geschwindigkeit glitt das Besentandem von Virginie und Julius über die Sitzreihen hinweg. Dann drückte die Brieffreundin von Prudence Whitesand den Besen etwas nach vorne und ließ das Fluggerät die letzten zehn Meter absinken. Dann brachte sie ihn durch Körperverlagerung in die Waagerechte und berührte mit den Füßen den Boden. Einen Sekundenbruchteil später trafen auch Julius' Füße auf den Grasbelag des freien Feldes und wurden vom Restschwung nach hinten gedrückt. Doch Julius stemmte sich dagegen und streckte die Beine ganz durch. Er stand, Virginies schlanken Körper umfassend. Dann ließ er los. Ohne Worte schwang er sich vom Besen und sah Virginie zu, wie sie den Ganymed 8 schulterte.

"Sag mal, Virginie, schleppst du schon kleine Jungs ab?" Fragte ein halbwüchsiger Zauberer mit maisblonder Igelfrisur, der zu den sieben Spielern in Waldmeistergrün gehörte.

"Zwischendurch lese ich Anhalter auf, Renard. Oder hast du das schon vergessen, wer dich vor einer Woche im strömenden Regen aufgefischt hat", versetzte Virginie keck. Julius bedankte sich schnell für's hinbringen und wandte sich den Sitzreihen zu.

"Gehört der auch nach Hogwarts?" Fragte eine Junghexe in violetter Kleidung. Julius erkannte sie als Seraphine. Neben ihr stand Jeanne, ihre Kameradin und sah Julius prüfend an. Julius nickte, auch wenn ihm die Frage nicht gegolten hatte. Prudence rief zurück:

"Der wohnt in meinem Schulhaus. Er ist wohl hier in der Gegend untergebracht."

Seraphine schien diese Antwort zu genügen. Sie lächelte Julius kurz an, dann sprach sie mit ihrer Quidditchkameradin.

Julius ging die Stufen zu der zwanzigsten Sitzreihe hoch. Dort saßen zwei der Erwachsenen, eine Hexe in dunkelgrünem Glitzerumhang und ein Zauberer in kastanienbraunem Umhang, der einen aschblonden Haarschopf und einen ebenso gefärbten langen Bart besaß, der unter dem Kinn zu einem Zopf geflochten war. Julius erkannte die ausgewachsene Hexe wieder. Sie besaß ebenfalls schwarzes Haar, das in sanften Wellen auf ihren Rücken hinabreichte. Ihr brauner Hautton ließ sie wie eine Frau aus einem südlichen Land erscheinen. Dazu paßten auch die dunkelbraunen Augen. Neben der Hexe saß das kleine Mädchen, daß Julius in der Rue de Camouflage bestaunt hatte.

"Maman, das ist doch der, der dich fast umgeschmissen hätte", piepste die Kleine. Ihre Mutter machte "schschsch!" Die Kleine, die einen bunten Strickumhang trug, schwieg sofort.

"Junger Mann, willst du dich hinsetzen? Dann komm zu uns rüber. Hier hat man eine gute Aussicht", lud die Hexe im grünen Glitzerumhang den Hogwarts-Schüler ein. Dieser sah sich um, dann nickte er und ging die Sitzreihe entlang, bis er neben der Hexe angelangt war, die ihre kleine Tochter auf die andere Seite geschickt hatte. Julius begriff, daß sie wohl gerne mit ihm reden wollte. Er mußte sich überlegen, was er ihr erzählen wollte.

"Meine Tochter Claire kommt gleich noch. Setz dich ruhig hier hin. Bist du alleine hier?"

"Ich bin mit Virginie Delamontagne hergekommen. Aber ich denke nicht, daß ich mit ihr wieder fortfliegen werde. Sie wird wohl hier spielen wollen."

"Du bist Hogwarts-Schüler, richtig?" Fragte die Hexe unverbindlich klingend. Julius nickte wieder.

"Entschuldigung, ich war unhöflich. Ich bin Camille Dusoleil. Das neben mir ist unser Nesthäkchen Denise. Jeanne, meine Älteste, tritt gleich gegen Brunos Bande an."

"Du warst mit Catherine Brickston in der Einkaufsstraße. Wohnst du bei ihr?"

Die kleine Denise ärgerte den Zauberer, in dem sie an seinem Zopfbart zupfte.

"Denise, pass auf! Monsieur Castello könnte auf die Idee kommen, dich in eine Maus zu verwandeln!" Warnte Madame Dusoleil. Der Zauberer lachte darüber und grinste das kleine Mädchen spitzbübisch an.

Ein Besen landete. Wieder mit zwei Reitern, einem erwachsenen Zauberer und einem Mädchen, daß so alt wie Julius sein mochte. Julius erkannte das Mädchen sofort wieder und bemerkte:

"Jetzt sind wohl alle komplett, wie?"

"Genau", erwiderte Madame Dusoleil. Sie rief dem Zauberer zu:

"Flory! Komm zu uns hoch. Die Kinder wollen anfangen!"

Der Zauberer schulterte den Besen und kam mit dem elfjährigen Mädchen hoch.

"Huch, das ist doch der Junge, der mit Catherine zusammen aus dem Kamin geplumpst ist", begrüßte die mittlere der drei Dusoleil-Töchter Julius ganz ungehemmt. Der Zauberer, der sie hergeflogen hatte, sah sie verunsichert an. Er besaß ebenfalls schwarzes Haar, jedoch eine helle Hautfarbe und graublaue Augen. Er trug einen türkisfarbenen kurzen Umhang, der gerade so lang war, daß er beim stehen zu den Oberschenkeln reichte. Madame Dusoleils zweite Tochter trug einen kirschroten Umhang.

"Ich kann nicht hierbleiben, Camille. Madame Pierre hat Probleme mit ihrer Weinkellertür. Kannst du Claire nachher nach Hause fliegen?"

"Mit welchem Besen? Wenn du jetzt zu Madame Pierre willst, Flory?"

"Kein Problem, Camille. Ich werde bei Madame Pierre apparieren. Du kannst unseren Cyrano nehmen", sagte der Zauberer im türkisfarbenen Umhang. Madame Dusoleil nickte zustimmend, was für ihn wohl das Zeichen war, zu verschwinden. Mit einem leisen Plopp disapparierte er und hinterließ nur einen sich verflüchtigenden Luftwirbel.

Claire Dusoleil schob den langen Reisebesen unter die Sitzreihe und warf sich lässig neben Julius auf einen Sitz. Julius roch das erfrischende Parfüm, daß die Elfjährige aufgelegt hatte. Ihre Mutter hatte sich zwar ebenfalls ein Duftwasser aufgetragen, welches jedoch sanft und unaufdringlich roch.

"Hallo! Ich bin Claire Dusoleil. Meine Mutter hast du ja schon kennenlernen dürfen", sprach Claire Julius an.

"Julius Andrews. Ich komme im nächsten Schuljahr in die zweite Klasse von Hogwarts", stellte sich Julius vor.

"Ich bin schon mit der ersten Klasse Beauxbatons fertig. War nicht gerade einfach. Aber es hat geklappt. Magst du Quidditch, oder warum hat dich Catherine Brickston hierhergelassen?" Fragte Claire.

Julius dachte darüber nach, wieso die Hexen, Mutter und Tochter so schnell so viel wissen wollten. Dafür, daß vor dreizehn Jahren noch ein schwarzer Magier alle Zauberer und Hexen tyrannisiert hatte, waren die Dusoleils sehr offen und neugierig. Hatte es sich vielleicht schon herumgesprochen, daß er kein Zaubererkind war? Er dachte kurz nach und sagte:

"Ja, ich mag Quidditch. Deshalb bin ich hier."

"Dafür hast du jetzt drei Sekunden gebraucht?" Lachte Madame Dusoleil. Julius' Ohren liefen leicht rosa an.

"Achso! Catherine mußte bei ihrer Mutter bleiben, um ihren Wirbelwind zu beaufsichtigen", grinste Claire.

"Genau", erwiderte Julius, weil sie ja irgendwie recht hatte.

"Ist ja auch kein Zuckerlecken, mit einem Maschinenknecht von Muggel verheiratet zu sein", bemerkte Madame Dusoleil dazu. Julius warf seinen Kopf in den Nacken und rief schnell:

"Wie heißen die Mannschaften eigentlich?"

"Die Hexen nennen sich Blumentöchter, und die Zauberer laufen unter dem Namen "Grüne Sieben". Hach, ich finde das immer schön, wenn unsere Kinder sich so gut beschäftigen", erklärte die Mutter Claires und deutete auf die beiden Erwachsenen, die auf dem Spielfeld standen.

"Das sind unsere Medimagier, wenn einer vom Besen fällt. Das ist vorschrift, selbst bei Übungsspielen."

Julius begutachtete die beiden zauberer, die in Umhängen, die wie erweiterte Arztkittel aussahen, das Spielfeld umwanderten.

"Camille, ich geh jetzt runter und mach den Schiedsrichter", sagte Monsieur Castello und verließ seinen Platz.

"Können die nicht ohne Schiedsrichter spielen?" Wollte Julius wissen.

"Können schon, wollen aber nicht. Beim letzten Freundschaftsspiel haben sich die beiden Mannschaften verzählt. Deshalb soll jetzt ein Unparteiischer mit dabeisein. Monsieur Castello war früher Nationalspieler. Er wird respektiert."

Das Spiel ging um zehn Uhr los. Julius war verblüfft, als die französischen Rennbesen Manöver zeigten, die selbst ein Feuerblitz nicht zeigen konnte, wie den waagerechten Auf- und Abstieg. Zweimal drehten sich Spieler mit wildem Schwung im Kreis oder rollten seitlich herum. Julius konnte nur ein erstauntes "Ooo!" hervorbringen. Er dachte an die Fliehkraft, die bei derartigen Manövern auf die Spieler einwirken mußte.

"Jeanne, mach den doch rein!" Rief Claire zum Spielfeld hin. Julius sah, wie Claires ältere Schwester den Quaffel in Richtung mittleren Torring feuerte. Doch der rundliche Hüter in Waldmeistergrün warf sich lässig in die Flugbahn und prällte den roten Spielball aus dem Torraum fort.

"Wenn César einen roten Umhang trüge, könnte man den glatt selbst für einen Quaffel halten", lästerte Claire und fing sich von ihrer Mutter einen Tadel ein.

"Aber was willst du. Der ist doch super im Tor. Kuck! Jetzt kommt wieder ein Direktschuß, und: Booing! Wieder verpufft!" Kommentierte Julius und lachte.

"Das findest du wohl witzig, wie? Jeanne und Seraphine fallen ja bald vor Erschöpfung vom Besen, weil César so breit vorm Tor herumturnt", maulte Claire.

"Jeder macht, was er am besten kann", meinte Julius altklug und freute sich, mal wieder ein gutes Quidditchspiel zu sehen. Er vergaß dabei sogar die Auswirkung des Zaubertrankes.

"Bruno! Bruno!" Riefen die anderen Kinder und Jugendlichen auf den Sitzreihen, als der Kapitän der grünen Sieben vor dem Tor der Blumentöchter seinem Besen noch mehr Fahrt abverlangte, den Quaffel zum Torschuß bereit. Doch da schwirrte ihm ein Klatscher quer vor der Nase vorbei, so daß Bruno den roten Ball fallen ließ. Keinen Moment später hatten zwei Jägerinnen in violetter Kleidung den großen Ball übernommen und waren damit auf dem Weg zum gegnerischen Tor.

"Mannomann! Wer hat denn so präzise den Klatscher gespielt?" Fragte Julius.

"Nadine Pommerouge. Die kann Klatscher vorherberechnen wie ein Muggelkomposter", freute sich Claire, daß Brunos sichergeglaubter Torschuß nicht geklappt hatte. "Sie geht in die sechste Klasse von Beauxbatons und ist eine begnadete Zauberkunstexpertin", informierte Claire Julius noch.

"Muggelkomposter? Ach, du meinst diese Rechendinger, ohne die bei den Muggeln nichts läuft", griff Julius Claires Bemerkung auf.

"Ja, genau. Damit macht der Mann von Madame Brickston doch herum. Vielleicht hast du den sogar gesehen, als du mit Catherine ... - Uiiii!"

Claire mußte ihren Redefluß abwürgen. Denn gerade überwanden zwei Jäger der grünen Sieben die sportlich aussehende Hüterin der Blumentöchter Einer blockte sie durch ein schnelles Manöver ab, während der zweite Jäger den Quaffel durch den linken Torring schoss.

"Hihi, Trick 21 b, haben wir in Hogwarts ausgetestet. Klappt meistens", freute sich Julius. "Technik über Muskelmasse."

"Unverschämtheit! Und was heißt hier eigentlich: "Das haben wir ausgetestet"?" Zeterte Claire, während ihre Mutter nur noch lachen konnte.

"Was soll das schon heißen. Ich spiele Quidditch. Zumindest will ich das mal irgendwann offiziell tun", erwiderte Julius.

"Nach der ersten Klasse schon? Ist ja toll", sagte Claire.

"Maman, Jeanne ist vor dem Tor!" Rief Denise ihrer Mutter zu.

Tatsächlich kam Jeanne gerade frei zum Torschuß. César, der Hüter, wollte sich wie geübt in die Flugbahn werfen, als Jeanne sich selbst nach vorne warf, den Quaffel vom eigenen Schwung hinter sich herfliegend. Beide Treiberinnen schlugen gerade beide Klatscher so gezielt in die aufrückende Reihe der waldmeistergrün gekleideten Jäger, daß diese ihre Formation auflösen und sich zurückfallen lassen mußten. So geschah es, daß der untersetzte Hüter in Grün vor der in violettem Umhang spielenden Jeanne ausweichen mußte, weil diese ihm fast in die Seite raste. Der Quaffel trudelte derweil ungehindert durch den rechten Torring.

"Ui! Interessanter Zug", stellte Julius fest.

"Ist doch klar. Eine Taktik, die mehrfach wiederholt wird, kann bald gekontert werden", bemerkte Madame Dusoleil.

"Aber das mit dem abgestimmten Klatscherspiel war genial. Diese Nadine ist wirklich ein Rechenwunder. Bruno hätte es fast vom Besen geholt."

"Haben wir jetzt endlich erkannt, für wen wir sein wollen?" Fragte Claire barsch. Julius antwortete nur:

"Wo ist denn eigentlich der Schnatz?"

"Ich habe den gerade um die rechte Torstange der Jungs herumflitzen sehen", antwortete Madame Dusoleil. Dann erzielten die Jungen ein Gegentor, indem sie in schneller Formation angriffen und mit Mehrfachpaß die Abwehr der Junghexen austricksten.

"Das war ja wie eine Samba!" Lachte Julius.

"Barbara wurde regelrecht schwindelig gespielt", murrte Claire.

"Hui, da hätte es fast geknallt", stieß Madame Dusoleil erschrocken aus und atmete durch. Ein Treiber der Grünen wäre fast mit Nadine zusammengerasselt, nur weil beide einen Klatscher angehen wollten. Nadine konnte sich dem Zusammenstoß entziehen, weil sie den Rosselini-Raketenstart ausführte und senkrecht in die Luft raste, während der Treiber kopfüber unter ihr durchsauste und fast vom Besen rutschte.

"Beauxbatons bringt denen wohl nichts anderes bei außer Quidditch. Anders läßt sich das nicht erklären, wieso die so gut spielen", wagte Julius eine gehässige Bemerkung.

"Haha! Das wüßten wir aber", meinte Claire.

"Das lass bloß keinen hören, der in Beauxbatons unterrichtet. Der oder die würde dir womöglich das Gegenteil beweisen wollen", lachte Madame Dusoleil.

Das Spiel ging noch mehr als eine Stunde. Beide Mannschaften hielten ihre Tore so gut sauber, daß es um halb zwölf nur 60 zu 50 für die grüne Sieben stand. Dann tauchte die kleine Janine Dupont unvermittelt aus ihrer Flugbahn hinab, bis kurz über dem Boden, drehte auf dem Punkt und raste mit Höllentempo auf die mittlere Torstange ihrer Mannschaft zu. Keine zehn Meter vor der Torstange zuckte ihre rechte Hand vor und ballte sich zu einer Faust, aus der heraus es golden glänzte. Ein Pfiff des Schiedsrichters beendete die Partie.

"Also, wenn das nur ein Übungsspiel war, will ich diese Mannschaften erleben, wenn die wirklich um was spielen", drückte Julius seine grenzenlose Bewunderung aus.

"Ja, und das tollste ist, daß alle in unterschiedlichen Häusern von Beauxbatons untergebracht sind", erläuterte Claire. Julius staunte. Dann dachte er laut:

"Wäre auch ein tolles Gemisch. In einer Mannschaft spielt Cho Chang Sucherin, in der anderen Harry Potter. Die Weasleys spielen Treiber bei Cho, während die Hollingsworths bei Potter in der Mannschaft spielen. Flint ist bei Potter in der Mannschaft. - Wäre lustig."

"Häh!? Harry Potter? Der spielt Sucher in einer Quidditchmannschaft bei euch?" Fragte Claire.

"Öhm. Ja, der spielt für Gryffindor Sucher", sagte Julius verlegen und errötete, weil er zu laut gedacht hatte.

"Hast du ihn spielen gesehen, Julius?" Wollte Claire wissen.

"Joh, habe ich. Der ist gut als Sucher. Der hat für Gryffindor den Quidditch-Pokal geholt. Natürlich waren seine Mannschaftskameraden auch in Bestform."

"Kannst du mir das irgendwann mal erzählen?" Fragte Claire.

"Ich weiß nicht, wielange ich hierbleiben werde", antwortete Julius wahrheitsgemäß. "Ich muß noch einiges an Hausaufgaben machen."

"Welche Fächer?" Fragte Claire direkt heraus.

"Nichts besonderes. Zaubertränke, Zauberkräuter und Verwandlung. Müßte eigentlich kein Problem sein. Ist nur zeitaufwändig."

"Verwandlung? Was macht ihr denn gerade da?"

"Ich weiß nicht, ob ich das erzählen darf. Unsere Lehrer haben gesagt, daß jede Schule ihre Geheimnisse hat. Der Lehrplan könnte eines sein."

"Damit haben die bestimmt andere Sachen gemeint", warf Madame Dusoleil ein. Doch Julius kam um eine Antwort herum, als Virginie ihre Brieffreundin Prudence Whitesand vorstellte und anpries, daß sie gut im Quidditch sei. Sofort wurde die ältere Ravenclaw-Bewohnerin von begeisterten Quidditch-Anhängern umringt. Wie es sich verstand, waren es nicht wenige.

Sie konnte nicht alle Fragen auf einmal beantworten. Dann deutete sie auf die Sitzreihen und zeigte auf Julius.

Man reichte ihr ein magisches Megafon, und sie rief:

"Ich bin nicht die einzige hier, die bei uns gut im Quidditch ist. Mein Hauskamerad Julius Andrews wurde wie ich als Ersatzspieler ausgewählt, wenn die besten von uns mal nicht können."

Julius glaubte, im Boden versinken zu müssen, als ihn alle ansahen. Dann riefen zwei der Jungen in Waldmeistergrün:

"Das wollen wir sehen! Das wollen wir sehen!" Der Ruf wurde von anderen Jungen und Mädchen aufgenommen.

"Oh nein! Prudence! Das kann doch nicht dein Ernst gewesen sein!" Stöhnte Julius. Madame Dusoleil zupfte ihm am Umhang und lächelte ihn zuckersüß an.

"Hic Rhodus, hic salta! So sagt der Altsprachler, wenn er meint, daß jemand sich beweisen soll", hauchte sie ihm herausfordernd zu. Claire sah ihn erwartungsvoll an und trieb ihn an, sich hinzustellen.

Julius sah auf die Uhr und krämpelte dann den rechten Umhangärmel hoch, wo das Zauberarmband fest um sein Handgelenk lag. Claire sah es und sagte:

"Oh, du trägst ein Verbindungsband. Dann kannst du natürlich herumlaufen, ohne Angst davor, dich unrettbar zu verirren."

"Hmm, ja!" Sagte Julius.

"Die wollen dich und deine Hauskameradin spielen sehen", erinnerte ihn Camille Dusoleil an die Rufer.

"Gut, dann haben Sie jetzt die Gelegenheit, sich richtig zu langweilen", sagte Julius. Er sah noch mal auf die Uhr und stellte fest, daß er in einer halben Stunde bei Madame Faucon sein mußte, wenn diese ihn nicht suchen wollte.

"Ich muß wieder nach Hause. Ich meine, ich muß dorthin, wo ich im Moment untergebracht bin", setzte Julius an. "Zu Fuß brauche ich bestimmt eine halbe Stunde. Deshalb .."

"Hier fliegen genug Besen herum, Junge. Ist das bei euch so üblich, dann, wenn ihr euch beweisen müßt, den schnellen Rückzug anzutreten?" Fragte Madame Dusoleil. Julius antwortete:

"Nicht für Gryffindors oder Slytherins. Aber ich bin ein Ravenclaw und muß daher immer die Folgen vorhersehen, die meine Handlungen haben."

"Feigling!" Trällerte Claire und knuffte Julius in die Seite. Dann sprach Madame Dusoleil ein Machtwort:

"Also, deine ältere Schulkameradin ist mit Virginie befreundet. Virginies Eltern sind im Dorfrat von Millemerveilles. Deine Hauskameradin rechnet damit, sich nicht vor ihrer Freundin zu blamieren und sich zum Gespött der ganzen Siedlung zu machen. Sie hat schon einen Besen. Du gehst jetzt da runter, leihst dir von Jeanne ihren Besen aus und zeigst, was ihr gelernt habt! Das Verbindungsband kann durch Berührung mit dem Zauberstab zum schwingen gebracht werden. Wenn es zittert, komm runter, und ich fliege dich hin, wo du hinmußt! Und nun los, Monsieur!"

Julius hörte keine Strenge aus der Stimme, keine Bedrohung. Dennoch war die warme mütterliche Stimme Madame Dusoleils genauso wirksam wie ein scharfer Befehl. Julius nickte und sprang einfach über die vor ihm stehenden Stühle hinweg nach unten. Er wandte sich an Jeanne, die wie die übrigen Spieler auf dem Feld stand und in den Ruf mit einstimmte:

"Das wollen wir sehen!"

"Deine Maman hat mir dazu geraten, mich nicht zurückzuziehen. Ich brauche nur einen Besen, um euch allen hier was zeigen zu können. Darf ich deinen haben?"

Jeanne hielt mit ihren Rufen inne, sah Julius prüfend an und warf ihm behände ihren Ganymed 8 zu. Julius nahm das Fluggerät und saß auf.

"In Ordnung, Leute! Ich spiele kurz mit. Aber ich muß euch warnen:

Ich kenne diesen Besen nicht und muß daher erst einmal ein Gefühl für ihn kriegen. Es wird also langweilig für euch."

"Auf geht's!" Rief Prudence auf Französisch von oben herab und flog noch einige Meter höher. Julius stieß sich ab und flog erst einmal einige leichte Manöver. Da der Besen auch in der Waagerechten auf- und absteigen konnte, mußte Julius erst einmal lernen, diese Besonderheit richtig zu steuern. Dann, so nach fünf Minuten, flog er wild auf und raste zwischen der sich bildenden Formation durch, die sich aus Waldmeistergrünen und Violetten gebildet hatte. Wie aus dem Nichts flog ihm der Quaffel zu und er suchte schnell Prudence. Mit einer einstudierten Zeichensprache dirigierte er sie auf eine Position, wo er den Quaffel schnell hinspielte, bevor er von einem gegnerischen Jäger vom Ball getrennt werden konnte. Prudence, die wohl durch Julius' Zögern Zeit gehabt hatte, die eigene Mannschaftsordnung zu begreifen, spielte den roten Ball einer Spielerin der Blumentöchter zu, die sofort in den Sturzflug ging, aus dem heraus sie Julius anspielte. Dieser warf sich mit dem Quaffel herum und startete senkrecht durch. Prudence baute derweil mit ihrer derzeitigen Mannschaftskollegin eine Zweierlinie auf, die auf das gegnerische Tor zuraste, wo César als Hüter einen verwirrenden Tanz hinlegte, um die Angreifer zu verwirren. Julius, der inzwischen auf über fünfzig Meter gestiegen war, visierte den linken Torring an, gab dem Ball einen wohlbedachten Drall und stürzte sich auf die dreierformation der Gegenspieler, zu denen auch Bruno gehörte. Als sie sahen, daß Julius den Quaffel nicht mehr hatte, wollten sie an ihm vorbei, um den Ball zu suchen. Doch Julius schlug einen Looping über die Jäger hinweg, durchbrach mal eben die Formation und deutete auf Prudence und ihre Mannschaftskameradin. Prudence erwiderte die Geste. Die Jäger ließen von Julius ab, um sich den beiden verbliebenen Jägern in den Weg zu werfen, da sie glaubten, sie erwarteten den Quaffel. Julius setzte ihnen nach und mußte dabei zwei Klatschern ausweichen, die aus zwei Richtungen gleichzeitig auf ihn losrasten. Gerade noch rechtzeitig bekam Julius den Besen und sich aus der Gefahrenzone heraus und setzte den Jägern der gegnerischen Mannschaft nach. Dabei rief er laut:

"Prudence, wenn erlangt nach Plan Tautropfen!"

Prudence nickte, während sie einmal um César herumzirkelte, der immer noch versuchte, einen Angriff auf das Tor zu vereiteln. Die Jäger der gegnerischen Mannschaft drängten sich um Prudence herum, die schnell auf Julius deutete, der nach oben sah, aber zu seinem Tor hin. Tatsächlich aber trudelte der Quaffel gerade hinter César aus zwanzig Metern herab, wobei seine Flugbahn so verlief, das er genau auf einen Torring zuflog. César merkte nicht, daß die beiden Jägerinnen ihn vom Tor weglotsten. Dann rief Bruno auf einmal:

"César, der Typ hat dich verladen!"

César wirbelte herum und warf sich dem Quaffel entgegen, der gerade in diesem Moment durch den angesteuerten Torring flutschte.

Die Zuschauer lachten und klatschten. Das Ablenkungsspiel und Julius' Abwurf aus großer Höhe hatte seiner Mannschaft ein außergewöhnliches Tor eingebracht. Monsieur Castello, der nur so auf der Flughöhe der Spieler mitflog, lachte so laut, daß sein Zopfbart wie ein wildes Pendel ausschwang.

"Was der B-52 kann, geht eben doch auch im Quidditch. Kevin würde das liebendgerne fotografieren", dachte Julius, als das Zauberarmband kurz zitterte. Fast hätte Julius es nicht wahrgenommen, denn ein Klatscher schwirrte bedrohlich schnell auf ihn zu. Er tauchte unter ihm durch und nahm Kurs auf Prudence, die gerade den Quaffel hielt.

"Prudence, ich muß weg. Tut mir leid. Ich hätte noch gerne weitergespielt. Aber .."

"Woher willst du denn wissen, daß du wegmußt?" Fragte seine Schulkameradin und warf den Quaffel zu ihrer Mitspielerin.

"Man hat mir das erste Signal gegeben", sagte er und zeigte das Armband vor. Prudence lachte und fiel fast vom Besen. Dann fing sie sich, sowohl fliegerisch als auch geistig und sagte:

"Wer auch immer dir das angelegt hat, wird sich was dabei gedacht haben. Dann mach, daß du wegkommst!"

Julius landete halsbrecherisch und winkte Jeanne, die neben ihren Schwestern und ihrer Mutter stand. Jeanne kam und nahm ihren Besen.

"Reservespieler, wie? Da möchte ich nicht wissen, wie die Stammspieler draufsind, wenn die Reserve schon so gut ist."

"Also, Jeanne. Du wartest mit Claire und Denise hier! Ich bringe unseren Gaststar zu seinem Quartier. Ich nehme deinen Besen, wenn du erlaubst."

"Ist gut, Maman", willigte Jeanne ein und warf ihrer Mutter den Besen zu. Julius nahm sich nicht die Zeit, sich zu verabschieden. Er sah, wie sich Camille Dusoleil auf den Besen schwang und saß ohne langes Reden hinter ihr auf. Er griff schnell nach dem Besenstiel vor sich, wobei der Leibesumfang von Madame Dusoleil etwas größer war als der von Virginie. Gerade, als sie sich vom Boden abstießen und Julius noch ein "Bis später!" rief, zitterte das Zauberarmband an seinem rechten Handgelenk zweimal hintereinander.

"Huch, da hat es aber jemand eilig, dich heimzurufen", stellte die Mutter der drei Junghexen fest. "Das war ja durch den ganzen Besenstiel zu spüren."

Julius hielt die Zeit für gekommen, die Katze aus dem Sack zu lassen.

"Es ist Pro..., ähm, Madame Faucon. Sie hat mich bei sich aufgenommen, weil Catherine mit ihrer Tochter alleine fortgereist ist. Sie hat mir geraten, mich nicht zu verspäten, sonst träte ein Ausnahmezustand für mich in Kraft. Ich habe keine Lust, bei Wasser und Brot in einem Kelleraum zu hocken oder als Küchenschabe oder Putzeimer zu existieren."

"Ja, das wäre schade. Wenn sie dich in einen Baum verwandeln würde, könnte ich dich zumindest noch pflegen", lachte die Hexe. Julius wunderte sich.

"Wieso?"

"Weil das mein Beruf ist, junger Held. Ich bin hier im Dorf die Chefgärtnerin und betreue die magischen und nichtmagischen Pflanzen der Bürger, die einen schönen Garten haben. Wieviel Zeit läßt sie dir noch?"

"Das eben war das 5-Minuten-vor-Toresschluß-Signal", antwortete Julius.

"Dann halte dich mal fest, damit Blanche dich nicht doch noch in einen großen Kirschbaum verwandelt!"

Julius wunderte sich zwar, daß die Mutter von Jeanne, Claire und Denise die hochangesehene Lehrerin von Beauxbatons beim Vornamen nannte, doch vielleicht lag das an der Dorfatmosphäre, vermutete er und hielt sich so gut fest, daß er das Blut in seinen Fingern pochen fühlte.

Madame Dusoleil hatte wohl in ihrem Leben selbst oft Quidditch gespielt. Jedenfalls holte sie aus dem Rennbesen alles heraus, was dieser aufbieten konnte, trotz der zusätzlichen Last.

"Achtung, wir gehen in den Landeanflug über! Lass dich ruhig nach vorn fallen! Ich balanciere fast täglich zwei Kinder auf einem Besen. Wir fallen schon nicht runter."

Gerade als Madame Dusoleil auf das Haus mit den vier runden Schornsteinen und den acht Dachgiebeln zusteuerte, zitterte das Verbindungsarmband dreimal hintereinander. Gerade, als der Ganymed 8 verzögerte und punktgenau über der großen Vorgartenwiese herunterging, ging die schwere Eichentür auf, und Madame Faucon trat mit einem geschulterten Besen heraus, das Zauberarmband an der linken Hand blinkte in leuchtenden Farben.

"Wohin willst du, Blanche? Ich habe ein Eilpaket für dich abzugeben!" Rief Madame Dusoleil fröhlich. Dann setzte der Besen auf. Julius fiel fast hin, als er sich davon herunterschwang.

"Sag nicht, du hast ihn in einem deiner Gärten erwischt, Camille", sprach Catherine Brickstons Mutter laut und energisch.

"Was sollte er denn dort? Nein, der Junge hat uns allen ein schönes Quidditchtor vorgeführt. Meine Töchter waren begeistert, von Jeanne bis zu Denise. Wo wir schon dabei sind: Ich muß wieder zurück, um meiner Kronprinzessin ihren Renner zurückzugeben. Ich bin heute um drei bei dir und sehe mir die Hecken an."

"Ist gut, Camille", entgegnete Madame Faucon und winkte der fröhlichen Mutter von drei Töchtern nach, als diese sich wieder abstieß und davonschwirrte.

Julius wollte schweigend ins Haus gehen. Doch die Verwandlungslehrerin von Beauxbatons hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

"Moment! Hast du nicht was vergessen?"

"Öhm, ich wüßte nicht was", brachte Julius heraus und fühlte eine zur Angst wachsende Beklemmung in sich aufsteigen.

"Bei uns ist es Sitte, der Hausdame einen Gruß zu entbieten, wenn man sie aufsucht. Du hast das unterlassen."

"Entschuldigung! Guten Tag, Madame Faucon.

Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung. Aber ich wurde eingeladen, ein Quidditchspiel zu sehen und .."

"Das war zuviel. Komm jetzt rein!" Befahl die Professorin. Julius fühlte eine Zentnerlast von sich abfallen, als er in das Haus eintrat. Im Flur wischte er sich den Staub vom Umhang und glitt schnell ins Gästebadezimmer, wo er sich die Hände wusch. Der Badezimmerspiegel meinte noch:

"Ihr Haar ist zerzaust, Monsieur. Sie sollten es glätten."

"Nachher", sagte Julius barsch und verließ das Badezimmer.

Madame Faucon erwartete ihn in der Wohnküche. Jetzt erst, nach der Hetzerei, um wieder hierher zu kommen, war Julius für die verheißungsvollen Gerüche empfänglich, die das ganze Haus erfüllten. Kräuterduft, gebratenes Fleisch, frisches Gemüse, Bratkartoffeln und - Julius sog die Luft tief durch die Nase ein - Früchtekuchen.

Julius wagte nicht, beim Essen irgendwas zu sagen. Erst als die Lehrerin für Verwandlung ihn dazu aufforderte, erzählte er, wie er sich im Dorf umgesehen und sich das Postamt angeschaut hatte. Dann erwähnte er auch, daß er seine Schulkameradin Prudence Whitesand getroffen hatte. Er unterließ es jedoch, von seinem Problem zu berichten, daß er sie nicht mehr verstehen konnte, als sie ihn auf Englisch begrüßte. Er wollte der Hexe nicht mitteilen, daß er sich von ihr hereingelegt fühlte. Doch die Professorin fragte:

"Wann hast du deine Hauskameradin getroffen?"

"Das muß um neun Uhr gewesen sein", antwortete Julius, weil er dachte, daß diese Information sowieso belanglos sei.

"Sie wird sich gewundert haben, daß du sie nicht mehr verstehen konntest, als sie dich auf Englisch begrüßt hatte, wie?"

"Wieso sollte sie ..?"

"Komm, versuch dich nicht an meiner Intelligenz und Erfahrung! Daran ist selbst ein angeblicher Akademiker wie Joe Brickston gescheitert. Du mußt um neun Uhr diese Begegnung gehabt haben. Denn dieses Mädchen wird dich wohl kaum auf Französisch begrüßt haben, auch wenn sie die Sprache gut gelernt haben könnte. Da du aber immer noch so fließend meine Muttersprache sprichst und mit Camille und ihren Töchtern bestimmt nicht hättest reden können, wenn du vor neun deine Schulkameradin getroffen hättest, gehe ich davon aus, daß du sie nicht mehr verstehen konntest. Der Zaubertrank, den ich dir heute morgen gegeben habe, wirkt nur eine Stunde so, daß alle gehörten Sprachen anstandslos verstanden und sofort gesprochen werden können. Wird innerhalb dieser Zeit keine andere Sprache verwendet, kann der Trinker danach nur noch diese Sprache sprechen und verstehen, wenngleich das nicht für Lesen und Schreiben gilt."

"Kann ich dann nicht den Gegentrank kriegen, um meine Muttersprache zu sprechen?"

"Wenn ich den Auftrag kriege, dich nach Hause zu bringen, werde ich dir noch mal diesen Trank geben. Vorerst ist es sehr praktisch, wenn du dich mit uns hier im Dorf unterhalten kannst, als wenn du die Sprache Jahrelang studiert oder von Kindesbeinen an gelernt hättest. Diese Muggel! Sicher gibt es bösartige Zauberer und Hexen, wie sie die Muggelpropaganda, die bei ihnen Märchen heißt beschreiben. Doch wenn ich dich behexen wollte, daß du für immer hier bliebst, würde ich mir was anderes ausdenken."

"Mir fiel da auch einiges ein. Aber davon ist eines verboten, soviel ich weiß", murmelte Julius.

"So, und was wäre das?" Fragte die Hexe ihn sehr streng:

"Der Imperius-Fluch. Laut Abschnitt 666 gehört er zu den drei unverzeihlichen Flüchen..."

"... Die vor allem von einem gewissen Herren, der sich als dunkler Lord bezeichnen ließ, benutzt wurden, als seien sie Feuerwerksscherze an einem Silvestertag", schnitt ihm Madame Faucon das Wort ab. Ihre Stimme klang jetzt sehr unheimlich, ja fast bedrohlich. Julius ärgerte sich darüber, daß er nicht mehr daran gedacht hatte, daß diese Frau ihm gegenüber eine Witwe war, deren Mann durch Voldemort ums Leben gekommen war. Catherine hatte ihm indirekt zu verstehen gegeben, daß sie diesen schwarzen Magier nicht fürchtete, aber dafür abgrundtief haßte.

"Du wirst mir abnehmen, daß ich diese besagten drei Flüche kenne und anwenden könnte. Manchmal treibt mich die Versuchung um, sie an denen auszuprobieren, von denen ich mit Sicherheit weiß, daß sie mit dem dunklen Lord paktiert haben, auch und vor allem ohne unter einem Imperius-Fluch zu stehen. Aber ein Leben in Askaban sind diese Leute nicht wert. Falls du jemals auf die Idee gebracht wirst, diese verbotenen Zauber zu erlernen, mach dir das immer wieder klar. Niemand ist es wert, für ihn eine lebenslängliche Askaban-Strafe zu riskieren. Ich habe nämlich davon gehört, daß du gerne mit fortgeschrittenen Zaubern experimentieren möchtest. Muß wohl ein Erbteil beider Eltern sein."

"Ich weiß schon, daß ich bestimmt keinen Mord begehen werde, der mich für immer ins Gefängnis bringt", erklärte Julius. Professeur Faucon nickte zustimmend.

Julius sprach mit seiner Gastgeberin noch über das Spiel und fragte, ob Madame Dusoleil wirklich alle Gärten in Millemerveilles betreute.

"Natürlich. Nur weil sie gerne arbeitet anstatt eine Horde von Ignoranten zu unterrichten, ist sie nicht bei uns in Beauxbatons, sondern hier. Ich kenne überhaupt nur vier Leute, die mit ihr vergleichbar sind, was Kräuterkunde und Pflege magischer Pflanzen angeht:

Meine Kolleginnen Professor Sprout von Hogwarts und Professor Verdant von der Thorntails-Akademie, Liane van der Weiden aus Amsterdam und Aurora Dawn, die in Australien magische und nichtmagische Naturheilkunde praktiziert."

Julius mußte sich beherrschen, das Stückchen Waldbeerkuchen, an dem er gerade kaute, nicht in einem Anfall von schreckartigem Erstaunen wieder auszuspeien. Doch das jemand von einem so hohen Ansehen wie die stellvertretende Schulleiterin von Beauxbatons gerade die Frau als eine der besten Kräuterkundeexpertinnen bezeichnete, rührte ihn doch sehr. Immerhin konnte er sich damit rühmen, diese Hexe persönlich zu kennen und ihr Briefe zu schreiben, die persönlich und an ihn gerichtet beantwortet wurden.

"Haben Sie diese Hexen alle schon persönlich getroffen?" Fragte Julius, so unverbindlich klingend wie möglich.

"Die beiden Professoren auf jeden Fall. van der Weiden lebt zurückgezogen und veröffentlicht nur in Fachzeitschriften. Und Aurora Dawn kenne ich aus vielen Interviews im Zauberspiegel , von Artikeln im grünen Magier, der ja auch in englischer Sprache verlegt wird und von Erzählungen meiner Haus- und Hofgärtnerin, die dich so bereitwillig bei mir abgeliefert hat. Die hat sie schon häufiger auf Kräuterhexentagungen getroffen. Apropos Camille Dusoleil: Was hast du ihr über deinen Aufenthalt hier erzählt?"

Julius glaubte, mal soeben in ein Verhör geraten zu sein. Da er aber nichts getan hatte, was die strenge Hexe aufregen konnte, sagte er ihr, daß er lediglich zu Gast in diesem Dorf sei und nicht wisse, wann er wieder fortgehen müsse.

"Camille ist ein Sonnenkind. Damit macht sie ihrem Namen Ehre, auch wenn sie ihn durch Heirat erworben hat. Sie hat eine Art, Leute zu veranlassen, ihr die wichtigsten Dinge wie Belanglose Nebensächlichkeiten zu erzählen. Da sie selbst so offenherzig ist, gewinnen beide Seiten dadurch. Ihre Töchter sind da fast ähnlich, wenngleich Jeanne gerne die große Schwester gibt, die Verantwortung hat."

"Na ja, dann habe ich ja die hohen Herrschaften dieses Dorfes schon getroffen. Die Tochter des Dorfrates, die Hüterin der Pflanzen und die stellvertretende Schulleiterin einer hochangesehenen Zaubererschule."

"Das ist eben das schöne an einem Dorf. Du lernst fast an einem Tag alle Leute kennen, die wichtig sind. Wenn deine Zeit es zuläßt, wirst du noch einige Leute kennenlernen, die auf ihre Art wichtig sind", orakelte die Hexe.

"Ich muß spätestens am 31 August wieder in England sein, damit ich meine neuen Schulbücher kaufen kann. Vorausgesetzt, es reicht, was in dem Verlies liegt."

"Das wird sich zeigen. Vielleicht bekomme ich auch den Auftrag, dich für eine Umschulung in Beauxbatons zu prüfen, weil deine Eltern dich nicht mehr nach Hogwarts lassen wollen."

Julius schrak zusammen. Die Verwandlungslehrerin sah ihn mit einem gleichgültigen Gesicht an, als habe sie nur eine zahl von einer Liste abgelesen. Doch er mußte etwas anerkennen: Die Hexe besaß etwas, das wohl eine Form von Humor sein mußte.

 

 

 

Julius wurde nach dem Essen mehr oder weniger zielstrebig dazu aufgefordert, seine Hausaufgaben zu erledigen. Da er im Bezug auf Zaubertränke und Kräuterkunde schon alles wesentliche geschrieben hatte, galt es noch, die Verwandlungsaufgabe zu machen. Davor hatte er jetzt die meisten Ängste. Wenn Professeur Faucon auf die Idee kam, seine Hausaufgaben zu kontrollieren, könnte der eigentlich kurze Aufsatz über die Verwandlungen lebender Wesen in tote Objekte lange ausarten.

Doch Julius ging das Thema so gewissenhaft an, wie er es anhand der geliehenen Schulbücher tun konnte.

Er nahm sich genug zeit, in Emerik Wendels Buch zu lesen, um möglichst korrekt zu beschreiben, worum es bei der Vivo-ad-Invivo-Verwandlung ging. Vor allem die Kraftanstrengung, die bei zunehmendem Gewicht des zu verwandelnden Lebewesens aufgeboten werden mußte, hielt Julius auf einem Schmierblatt fest und errechnete sich mal eben eine Tabelle, vom kleinen Käfer zum Elefanten. Er beschrieb die Schwierigkeiten, die bei der Umwandlung lebender in toter Körper auftraten und notierte sich die wichtigsten Sprüche, von denen es hieß, daß sie bei geübteren Zauberkundigen durch konzentrierte Gedanken ersetzt werden konnten. Hier fröstelte es ihn. Sicher, Professor McGonagall hatte ihm schon gezeigt, daß sie ohne Worte zaubern konnte. Doch ihm fiel auch ein, daß er in der allerersten Stunde die aufgetragene Verwandlung von einem Streichholz zu einer Stecknadel korrekt und ohne klar ausgesprochene Worte hinbekommen hatte. Als er alle Punkte, die er für wichtig hielt, notiert hatte, schrieb er den Aufsatz, in dem diese Dinge alle richtig ausformuliert wurden und unterstrich die Stichwörter mit einer dünnen Feder und roter Tinte, als er die pflichtgemäße Anzahl von Pergamentrollen vollgeschrieben hatte.

Er sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, daß seit dem Mittagessen und jetzt zweieinhalb Stunden verstrichen waren. Es war nun fünf Minuten vor drei Uhr nachmittags. Julius klappte das Buch von Emerik Wendel zu und wartete noch, bis die Tinte getrocknet war. Dann rollte er die Pergamentrollen zusammen und verstaute sie mit den anderen Aufsätzen.

Die Türglocke läutete. Julius kam sich vor wie in einem alten Kaufladen, als er das klangvolle Bimm-Bimm hörte. Er bekam mit, wie die Hausherrin zur Tür ging und sie öffnete. Dann hörte er die Stimme von Camille Dusoleil, die fröhlich sagte:

"Pünktlich zur Stelle, Madame. Hast du heute viel, was ich zurechtschnippeln soll?"

"Die Umgrenzungshecken sollten nicht zu weit auf das Grundstück von Monsieur Castello hinüberragen. Dann wollte ich die Obstbäume beschneiden lassen. Die Sachen im Gewächshaus und die Küchenbeete mache ich selbst", erläuterte Professeur Faucon laut und deutlich.

"Alles Klar."

"Ist Babette da?!" Schrillte eine Kinderstimme durch die geöffnete Haustür.

"Die Kleine wollte unbedingt mit, weil sie denkt, daß deine Enkeltochter auch hier ist", erklärte Madame Dusoleil die laute Störung.

"Babette und ihre Maman sind in England, um sich da die Quidditch-Weltmeisterschaft anzusehen, Denise. Sie kommt in den nächsten Wochen nicht mehr", sprach die Hausherrin eindringlich und laut.

"Aber der Junge aus England ist doch mit ihr hergekommen!" Rief Denise und unterdrückte ihre Stimme sofort. Julius vermutete, daß sie sehr mahnend angesehen worden sein mußte.

"Babette ist nicht hier", fauchte Professeur Faucon.

"Ich habe mir das schon gedacht, Blanche. Jeanne kann sie wieder mitnehmen. Was macht dein Gast gerade?"

"Er arbeitet. Immerhin hat er noch einige Sachen nachzuholen", erwiderte Professeur Faucon.

"Ich habe es gehört. Irgendwas mit Zauberkräutern und Zaubertränken. Dann noch was über Verwandlung. Was genau wollte oder durfte er mir nicht erzählen", wußte Camille Dusoleil. Dann wandte sie sich wohl aus dem Haus, denn ihre Stimme klang gedämpft, wenngleich sie wohl laut ihrer Tochter Jeanne zurief:

"Babette und ihre Mutter sind nicht da. Bringst du deine Schwester wieder nach Hause?"

"Ja, Maman", kam Jeannes Stimme von draußen zurück. Dann sagte Madame Dusoleil zu Madame Faucon:

"Dann gehe ich jeztzt an die Arbeit. Bis nachher, Blanche!"

Julius wartete, bis sich die Tür wieder schloß. Dann stand er von seinem Schreibtisch auf und verließ das Zimmer.

"Hast du jetzt alle Hausaufgaben auf einmal gemacht?" Fragte die Hausherrin von unten her. Julius antwortete:

"Die Zaubertranksachen habe ich noch bei Catherine machen können. Die Zauberkräuter Nordirlands sind auch schon so weit fertig, daß ich sie abgeben kann. Das war die Verwandlungsaufgabe. Mehr habe ich wirklich nicht zu tun."

"Was hast du da genau schreiben müssen?"

"Es ging um die Vivo-ad-Invivo-Verwandlungen. Ich denke, daß ich alle wichtigen Punkte gut untergekriegt habe."

"Ich habe im Moment nichts mehr zu tun, bis meine Antworteulen kommen. Möchtest du mir die Aufgabe mal zeigen?"

"Ich habe genau nach dem Lehrbuch gearbeitet. Ich denke nicht, daß Ihre Lehrbücher da mehr oder weniger vorschreiben", sagte Julius.

"Was war denn das für eine Antwort? Ja oder nein", versetzte die Verwandlungslehrerin von Beauxbatons. Julius sah, wie Madame Faucon am unteren Treppenabsatz stand, ruhig aber bereit, die Stufen zu ihm hochzulaufen, falls er etwas sagte oder tat, was sie aufbringen konnte. Wenn er ja sagte, würde er sich ihr ausliefern. Wenn er nein sagte, würde sie ihm befehlen, die geschriebenen Pergamente rauszurücken. Vielleicht wollte sie nur sehen, ob er wirklich was geschafft hatte. Also sagte er:

"Wenn Sie nicht genug Aufgaben von Ihren eigenen Schülern zu kontrollieren haben, bitte. Ich gebe Ihnen die Rollen."

Julius wartete nicht auf eine Antwort und schlüpfte kurz ins Zimmer zurück und kramte die beschriebenen Pergamentrollen wieder hervor, prüfte die Reihenfolge der Rollen und verließ das Zimmer wieder.

Schweigend überreichte er der Verwandlungslehrerin die Pergamentrollen. Wenn sie meinte, sich damit die Zeit totschlagen zu müssen. Er war sich sicher, daß er gut und gründlich gearbeitet hatte.

"Madame Dusoleil ist draußen im Garten und stutzt die Hecken. Hast du dir meinen Garten schon richtig angesehen?"

"Nur von außen. Da waren zuviele Sträucher und Bäume im Weg, um alles genau sehen zu können", erwiderte Julius.

"Dann sieh dich ruhig draußen um! Um vier gibt es Kaffee oder Tee. Möchtest du lieber Tee, Kaffee oder Schokolade?"

"Lieber tee. Ich möchte Ihnen nicht die ganze Schokolade wegtrinken. Ich möchte Ihnen nicht mehr Kosten einbrocken als Sie selbst aufbringen möchten."

"Mal abgesehen davon, daß ich deine Verköstigung vom Zaubereiministerium zurückkriegen werde, kannst du das essen oder trinken, was ich dahabe. Nachher Will mir noch jemand unterstellen, ich würde meine Hausfrauenpflichten vernachlässigen. Also möchtest du Tee. Tee nach englischem Rezept?"

"Warum nicht?" Erwiderte Julius und lächelte. Dann wollte er zur Tür.

"Moment! Wenn du in den Garten willst, solltest du dir besser den reißfesten Umhang anziehen, den ich für dich bereitgelegt habe. Accio!"

Bei ihren letzten Worten hatte sie den Zauberstab gezogen und auf das Gästezimmer gerichtet. Sofort nach Ausruf des Zauberwortes flog ein limonengrüner Umhang aus dickem Stoff herbei und landete auf Madame Faucons ausgestrecktem Arm. Sie reichte dem Jungen den Umhang und sah ihn erwartungsvoll an. Julius nickte und verzog sich ins Gästebadezimmer. Dort wechselte er schnell den blauen Ausgehumhang gegen den limonengrünen Arbeitsumhang und kehrte zurück. Dabei dachte er bei sich:

"In Frankreich müssen die für jede Gelegenheit die entsprechenden Klamotten anziehen."

Durch eine bronzeumfaßte Glastür ging Julius hinaus in den Garten.

Überwältigt von der Größe des Gartens blieb er erst einmal stehen.Er vermochte nicht, alle Beete, Büsche und Bäume in einem Moment zu betrachten, die es hier gab. Das große kuppelförmige Gewächshaus fiel ihm sofort ins Auge. Es spiegelte etwas vom Licht der starken Sommernachmittagssonne, die hier, im Süden Frankreichs, wesentlich mehr Kraft besaß als in England. Er war froh, seine Sonnenkrauttinktur mit in den Koffer gepackt zu haben, die ihm Aurora Dawn nach den Weihnachtsferien überlassen hatte. Wenn er jetzt mit Muggelsonnencreme ankam, die seine Mutter in den Kosmetikbeutel gepackt hatte, wäre er eine Zirkusattraktion. Auf jeden Fall war der Garten fünfmal so groß wie der Garten seiner Eltern, schätzte der Hogwarts-Schüler.

Ein leises Klappern einer Gartenschere verriet ihm, wo sich die Gärtnerin gerade aufhielt. Er sah sie nicht direkt. Aber er erkannte, daß sie wohl an der Weißdornhecke herumschneiden mußte, die wie ein natürlicher Gartenzaun eine Seite des Gartens begrenzte. Julius schlenderte durch den Garten und achtete darauf, nicht auf eines der ordentlich gepflegten Beete zu treten oder unnötig auf dem Rasen herumzutrampeln, auf dem ein Allerlei verschiedener Wiesenkräuter und -blumen wuchs. Er nahm sich die Zeit, die Gemüsearten und Gewürzkräuter in den Beeten zu betrachten und mußte feststellen, daß es hier nichts gab, was an Gemüsen und Gewürzen nicht irgendwie bekannt war. Und im Gewächshaus war bestimmt noch mehr, womöglich auch magisches Zeug angepflanzt. Was hatte Professor Sprout gesagt, als seine Eltern sie fragten, wieso Nichtmagier keine Zauberpflanzen sehen konnten?

"Normalerweise sehen nichtmagische Menschen magische Pflanzen deshalb nicht, weil diese Pflanzen nur unter bestimmten Bedingungen wachsen, die von Nichtmagiern nicht geschaffen werden können, wie Auswahl des richtigen Düngers, Einhaltung bestimmter Pflanzzeiten oder einfach nur die Anwesenheit von magischer Ausstrahlung eines Ortes oder einer Person."

Julius durchschritt den Garten und drückte sich an den durchsichtigen Scheiben des Gewächshauses die Nase platt, um zu erkennen, was drinnen so wuchs. Doch er konnte nur einige merkwürdige Strauchgewächse erkennen, die um andere Pflanzen herumstanden. Enttäuscht zog er sich wieder vom Gewächshaus zurück und sah sich die Obstbäume an. Von Apfel-, Birn-, Kirsch- und Pflaumenbäumen hingen schon die Frühstadien der späteren Früchte an den Ästen. Julius unterdrückte das Verlangen, mal eben in einen Baum hochzuklettern. Dann wandte er sich den Begrenzungshecken zu und lief daran entlang, bis er Madame Dusoleil sehen konnte, die in einem grasgrünen Arbeitsumhang mit Flicken hinter einer Hecke hockte und die Gartenschere von Zauberhand durch die überstehenden Triebe und Zweige schneiden ließ. Sie dirigierte das Gartenwerkzeug mit ihrem Zauberstab und schaffte auf diese Weise genauso schnell etwas weg wie sein Vater mit einer elektrischen Heckenschere.

"Ach, da bist du ja. Du mußt wieder Sonne tanken, wenn man dich schon in den Ferien zum Schularbeitenmachen abkommandiert, wie?" Lachte Madame Dusoleil. Julius sah sie an. Jetzt erst fiel ihm auf, daß sie ihre schwarzen Haare unter einem grasgrünen Kopftuch verborgen hatte, wohl, damit es nicht bei der Arbeit in der Erde hängenblieb oder aus Versehen mit abgeschnitten wurde.

"Es tut mir Leid, Madame. Aber ich weiß nicht, ob ich mit arbeitendem Personal sprechen darf. Nachher werde ich noch wegen Ablenkung des Dienstpersonals bestraft", sagte Julius, so trocken klingend, als mache er eine Meldung wie befohlen.

"Du kannst mir ja helfen, falls du dich nicht bange vor körperlicher Arbeit machst. Die abgeschnittenen Pflanzenteile müssen in das große Netz da und dann hinüber zum Komposthaufen. Kannst du mir das abnehmen?"

"Jetzt könnte ich fragen, was ich dafür kriege", erwiderte Julius spitzbübisch grinsend.

"Wie meine Töchter. Die fingen auch schon im frühesten Alter damit an, daß sie nichts ohne Gegenleistung tun wollten. Offenbar sind wir gegen diese Muggelkrankheit nicht ganz immun, alles nach Preis und Leistung bewerten zu müssen. Ich hatte auch nicht vor, dich hier als Hilfsgärtner schaffen zu lassen. Ich kann den Kram nachher mit einem Accumulus-Zauber zusammenbündeln und dann wegfliegen lassen."

"Ich nehme die Abfallteile und werf sie auf den Komposthaufen", bot Julius an und eilte zu den bereits abgetrennten Pflanzenstücken.

"Ohne Handschuhe?" Fragte Madame Dusoleil. Julius stutzte. Doch dann fiel es ihm ein, daß er sich wohl besser Handschuhe anziehen sollte. Er sah betrübt drein und sagte:

"Ich habe keine dabei, und die von Madame Faucon dürften mir zu groß sein."

"Mal sehen", sagte die Gärtnerin, ließ die bezauberte Heckenschere noch bis zu einer bestimmten Ecke arbeiten und dann mit einem Wink des Zauberstabes zu sich zurückfliegen. Dann kramte sie in den Taschen ihres Umhangs und zog ein Paar kleine Drachenhauthandschuhe heraus.

"Ich habe Claire für das erste Jahr gleich zwei Paare geholt, weil sie so schnell wächst und kein Gefühl in den Fingern hat, wenn die Handschuhe zu groß sind. Die Größe müßte dir passen. Probier sie mal aus!"

Julius zog sich die Arbeitshandschuhe an und stellte fest, daß sie ihm gut paßten. Dann ging er Madame Dusoleil zur Hand. Ohne Zauberkraft schaffte er die abgeschnittenen Pflanzenstücke zum Komposthaufen und half ihr dabei, die oberen Regionen der Hecke auf gleiche Höhe zu stutzen. Die verzauberte Heckenschere tanzte förmlich auf der Anpflanzung herum, während die Zaubergärtnerin und der Gast Professeur Faucons in Handarbeit überstehende Triebe beschnitten. Dann ging es noch zu den hohen Obstbäumen. Julius sah, wie die leicht untersetzte Hexe, die ihn während des Übungsspiels neben sich hatte sitzen lassen, gelenkig wie ein Affe in den Baum hinaufturnte und die fernlenkbare Schere mit berufsmäßiger Gründlichkeit einsetzte. Julius sah sich vor herabfallenden Zweigen vor und sammelte die abgeschnittenen Stücke ein, um sie auch zum Kompost zu bringen. Doch Madame Dusoleil pfiff ihn wie einen Hund zurück und sagte beschwingt:

"Die Holzteile gehören auf den Trockenstapel, wo sie austrocknen können. Sie werden als Zünder für das Kaminfeuer und den Heißwasserkessel benötigt."

Julius lud sich die Holzstücke auf und verfrachtete sie zu einem Gerüst, auf dem schon unterschiedlich lange Äste und Holzabfälle lagen. Dann kehrte er zu dem Baum zurück und fragte:

"Wieso fliegen Sie nicht mit einem Besen hinauf und umkreisen den Baum?"

"Habe ich als Anfängerin gemacht, weil ich dachte, es als Hexe einfacher zu haben als die Muggelgärtner. Das macht aber nachlässig, weil nicht alles im Flug genau überwacht werden kann. Aber warum brüllen wir uns eigentlich an? Komm doch rauf! Oder kannst du nicht auf einen Baum klettern?"

Julius dachte, Aurora Dawn zu hören, wenngleich Madame Dusoleil älter und rundlicher war und statt Englisch Französisch sprach. Die lockere Art, mit ihm zu reden und die Weise, wie sie ihn ohne eindeutigen Befehl zu etwas anhalten konnte, waren dem Wesen von Aurora Dawn sehr ähnlich. Julius zögerte nicht lange, um zu beweisen, daß er eben doch auf Bäume klettern konnte. Keine Viertelminute später stämmte er sich auf einen armdicken Ast hoch und klammerte sich mit den Beinen fest.

"Du weißt sicherlich, warum überstehende Triebe abgeschnitten werden müssen, Julius."

"Natürlich. Das gilt für nichtmagische Nutzpflanzen wie für magische Pflanzen gleichermaßen. Zuviele Triebe verbrauchen zuviel Nährstoffe, die zur Fruchtbildung benötigt werden. Außerdem kann man den Wuchs der Pflanzen so kontrollieren. Manche Ordnungsanbeter meinen auch nur, daß es schöner aussieht, wenn die Bäume gleichlange Äste haben und nicht wild durch die Gegend wachsen."

"Darauf beruht meine Arbeit", erklärte Madame Dusoleil.

Während sie den Baum bearbeitete, verwickelte sie Julius in ein Gespräch über das erste Jahr in Hogwarts. Was sie dort in Kräuterkunde lernen mußten. Julius verzichtete darauf, zu erwähnen, daß er eine hochrangige Kräuterkundeexpertin kannte, mit der er in Eulenpostkontakt stand. Er erzählte nur, was sie im Kräuterkundeunterricht gemacht hatten und erwähnte auch das Ding mit der Speerstecherbeere, die Carol Ridges ihm in der ersten Stunde vor die Füße geworfen hatte.

"Das beweist wiedder, daß gutes Grundlagenwissen die Gesundheit schützen kann. Warst du schon immer an Pflanzen interessiert?"

"Nicht nur. Ich habe mich auch früh schon für die Sterne und Planeten interessiert", antwortete Julius ruhig. "Außerdem spiele ich gern Schach.

"Das erzähl bloß niemandem hier. Wir haben Großmeister in Millemerveilles. Die könnten auf die Idee kommen, deine Kenntnisse zu prüfen. Mein Mann ist einer von ihnen."

"Ich habe kein Problem damit, gegen einen übermächtigen Gegner zu verlieren. Aber vielleicht sollte ich mir lieber die Zeit in der Sonne vertreiben, als Schach zu spielen", wandte Julius ein.

"Hat Catherine dich bei ihrer Mutter abgeliefert, oder hat Blanche dich bei ihr abholen müssen?" Fragte Madame Dusoleil unvermittelt. Offenbar reizte sie es, mehr über Julius' Herkunft zu erfahren. Julius überlegte kurz, welche Antwort die höflichste Form einer Auskunftsverweigerung war und entschied sich für:

"Catherine Brickston und ihre Familie haben mich bei sich aufgenommen. Madame Brickston hat wohl mit ihrer Mutter eine Absprache getroffen, deshalb bin ich jetzt hier."

"Ich finde es toll, wie du eine Antwort geben kannst, ohne zu antworten", lachte Madame Dusoleil.

Von unten tönte es ohne Vorwarnung:

"Camille, du bist manchmal etwas zu neugierig, und Julius merkt das eben. Aber wenn du nicht mehr schlafen kannst, weil dich diese Frage umtreibt, frag mich nachher, wenn der Kaffee fertig ist."

"Entschuldige, Blanche, daß ich in eure Privatangelegenheiten hineingefragt habe. Es ist nur so, daß Julius Andrews nicht gerade den Eindruck macht, freiwillig hier zu sein", äußerte Camille Dusoleil eine sehr direkte Antwort.

"Wer ist schon freiwillig da, wo er ist?" Fragte Madame Faucon, die unter dem Baum stand und nach oben blickte.

"Nichts für ungut, Blanche", erwiderte die Gärtnerin von Millemerveilles.

Julius fragte sich, wielange die Hausherrin ihrem Gespräch schon zugehört hatte. Doch da er ja nichts gesagt hatte, was der Professorin mißfallen könnte, fühlte er keine Schuld.

"In zehn Minuten ist Kaffeezeit", kündigte die Lehrerin von Beauxbatons an und ging wieder fort.

"Findest du auch, daß ich zu neugierig bin? Und wehe, du lügst mich an!"

"Sagen wir mal so: Bei einem Geheimdienst der Muggel wären Sie gut aufgehoben, falls Sie das, was Sie erfahren, für sich behalten können. Andernfalls geben Sie eine gute Reporterin ab."

"Und du könntest Politiker werden. Willst du vielleicht Zaubereiminister werden?"

"Bloß nicht. Ich mag keine Politiker", stieß Julius aus.

"Stimmt. Politik ist ein Drecksgeschäft. Müllbeseitigung ist dagegen richtig reinlich."

Madame Dusoleil und Julius verließen kurz vor vier Uhr den Baum und gingen durch den Garten zum Haus zurück. Dort reinigte die Zaubergärtnerin ihren Umhang und den von Julius mit einem Zauber. Als sie an der vorderen Tür klingelten, dauerte es keine Sekunde, bis die Tür sich auftat. Madame Faucon sah die beiden prüfend an, nickte dann zustimmend und ließ sie eintreten.

Julius staunte, wieviel die Hausherrin auf den Tisch gestellt hatte. Kuchen, Kekse, eine große Tee- und eine Kaffeekanne, dazu ein Milchkännchen und ein Zuckerstreuer. Julius sah auch geviertelte Zitronen, die in einer kleinen Messingschale lagen.

Julius wartete höflich, bis die Gastgeberin allen einen guten Appetit gewünscht hatte, dann langte er zu.

Madame Dusoleil brachte das Gespräch bei Tisch auf das Übungsspiel am Morgen und ließ durchblicken, daß es ihr und ihren Töchtern sehr imponiert hatte. Julius mußte sich zusammennehmen, um sich nicht dem Verlegenheitsgefühl hinzugeben. Er erklärte seine Leistung damit, daß er einen guten Flugunterricht gehabt hatte.

"Na ja, aber Claire kann sich gerade auf einem Besen halten und leichte Flugmanöver fliegen und wieder landen. Sie hat sich nicht für Quidditch empfohlen", warf Madame Dusoleil ein und fügte schnell noch an: "Was natürlich auch nebensächlich ist, wenn man dafür in anderen Fächern richtig gut ist."

"Dem ist nichts hinzuzufügen", warf Madame Faucon ein und fragte Julius:

"Du hast mir erzählt, daß dich Zaubertränke und Zauberkräuter am meisten interessieren. Was fasziniert dich an diesen Fächern am meisten?"

"Nun, ich finde alle Pflanzen toll, die besondere eigenschaften haben. Und Zaubertränke sind eben interessant, weil damit Dinge angestellt werden können, für die es nur wenige Zaubersprüche gibt. Dabei ist es manchmal eine Frage von Mengen, ob ein Trank jetzt die richtige Wirkung hat oder völlig anders wirkt. Ich denke, ich kann bei unserem Zaubertranklehrer noch viel zu diesem Thema lernen."

"Wen habt ihr in Zaubertränken? Semiramis Bitterling oder Pluto Botulinus?" Wollte Madame Dusoleil wissen.

"Nein, es ist Severus Snape, Professor Severus Snape", teilte Julius etwas bedrückt mit.

"Was? Sicher, der ist ein exzellenter Zaubertrankmeister, aber als Lehrer stelle ich ihn mir nicht gerade einfühlsam vor."

"Was soll denn das jetzt heißen, Camille?" Fragte Professeur Faucon.

"Ich meine, daß er jeden motivieren könnte, der sich überfordert fühlt. In seinem Buch über die Varianten magischer Extrakte hochpotenter Pflanzen heißt es doch, daß er nicht davon ausgeht, daß seine Lehre sich jedem auf Anhieb erschließt und viele Leser wohl erst beim zehnten Durchlesen erfassen könnten, worum es ihm gehe. Wenn jemand so vor Schülern auftritt, muß er sich nicht wundern, wenn viele die Brocken hinwerfen, weil es nicht klappt. Da haben andere Lehrer mehr Erfahrung im Voranbringen von Schülern, die daran glaubten, es in einem Fach zu nichts zu bringen", erklärte Madame Dusoleil ruhig, als habe sie der versteckte Vorwurf in Madame Faucons Frage nicht getroffen.

"Ich bin zwar in vielen Punkten deiner Meinung, was Severus Snape angeht, muß ihn jedoch als Berufskollegen respektieren, vor allem in Anwesenheit eines seiner Schüler, Camille. Außerdem kommt es ja darauf an, was ein Lehrer vermitteln will. Normalerweise schafft er oder sie es bei jedem, etwas bleibendes vom Unterricht zu hinterlassen."

"Ich habe ja auch gesagt, daß Professor Snape sehr gut Bescheid weiß, was Zaubertränke angeht", wandte Julius ein, der dachte, daß seine Meinung nicht unerwünscht sei. Dabei verschwieg er, daß der Zaubertranklehrer tatsächlich nicht viel von Einfühlungsvermögen hielt und jeden von Anfang an als Idioten ansah, der etwas nicht begreifen würde, was er unterrichtete. Dann fragte er keck:

"Was passiert mit Schülern, die sagen, daß sie ein Fach nicht interessiert und sich hängen lassen? Ihre Tochter wollte dazu nicht viel sagen, außer, daß in Beauxbatons viel Wert auf Disziplin gelegt würde."

"Da du mich als amtierende Professorin für Verwandlung und die Abwehr dunkler Künste ansprichst, kann ich dir nur sagen, was ich für solche Ignoranten empfinde und wie ich Sie davon überzeugen kann, daß sie doch etwas davon verinnerlichen sollten, was sie in meinen Stunden erfahren. Du hast ja wohl schon gehört, daß ich nicht gerade viel von Schluderei halte. Wenn jemand bei mir absichtlich eine Unterrichtsaufgabe ungenügend bewältigt oder meint, im Vorbeigehen von mir aufgegebene Hausaufgaben hinkritzeln zu können, schlägt sich das natürlich auf seine Benotung durch und bringt ihn oder sie in gewisse Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, wie ihr in Hogwarts sowas behandelt, aber bei uns gilt der Grundsatz, daß jeder Schüler seine Arbeit erledigen muß. Wenn jemand sich absichtlich hängen läßt, um deinen Ausdruck zu benutzen, kostet ihn oder sie das Freizeit, weil er oder sie nachholen muß, was er oder sie versäumt hat. Außerdem kann ich sehr schnell Strafarbeiten verhängen oder die Folgen von Arbeitsverweigerung unmißverständlich vermitteln. Ich sehe es dir an, daß du mir die Frage nicht ohne Grund gestellt hast. Falls du beabsichtigst, ein Austauschjahr bei uns zu verbringen, was dir nach der dritten Klasse ja möglich ist, solltest du dich mit guten Noten bei uns empfehlen. Absichtliche Nachlässigkeiten, Tiefstapeleien oder grobe Verweigerung würden dich unter anderem von Freizeitaktivitäten ausschließen, die angeboten würden oder auch ganz vom Rest der Schüler isolieren, bis du machst, was verlangt wurde."

"Isoliert. Haben Sie etwa noch einen echten Karzer?"

"Ja, haben wir", erwiderte die Hausherrin mit drohendem Unterton.

"Ja, aber ein anständiger Zauberer würde sich hüten, seinen Eltern unter die Augen zu treten, ohne sich erfolgreich in der Schule geschlagen zu haben", sagte Madame Dusoleil.

Julius witterte die Falle, die sie ihm stellen wollte. Er sagte nicht, daß es seinen Eltern nur recht sein konnte, wenn er von der Schule flog oder mit einem Zeugnis voller Sechsen heimkäme. Er sagte nur:

"Ich würde nicht daran denken, was meine Eltern von mir erwarten, sondern womit ich am besten auffallen kann. Aber wie kommen Sie eigentlich auf Tiefstapellei, Madame Faucon. Hat das einer mal bei Ihnen gemacht?"

"Ich habe schon manchen Jungzauberer erwischt, der im Unterricht weniger gezeigt hat als in der Freizeit. Ohne jetzt Namen zu nennen: Ich habe schon Leute beim Zaubererduell erwischt, die mehr Zauberflüche konnten, als sie mir vorgegaukelt hatten. Mal abgesehen davon, daß Zaubererduelle zwischen Schülern verboten sind, wenn sie nicht von Lehrern beaufsichtigt und in kontrollierte Bahnen gelenkt werden, mußten die beiden Helden bei mir antreten und sich gegen meine Zauberflüche wehren oder ihnen widerstehen. Da mußten sie dann zeigen, was sie konnten und bekamen einen Vermerk wegen absichtlicher Tiefstapellei."

"Ich erinnere mich, Blanche, daß du einen Muggelstämmigen hattest, der beweisen wollte, daß er bei euch an der falschen Adresse war", plauderte Madame Dusoleil locker aus. Madame Faucon, die eine derartige Offenheit von ihrer Gärtnerin und Nachbarin kannte, zog nur kurz die Stirn kraus und fauchte ein bestätigendes "Ja, den hatten wir. Das war auch nicht so einfach, seine Grundeinstellung in die richtige Bahn zu lenken."

Julius verzichtete darauf, mehr über diesen Beauxbatons-Schüler zu erfahren und schnitt ein für ihn angenehmeres Thema an:

"Ich habe heute morgen beim Rundgang durch Millemerveilles richtig große Geschäfte gesehen. Da war der Ableger von Gringotts, das Postamt und ein Laden für Rennbesen. Lohnt sich das denn alles hier? Ich meine, das Postamt und die Bank bestimmt. Aber werden die Besen denn alle hier gekauft?"

"Sicher lohnt sich das. Immerhin sind wir das einzige richtige Zaubererdorf im französischen Raum. Viele Zauberer leben unter Muggeln. Da kann man sich gut einteilen, ob man jetzt nach Paris oder zu uns kommen will. Kurz vor dem neuen Schuljahr tauchen immer viele Schüler mit ihren Verwandten auf, die ihre Ausrüstung kaufen. Hast du unseren Buchladen gesehen?" Wollte die Verwandlungslehrerin wissen.

"Gesehen ja. Aber die hatten noch alle zu, als ich dort vorbeiging. Dann sah ich die violette Hexenschar auf dem Weg zum Quidditchfeld und habe nicht weiter drauf geachtet, wo noch was war. Ich habe nur noch das Postamt besucht, wo ich Prudence getroffen habe", erläuterte Julius.

"Wir haben hier noch einiges zu bieten. Die Musikhalle, wo Bürger von Millemerveilles für die übrige Dorfgemeinschaft Konzerte geben. Da ist eigentlich jeden Abend etwas zu hören. Dann gibt es noch den Zauberzoo und die grüne Gasse, wo verschiedene magische Pflanzen gezeigt werden. Da bin ich auch meistens anzutreffen", erklärte Madame Dusoleil.

Julius' Augen mußten unvermittelt zu glänzen begonnen haben. Denn sowohl die sonst so ernste Hausherrin als auch Madame Dusoleil sahen ihn begeistert an. Julius vermutete, daß sie es gerne hören würden, daß er diesen Zaubergarten besuchen wollte und fragte:

"Wie teuer ist denn der Eintritt in diese grüne Gasse?"

"Zwanzig Knuts für Erwachsene, zehn für Kinder bis zum zwölften Lebensjahr, ab dann fünfzehn Knuts", sagte Madame Dusoleil. Julius sagte schnell:

"Hmm, ich hätte wohl doch mehr Geld mitnehmen sollen. Obwohl ich denke, daß das an und für sich nicht zu teuer ist, wenn es da interessante Pflanzen gibt."

Die beiden Hexen sahen sich kurz an, als würden sie sich per Gedankenübertragung beraten. Dann nickte Madame Faucon.

"Ich muß dort morgen sowieso sein, rein repräsentativ. Als Verwalterin der Anlage muß ich zwischendurch einen Besuch machen, damit uns das Amt zur Aufsicht über magische Pflanzen und Pilze nicht Nachlässigkeit unterstellen kann. Falls du das möchtest, hole ich dich morgen früh ab und nehme dich mit. Wie gesagt: Ich muß dort nur auftauchen und nachschauen, ob alles richtig läuft. Ich habe viel Zeit, dir alles zu zeigen, falls du das möchtest."

"Zehn Knuts habe ich noch. Müßte gehen. Ich werde ja erst in einigen Tagen zwölf."

"Wenn du mit mir dort ankommst, zahlst du nichts an Eintritt", sagte Madame Dusoleil kühl. Julius sah, daß sie ihn leicht verärgert ansah. Offenbar hatte er sie beleidigt.

"Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu ärgern, Madame Dusoleil. Ich wollte nur korrekt sein", stammelte er schnell.

"Wenn Madame Dusoleil dich um Punkt zwölf wieder vor meiner Tür abläd, kannst du gerne den Zaubergarten angucken", sagte Madame Faucon wohlwollend.

"In Ordnung, Madame Dusoleil. Ich nehme Ihr Angebot an."

Der Rest der Teestunde verlief mit belanglosem Geplauder über die Nachrichten des Tages. Julius erfuhr, daß man immer noch nach Sirius Black fahndete und das in England die Eröffnung der Quidditch-Weltmeisterschaft mit einem Spiel des Gastgebers gegen Andorra 400 zu 50 für England zu Ende gegangen sei.

Nach der Teestunde ging Julius noch mal mit Madame Dusoleil in den Garten hinaus und half ihr ohne Zauberkraft bei der Arbeit. Um sechs uhr abends sagte sie noch zu ihm:

"Dann klingel ich morgen früh um acht Uhr bei euch. Deine Gastgeberin ist ja eine Frühaufsteherin. Das bin ich auch. Ich denke, du kannst den Umhang anziehen, den du gerade trägst. Und den Eintrittspreis hast du dir heute bei mir erarbeitet. Machst du das zu Hause auch?"

"Meine Eltern lassen sich den Garten von einer Horde Berufsgärtner machen. Außerdem ist der nicht so groß wie der von Madame Faucon."

"Kein Garten ist groß genug. Aber das ist meine Ansichtssache. Dann werde ich mal heimfliegen, um meiner Familie was zum Abendessen zu machen. Bis morgen, junger Mann!" Verabschiedete sich die Gärtnerin und holte ihren Flugbesen aus dem Gartenschuppen. Julius sah, wie sich die Hexe lässig auf den Besen schwang und federleicht abhob.

Ihm fiel ein, daß er seinen Gartenumhang mit Holzstücken und Erdkrusten besudelt hatte, als er wieder vor der Hintertür des Hauses stand. Er traute sich nicht, so in Professeur Faucons gutgepflegtes Haus zurückzukehren und stand erst einmal eine Minute vor der Tür und klopfte den Dreck vom Umhang. Doch es wollte ihm nicht so recht gelingen.

Seine derzeitige Gastgeberin öffnete die Hintertür und sah ihn kurz an. Dann zog sie ihren Zauberstab hervor und machte damit eine schnelle Bewegung. Prasselnd fiel aller Gartendreck von Julius' Kleidung ab, als habe ein Windstoß den Umhang durchgeschüttelt.

"Du bist kultivierter als mancher Junge deines Alters. Das gefällt mir. Meine Enkelin liebt es, mir den Gartendreck ins Haus zu werfen und mich oder ihre Mutter beim Putzen zu sehen. Komm rein und zieh dich um!" Sagte die Hexe von Beauxbatons.

Julius wusch sich im Badezimmer und zog den mitternachtsblauen Umhang an, den er am Morgen getragen hatte. Der Badezimmerspiegel gab einen wohlwollenden Kommentar ab, als Julius nach fünfzehn Minuten umgekleidet und gekämmt das Bad verließ. Er ging in das ihm zugewiesene Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch, wo er einen kurzen Brief für Gloria Porter schrieb. Falls Trixie ihn wieder finden würde, konnte er ihr den Brief mitgeben. Er wollte nur dann Eulen der Beauxbatons-Lehrerin verwenden, wenn es sich nicht anders machen ließ.

Es klopfte an seiner Tür. Er sagte: "Herein!"

Madame Faucon trat in das Gästezimmer und schloß die Tür hinter sich. In der rechten Hand hielt sie Julius' beschriebene Pergamentrollen. Er ahnte, daß nun die Bewertung seiner Arbeit kam. Trotzdem bot er der Hausherrin einen freien Stuhl an. Sie setzte sich schweigend. Dann entrollte sie die Pergamente und begann zu sprechen:

"Ich verstehe, warum meine Kollegin Minerva McGonagall dich als tüchtigen Schüler beschrieben hat. Hier steht wirklich alles drin, was das Schulbuch hergibt, und das nur auf zwei Rollen. Auch die Idee, die Stichwörter zu unterstreichen, ist eher für einen Drittklässler üblich, als für einen Zweitklässler. Dennoch würdest du bei mir nur acht von zehn Punkten erhalten."

Julius tat der Hexenlehrerin nicht den Gefallen, sie nach dem Grund dafür zu fragen, weshalb sie ihm nur acht von zehn Punkten geben würde. Er sagte einfach:

"Wie Sie meinen."

"Aja, bloß nicht aufregen. Bloß nicht fragen, warum es nicht alle Punkte werden. Man könnte ja auf dumme Ideen gebracht werden", erwiderte die Lehrerin. Julius freute sich innerhlich, daß seine Fügsamkeitstaktik, die bei Snape immer wieder Verwirrung auslöste, auch hier zu funktionieren schien. Dennoch war er etwas überrascht, daß die Hexe so sprach, als habe sie diese Antwort erwartet.

"Gespielte Unterwerfung ist bei mir nicht hilfreich, Monsieur Andrews. Das funktioniert vielleicht bei Typen wie eurem Zaubertranklehrer, der sonst nur mit Widerstand und Aufbegehren rechnet. Aber wenn ich etwas sage, dann begründe ich das auch, ob jemand es nun mal soeben korrekt findet oder ablehnt, was ich gesagt habe. Wie gesagt: Es steht alles drin, was das Lehrbuch hergibt, welches ihr verwendet. Da ich nicht wußte, was genau Wendel anführt, mußte ich nur kurz nachlesen. Aber nur aus dem Lehrbuch zu zitieren, auch wenn es stilistisch korrekt ist, genügt bei mir nicht."

"Ich geh davon aus, daß es als Leistungsbeweis für Professor McGonagall reicht", wandte Julius ein.

"Sie würde dir wohl die volle Punktzahl geben, die sie für diese Aufgabe angesetzt hat. Vielleicht aber auch nicht. Manchmal beurteilt sie Ravenclaw-Schüler anders als Hufflepuffs oder Slytherins. Interessiert es dich nicht, was mir noch fehlt?"

"Nöh", sagte Julius frech. Doch dann mußte er zugeben, daß es ihn doch interessierte, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß er etwas übersehen hatte.

"Hast du dich nicht gefragt, ob verwandelte Lebewesen noch irgendwelche Empfindungen besitzen?"

"Das war für mich keine Frage. Wenn keine Sinnesorgane und Nervenstränge mehr dasind, ist die Empfindung gleich null", antwortete Julius und merkte, daß er der Hexe auf den Leim gegangen war und sich doch auf eine Diskussion mit ihr eingelassen hatte.

"Klingt logisch, aber nicht im Sinne der Zauberei. Zumindest hättest du die Frage stellen können, auch ohne eine Antwort darauf geben zu können. Das wäre der eine Punkt gewesen, der noch fehlte. Dann war da noch was über die Unterschiede zwischen großen und kleinen Lebewesen. Du hast hier eine beachtliche Rechenarbeit geleistet und dargelegt, wieviel Kraft für die Umwandlung verschiedengroßer Lebewesen benötigt wird. Aber worauf ist dieser Kraftanstieg in der von dir gut herausgearbeiteten Weise zurückzuführen?"

"Auf den Gewichtsunterschied, die Körpergröße und Dichte. Aber das steht da", wandte Julius irritiert ein.

"Das ist richtig. Aber nicht, wieso das so ist. Aber warum ist das so?"

"Je mehr Materie, desto höher der Energieaufwand. Das gilt in der Magie offenbar wie in der Physik", sagte Julius schnell.

"Eben nicht. Es hat zwar was mit der Größe und Menge einer lebenden Materie zu tun, aber nicht, weil es ein Verhältnis zwischen Materie und Energie ist, sondern ein Verhältnis von Größe und Erfassbarkeit. Dazu hättest du noch die Theorie der Magie heranziehen können. Das habt ihr doch auch als Buch, oder?"

"Ich habe mich an das Lehrbuch für Verwandlung gehalten", erwiderte Julius leicht verärgert.

"Das genügt eben nicht immer, sich nur ein Buch zu nehmen. Aber warum erzähle ich dir das? Nicht, weil es zu meiner Auffassung gehört, alles zu hinterfragen, was anscheinend offensichtlich ist, sondern, weil ich dich für einen experimentierfreudigen jungen Zauberer halte, bei dem ich denke, daß sich für dich noch viel erschließen kann, selbst wenn deine Eltern dich zu hindern versuchen."

"Warum schreibt Wendel das dann nicht?"

"Weil er ein pragmatischer Typ ist. Wichtig ist, daß es funktioniert. Aber bei mir werden die Schüler zur Kreativität angehalten. Ich weiß nicht, was du von meinen Unterrichtsmethoden gehört hast. Aber welche Schauergeschichten dir zu Ohren gekommen sind, von denen ich nicht behaupten will, daß sie alle unwahr seien, so ist eins mit Sicherheit zu vermelden: Wer bei mir Unterricht hat oder auch, wie du gerade, seine Hausaufgaben zur Prüfung vorlegt, lernt eigenständiges Denken und seine Fähigkeiten zu ergründen, ob er es will oder nicht. Ich habe dir bei meinem Besuch bei euch erzählt, daß ich hunderte von Jungen und Mädchen zu brauchbaren Hexen und Zauberern ausgebildet habe. Ich finde schon, daß du davon profitieren solltest, wenn du schon bei mir zu Gast bist."

"Um alte Vorurteile zu beseitigen?" Fragte Julius etwas unvorsichtig.

"Oder zu bestätigen. Ich habe mir schon gedacht, daß du auf deine Abstammung kommst. Sie ist für mich völlig unerheblich, solange die Leistungen und Verhaltensformen stimmen. Oder hast du etwa jemanden bei euch erlebt, der so denkt - Außer Severus Snape?"

"Frage beantwortet", sagte Julius mit monotoner Stimme.

"Wollte ich auch sagen. Aber du wärest auch nicht der erste, der entweder übermäßig strebsam oder total verschüchtert seine Ausbildung zum Zauberer oder zur Hexe beginnt. Interessiert es dich, ob Lebewesen etwas empfinden, wenn sie in tote Objekte umgewandelt werden?"

"Ob es ihnen weh tut, wenn der Umwandlungszauber sie trifft. Ich gehe davon aus, daß sie danach nichts mehr fühlen."

"Du meinst also, daß ein Tier oder Mensch nichts mehr empfindet, wenn aus ihm irgendwas wird, daß augenscheinlich unbelebt ist. Das habe ich auch mal geglaubt, als mein Verwandlungslehrer uns diese Frage gestellt hat. Er hat mit uns ein Experiment gemacht, das viel Mut erfordert."

"Sie meinen, sich freiwillig verwandeln zu lassen, ohne Garantie, die eigene Gestalt wiederzukriegen?"

"Sieh an, der junge Herr kann ja doch denken. - Genau so lief das ab."

"Ich habe in einem Buch über Zauberunfälle gelesen, daß manche Zauberer sich selbst verwandelt haben und dabei noch eigenständig agieren konnten. Allerdings hatten sie die Zeitbegrenzung, die so ein Zauber erfordert, falsch festgelegt und bekamen die Rückverwandlung nicht mehr hin."

"Warum hast du das nicht zitiert? Autotransfiguration ist zwar erst Stoff der höheren Klassen, wenn die anderen Verwandlungen beherrscht werden, aber dennoch erwähnenswert, wenn bekannt."

"Und, wie ist das Experiment ausgegangen?" Wollte Julius wissen.

"Das verrate ich nicht. Es sei denn, du würdest dich selbst darauf einlassen."

Julius schluckte hörbar. Das hatte die Hexe also vor. Nachher stand er noch als dekorative Blumenvase herum, ohne sich je wieder rühren zu können. Andererseits wußte Aurora Dawn, wo er war und die Zaubereiministerien von Frankreich und England dürften auch informiert sein. Außerdem interessierte es ihn zu sehr, diese Frau in Aktion zu erleben. Sachen herbeizuzaubern und fernzulenken, konnte er ja auch schon. Wenngleich das Heraufbeschwören aus dem Nichts immer noch ein fernes Ziel für ihn war. Er sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, daß es noch eine halbe Stunde bis sieben Uhr war. Er dachte hin und her, ob er das Experiment machen sollte oder nicht. Dann fiel ihm ein, was sein Vater einmal gesagt hatte:

"Bücher bieten Wissen, Versuche bieten Erfahrung."

"Wenn Ich nachher wieder essen und trinken kann, riskiere ich das Experiment. Nachher kriege ich noch Alpträume, weil mein Gehirn sich damit herumschlägt, was denn alles möglich ist."

"Dann leg nur die Uhr weg und leer die Münzen aus den Taschen, die deine Schulkameradin dir wohl mitgegeben hat! Metalle sind Störquellen, insbesondere Legierungen. Ich würde dich zwar auch mit den Metallsachen umwandeln können, aber sicher ist sicher."

Julius legte seine Metallsachen auf den Schreibtisch. Die Hexe bat ihn, ihr in die Wohnküche zu folgen. Julius spürte, wie sich doch eine gewisse Unruhe in ihm aufbaute. Tat er da jetzt nichts, was völlig dumm war? Andererseits: Konnte er die Hexe daran hindern, ihn ohne Vorwarnung zu verzaubern, wenn sie meinte, daß sie das machen müsse? Dann wollte er es sehenden Auges erleben!

Er stellte sich in die Mitte der Küche hin und sah die Hexe an, die ihren Zauberstab hob.

"Letzte Möglichkeit zum Abbruch", sagte sie kühl. Julius Andrews sah sie direkt an und sagte:

"Was werde ich eigentlich, wenn Sie fertig sind?"

"Achso, ja! Was wäre denn dein Traum, vorausgesetzt, es ist ein Festkörper?"

Julius überlegte schnell und sagte:

"Ich habe keinen besonderen Traum. Machen Sie einfach etwas, was zu diesem Raum paßt!"

"So sei es", erwiderte Blanche Faucon und bewegte den Zauberstab.

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