Boris Romanow fluchte in seiner Heimatsprache, als er feststellte, daß der von ihm ausgesuchte Rastplatz für Lastwagen bis auf den letzten Platz besetzt war. Der vierzigjährige Fernfahrer aus Tomsk wollte eigentlich nicht die Nacht außerhalb gesicherter Parkplätze zubringen, nicht bei der Ladung, die er beförderte. Unter der Plane seines Vierzigtonners waren Kisten voller Pelze aufgestapelt. Wer die klaute machte fette Beute. Doch Romanow fühlte die Müdigkeit. Auch wenn sein Chef ihn vor der Abfahrt noch einmal klargemacht hatte, daß er mehr als drei Stunden vor dem Termin in der Nähe des Ziels in Brüssel sein sollte konnte er nicht mehr weiterfahren. Vor ihm lagen noch etliche hundert Kilometer, nachdem er die polnisch-deutsche Grenze bei Görlitz überquert hatte. Quer durch Deutschland und dann noch einmal durch Belgien. Romanow überlegte, ob er einen der kleinen Muntermacher einwerfen sollte, um die Erschöpfung zu vertreiben. Doch er erinnerte sich noch zu gut an einen Kollegen, der in Deutschland von der Polizei festgesetzt worden war. Gerade auf die Osteuropäer hatten die Beamten im wiedervereinten Deutschland es irgendwie abgesehen. Also wollte Romanow besser die fünf Stunden Schlaf einlegen und morgens um vier uhr weiterfahren, wenn die Autobahnen nur von anderen Fernfahrern benutzt wurden. Aber wo sollte er schlafen? Er erinnerte sich an die Erwähnung eines Kollegen, daß der auch einmal die Nacht fern ab von den Rastplätzen verbringen mußte. Er war von der eigentlichen Schnellstraße abgebogen und war dann mit ausgeschalteten Scheinwerfern in die Nähe eines kleinen Dorfes in Grenznähe gefahren, um da einige Stunden zu verschlafen. Das war zwar nicht zu empfehlen, weil keine Transportversicherung aufkam, wenn dabei was passierte. Aber wenn er nicht als dauernd einnickender Halbtoter über die Autobahn schlingern wollte hatte er keine andere Wahl.
Boris Romanow steuerte seinen Lastwagen also von der Schnellstraße herunter, bog nach Süden ab und fuhr über holperige Landstraßen die Oder entlang. Kurz vor dem nächsten kleinen Ort auf seiner Karte schaltete er die Scheinwerfer aus und fuhr in völliger Dunkelheit noch zwei Kilometer weiter. Dann bugsierte er seinen Lastwagen an den Straßenrand und kurbelte die Seitenfenster herunter, um die verbrauchte und zigarettenqualmgeschwängerte Luft gegen die kühle Nachtluft auszutauschen. Einige Minuten lang lauschte er der absoluten Stille in dieser abgelegenen gegend. Zwischendurch knackte es metallisch, weil sich Motor und Auspuffanlage abkühlten. Doch das waren die einzigen Geräusche. Romanow peilte durch die Frontscheibe und zu den offenen Seitenfenstern hinaus, ob vielleicht doch wer in der gegend herumschlich. Als er niemanden sah klappte er die wuchtige Fahrertür auf und verließ den Wagen, um sich für einige Minuten die Beine zu vertreten. Erst dann wollte er in die schmale Koje im Führerhaus kriechen und sich um viertel vor vier wecken lassen. Er blickte sich noch einmal um, um zu sehen, ob er wirklich gefahrlos vom Wagen weggehen konnte. Nicht daß hier doch noch wer auf ihn lauerte. Doch er konnte nichts sehen, wohinter sich jemand verstecken konnte. Die Gegend war fast so flach wie ein Bügelbrett. Auch spendete der Mond genug Licht, um mindestens zweihundert Meter weit sehen zu können. Romanow ging um seinen Wagen herum. Er fühlte, daß er vom langen Sitzen schon sehr steifbeinig geworden war. Die Zeiten, um mal lange Pausen einzulegen waren seit dem Ende des Kommunismus im Osten vorbei. Da diktierte jetzt das Gesetzt des Profits den Takt der Fernfahrer.
Romanow hatte gerade die fünfte Runde um seinen Wagen geschafft, als ein befremdliches Geräusch ihn wie angewurzelt stehenbleiben ließ. Er lauschte und hörte das rhythmische Rauschen über sich. Vor sich erkannte er sogar einen Schatten, den Schatten eines großen Vogels. Er warf den Kopf in den Nacken und wunderte sich nicht schlecht, als er das geflügelte Geschöpf erkannte, das da genau über ihm herabglitt. Es landete direkt vor ihm. Das hatte der sibirische Fernfahrer bisher noch nie erlebt, daß so ein Vogel sich ohne Scheu an Menschen rantraute. Er hatte diese Vögel immer nur auf hohen Schornsteinen oder Türmen gesehen, wenn er auf seinen vielen Fahrten in noch nicht zersiedelte Gegenden gekommen war. Dieses erstaunen und das, was nun passierte, hielten Romanow von jeder Bewegung ab. Denn der Vogel landete nicht nur, er wuchs weiter an, veränderte seine Form. Ehe Romanow recht begriff, was da genau vor seinen Augen ablief, war es für ihn auch schon zu spät. Zwei schlanke Arme schnellten auf seinen Kopf zu. Der Schreck hielt Boris Romanow davon ab, seine Arme zur Deckung hochzureißen. Da klammerten sich bereits die beiden schmalen aber kräftigen Hände um seine Stirn. Schlagartig fühlte Romanow, wie etwas wie wilde Schauer durch seinen Kopf jagten. Er meinte, seinen Kopf genau zwischen zwei elektrische Pole gezwengt zu haben. Er sah erst Blitze, hörte undeutbare Geräusche. Dann sah er eine Flut von Bildern vor seinem geistigen Auge. Er sah, wie er aus dem Laster ausstieg, um ihn zu umlaufen, sah sich im Büro seines Chefs in Tomsk, dann die letzte Fahrt. Dann war er bei seiner Frau und den drei Kindern zu Hause, dann wieder unterwegs in einem Convoy, dann in einem Fußballstadion. Die Flut von Bildern trieb ihn weiter zurück durch sein Leben. Er sah und hörte, wie er 1991 mit anderen gegen den Putsch gegen Gorbatschow demonstriert hatte, wie er zum letzten Gründungstag der DDR eine Fuhre in Leipzig ablieferte und die unerschrockenen Menschen für mehr Freiheit demonstrieren hörte. Er bekam die Geburten seiner drei Kinder und die Nächte mit, in denen er sie mit seiner Frau auf den Weg gebracht hatte, seine Hochzeitsnacht, seine Ausbildung zum Fernfahrer, damals noch in einem staatseigenen Fuhrunternehmen, seine Schulzeit und frühe Kindheit. Mit einem schmerzhaften Ruck fühlte er sich in den schützenden Leib seiner Mutter zurückgleiten, hörte für einige Sekunden noch ihren beruhigenden Herzschlag. Dann erlosch die ganze Welt um ihn. Das das befremdliche Geschöpf, daß seine Hände um den Kopf des Fernfahrers gelegt hatte, den in letzten unbeherrschten Zuckungen und Windungen zappelnden Körper hinter den Lastwagen zerrte, bekam Boris Romanow schon nicht mehr mit. Sein Atem stockte und erstarb dann völlig. Eine Minute später kam auch sein Herz mit einem letzten Rumpeln zum stehen.
Das Wesen, daß Boris derartig überfallen und erledigt hatte keuchte, weil es erst einmal die Last seiner Beute verdauen mußte. Zwei Minuten dauerte es, bis sich der unheimliche Räuber wieder beruhigte und mit dem, was er sich mit einer für Menschen undenkbaren Form der Gewalt verschafft hatte zurechtkam. Doch er lächelte. Er hatte genau das, was er wollte. Er nahm dem nun ohne einen Funken Leben daliegenden Romanow die Schlüssel und Papiere ab und bestieg den Lastwagen. Ein Blick reichte ihm, um zu wissen, wie er diese schwere Maschine bedienen mußte. Die Ladung brauchte er nicht. Er würde sie unterwegs nach und nach hinauswerfen, bevor er sein eigentliches Vorhaben in die Tat umsetzen würde.
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Willi Täschner genannt Bulli und sein Kollege Rolf Gärtner genannt Klotz hörten das dumpfe schnelle Pochen aus dem Gebäude hinter ihnen. Trotz der vorgeschriebenen Schalldämmung in Türen, Wänden und Decke brachen sich die kraftvollen Bassschläge ihren Weg in die Ohren der beiden athletischen Männer Mitte dreißig. Seit zehn Jahren, fast genau ab dem eröffnungstag der Discothek Donnerkeil arbeiteten die beiden hier als Türsteher. Ihre Aufgabe war es, nach Anschauung zu beurteilen, wer von Aussehen oder Gehabe her Zutritt in die laute Tanzhalle erhalten durfte oder wer wegen unpassender Kleidung oder unübersehbarer Alkoholisierung abgewiesen werden sollte. Bulli war mit seinen knapp zwei Metern Körperlänge der größere der beiden. Vor der Wiedervereinigung hatte er in der Juniorenauswahl von Dynamo Dresden als Torhüter gespielt. Eigentlich hatte er davon geträumt, nach dem dritten Oktober in einen westdeutschen Verein übernommen zu werden. Doch seine Jugendstrafen wegen Schlägerei auf dem Schulhof hatten ihm diese einträgliche Laufbahn verdorben. Dynamo wollte ihn dann auch nicht in die Profi-Auswahl übernehmen. Beinahe wäre er deshalb ganz und gar in den Strudel des Verbrechens hineingeraten, wenn sein Freund Rolf ihn nicht als erwünschten Partner als Türsteher für den aus der alten FDJ-Tanzhalle umgebauten Discotempel empfohlen hätte. Rolf war knapp einen Meter und siebzig hoch, jedoch beinahe zwei Meter breit. Das kam von seinen Anstrengungen her, als jüngster Gewichtheber der nun restlos erledigten DDR zu den Spielen nach Seoul zu kommen. Doch trotz des Trainings, bei dem er auch die von seinem Trainer empfohlenen Nahrungszusätze genommen hatte, waren andere doch besser als er gewesen. Jetzt paßten die beiden hier auf, daß keine schmuddelig angezogenen, volltrunkenen, im Heroinrausch herumlaufenden oder schlicht weg auf Unruhe ausgehenden Typen und keine sich zu freizügig kleidenden und übertrieben schminkenden Frauen und Mädchen hier hineinkamen. Das Donnerkeil war eigentlich eine kleine Stadtranddisco, eher was für die unteren Einkommensklassen des wiedervereinigten Deutschlands. Doch die beiden hielten die Ansprüche an Aussehen und Auftreten so hoch wie am Eröffnungstag. Pitt Wolters, der Chef des Donnerkeil, träumte immer noch davon, daß sein Laden einmal ein Geheimtipp der Prominenz würde. So hatte jeder seine Träume.
Es war gegen halb zehn, als sie auf dem Bürgersteig herankam. Sie hatte schulterlanges Haar und trug eine helle Kombination aus Rock und Bluse. Ihre Füße steckten in hochhackigen Schuhen. Von Gesicht und Figur her wirkte sie wie gerade fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Bulli ging auf stille Alarmbereitschaft. Pitt hatte ihm und Klotz klar angesagt, ab halb zehn keine unter achtzehn Jahre alten Gäste mehr reinzulassen. Doch erst als die junge Besucherin in den Lichthof der Vorderfrontbeleuchtung trat und zielstrebig auf die Eingangstür zusteuerte baute sich Bulli vor der Tür auf. Klotz stellte sich wie ein breiter Schatten zwei Schritte hinter ihn.
"Hi, Jungens, jehen minge Klamotten he bej üsch? " fragte die junge Besucherin. Die beiden Türsteher hörten klar, daß sie weit aus dem Westen der vergrößerten Bundesrepublik kommen mußte. Bulli blickte sie von seiner erhöhten Warte her prüfend an. Er sagte dann: "Siehst aber ziemlich jung aus, Mädchen. Hast du 'n Ausweis bei dir?" Die junge Besucherin lächelte ihn beschwichtigend an und fingerte an ihrer kleinen, aber sichtlich teuer aussehenden Handtasche. Dann zog sie eine Klarsichthülle mit Inhalt hervor und reichte sie dem Türsteher. Dieser betrachtete das Foto und las Name und Geburtsdatum. Demnach hieß die Besucherin Jennifer Richter und war am 10. Februar 1981 in Köln zur Welt gekommen. Dazu paßte der rheinische Dialekt. Er besah sie sich noch einmal. Sie hatte sich geschminkt, das mochte die feinen Unterschiede zum Foto auf dem Ausweis erklären. Außerdem wirkte ihre Kleidung sehr elegant, beinahe nobel, auf keinen Fall von der Stange eines Massenherstellers. Er überlegte, was er sagen sollte. Wieder und wieder prüfte er Ausweis und Gesicht der jungen Frau. Irgendwie schien ihm da irgendwas nicht so ganz zu passen. Andererseits konnte er nichts erkennen, was da nicht passen sollte. Er konnte sie problemlos abweisen, wenn ihm irgendwas nicht gefiel. Doch dann dachte er an Pitt Wolters, seinen Boss. Die junge Dame, die vom Ausweis her schon volljährig war, kam aus Köln und trug gute Kleidung. Zwar konnte der Türsteher an der im Ausweis stehenden Adresse nicht erkennen, ob sie aus einem noblen Viertel der Karnevalsstadt kam oder aus einer Arbeitersiedlung. Doch wenn wer aus dem wilden Westen sich hierher verirrte, dann durfte derjenige nicht so einfach abgewiesen werden. Sonst kamen nämlich eben nur Leute aus Dresden und Umgebung her. Bulli sah Klotz an, der die junge Besucherin prüfend anguckte. Dann ließ er sich von Bulli den Ausweis der jungen Frau geben, las ihn und gab ihn der Besucherin zurück. Auch Klotz dachte wohl an Pitt, als er mit dem Kopf nickte und mit dem rechten, muskelbeladenen Arm auf die schallgedämmte Außentür deutete. Bulli fragte nicht danach, wie die Frau nach Dresden gekommen war. Vielleicht hatte sie ein Auto. Vielleicht war sie auch mit dem Zug gekommen.
"Willst du die ganze Nacht durchfeiern?" fragte Bulli. Die Frau in der eleganten Aufmachung grinste und nickte. Dann wurde sie noch gefragt, ob sie genug Geld mithatte, da erst am Ende abgerechnet würde. Sie erwähnte, daß sie sicher unter hundert Mark bleiben würde, zumal sie auch noch was für die Taxifahrt zurückhalten müsse. Bulli unterdrückte den Impuls, sich das Geld zeigen lassen zu wollen. Er sagte: "Im Zweifelsfall gilt dein Ausweis als Pfand, falls du doch mehr Zeche machst als du zahlen kannst", sagte Bulli. Dann nickte auch er und deutete auf die Außentür.
"Hat die sich so geschminkt oder ist die voll in der Entwicklung zurückgeblieben?" fragte Bulli seinen Partner, nachdem die Besucherin eingetreten war. Klotz sagte dazu nur:
"Die haben im Westen eben gesünderes Essen als wir hier, da wirst du nicht so schnell alt."
"Wie überaus witzig, Klotz", knurrte Bulli. Beinahe hätte er dem Kumpel und Kollegen noch an den Kopf geworfen, daß der ja auch die ganzen Chemikalien vom Olympiakader eingeworfen habe. Doch er wußte, daß Klotz ihm das dann sehr übelnehmen würde und er weder die Freundschaft noch die gute Zusammenarbeit mit ihm kaputtmachen wollte.
Gegen zehn Uhr stellte sich ein junges Pärchen den prüfenden Blicken der Türsteher. Bulli kannte die beiden. Sie kamen meistens jeden ersten Samstag im Monat zum Abtanzen.
Weitere meist junge Leute beiderlei Geschlechts wollten zwischen zehn und elf Uhr in die Disco, in der gerade die Tanztitel aus der aktuellen Verkaufshitparade liefen. Vier mußte Bulli zurückweisen, weil die schon sichtlichen Seegang hatten. Einer hätte sich fast mit Bulli angelegt und hatte ihm zwei kräftige Fäuste gezeigt. Doch Klotz hatte sich wortlos neben Bulli aufgepflanzt und den anderen mitleidsvoll angesehen. Da hatte der es doch vorgezogen, woanders feiern gehen zu wollen.
Gegen viertel nach elf tauchte ein schlanker Mann mit schulterlangem, hellen Haar auf. Vom Aussehen hätte Bulli ihn fast für eine Frau gehalten. Doch das schmale Becken und der flache oberkörper zeigten, daß es wirklich ein männliches Wesen war. Bulli fühlte unmittelbar eine steigende Abneigung gegen den Fremden, der mit fließenden Bewegungen auf die Eingangstür zuschritt. Sein schulterlanges Haar floß im Takt seiner Schritte. Jetzt konnte Bulli das schmale, bartlose Gesicht mit den strahlendblauen Augen erkennen. Irgendwie sah der Bursche sehr schön aus, irgendwie wie ein süßer kleiner Junge oder ein Mädchen, das dann doch lieber ein Mann hatte werden wollen. Jedenfalls stieg die innere Abneigung gegen den anderen, je näher dieser kam. Auch Klotz schien von diesem Mann irgendwie alarmiert oder angenervt zu sein. Seine sowieso schon übermäßigen Muskelpakete schwollen noch um einige Zentimeter Umfang mehr an und spannten die dunkelblaue Lederjacke des Türstehers.
Bulli wartete, bis der Fremde ganz im Lichthof stand. Jetzt sah er, daß der andere hautenge Ledersachen trug. Das Haar glänzte goldblond im Schein der Frontbeleuchtung. Die Abneigung gegen den anderen verstärkte sich. Bulli dachte an einen Mann, der womöglich eher auf Männersuche als des Tanzens wegen hier war. Andererseits strahlte der Bursche was aus, daß Bulli denken ließ, daß der Fremde Ärger machen und ihn nicht respektieren würde. Hatte er vorhin bei Jennifer Richter nicht auf seinen Instinkt gebaut, so wollte er ihm diesmal folgen, zumal Klotz wohl ähnlich empfand, seiner Haltung und Miene nach. Weil der andere fast so groß wie Bulli war übernahm es der längere Türsteher, dem anderen entgegenzutreten. Dieser sah den Türsteher herablassend an und stemmte seine schmalen Hände in die Hüften.
"Mit der Frisur und den Klamotten kommst du bei uns nicht rein, Junge", preschte Bulli vor. Der andere sah ihn so an, als habe er ihn nicht verstanden. "Eh, sprichst du Deutsch?" blaffte Bulli, darauf gefaßt, den anderen entweder einzuschüchtern oder zu einer Tätlichkeit zu reizen. Dieser sah Bulli nun sehr verdrossen an. Dem Türsteher gefror fast das Blut, weil er jetzt sicher war, daß der andere auf Ärger ausging und er, Bulli aus irgendeinem Grund den kürzeren ziehen mochte. Der in ihm aufgekommene Widerwille gegen diesen Mann trieb Bulli jedoch dazu, noch harscher aufzutreten. Er fragte ihn, ob er englisch spräche. Der andere ging nur einen Schritt weiter vor. Dann fragte Bulli ihn, ob er Russisch könne. Da nickte der Fremde und sagte "Da da", was eine Bejahung war. So sprach Bulli den anderen nun auf Russisch an: "In den Sachen dürfen wir dich nicht reinlassen, zu heftig provozierend. Und die Frisur ist was für Mädchen, da könnten die Jungs da drinnen denken, du wolltest was von denen. Also such dir was anderes für die Nacht."
"Ich will aber da rein, weil ich nur da finden kann, was ich will", entgegnete der Fremde mit einer glockenreinen Tenorstimme.
"Eh, mein Kollege sagt, du bist hier nicht passend angezogen und frisiert", sprang Klotz nun seinem Kollegen bei. "Also tanz ab!"
"Ihr wollt mich da nicht reingehen lassen?" fragte der Fremde. Beide Türsteher schüttelten entschieden die Köpfe. Sie waren auf einen Angriff gefaßt. Zwar durften sie nicht von sich aus provozieren, doch sie hatten von Pitt Wolters die Erlaubnis, notfalls mit angemessener Gewalt gegen Randalierer vorzugehen. Der Fremde blickte erst Bulli und dann Klotz mit seinen strahlendblauen Augen an. Unvermittelt steigerte sich die Abneigung der beiden Türsteher gegen den anderen, der im gleichen Maße größer und breiter zu werden schien. Klotz verlor die Nerven und ging auf den anderen los. Dieser tanzte den ihm entgegenschwingenden Arm des Kraftsportlers aus wie ein Profiboxer und klatschte Klotz die rechte Hand voll gegen die Stirn. Das war eigentlich total wirkungslos gegen einen wie Klotz. Doch dieser zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen und kippte kraftlos nach hinten über. Bulli starrte auf seinen Freund und Arbeitskollegen, der wie von einem K.O.-Schlag hingestreckt auf den Boden knallte. Da verlor auch er den letzten Rest von Selbstbeherrschung und sprang den unheimlichen Fremden an. Dieser ließ ihn jedoch geschmeidig ins Leere stoßen. Als Bulli merkte, daß sein Angriff verpufft war, warf er sich herum, wollte den anderen am Lederkragen packen, da krallte sich dieser mit beiden Händen an seinen Hals. Es war, als explodiere ein Feuerball im Hals des Türstehers und brenne ihm alle Sinne weg. Daß er wie ein gefällter Baum niederstürzte bekam Bulli schon nicht mehr mit. Der Fremde bückte sich und durchsuchte den Niedergestreckten. Als er den Stempel für einzulassende Besucher fand grinste er überlegen. Diese sogenannten Reinmenschen waren doch solche Schwächlinge. Er praktizierte sich den Stempel, der wie ein blauer Blitz mit einem D aussah auf den rechten Handrücken, steckte dem bewußtlosen Türsteher sein Handwerkszeug wieder zu und nahm dafür dessen Mobiltelefon und das des anderen Aufpassers an sich.
Die Garderobenfrau hinter der Innentür schien förmlich in Trance zu versinken, als der unheimliche Gast an ihrem Tresen vorbeikam und sie anlächelte. Er fühlte, daß sie jeden seiner Wünsche erfüllen würde, wenn er es ihr sagte. Doch ihm ging es nur darum, in die Tanzhalle zu kommen. Bevor er durch die große Zugangstür in das Gewühl aus wild tanzenden Paaren eintrat, steckte er sich zwei schmale Stöpsel in die Ohren. Warum mußten diese jungen Leute hier auch bei so lauter Musik tanzen? Er trauerte der Zeit nach, wo er in einem gediegenen Tanzsalon in Leningrad die Gunst und Gefälligkeiten junger Frauen erlangt hatte.
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Sie hatte gewußt, wie riskant das war. Doch hier, weit genug vom achso beschützenden Elternhaus, das für sie der sprichwörtliche goldene Käfig gewesen war, traute sie sich alles, was ihre achso besorgten Eltern ihr niemals gestattet hätten, schon gar nicht in ihrem zarten Alter von gerade mal fünfzehn Jahren. Allerdings waren die nicht darauf gefaßt, daß ihre Cousine Jenni trotz ihrer neunzehn Jahre gerade so alt aussah, wie sie, Lucia, gerade war. Auch die Ähnlichkeit mit ihrer Cousine war genial, eben nur, daß diese ihre dunklen Haare gerne tizianrot färbte, um ihre halbitalienische Abstammung zu verdecken. Für Lucia war das ein willkommener Anlaß, um den großen Absprung zu schaffen.
Sie genoß die Musik, ließ sich von ihrer Lautstärke mitreißen und von den Bässen in den Bauch boxen. Sie trank nur alkoholfreie Sachen, um nicht auszudörren und achtete dabei darauf, daß ihr niemand mehr als das gewünschte Getränk ins Glas füllte. Trotz ihres Freiheitsdrangs war sie nicht so leichtsinnig, möglicherweise unter Drogen gesetzt zu werden. Ihr Kostüm und ihr gut einstudiertes Gehabe einer bereits erwachsenen jungen Frau wirkten so, wie sie es wollte. Ihre Eltern hatten sicher schon zur großen Suche nach ihr geblasen. Doch durch verschiedene Perücken und gut einstudierte Schminkkkunst hatte sie sich bis hierher in den wilden Osten durchgeschlagen. Die sollten die ruhig in der Gegend von Köln suchen. Jenni würde erzählen, daß sie mit ihrer Cousine aus reicherem Elternhause seit einem Telefongespräch vor zwei Wochen keinen Kontakt mehr gehabt habe.
Gerade verklang Melanie Cs aktuelle Single, ein echter Discohit, und der Plattenaufleger spielte zum Ausklang das sanfte Instrumentalteil von Robert Miles von vor vier Jahren ab. Da sah sie ihn. Doch sie war nicht die einzige.
Es war, als sei der hochgewachsene Bursche aus dem Nichts hereingekommen. Sein goldblondes Haar wehte ihm um Schultern und Gesicht. Das gab ihm einerseits etwas weibliches, aber auch anziehendes, fand Lucia. Sie fühlte unvermittelt, wie die absolut taktsicheren Tanzbewegungen des Fremden, seine schwingenden Hüften und das sanfte Spiel seiner Beinmuskeln sie fesselte. Doch da war noch mehr. Sie fühlte sich unvermittelt von diesem Fremden im hautengen Lederanzug hingezogen, als riefe er ihren Namen, ihren wahren Namen. Der Blick seiner hellblauen Augen traf den ihrer graublauen Augen. Da rastete etwas bei ihr ein wie der Stecker eines Verbindungskabels in der passenden Buchse. Sie fühlte sich unmittelbar so wie vor drei Jahren, wo sie mit ihrer Schulfreundin Caroline ein Wetttrinken abgehalten und eine ganze Flasche Wein in nur fünf Minuten leergetrunken hatte. Zwar hatte sie sich dafür zwei Wochen Stubenarrest und andauernde Strafpredigten ihres Vaters eingehandelt, daß er keine drogensüchtige Tochter haben wolle. Doch sie hatte die Wette gewonnen. Genau diese Art von Wohliger Schwäche und Schwindel fühlte sie auch jetzt. Ihre Sinne schwanden noch mehr im Inferno der roten, blauen und grünen Laserblitze und den weiß flackernden Halogenscheinwerfern. Zu dem wohligen Gefühl der Unbeschwertheit und dem Verlangen, zu diesem Fremden hinzugehen und mit ihm zu tanzen kamen noch wohlige Wärmeschauer in ihrem Unterleib. Bisher hatte sie sich nicht getraut, einen Mann an sich heranzulassen. Doch mit diesem Burschen mit den goldblonden Haaren würde sie es auf der Stelle tun, wenn der es ihr sagte. Sie tanzte auf ihn zu. Doch sie sah um sich herum auch andere Frauen und wohl auch noch Mädchen, die den anderen umtanzten wie Mücken um eine Laterne flogen. Aber diese dummen Gänse sollten den nicht kriegen. Der da war für sie. Der da sollte ihr allererster Liebhaber sein. Und selbst wenn sie von dem ein Kind abbekommen würde, dann würde sie es garantiert nicht wegmachen lassen, auch wenn der Typ da nichts mehr von ihr wissen wollte.
"Eh, aus dem Weg da", schnarrte eine Besucherin im glitzernden Kostüm, die breiter als Lucia war und versuchte, diese wegzuschieben. Doch diese stieß die andere bei Seite und sah ihren Auserwählten an, der sie anlächelte. Der Blick seiner Augen versprach ihr alles. Als er dann auch die anderen ansah, hielten sich diese zurück. Lucia schritt auf den Mann mit dem goldblonden Schopf zu und warf sich ihm in die weit offenen Arme. Zu den sphärischen Klängen von Robert Miles' Megahit begannen sich die beiden wie zwei jahrelang aufeinander abgestimmte Tänzer zu drehen und zu hüpfen. Der Fluß der Bewegungen war absolut passend. Lucia sah den anderen an. Der Lärm hier erlaubte keine Unterhaltung. Wer hier herkam wollte nur tanzen. Die anderen Frauen und Mädchen versuchten zwar, sich noch weiter um den anderen zu drängeln. Doch er lächelte sie nur an und ließ sie förmlich erstarren. Sie blickten weltentrückt zu ihm hin, taten jedoch nichts mehr, um ihn von seiner Tanzpartnerin abzudrängen.
Drei Stücke lang blieben die beiden auf der Tanzfläche, wobei ihre Tanzfiguren trotz der europäischen Musik den wilden, teilweise provokanten Figuren lateinamerikanischer Tänze glichen. Als dann noch Madonna ihren neuen Hit geträllert hatte, bewegten sich die beiden dem Ausgang zu. Die Männer, die dem ganzen mit einer Mischung von hilfloser Verärgerung und Abscheu zusahen, machten keine Anstalten, den Besucher zurückzuhalten, der seine ihm restlos verfallene Tanzpartnerin in einer halben Umarmung hielt und in Richtung Hauptausgang führte. Das Lucia noch ihre Handtasche mit mehr als 300 Mark und dem Ausweis bei der Garderobe abgegeben hatte wußte Lucia nicht mehr. Sie dachte überhaupt nichts mehr. Sie erwartete nur noch, daß ihr geheimnisvoller Begleiter sie nehmen und zur Frau machen würde.
Die Garderobenfrau blickte zwar auf, als der vorhin eingetretene Fremde in Begleitung der jungen Dame mit dem tizianroten Haar herauskam und zielsicher auf den Ausgang zusteuerte. Doch ein Blick seiner Augen und ein warmherziges Lächeln reichten, um sie selig, ja weltentrückt auf ihrem Platz sitzen zu lassen. Unangefochten verließ der geheimnisvolle Tänzer mit seiner auserwählten Begleiterin die Discothek und führte sie an den immer noch ohnmächtig daliegenden Türstehern vorbei. Gerade kamen zwei junge Leute, die wohl noch hier tanzen wollten. Doch darum kümmerte sich der Geheimnisvolle nicht weiter. Er führte seine ihm völlig verfallene Begleiterin davon, raus aus dem Lichthof der Frontbeleuchtung auf die Straße in die Nacht der Vorstadt.
"Eh, steht die unter Drogen oder was?" fragte der junge Mann seine Freundin. Die sah den beiden noch nach, die gerade mit schnellerem Schritt davongingen.
"Hmm, könnte sein, daß die was eingeworfen hat. Aber vielleicht ist die auch nur voll heiß auf den. Ist ja auch ein echt toller Typ, mit dem die da geht."
"Der Kerl? Der ist voll widerlich. Könnte ein Dealer oder Zuhälter sein. Ich glaube, ich hau die Jungs mal an, daß die die Bullen rufen sollen."
"Und was willst du denen sagen?" wollte seine Freundin wissen.
"Das die Kleine gerade mal wie sechzehn aussieht vielleicht?" Seine Freundin nickte. Er zischte ihr noch zu, daß sie bei den beiden Jungs vor der Tür warten solle, während er hinter den beiden hergehen wollte. Sie lachte nur. Sie meinte, daß ihr Freund Gespenster sähe. Dann erreichten sie die beiden Türsteher. Ab da war jede Partystimmung verflogen.
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Hauptkommissar Kröger von der dresdener Kriminalpolizei mußte sich die Aussagen zweimal durchlesen, die seine Kollegen von der Schutzpolizei ihm vorgelegt hatten. Ein junges Mädchen war vor den Augen einer Garderobenfrau aus der Discothek Donnerkeil verschleppt worden. Die Türsteher waren von einem Mann mit schulterlangem Haar auf eine ihnen nicht erklärliche Weise betäubt worden, wobei der längere von denen auf einen neuartigen Elektroschocker tippte. Was alle Zeugen jedoch aussagten war, daß der Fremde eine geheimnisvolle Ausstrahlung besessen hatte, die Männer anwiderte und Frauen förmlich dahinschmelzen ließ. Wie sowas gehen sollte wußte der Hauptkommissar nicht, und er arbeitete schon mehr als fünfzehn Jahre hier. Damals hatte die Polizei noch Volkspolizei geheißen und war gehaßt wie gefürchtet gewesen. Kröger überlegte, ob in den sichergestellten Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes irgendwas über gasförmige Rauschmittel stand, die auf Personen unterschiedlichen Geschlechts unterschiedlich wirkten. Außerdem wollte er prüfen, wie diese Jennifer Richter genau nach Dresden gekommen war. Da ereilte ihn die nächste Überraschung. Nicht nur, daß Jennifer Richter von allen, die sie Kannten bis zum Morgen nach der unheimlichen Entführung in Köln gesehen worden war, nein, es stellte sich heraus, daß ihre vier Jahre jüngere Cousine Lucia, deren Vater eine Brioni-Filiale in Köln betrieb, von ihren Eltern vor drei Tagen als vermist gemeldet worden war. Das Mädchen war trotz der es behütenden Dienerschaft und Hausumfriedung ausgerissen. Offenbar wollte sie die angeblich so verheißungsvolle Freiheit kosten. Kröger telefonierte mit seinem kölner Kollegen Hauptkommissar Paul Schramm, der im Dezernat für Jugendkriminalität und jugendliche Ausreißer arbeitete und fragte ihn nach den Einzelheiten. Eine Stunde später kam heraus, daß Jennifer Richter ihren Ausweis nicht finden konnte. Damit war die Sache klar. Die Besucherin des Donnerkeils war ihre Cousine Lucia gewesen, die sich den Ausweis beschafft hatte um damit als volljährige Bürgerin weiterzukommen, bevor die große Fahndungsmaschinerie so richtig auf Touren kam. Kröger verwünschte es, daß er erst jetzt von dem Verschwinden des Mädchens erfahren hatte. Normalerweise gingen Vermißtenmeldungen im Bezug auf Kinder und Minderjährige seit den schlimmen Kindesentführungen und -morden ganz schnell über das BKA an alle Stellen, auch an Interpol. Er schrieb in seinen Bericht, daß nicht auszuschließen sei, daß Lucia Moretti unter Drogen gesetzt und verschleppt worden war. Als das moderne Schnurlostelefon auf seinem Schreibtisch trällerte dachte Kröger schon daran, daß das Mädchen womöglich tot oder zumindest orientierungslos irgendwo aufgefunden worden sein mochte. Doch der Anrufer war Dr. Fleischer, der Polizeiarzt. Mit dem Nachnamen hätte der nach der Wiedervereinigung wohl keinen Patienten in eine eigene Praxis locken können, dachte Kröger und hörte sich an, was der Mediziner ihm zu sagen hatte.
"Rein internistisch sieht es nach einem Stromschlag aus, den die beiden Türsteher abbekommen haben. Aber ihre Körper weisen keine Strommarken auf, also keine für Elektroschocks ttypischen Verbrennungen auf der Haut. Ich habe auch die Garderobenfrau untersucht. Außer einem vierfach erhöhten Östrogen- und Oxytozin-Spiegel im Blut konnte ich keine toxischen Substanzen nachweisen, womit die Theorie von der gasförmigen Droge wohl vom Tisch ist."
"So, die beiden Türsteher sind von etwas betäubt worden, was wie Stromschläge aussieht aber keine waren und die Frau an der Garderobe hat einen Hormoncocktail im Blut, als habe sie sich geschlechtlich ausgetobt, Herr Doktor. Darf ich diese Aussage so interpretieren?"
"Genauso, herr Hauptkommissar. Wäre die Frau eine Hündin, so könnte ich behaupten, daß sie gerade läufig war und einen Rüden ihrer Wahl getroffen hat. Doch weil sie keine Hündin ist möchte ich sagen, daß der Mensch, der in die Discothek eingedrungen ist, irgendwas mit ihr angestellt hat, was wie Hypnose wirken könnte und ihr vielleicht ihre erotischsten Wunschträume vorgegaukelt hat."
"Ja, nur daß der dann dreißig andere Mädchen und genauso viele Jungs mithypnotisiert haben muß, Doktor. Ich kenne keinen Hypnotiseur, der das ohne gründliche Einstimmung seiner Zielpersonen hinkriegt. Nach den Aussagen hat sich der Täter nur zwanzig Minuten in der Lokalität aufgehalten."
"Ich kann Ihnen nur sagen, was ich herausbekommen habe. Ich untersuche die anderen Besucherinnen noch, sofern ich dazu einen gerichtlichen Beschluß bekomme."
"In einer Stunde auf ihrem Tisch", erwiderte der Hauptkommissar und beendete das Gespräch.
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"Können wir die kleine mitnehmen?" fragte Millie, während sie Aurore nach dem Baden behutsam trockenrubbelte. Millies und Julius' Tochter gluckste vergnügt über die angenehmen berührungen am Körper.
"Sagen wir so, wir müssen nur zu dieser Festung am See hin, um das abzuholen, was dir versprochen wurde", erwiderte Julius. "Da sind keine gefährlichen Sachen. Allerdings weiß ich nicht, ob die da wohnende Wächterin die Kleine als zutrittsberechtigt ansieht. Außerdem müssen wir ziemlich hoch in die Berge."
"Hmm, stimmt, hast du erzählt", murrte Millie. "Gut, dann frage ich Tante Trice, ob sie auf die Kleine aufpaßt", fügte sie leicht verdrossen aber entschlossen hinzu. Sie wickelte das in den letzten Wochen gut gewachsene Bündel Leben, das sie selbst zur Welt gebracht hatte. Als Aurore sorgfältig verpackt war wurde sie ihrem Vater in die Arme gelegt. Dieser begann wie eingeschaltet eines der französischen Wiegenlieder für Zaubererweltkinder zu summen. Aurores rechtes Ohr lag dabei an seiner Brust und nahm die tiefen Töne und Julius' schlagendes Herz in sich auf. Das beruhigte seine Tochter noch mehr.
Als Millie den Pappostillon entrollte trompetete der bunte Schmetterling auf dem Bild, daß er neue Nachrichten entgegengenommen hatte. Martine lud ihre mittelgroße Schwester, ihren Schwager und ihre Nichte zur am zweitletzten Oktoberwochenende anstehenden Verlobungsfeier mit Alon Gautier ein. Julius prüfte nach, ob er eine gleichlautende Nachricht bekommen hatte. Tatsächlich hatte er dieselbe Einladung erhalten. Die Besitzer eines Pappostillons konnten ja auch mehrere Empfänger zugleich anschreiben. Da es sich hierbei ausnahmslos um geborene oder angeheiratete Latierres handelte ging Julius davon aus, daß alle ihm bekannten Latierres die Einladung bekommen hatten. Natürlich sagten beide unabhängig voneinander textend zu. Dann zog sich Millie für eine halbe Stunde zurück. Als sie wiederkam hatte sie eine rosarote Flasche mit zudrehbarer Saugvorrichtung. Sie blickte ein wenig angespannt. "Also, immer mache ich das nicht, was auslagern. Aber ich traue Oma Line zu, das sie meint, auch für ihre Urenkelin was vorrätig zu haben, wenn Tante Trice nicht klar ansagt, daß ich vorgesorgt habe."
"Und wenn Tante Trice findet, nicht nur Hebamme sondern auch Amme sein zu wollen?" fragte Julius.
"Dann geht unsere Tochter bereits mit zwei achtbaren Rundungen nach Beauxbatons wie damals Belisama. Von der haben wir Mädels auch immer getuschelt, daß die von einer jungfräulichen Tante oder Cousine mitversorgt wurde, wo sie noch ganz klein war. Es gibt bei den Hexen den Spruch, daß die Milch von jungfräulichen Ammen damit genährte Kinder schneller heranwachsen läßt, damit sie nicht so lange auf ihre Möglichkeiten warten müssen, die die Amme bis dahin nicht genutzt hat. Würde ich Tante Trice sogar zutrauen. Aber ich muß sie nicht dazu drängen."
Eine Minute später bekam Millie eine Nachricht, daß sie die Kleine vorbeibringen dürfe, aber mit Julius noch mal sprechen müsse. Dieser fragte sich, was seine Schwiegertante von ihm wolle, wo er mit Millie klar hatte, wie die Versorgung Aurores ablief. Doch er wartete damit, bis die drei durch den Verschwindeschrank ins Château Tournesol übergewechselt waren. Millie übergab ihrer Tante die rosarote Nuckelflasche und zwei Sätze frischer Windeln. Nachdem das erledigt war bat Béatrice ihren Schwiegerneffen in ihr Arbeits- und Behandlungszimmer. An dieses hatte Julius auch sehr starke und vor allem leidenschaftliche Erinnerungen. Als die Tür zu war begann Béatrice Latierre:
"Ich weiß, daß du mit Millie über die alten Straßen gehen möchtest, weil sie ein altes Artefakt versprochen bekommen hat. Da sie mir nicht erzählen wollte was es ist erzähle du es mir bitte, wenn du darfst!"
"Es wurde mir nicht verboten, davon zu erzählen. Ich sollte mir nur aussuchen, wem ich das sage. Aber da es auch um Millie geht weiß ich nicht, ob sie das möchte, daß du oder wer anderes von den Latierres was davon weißt."
"Sagen wir es mal so, als von ihr ausgewählte Betreuerin für alle heilmagischen Angelegenheiten sollte ich schon wissen, ob das, was du mit ihr abholen möchtest ihr und dir körperlich und seelisch zusetzen kann oder vielleicht auch eine Gefahr für eure Tochter bedeuten kann. Außerdem kann ich, wenn ihr das möchtet, die Angelegenheit als vertrauliche Sache zwischen Heilerin und Patient behandeln", sagte Béatrice mit ruhiger Stimme. Julius wußte jedoch, daß seine Schwiegertante auch sehr ungehalten und unerbittlich sein konnte, wenn es um ihren Beruf und die Fürsorge ihrer Familie ging. So erwiderte er ebenso ruhig:
"Das ist ein Schutzartefakt gegen magische und unmagische Feuerschäden, ähnlich wie eine Mischung aus Unfeuerstein und Aura-Sanignis-Zauber, nur dauerhaft und auf einen engeren Bereich begrenzt, aber dafür wohl wesentlich wirksamer."
"Ach, sowas wie diese Feuerschutzumhänge, die für Drachenjäger und Feuerlöwenbändiger gemacht wurden?" wollte Béatrice wissen. Julius räumte ein, daß es zumindest die gleiche Schutzfunktion hatte, aber auch magisch am Brennen gehaltene Feuer abhielt, anders als die bekannten Feuerschutzbekleidungen und der Unfeuerstein. höchstwahrscheinlich, so deutete er an, waren damit auch das dunkle Feuer und das Dämonsfeuer abzuhalten. Danach mußte er, wo er schon einmal gegackert hatte, auch das Ei legen und Béatrice von dem Kleid erzählen. Er erwähnte auch, warum Kailishaia es seiner Frau und nicht ihm angeboten hatte und welche Tücke es barg, nämlich daß es nur von Frauen getragen werden konnte und Männer, die es tragen wollten, zu ihren eigenen Schwestern wurden, damit es eben nur von einer Frau getragen wurde. Béatrice blickte erst besorgt, als er Yanxothars Schwert erwähnte und daß die wie ein Phönix aus der Asche zu neuer und stärkerer Daseinsform erstandene Anthelia es wohl im Besitz hatte. Als er dann aber den Zauber erwähnte, mit dem das Kleid sich gegen männliche Träger wehrte mußte sie lachen. "So unerfahren wärest du dann ja nicht mehr, wenn du mal eben zu deiner eigenen Schwester würdest", sagte sie. "Aber ich fürchte, dann wäre es mit der weiteren Familienplanung schwierig, zumal du dich dann sicher heterophil orientieren und Millie als Intimpartnerin zurückweisen würdest. Oder bleiben die ausgelebten Neigungen erhalten?" Julius mußte dazu einräumen, daß er Kailishaia überhaupt nicht danach gefragt hatte. "Dann setze ich mal voraus, daß nach der rein körperlichen Umwandlung auch eine seelische stattfinden würde." Julius nickte. Einen winzigen Moment sah er eine blonde Frau, die wahrhaftig seine Schwester sein mochte vor sich. Er hatte sie als Vision in Marie Laveaus Geisterhöhle unter ihrem Grabhaus gesehen. Der Geist der alten Voodoo-Magierin hatte ihm verheißen, daß diese Frau er sein könnte, wenn er sich in der Zukunft an einer Stelle für einen Weg entscheide, der ihn dazu werden ließ. Entsprechend unbehagt sagte er dann zu Béatrice, daß er mit seinem angeborenen Körper trotz aller Experimentierlaune sehr zufrieden sei. Sie verstand und grinste mädchenhaft. Sie nickte ihm beipflichtend zu. Dann kam sie noch mal auf Kailishaia zurück, und daß Julius von ihr offenbar sehr gemocht wurde.
"Oha, eine Konkurrentin für Millie?" fragte Béatrice. "Dann wollen wir hoffen, daß diese alte Feuerhexe in ihrem eigenen Einmachglas bleibt und nicht über das Kleid meint, deine Frau als neuen Körper annehmen zu können. Nachdem, was ich von dir und über Umwege von den Artefakten aus dem alten Reich gehört habe, sind die mächtigsten davon von ihren Erzeugern teilweise oder vollständig beseelt worden. Daß Babs eine wesentlich fähigere Kuh bei sich auf dem Hof hat kommt ja daher, und die Sache mit den Skyllianri und wo die Wolkenhüter herkamen hat ja auch damit zu tun. Ich hoffe, daß dieses Kleid keinen Einfluß auf Millie ausübt, daß sie es immer anhaben muß, weil etwas darin auf ihren Körper zugreifen möchte. Falls du derartige Tendenzen bei ihr bemerkst, bring sie bitte zu mir oder verwende jene alten Zauber, die du erlernt hast, um sie davon zu lösen!"
"Wer zu den Altmeistern in der verborgenen Stadt zählt kann seine oder ihre Seele nicht in etwas anderes auslagern, Tante Trice. Die Seele kann wohl nur vollständig in jene Konservierungsform übergehen, die du als Einmachglas bezeichnest", wandte Julius ein. Er erwähnte auch, daß die, die ihre eigenen Gegenstände beseelt hatten, nicht die Erlaubnis erhalten hatten, zu den Altmeistern zu gehören, weil sie zu den Regenten von Altaxarroi gehörten, wie Darxandria, Yanxothar und eben auch Ailanorar. Das beruhigte Béatrice sichtlich.
"Du sagst es Millie nicht, daß ich dir davon erzählt habe?" fragte Julius.
"Nein, tu ich nicht, wenn sie mir selbst nichts davon erzählen möchte. Am Ende kann es nützlich sein, wenn sie nicht weiß, daß ich es weiß. Wir haben halt darüber gesprochen, wie du deine Rolle als junger Vater mit deinem doch sehr aufregenden Beruf vereinen kannst. Immerhin ist das auch die Aufgabe einer Hebamme, beide Elternteile mit ihrem Nachwuchs zurechtkommen zu lassen, sofern sie sich nicht auf eine althergebrachte Rollenverteilung einigen, wo nur die Mutter für die Fürsorge der Kinder bis ins Kleinkindalter zuständig ist. Da ihr zwei diese althergebrachte Rollenverteilung nicht einhalten wolltet - was ich sehr hoch anrechne - ist es an mir, dir deine Möglichkeiten zu zeigen, wie du trotz beruflicher Beanspruchung mit eurer Tochter zurechtkommen kannst, daß ihr alle drei was davon habt." Julius nickte. So ließ er sich in den nächsten zehn Minuten noch darüber informieren, wie er seinen Tagesrhythmus nutzen konnte, um Millie bei der Pflege der gemeinsamen Tochter zu helfen und wurde dafür gelobt, daß er Millie auch bei den Stillzeiten half, indem er Aurore hielt und damit ihre Arme entlastete. Sie riet ihm noch, Aurore dann, wenn sie gerade satt und wach war, zu kleineren Spaziergängen durch Millemerveilles mitzunehmen und sie dadurch mit sich vertraut zu machen. Demnächst würde es wohl auch schon mit den ersten Zähnen losgehen, was für sie drei sicher eine anstrengende Zeit sein mochte. Als Julius die ganzen Vorschläge und Empfehlungen gehört und sich dafür bedankt hatte durfte er das Behandlungszimmer wieder verlassen. Sein letzter Blick fiel auf das Behandlungsbett. Einen Moment lang durchströmte ihn eine Welle der Leidenschaft. Béatrice sah ihm das an und mentiloquierte:
"Na, laß Millie nicht spüren, daß du in diesem Zimmer sehr innige Erlebnisse hattest!" Julius errötete an den Ohren. Seine Schwiegertante lachte und knuddelte ihn kurz.
Und, hat sie dir gesagt, daß du dich nicht mehr von fliegenden Besen runterwerfen und mit bösen, beißenden Geistern aus dem Morgenland kämpfen darfst, wenn sie noch einen Neffen von dir betüddeln will?" fragte Millie ihren Mann, als er mit ihr alleine ins Apfelhaus zurückgekehrt war, um den Lotsenstein zu holen.
"Sowas in der Richtung, Millie. Sie meinte, wenn du ihr die Erlaubnis dazu geben würdest, sollte ich bei ihr genug von mir auslagern, um das Versprechen, daß ich dir und indirekt auch Oma Line gegeben hätte, auch dann noch erfüllen zu können, wenn ich von einem mir fies kommenden Zauberwesen aus der Welt geschafft würde."
"Kann ich mir vorstellen, daß sie das heißmachen würde, dir beim auslagern zu helfen", grummelte Millie. Damit hatte Julius erreicht was er wollte. Millie fragte nicht danach, ob ihre Tante ihn nach dem Grund gefragt hatte, warum Millie sich freiwillig für mehr als zwei Stunden von Aurore trennte.
"Sollen wir Temmie mitnehmen?" wollte Julius von seiner Frau wissen. Diese überlegte und schüttelte den Kopf. "Wenn wir nur in diese eine Festung am See reinmüssen brauchen wir sie ja nicht als Flughilfe", sagte Millie.
So verließen die beiden jungen Eheleute ihr orangerotes Apfelhaus auf ihrem Familienbesen, nur ohne den kleinen Babytragekorb. Außerhalb der magischen Glocke Sardonias landeten sie. Seit an seit apparierten sie dort, wo der Zugang zu den alten Straßen lag. Julius hatte hierzu den Lotsenstein mit "Daimirin", also zwei Leben, aktiviert. "Ich hoffe, dir gefällt die Reise, Mamille. Das ist schließlich das erste mal, daß du auf den alten Straßen reist", sagte Julius, als sie an dem Punkt waren, von dem aus sie die magischen Verkehrswege aus grauer Vorzeit betreten konnten. Millie grinste und sagte, daß wenn Camille, ja auch Catherine und ihre Mutter das überstehen konnten, sie das erst recht könne. Derart bestärkt rief Julius die entscheidende Reiseformel für die Festung von Feuer und Licht aus: "Daimirin Panyandartaskeratis!"
Millie ertrug die rasante Fahrt durch den rot-silbern-blauen Lichttunnel mit sichtlicher Gelassenheit. Sie wußte ja schon, daß es auf den Straßen selbst nichts wirklich aufregendes zu sehen gab. Nur an den Zugangspunkten, die im natürlichen Raum-Zeit-Gefüge lagen, warteten die Aufregungen oder interessanten Neuigkeiten. Als der goldene Lichtzylinder dann um sie herum im Boden verschwand und nur noch für einen winzigen Augenblick als golden strahlende Plattform zu erkennen war fühlten sie beide, daß sie mal eben mehrere tausend Höhenmeter nach oben gelangt waren. Millie mußte tief einatmen, um genug Luft in ihre Lungen zu saugen. Julius' Weltzeituhr stellte sich mit einem fühlbaren Ruck auf die hier geltende Ortszeit ein, die sechs Stunden hinter der in Mitteleuropa zurücklag. Hier war die Sonne noch nicht aufgegangen, und der südliche Sternenhimmel wölbte sich über den beiden Reisenden. Die Kälte des Hochgebirges drang durch ihre Kleidung und legte sich wie die Hände von Geistern auf ihre Gesichter.
"Schön kalt hier. Hätte mir doch das Unterzeug gleichwarm zaubern sollen", fröstelte Millie. Julius nickte. Da hätten sie echt dran denken können. Doch jetzt wollten sie keine Zeit verlieren. Sie saßen auf ihrem Besen auf und hoben ab. Der längere Besenstiel erzitterte, als sie damit zwei Dutzend Meter aufgestiegen waren. Offenbar bekam ihm die Höhenluft nicht so gut. Immerhin waren sie über dreitausend Meter über dem Meeresspiegel.
"Oha, bis viertausend Meter zuverlässig, heißt es", bibberte Millie, als sie mit ihrem Besen über das nächtliche Hochland an der Grenze zwischen Peru und Bolivien dahinflogen.
"Davorne ist der Zugang. Das ist ein Teleportal im Felsen", sagte Julius und steuerte das düster drohende Felsmassiv an, daß er bei seiner ersten Reise im Tageslicht gesehen hatte. Er suchte und fand die ihm vertraute Ausprägung im Felsen und landete. Auch er fühlte die Kälte in den Gliedern. Vielleicht sollten sie nachdem sie das Kleid abgeholt hatten erst ihre eigenen Sachen gleichwarm zaubern. Doch zunächst wollte Julius das Teleportal aufsperren. Er rief mit sichtlicher Anstrengung die Formel, die er von Kailishaia gelernt hatte. Sie bestand aus fünf Worten. Als er das letzte Wort ausgestoßen hatte, schossen zwei sonnengelbe Lichtsäulen parallel zueinander empor. Jetzt, in der Nacht, überstrahlte ihr Licht eine sehr große Fläche. Julius dachte schon daran, daß das auffallen mochte. Doch im Moment war außer ihnen beiden wohl niemand hier. Die Lichtsäulen bildeten zwanzig Meter über dem Boden einen Torbogen. Die kantige Felsoberfläche verschwamm in einem flimmernden Nebel, durch den sie eine im blauen Licht liegende Halle erkannten. Da Millie mit Teleportalen vertraut war durchschritt sie mit Julius das heraufbeschworene Tor ohne jeden Arg. Dabei fühlten sie und ihr Mann sich so, als würde in ihrem Inneren etwas einmal hin und wieder zurückgedreht. Warum das so war wußte Millie nicht. Denn bei den ihr bekannten Reisetoren hatte sie keinen inneren Einfluß verspürt, sondern mal eben mit einem Schritt eine größere Entfernung übersprungen. In der Halle leuchtete das magische Tor Himmelblau. Seinen Widerschein hatten sie also gesehen. Doch kaum waren sie zwei Schritte vom Tor entfernt, löste dieses sich auf. Julius konnte nur noch für einen Sekundenbruchteil die sonnengelb erhellte Gegend vor der Felswand sehen, in die er das Tor hineingerufen hatte, dann war das magische Tor verschwunden. Die Halle wurde dadurch doppelt so groß. Unzählige sonnenhelle Lichter glommen an der fünfzig Meter über ihnen ausgedehnten Decke auf.
"Oha, ohne tragende Säulen so eine Halle zu bauen ist ja schon echt mutig", grummelte Millie, nachdem sie es genossen hatte, daß der Luftdruck in dieser Halle ihrem gewohnten Höhenwert entsprach. Ihre Stimme hallte leise wider. Millie blickte ihren Mann an und fragte ihn, wie groß die Halle sei. Er erwähnte, daß sie wohl an die fünfhundert Meter lang, dreihundert Meter breit und eben fünfzig Meter hoch war, hoch genug, um auf einer Latierre-Kuh oder einem Besen ohne gegen die Decke zu stoßen fliegen zu können. Was die Ausmaße der Halle anging mußte er seiner Frau zustimmen. Warum auch die auf Supergrößen erpichten Baumeister des alten Reiches solche Bauwerke brauchten, sie waren wortwörtlich für die Ewigkeit gebaut. Wie sie das hinbekamen, riesige Hallen, Häuser und Türme der Schwerkraft trotzen zu lassen wußte er nicht. Womöglich hätte er dafür bei Agolar in die Lehre der Erdmeister gehen müssen, um das Geheimnis zu erfahren. Zumindest war er sich sicher, daß die Erdelementarmagier diese Riesenbauwerke möglich machten.
Im flächendeckenden Schein der vielen kleinen Deckenlichter, der keinen Schattenwurf zuließ, flogen die beiden Eheleute auf ihrem Besen dahin. Diesmal fühlten sie keine Belastungsvibrationen im Besenstiel. Am Ende der gewaltigen Halle, in die der Palast von Beauxbatons und ein Teil der umliegenden Parks mühelos unterkommen mochte, öffnete sich bereits eine Tür in der Wand. Julius, der den Besen lenkte, landete ohne weitere Ankündigung.
In der Tür stand eine Frauengestalt, deren freien Körperpartien wie pures Gold glänzten. Sie trug ein blutrotes Gewand, das Zeichen für die Verbundenheit mit den vier magischen Elementarkräften von Feuer, Wasser, Wind und Erde. Das war die Dienerin Amatira. Sie blickte die beiden Besucher aus großen, wie kleine Kristallkugeln glänzenden Augen an. Dann sprach sie die beiden in akzentfreiem Französisch an.
"Ich grüße den Träger des Siegels Darxandrias und seine Begleiterin! Ich bin Amatira, die Hüterin dieser Festung und Wohnstatt von Feuer und Licht."
"Hast du uns erwartet?" fragte Julius mit einer dumpfen Vorahnung.
"Seitdem du mit der Trägerin eines mächtigen Erbes des Lichtes, der in jener milch Gebenden Tiergestalt wiedererwachten Königin und der dunkelhaarigen Lehrmeisterin von dir bei mir warst war ich darauf vorbereitet, daß du eines Tages mit einer dir gut vertrauten Trägerin der Kraft zurückkehren würdest, sobald sie das erste neue Leben in die Welt trug. Ist sie die Gefährtin, die dein erstes Kind gebar?"
"Ja, das ist sie", sagte Julius. Millie wollte schon einwenden, daß sie nicht nur eine Gefährtin für das erste Kind bleiben wollte. Doch Julius fühlte es über die Herzanhängerverbindung und bedeutete ihr mit einer Geste, ganz ruhig zu bleiben. "Darf ich sie berühren, um zu erfahren, ob sie wahrhaftig schon ein Leben trug?" fragte Amatira. Julius sah Millie und dann wieder die goldene Dienerin an und erwiderte, daß Amatira Millie selbst fragen müsse. So geschah es auch. Millie ließ es zu, daß Amatira sie von Kopf bis zu den Füßen mit ihren Goldhänden abtastete. Als sie ihr über Bauch und Becken strich zuckte Millie wie unter einem leichten Stromstoß zusammen. Doch ihr Gesicht strahlte Behagen und Erleichterung aus. Als Amatira sich wieder aufrichtete sagte sie: "Wahrlich, in dir wuchs neues Leben und gelangte stark genug auf unsere Welt. Außerdem fühlte ich große körperliche und übergeordnete Kraftströme in dir schwingen. Wie darf ich dir und deinem Gefährten zu Diensten sein?"
"Ich möchte dich darum bitten, mir das Kleid der Meisterin Kailishaia zu überlassen", sagte Millie. amatira nickte Millie zu und erwiderte darauf, daß sie durchaus berechtigt sei, dieses Kleid zu empfangen. Doch hierzu müsse sie den Wunsch danach in der erhabenen alten Sprache wiederholen. Da Julius seiner Frau die entsprechenden Worte vorgesprochen hatte, bis sie sie fehlerfrei nachsprechen konnte, konnte Millie sie hier und jetzt ohne jede Hemmung aussprechen. Amatiras Augen ruckten kurz von links nach rechts und zurück, als habe sie einen blitzschnellen Ballwechsel beim Tennis verfolgen müssen. Dann antwortete die metallische Dienerin mit ihrer glockenhellen Stimme:
"Die Fürsprache der Meisterin Kailishaia ist fehlerfrei erklungen und ihre Forderung an mich, ihrem Wunsch zu entsprechen ebenso. So kennst du sicher auch die Antwort auf die Frage, die ich dir noch stellen muß, um zu bestätigen, daß sie dir ihr Kleid überlassen möchte." Danach sprach sie mehrere Worte in der alten Sprache. Daß es eine Frage war konnten Millie und Julius auch ohne Kenntnis der gesamten Sprache heraushören. Doch Millie konnte nichts verstehen. Auch Julius verstand die Frage nicht. Er gedankenfragte Millie, ob er Temmie als Übersetzerin fragen sollte. Millie lehnte es ab.
"Was bringt es mir, eine Frage zu verstehen, wenn ich die Antwort nicht kenne, Monju? Oder hat dir diese Feuermeisterin diese Frage für mich beantwortet?" Julius mußte eingestehen, daß Kailishaia ihm nichts dergleichen mitgegeben hatte. Das sagte Millie dann laut, daß sie die Frage nicht verstehen und deshalb auch nicht beantworten könne. Darauf erwiderte Amatira:
"So fehlt mir bedauerlicherweise die letzte Bestätigung, daß ich dir, Gefährtin des Siegelträgers, das Kleid des schlafenden Feuers übergeben darf."
"Kann mein Gefährte Kalishaia noch mal fragen, ob sie ihm die Frage erklären kann?" wollte Millie mit sichtlicher Verstimmtheit wissen.
"Nein, er kann es nicht. Denn die Frage und die Antwort sind nur für dem Feuer geweihte Meisterinnen der Kraft bestimmt und darf daher nur zwischen Lehrerin und Lernwilligen besprochen werden. Nur wenn ich weiß, daß Kailishaia dich zu ihrer Schülerin erwählt hat, und du meine Frage verstehen und beantworten kannst, darf ich dir ihr Erbe übergeben. Ansonsten steht es dir und deinem Gefährten frei, meine Dienste und die Annehmlichkeiten dieser Festung zu genießen."
"Will sagen, ich müßte selbst zu dieser Kailishaia hin?" fragte Millie. Julius wies sie leise aber doch bestimmt darauf hin, daß Amatira Kailishaia als eine ihrer hohen Herrinnen ansah und sicher mehr Respekt für sie erwartete. Tatsächlich reagierte die goldene Dienerin erst auf Millies Worte, als diese fragte: "Ist es mir gestattet, die Meisterin Kailishaia selbst zu fragen, ob sie mir die Frage und die Antwort mitteilt, die dir erlauben, mir ihr Erbe zu übergeben?"
"ja, wenn du sie selbst aufsuchen und befragen kannst und wenn sie befindet, daß du würdig und fähig bist, ihr Erbe anzutreten, im stofflichen wie gedanklichen, so wird sie dir die von mir gestellte Frage erläutern und dir die einzig gültige Antwort verraten, die du mir mitteilen mußt, um mir zu bestätigen, daß ich dir ihr Kleid des schlafenden Feuers und den Reif Faiyandrias übergeben darf. Eine Voraussetzung, um Faiyandrias Dienste zu erlangen hast du erfüllt, mindestens ein neues Leben in diese unsere Welt zu bringen. Wenn du auch die geistige Bedingung erfüllst, so kann ich dir das Erbe übergeben. Doch du mußt Frage und Antwort in nur einem halben Tageslauf ab dem Moment, wo ich dich zum ersten mal fragte, erfahren und mich darum bitten, die Frage zu wiederholen. Erhalte ich dann nicht die richtige Antwort, so muß das Kleid des schlafenden Feuers in dieser Festung verborgen bleiben, bis eine andere Trägerin der Kraft kommt, die bereits neues Leben trug und von Kailishaia die erhabene Gunst erfuhr, ihr Erbe antreten zu dürfen."
"Also nur ein Versuch", grummelte Millie. Julius nickte. Damit hatte er jetzt auch nicht gerechnet. Aber nach dem Erlebnis in Skyllians fast erwachtem Ungeheuer fragte er sich eh, ob ihm die Altmeister wirklich alles verrieten, was ihnen durch den Sinn ging und ob sie nicht irgendwelche Hintergedanken hatten. Dann kam ihm eine Idee:
"Einen halben Tag Zeit haben wir. Dann möchte ich mit meiner Gefährtin in unsere Heimat zurückreisen und es ihr überlassen, ob sie wirklich das Erbe Kailishaias antritt." Millie glubschte ihn erst an. Doch dann nickte sie. Amatira gewährte es. Julius blickte auf seine Uhr und rechnete schnell im Kopf um, um wie viel Uhr mitteleuropäischer Zeit er wieder hier sein müsse. Danach verließen Millie und er die Festung durch die Halle und das von dieser Seite aus blaue Tor wieder.
"Mann, das hätte die alte Feuerbändigerin dir aber gerne sagen können, daß ich noch so'ne Frage beantworten muß, Monju", grummelte Millie, als sie auf ihrem Besen wieder über das Hochland südöstlich des Titicacasees dahinflogen.
"Ich fühl mich ehrlich gesagt auch verarscht, Mamille", gestand Julius ein. "Außerdem weiß ich nicht, ob du das echt wollen möchtest. Denn so wie ich Amatira verstanden habe geht's nicht nur darum, eine Frage zu beantworten, sondern ob du bereit bist, zu den Feuermagiern des alten Reiches zu gehören, also deren Sachen und Ideen zu lernen."
"Will sagen, Monju, im Gegensatz zu dir darf ich mich wenigstens entscheiden, ob ich mir von Leuten aus dem alten Reich irgendwelche Sachen aufladen lasse oder nicht?" fragte Millie schnippisch. Julius mußte das zu seinem eigenen Verdruß bejahen. Er war wirklich nicht gefragt worden. Andererseits hatte er sich ja auch aus freien Stücken entschieden, in Slytherins grauenvolle Bildergalerie einzudringen und dabei die Haube Darxandrias zu tragen. Das hätte er doch auch ablehnen können, wo er diesen Kopfschmuck doch überhaupt nicht kannte. Auch die Reise zu den Morgensternbrüdern hätte er ablehnen können. Insofern hatte er schon frei entscheiden dürfen, ob er sich auf eine heftige Sache einlassen wollte oder nicht. Das sagte er auch seiner Frau.
"Gut, ich möchte mit dieser Kailishaia reden. Wenn mir nicht gefällt, was sie mir abverlangt, verzichte ich auf das Kleid. Mit Feurschutzumhängen kann ich auch zu Drachen und Feuerlöwen hin. Aber wer oder was ist Faiyandria?" Julius erinnerte sich und sie an den goldenen Drachen, den er in der gerade verlassenen Festung gesehen hatte. "Ui, und dieses Metallmonstrum dürfte ich dann rumkommandieren?" fragte sie. Julius bejahte es. "Die Biester sind nicht ohne, hast du mir erzählt und mich das auch aus dem Denkarium mitkriegen lassen." Julius bestätigte das. "Wie gesagt werde ich mir anhören, was diese Kailishaia fordert und anbietet. Aber wenn wir in diese Stadt fliegen kommen uns sicher wieder diese Biester quer, die dich beim ersten Mal so beharkt haben, oder?" Julius konnte das nur bestätigen. Dann erwähnte er, daß er, wenn er schon nach Khalakatan reisen müsse, um Millie zu Kailishaia zu bringen, auch gerne Camilles Wunsch erfüllen wolle. Außerdem wollte er jetzt doch mit Temmie losziehen. Dagegen hatte Millie nichts.
Wieder zurück in Millemerveilles mentiloquierte Julius mit Camille. Diese mußte erst überlegen, ob sie Chloé für mehr als sieben Stunden bei jemanden anderen lassen konnte und vermeldete dann, daß Chloé zu ihrer ganz großen Schwester gehen dürfe. Fünf Minuten Später war auch Barbara Latierre darüber informiert, daß Julius mit Millie und Camille einen Ausflug über die ominösen alten Straßen machen wolle, da Camille sich nun auch für die alte Stadt interessiere und Millie wissen wolle, in welche der drei Magierklassen sie von den dort überdauernden Altmeistern eingeteilt würde.
"Und die kleine ist bei Trice?" fragte Barbara Latierre. Millie und Julius bestätigten es. "Gut, wenn Camille und Temmie mit euch zweien mitkommen habe ich zumindest die Gewißheit, daß ihr beiden auch wieder zurückkehren könnt und Trice nicht meint, die Kleine als ihre Ziehtochter zu behalten.
"Das wäre dann wohl eher Tines Sache, weil sie die offizielle Patin ist", sagte Millie mißmutig.
"Wobei eine Patin auch eine Amme erwählen kann, die ihr Patenkind über die ersten Jahre bringen kann, wie du sicher weißt, Millie. außerdem möchte deine große Schwester sich sicherlich nicht mit einem Säugling belasten, der ihren gerade so sicher geangelten Bräutigam vom Haken springen lassen könnte."
"Wenn die dem sagt, daß ihre eigenen Töchter wie die kleine Aurore aussehen würden würde er die gleich am selben Tag heiraten, um so schnell wie möglich mit ihr eine eigene Tochter hinzukriegen", erwiderte Millie. Ihre Tante erkannte, daß sie wohl gerade ein Eigentor geschossen hatte und erwiderte:
"In Ordnung, Mildrid, ihr könnt mit Temmie losziehen. Die hat ja noch weniger Probleme damit, ihr Kind bei wem anderen mittrinken zu lassen." Dann holte sie einen viersitzigen Aufsatz für Temmies Rücken. "Und du teilst mir irgendwann mal mit, woher du einen Pokal der Verbundenheit hast, mein werter Schwiegerneffe", klang Barbaras Gedankenstimme in Julius' Kopf. Dieser hielt es für klüger, im Moment keine Antwort darauf zu geben. Daß sie ihn irgendwie erwischt hatte, daß er mit Temmie noch besser kommunizieren konnte, sollte ihm erst einmal reichen.
Camille grüßte Temmie, als sei sie keine riesenhafte Kuh, sondern eine respektable Hexe, die Camille lange nicht mehr gesprochen hatte. In gewisser Weise hatte Camille damit ja auch recht. Temmie trug wieder das Cogison, damit auch Camille sie ohne anstrengendes Gedankensprechen verstehen konnte.
"So trage ich euch jetzt nach Khalakatan, damit ihr beiden dort erfahrt, wie ihr Julius noch besser beistehen könnt", klang es leicht quäkig aus dem übergroßen rosaroten Balg um Temmies Hals. Camille und Millie bestätigten es. Dann verschwand Temmie mit den drei auf ihrem Rücken sitzenden ohne losfliegen zu müssen.
"Ui, da muß ich mich wirklich dran gewöhnen, daß die das jetzt kann", stöhnte Camille, als sie punktgenau auf der im Boden versteckten Ausgangsplattform in den Pyrenäen apparierten.
"Ich übe mich jeden Tag in dieser wichtigen Kunst, meine Nachfahrin", cogisonierte Artemis vom grünen Rain. "Julius, machst du bitte den Zugang für vier Lebendige auf?"
"Aber sicher doch", erwiderte Julius und rief die Reiseformel für Khalakatan auf.
Camille staunte über das gewaltige Tor, unter dem sie nach der rasanten Fahrt durch den magischen Tunnel herauskamen. Ähnlich wie Catherine fragte sie, ob es wirklich immer nötig war, eigene machtansprüche durch riesenhafte Bauwerke darzustellen. "Ich empfinde einen alten Baum, der so hoch aufgewachsen ist wesentlich erhabener als ein derartiges Tor", bekräftigte sie. Temmie erwiderte darauf, daß es irgendwann nicht mehr gereicht habe, die ererbten Kräfte als Zeichen für eigene Größe anzusehen und daß es ihr Volk eine Zeit lang besser verbunden hatte, etwas gemeinsames für mehrere Folgegeschlechter erschaffen zu dürfen und in Ehren zu halten. Daß es am Ende doch zu einem zerstörerischen Krieg gekommen sei habe damals niemand wirklich haben wollen.
"Weil keine Seite das Gleichgewicht der Natur geachtet hat", vermutete Camille. Temmie erwiderte dazu nur, daß sie diese Frage sicher besser beantworten könne, wenn sie von den Altmeistern als Zutrittsberechtigt erkannt würde. Darauf konnte Camille nichts sagen.
Mit gemeinsamer Anstrengung bauten die vier eine rosarote Schutzblase um Temmies Körper auf, wobei Camille ihr silbernes Pentagramm als Schutzkraftverstärker benutzte. Julius trug seine Goldblütenhonigphiole bei sich. Er war fasziniert, daß diese in der Nähe des Heilssterns goldgelb erstrahlte und wohlig warm in der Hand lag. Jedenfalls konnten sie damit alle sie bestürmenden Stadtwächter passieren. Gegen die flügellos durch die Luft brummenden Riesenkugeln der Myriaklopen schützte der mit der Kraft Ashtarias aufgeladene Amniosphaerazauber auch ohne den Novalunux-Zauber, mit dem Catherine diese Ungetüme in nachtschwarze Energieblasen eingeschlossen hatte.
So war der Flug zum himmelhohen, mehrere Stadien umfassenden Turm, der wie übereinander liegende Ringe beschaffen war, ein fast gemütlicher Spazierflug. Da Temmie mit der ihr möglichen Höchstgeschwindigkeit flog, kamen sie nach nur wenigen Minuten bei dem Turm des Wissens an. Julius lehnte sich zur Seite und legte Kopf und Lotsenstein an den Turm, ohne von Temmies Rücken abzusteigen. Es gelang auch so. Alle vier wurden durch den Einlaßzauber des Turmes hinübergezogen und auf dem Podest mit den 144 Stufen abgesetzt. Camille hatte ja schon erwähnt, was sie von übergroßen Bauten hielt und kannte ja auch die Halle jener Festung, in der Millie und Julius vor gerade einer halben Stunde gewesen waren. Daher verlor sie über die imposanten Ausmaße der Halle kein weiteres Wort. Temmie trug sie alle mit ausgebreiteten Flügeln vom Podest zum Boden hinunter. Sie stieß sich einfach ab und wirkte ihren eigenen Körpererleichterungszauber, der auch ihre Reiter federleicht werden ließ. Kaum waren sie gelandet klapten jene im Podest verborgenen Türen auf, und mehrere goldene Krieger und Dienerinnen rückten aus und umringten die vier. Da Camille und Millie noch nie hiergewesen waren wurden sie von dem Oberkommandanten aller hier einquartierten Metallmenschen abgetastet. Als der Träger des Speichenradsymbols Camille abtastete rollten Seine augen wild herum. Camilles Heilsstern flimmerte leicht bläulich. Bei Millie fand er die Herzanhängerverbindung mit ihrem Mann Julius interessant. Dann gab er einen Befehl mit seiner wie eine Tuba klingenden Stimme. Die in mitternachtsblauer Kleidung steckenden Golddiener rückten im Laufschritt in ihre Aufbewahrungsräume ab, während von den Sonnengelben mehr zurückblieben aber auch zwei Krieger mit blutroten Kennzeichen und Dienerinnen in roten Gewändern. Der Oberkommandant kehrte zu den anderen, gerade nicht benötigten Truppen zurück.
"Der vertrauten des Siegelträgers und der Erbin Ashtarias ist der Zutritt zur Halle der Altmeister gestattet. Ebenso ist der Siegelträger selbst eingeladen, ihm noch im inneren bewegende Fragen zu klären. Doch seien sie drei darauf hingewiesen, daß sie nicht alle zu gleich bei einem einzigen Altmeister stehen dürfen", verkündete einer der Sonnengelben Krieger. Julius wußte, was gemeint war. Wer durch die Halle der Altmeister wollte, mußte erst bei Garoshan, dem Hüter des Eingangs, vorsprechen und den Flugzauber erlernen, um aus eigener Kraft durch die kugelrunde Halle zu reisen. Da sie nicht viel Zeit hatten waren sie einverstanden, daß Millie zuerst zu Garoshan ging. Eine halbe Stunde später wollte dann Camille diesen besonderen Altmeister aufsuchen. Julius wollte mit ihr zusammen hineingehen.
"Ich bleibe dann wieder hier", cogisonierte Temmie. "Die passen hier gut auf mich auf."
Während der rasenden Fahrt im gläsernen Transportkorb staunte Camille über die in diesem Turm gehegten Lebensräume. Sie erwähnte, daß sie all zu gerne in die Anpflanzungen hineingehen und diese studieren wolle. Julius deutete an, daß ihr das vielleicht erlaubt werden könnte, wo die Altmeister sicher erfuhren, daß sie sich mit Zauberpflanzen auskannte. Ihr zu sagen, daß sie Camille schon in- und auswendig kannten, noch ehe sie überhaupt gedacht hatte, hier einmal herzukommen, traute er sich dann doch nicht. Er ging sogar davon aus, daß die Altmeister alle Linien Ashtarias unter Beobachtung gehalten hatten und somit alles wußten, wovon ihm Aurélie Odin nur einen kleinen Teil in ihren aufbewahrten Erinnerungen nachzuerleben erlaubt hatte.
"Ui, die sind das?" fragte Millie, als sie durch die Halle der goldenen Drachen rasten. "Wirklich große Brocken. Könnten manche in Millemerveilles voll eifersüchtig werden, wenn ich so'n Kaventsmann von Drachen befehligen könnte."
"Nicht nur in Millemerveilles", erwiderte Julius. Er dachte an Babette und Kevin. Babette hatte mit sechs Jahren schon einen eigenen Drachen haben wollen. Und Kevin hätte beim in Hogwarts veranstalteten Turnier sicher auch gerne ein Drachenei abgestaubt, wenn die nicht zu gut bewacht worden wären.
Endlich waren sie an der unteren Seite der kugelförmigen Halle der Altmeister angekommen. Millie ließ sich von zwei in blutroten Gewändern steckenden Goldmädchen zur Treppe führen, die in den nebelartigen Übergang hinaufführte. "Viel Glück!" wünschte Julius seiner Frau. Diese bedankte sich und stieg ohne jede Scheu die Treppe hinauf. Julius sah nun, wie sie im Nebel erst zu einer vergrößerten Erscheinung verschwamm und dann übergangslos verschwand.
"Hat Temmie recht, daß Millie ein Angebot bekommen hat, wie sie dich noch besser unterstützen kann, Julius?" fragte Camille. Julius bejahte es. Da Camille ja die für alle anderen geheime Reise in den Norden mitbekommen hatte brauchte sie auch nicht groß nachzufragen, welcher der Altmeister oder welche Altmeisterin Millie angeboten hatte, sich ihm oder ihr anzuvertrauen. Daß sie, Camille, sich neben den vier alten Zaubern auch für eine weiterführende Unterweisung in die Kenntnisse Aiondaras interessierte erwähnte sie Julius gegenüber nicht.
Die halbe Stunde bis zum vereinbarten Eintritt sprachen Camille und Julius über seine Erlebnisse im Ministerium, wobei beide nicht über die vertraulichen oder geheimen Sachen sprachen, die Julius erlebt hatte. "Ich hoffe nur, dieses alte Erbe gibt dir noch genug Gelegenheit, ein ganz normales Leben zu führen, nicht immer in Alarmstimmung zu sein, daß irgendwas aus dem alten Reich die Welt heimsucht oder anderswie auf den Kopf stellt. Wir haben dich nicht bei uns in Millemerveilles aufgenommen, damit du dich von längst zu Staub zerfallenen Erzmagiern herumschupsen und verheizen läßt. Das mußt du bitte bei allem bedenken, was irgendwer von denen meint, dir abverlangen zu müssen, einschließlich der großen weißen Dame da unten im Turm."
"Ich weiß, du machst dir immer noch sorgen darum, daß ich kein ruhiges Leben führen darf, Camille. Leider hast du ja nicht ganz unrecht. Ich weiß auch, daß du mir das nachempfinden kannst, wo deine Mutter dir so früh ihren Silberstern überlassen mußte."
"Ich habe meine Mutter immer geliebt. Das weiß sie. Aber ich konnte nicht immer verstehen, was sie umtrieb, warum sie dieses oder jenes für wichtig oder unbedingt zu erledigen ansah. Ich kann es auch nur als letzten Willen einer ihren Tod vor Augen sehenden respektieren, daß sie dir und nicht Emil oder mir diese alten Erinnerungen und diesen Pokal der Verbundenheit vermacht hat. Aber was Emil angeht mußte ich ja dieses Jahr lernen, daß ich ihn wohl doch nicht so gut kannte, wie ich viele Jahre geglaubt habe. Kann sein, daß meine Mutter ihm den Pokal auch nicht überlassen hätte. Ob ich die Tochter wurde, die sie gerne haben wollte, nachdem sie ihre ganzen draufgängerischen Vorfahren kennengelernt hatte, weiß ich auch nicht. Zumindest verstehe ich jetzt, was sie an Jeannes Wildheit und Claires Kunstverstand so sehr geliebt hat. Immerhin habe ich ja einen für sie beruhigend harmlosen Lebensweg eingeschlagen. Aber wenn sie echt meinte, mich auf die ganze Last vorbereiten zu müssen, die an diesem kleinen Schmuckstück hier dranhängt", wobei sie auf den Silberstern an der Halskette deutete, "hatten wir wohl ein bißchen zu wenig Zeit. Überhaupt ein Grund, warum ich unbedingt mit dir herkommen wollte, um diese Wissenshüter zu besuchen. Ich hatte schon Angst, sie würden mich nicht zu sich vorlassen."
"Ich denke, sie sind genauso neugierig auf dich wie du auf sie", erwiderte Julius. "Jedenfalls kannst du hoffen, daß Ianshira dir die vier alten Zauber beibringt, die ich dir ja damals noch nicht beibringen durfte, weil die vom Gegenministerium es nötiger hatten."
"Das nehme ich dir nicht übel, Julius. Du kannst auch nicht allen auf einmal was neues beibringen, wo du erst mal selbst herauskriegen mußt, was du damit anfangen kannst."
"Danke für dein Verständnis", erwiderte Julius ehrlich ergriffen.
Endlich konnten die beiden auch in die Halle der Altmeister eintreten. Garoshan begrüßte erst Julius und dann Camille. Julius blickte sich um. Millie war bereits irgendwo weiter oben in der kugelrunden Halle unterwegs. Er sah sie frei durch die Halle fliegen. Offenbar suchte sie schon nach Kailishaia. Doch ob diese sich ihr so schnell zeigen würde war fraglich. Julius jedenfalls fragte Garoshan, ob Ianshira immer noch wütend auf ihn war. Der Hüter von Erde und Wind lachte und sagte:
"Wenn du wissen willst, ob du von ihr nichts neues mehr erlernen kannst, so weiß sie, daß du weißt, daß es genug andere meister des Lichtes in dieser Halle gibt, die dir wohl gerne noch etwas wie das Lied des inneren Friedens oder den Schleier des Guten beibringen wollen. Doch näheres dazu mußt du die betreffenden Meister schon selbst fragen. So reise nun durch unsere Halle des Wissens, während ich die jetzige Trägerin aus der Linie Daramiias darin unterweisen möchte, wie du durch die erhabene Halle zu fliegen." Julius nickte und wünschte Camille auf ihrer Wissenssuche viel Glück. Dann dachte er die fünf Auslöseworte für den Freiflugzauber und hob ab. Wen sollte er jetzt aufsuchen. Noch mal Kantoran? Vielleicht sollte er erst zu Agolar und ihn fragen, ob der es gewußt hatte, daß seine die Zeiten überdauernde Tochter es sofort spürte, wenn irgendwer irgendwo Erdzauber aus dem alten Reich aufrief? Vielleicht sollte er sich aber wirklich einem anderen Meister der hellen Künste anvertrauen, um noch ein paar nützliche Zauber zu lernen. Denn die Warnungen vor Iaxathan, sowie die Erinnerungskonserven über Kanoras und die Wertiger hatten ihm verraten, wie gefährlich manche Zauberwesen noch waren.
Während Millie bis zum oberen Pol der Kugelhalle flog, wo der Chronist und Rückschauhüter Kantoran sich aufhielt, kreiste Julius Breitengrad um breitengrad weiter nach oben. Er sah mitternachtsblau gekleidete Hexen und Zauberer aus den silbernen Leuchtsubstanzen hervortreten, die die Kristallzylinder ausfüllten. Er sah in blutroter Kleidung oder auch in unterschiedlich farbigen Gewändern steckende Altmeister. Diesen näherte er sich zunächst, um zu erkennen, ob sie ihm freundlich gesinnt waren. Er hörte ihre Namen und erfuhr, daß sie eigentlich zur Gruppe der Elementarzauberer gehörten. Als er an zwei Zylindern mit haargleich aussehenden, in Mitternachtsblauen Gewändern gekleideten Altmeisterinnen vorüberflog, riefen diese ihm zu: "Wenn du inneren Frieden suchst, Julius Erdengrund, tritt aus dem Licht heraus und erkenne deine ganze Macht an. Dann wirst du von uns neben Wissen auch Wonne erfahren und besser gegen Iaxathan, den Frauenhasser gewappnet sein, als wenn du dich an die Ideen dieser lieber eine Milchkuh sein wollenden klammerst", sprachen die offenkundigen Zwillingsschwestern im Chor
"Ja, wer seid ihr zwei denn?" entfuhr es Julius ohne jede Höflichkeitsbekundung.
"Wir sind Iaighedonna", sagte die eine "Und Kaliamadra" die andere. "Wir sind die Hüterinnen der Verborgenen Früchte und der grenzenlosen Hingabe", sagten dann beide im Chor.
"Nein danke, die Damen. Auf Mitternachtsschwestern kann ich gut verzichten."
"Dann irre weiter und verliere dich in ewiger Beschränktheit", schnarrten die mitternachtsblau gekleideten Zwillinge.
Julius flog rasch weiter, bevor diese beiden Altmeisterinnen ihm noch mehr hinterherrufen konnten. Da hörte er das laute Plärren eines Säuglings. Erst dachte er, er höre Aurore. Doch dann klang es eher so wie von einem neugeborenen Jungen. Als er sich umsah, wo es herkam entdeckte er einen mannshohen Zylinder, dessen silbernes Inneres etwas schwächer leuchtete, als sei es nicht so lichtstark oder so dicht wie in den meisten anderen Zylindern. Als er sich dem Zylinder näherte hörte er aus großer Ferne das hämische Lachen der beiden Zwillingsschwestern. Doch dann übertönte das fröhliche Glucksen und Brabbeln eines wohl gerade vier Monate alten Jungen die beiden. Julius näherte sich dem Zylinder und sah, wie die silberne Substanz sich in der Mitte verdichtete und den in einem regenbogenfarbigen Etwas wie ein Kokon mit Arm- und Beinlöchern steckenden Jungen mit einer den großen Kopf bergenden Hinterkopfkapuze freigab. Julius staunte. Daß ein Säugling zu den Altmeistern gehörte überraschte ihn vollkommen. Er war bis dahin davon ausgegangen, daß nur erwachsene, ja ein langes Leben vorweisende Hexen und Zauberer zu den Altmeistern gehörten. Das im Zylinder schwebende Baby besaß eine blaßrosa Hautfarbe, eine Stubsnase und himmelblaue, große Augen. Es winkte mit den kurzen, dicken Ärmchen und zerrte unbeholfen wirkend ein Etwas wie einen Vorläufer heutiger Schnuller hinter dem Rücken hervor. Das Utensil war jedoch aus Orichalk, dem sagenhaften Zaubermetall des alten Reiches. Mit einer langsamen aber doch geübt wirkenden Bewegung schob sich das kleine Wesen den Orichalkschnuller in den Mund und begann daran zu nuckeln. Dabei stülpte sich aus dem Etwas ein rundes, nach vorne offenes Gebilde wie der Schalltrichter einer Trompete. Unvermittelt hörte Julius die blechern klingende Stimme eines erwachsenen Mannes:
"Du hast zu mir hingewollt? Die Ianshira, die beim letzten mal so mit dir geschimpft hat hat aber gesagt, daß du wieder zu ihr hingehen kannst. Aber du willst ja, daß die Nachtochter Darxandrias und Aiondaras von der alles gezeigt und gesagt bekommt, was du schon gezeigt und gesagt bekommen hast, stimmt's?" Julius konnte nur nicken. Jetzt erst sah er, daß auf der den Hinterkopf sicher bergenden Kopfbedeckung fünf sonnengelbe Kreisflächen eingearbeitet waren. Dann quäkte das Ding, daß womöglich der Uraltvorläufer des Cogisons war: "Dann komm zu mir rein. Ich kann die ganzen inneren Sachen auch, die die groß und alt werdenden auch können!"
"Wer bist du denn?" fragte Julius, jetzt eher mit einem Kind als mit einem Erwachsenen sprechend.
"Ich bin der Madrashtargayan. Die zwei ganz fiesen Mitternachtstöchter, die meine Eltern mit böser Kraft so besungen haben, daß ich immer so klein bleiben sollte, haben mich auch ganz gemein Nunaisirian, den niegeborenen genannt. Aber dir das alles so zu sagen, daß du das ohne Angst oder gemeiner Freude verstehst würde länger dauern als die Zeit, die Amatira dir und der, die von dir schon eine groß werdende Tochter gekriegt hat gegeben hat. Also, willst du jetzt das Lied vom inneren Frieden und das Lied des guten Schleiers lernen, damit du nicht von bösen Kraftwesen fertiggemacht werden kannst oder willst du weiter suchen? Ich kenne die Lieder von denen hier allen aber am besten, sagt selbst die dritte Nachtochter meiner Mutterschwester, deren zweite Nachtochter Darxandria ist. Also, wie ist's?"
"Wie alt bist du denn?"
"Mit der Zeit in meiner Mutter zusammen sind das zehn mal zehn mal zehn Sonnen, wobei ich drei mal zehn mal zehn Sonnen in meiner Mutter geblieben bin, weil diese beiden Mitternachtsgleichschwestern was gesungen haben, daß mein Vater mich nie zu sehen kriegt, weil der keine von den beiden als Gefährtin haben wollte."
"Drei mal zehn mal zehn Sonnen, dreihundert Jahre?" fragte Julius nun sichtlich überwältigt. Madrashtargayan nickte. Dann ließ er über das Schnullersprechding noch einmal die Frage ertönen, ob Julius die beiden wichtigsten Zauber zum schutz von Geist und Leben lernen wollte. Er wollte, auch wenn ihm die Erscheinung dieses sonderbaren Babys etwas irritierte. Er berührte den Kristallzylinder und fühlte, wie er in eine warme Substanz hinüberglitt. Unvermittelt umgaben ihn die ihm durch verschiedene Versuche bekannten Umgebungsgeräusche aus der Welt der Ungeborenen. Er fühlte, wie er schwebte und fühlte das Pulsieren am Bauchnabel. Warmes, rotes Licht umgab ihn. Er konnte weiteratmen, wenngleich er meinte, eher zu trinken. Er wußte, daß dies hier auch ja nur eine Illusion war, etwas direkt in seinen Geist hineingewirktes, wie bei allen anderen Altmeistern.
"Keine Angst, solange sie in der Sonne liegt stört die uns nicht beim fest an was denken", hörte er nun die Stimme eines kleinen Jungen neben sich. "Du brauchst für das Lied vom inneren Frieden keinen Kraftausrichter in der Hand zu haben. Ich sing dir das Lied mal vor. Sing es leise nach. Denn wenn Mutter merkt, daß ich nicht alleine hier bin wird sie aufstehen und rumlaufen oder meinen, uns zwei in Schlaf zu singen. Das kann die so gut, daß hier schon mal wer eine halbe Sonne bei mir war, der was von mir lernen wollte und ziemlich erschrocken war, als er mal wieder wach wurde und dann wieder zu seinen Leuten zurückging. Also nicht laut singen!" Julius ergab sich der Umgebung und der befremdlichen Situation. Wenn er lernte, was er lernen sollte, dann war die Umgebung eher unwichtig.
Vom rhythmischen Pochen des mütterlichen Herzens und dem Konzert zweier schnell schlagender kleiner Herzen begleitet lernte Julius das Lied des inneren Friedens und erkannte, daß es mit dem Herzschlag als Taktgeber und den ruhigen Atemgeräuschen der simulierten Mutter genial gelernt werden konnte. Bald sang er es mit dem besonderen Altmeister im Duett, leise aber sicher und vor allem Fehlerfrei. Als sie es mindestens zwanzigmal gesungen hatten hörte Julius' die Kinderstimme sehr erfreut sagen:
"So, damit kannst du jetzt alles, was in deinen Geist reingreifen und dich damit fertigmachen will draußenhalten. Dafür kannst du aber keinem was tun, was in dem seinen oder in der ihren Geist reingreifen oder was herausziehen kann. Das innere Sprechen, wo ihr Jetztmenschen Mentiloquismus zu sagt, geht dann auch nur noch zwischen denen, von denen du abstammst, oder die ihre Lebenskraft über die Kraft in dich reingesteckt haben oder über eine Verstärkung der Zuneigung mit dir verbunden sind. kannst du das in dir behalten?"
"Du meinst, ob ich mich immer daran erinnern kann oder daß ich das keinem anderen sagen darf?" fragte Julius.
"Das zu erst gesagte und das zweite nur bei Leuten, die du nicht gut genug kennst, daß du denen gleich alles sagen kannst, was du so kannst oder weißt", erwiderte Madrashtargayan. Dann wurde Julius gefragt, ob er auch das Lied vom guten Schleier lernen wollte. Damit, so der zur ewigen Säuglingszeit verfluchte Altmeister, konnte sich jemand für böse Augen unsichtbar und für Suchzauber unauffindbar machen, solange er oder sie keinen Schritt vom Fleck tat. Darin lag aber auch schon der größte Nachteil: Wer nicht davonlaufen oder den kurzen Weg gehen durfte, war für körperliche Gewalt angreifbar, wenn auch nicht durch gezielte Angriffe, aber durch Sachen wie Steinschläge oder Fehlschüsse. Dennoch lernte Julius dieses Lied. Auch hier diente das simulierte Mutterherz als Taktgeber. Als Julius auch hier mindestens zwanzigmal die magischen Worte nachgesungen hatte, die er jedoch in seiner gewohnten Daseinsform nur mit einem Kraftausrichter in der Hand wirken konnte, fühlte Julius, daß er immer müder wurde. Das kannte er so eigentlich nicht. Denn in der Halle der Altmeister blieb jeder Besucher hellwach und ausdauernd, egal was er dort tat oder erlebte. Deshalb fragte er Madrashtargayan, wieso ihn das jetzt so müde machte.
"Weil wir zwei eben noch klein sind", sagte die Kinderstimme neben ihm. "Ich habe auch viele Tage verschlafen, als ich ohne geboren werden zu können im Kopf immer älter wurde. Liegt auch daran, daß meine Mutter, die gerade für dich mitlebt, auch gerade schläft."
"Du hast echt dreihundert Sonnen hier aushalten müssen. konnten sie dich nicht aus deiner Mutter herausschneiden?" wollte Julius wissen.
"Nein, ging nicht, weil Mutters Haut wegen dem bösen Wunsch der beiden Schwestern so unzerreißbar und unverbrennbar war, daß nichts mit oder ohne die Kraft durchgekommen ist. Aber ich habe mit ihr zusammen hingekriegt, daß mir das nicht langweilig wurde. Das im Geist sprechen habe ich gelernt, wo ich zwei Sonnen mit ihr zusammen war, und sie hat was gelernt, daß ich auch mal sehen konnte, was um Mutter herum so passiert ist und hat was gemacht, daß ich nicht nur ihren Körper hören konnte. So ging's ganz gut. Nur das nicht alleine rumlaufen und was anfassen und richtig stark mit Kraftausrichter machen können hat mir gefehlt."
"Ich weiß nicht, ob ich das aushalten würde", erwiderte Julius darauf.
"Nachdem Ashtaria dich getragen und aus sich wieder rausgelassen hat könntest du das auch. Du bist ein Daisirian, ein Zwiegeborener, und das von einer echt starken Lichtgeweihten, die das hingekriegt hat, zur Hüterin zwischen den Lebendigen und den für immer weggeschlafenen weiterzumachen."
"Zwiegeborener?" wunderte sich Julius.
"So heißen du und alle, die zweimal rrichtig aus einer Mutter rausgekommen sind, und das erste Leben dabei in sich behalten haben. Darxandria ist auch so eine, aber auch Agolars Tochter, die mit der zu einer geworden ist, die fast schon alleine zur Zwiegeborenen geworden ist, diese Anthelia."
"Aha, und weil Ashtaria mich als ihr eigenes Kind getragen und wiedergeboren hat könnte ich es auch dreihundert Jahre so aushalten wie du?"
"Ich wurde nicht gefragt, meine Mutter wurde nicht gefragt. Wir haben das einfach so gemacht", entgegnete die Stimme des kleinen Jungen, der angeblich tausend Jahre lang auf Säuglingsgröße geblieben war. Julius kam eine Frage in den Sinn. Er überlegte kurz, ob er sie stellen durfte oder es lieber lassen sollte. Doch dann gab er sich einen Ruck und stellte die Frage:
"Kommt es dann von dieser Sache mit Ashtaria, daß ich das mitkriege, wenn neue Kinder zur Welt kommen?"
"Wenn du gerade im Schlafleben bist? Ja, da kommt das her", bestätigte Madrashtargayan. "Du hast doch von Ianshira die großen Beschützerlieder gelernt. Die, denen du die gezeigt hast, sind deshalb mit dir verbunden worden. Und weil du vorher schon mit starker Lebenskraft einer dankbaren Mutter vollgemacht wurdest bist du auch mit der und der ihren Kindern verbunden. Ja, und Darxandria war ja auch mal in dir und wurde mit dir zusammen aus Ashtaria rausgelassen. Deshalb ist da ein Kreis entstanden, in dem du mit drinsteckst, weil Ashtaria eine ganz viel mal zehnte Nachtochter von ihr ist und Darxandria zur Tochter Ashtarias geworden ist." Julius mußte gähnen. Die Worte des außergewöhnlichen Altmeisters drangen über das dumpf pochende Herz und das regelmäßige Fauchen der Atemgeräusche seiner Mutter nur noch schwer hinweg. Er mußte sich zusammenreißen. Schlief er hier ein, kam er womöglich nicht mehr von hier weg. Dann würden Camille, Millie und Temmie in Khalakatan festsitzen. So fragte er schnell:
"Dann bekomme ich deshalb immer mit, wenn jemand, mit dem ich durch die alten Zauber oder die Lebenskraftzauber verbunden bin ein neues Kind bekommt?"
"Oder mit dem du über Ashtaria verwandt bist, wie Jeanne Dusoleil, die Tochter von Camille", sagte Madrashtargayan. Ein lautes Grummeln und Gluckern übertönte seine Gedankenstimme fast. "Oh, sie kriegt langsam Hunger. Wenn du noch was wissen willst frage schnell. Denn wenn Mutter wach wird merkt sie, daß du bei mir bist. Dann kann ich dich erst wieder rausgehen lassen, wenn sie neu einschläft", zischte Madrashtargayan.
"Ist da noch etwas, daß du mir unbedingt sagen möchtest?" fragte Julius, während es über ihm wieder vernehmlich grummelte.
"Nur eins, freu dich, wenn alle von dir kommenden Kinder groß werden können. Das ist echt nicht so klar, wie du bisher geglaubt hast. Oha, sie wird wach. Dann geh besser wieder zurück in die Halle und warte auf die, die mit dir zusammen unterwegs sind. Ach ja, noch was, laß dich auf nichts ein, was dich wieder klein macht, das jemand meint, dich erst in sich rumkullern zu können und dann in irgendwelches enge Zeug reinstopfen und wohin tragen kann, wo du nicht hinwillst!" Julius wollte gerade was erwidern, als er ein lautstarkes Geräusch hörte, daß er als Gähnen erkannte. Er fühlte, wie seine Umgebung in Bewegung geriet, und das bisher so warm und hell leuchtende Rotlicht nach rechts verwischte. "Oh, sie will aus der Sonne, waren ihr wohl doch zu laut", zischte Madrashtargayan. Dann stupste er Julius von rechts an. Er fiel, begleitet von einem lauten Schrei einer Frau aus dem Zylinder heraus. Beinahe stürzte er ab, so heftig war die Rückkehr in die Welt der Geborenen. Gerade so konnte er sich noch mit dem Flugzauber abfangen. Er hörte das erfreute Lachen des kleinen Jungen, der angeblich 300 Jahre ungeboren geblieben sein sollte.
Zumindest wußte Julius nun genauer bescheid, was seine merkwürdigen Träume anging. Also lag es an Ashtaria, die er aus dem Heilsstern Aurélies beschworen hatte, daß er die Geburten verschiedener Kinder im Traum miterlebt hatte, darunter die von Selene Hemlock, die durch die vier alten Zauber ja mit ihm verbunden war. Daisirin, Zwiegeborene, so hießen die also bei den Altaxarroin. Wenn er bedachte, daß er bereits fünf Wesen kannte, auf die dieser Begriff paßte: Temmie, Theia und Selene Hemlock, Larissa Swann und eben auch Anthelia/Naaneavargia. Er selbst gehörte wegen Ashtaria auch in diesen erlesenen Club. Falls Fridrich Dorfmann seine Erinnerung aus dem Leben als Hanno behalten hatte waren es sogar sieben Zwiegeborene. Schon heftig, so viele davon fast gleichzeitig auf der Welt herumlaufen zu wissen.
Julius sah, daß Camille bei Kantoran war. Zu dem Silberlicht der Halle mischte sich ein heller, goldener Schein, der eine regelrechte Aura um Camilles Körper bildete. Millie war wohl schon mit Kantoran fertig und umklammerte einen anderen Glaszylinder. Das konnte der von Kailishaia sein. Julius vermied es, an den beiden Mitternachtszwillingen vorbeizufliegen. Er flog, nun wieder ganz frisch und munter zu Agolars Zylinder hinüber. Der Altmeister der Erde zeigte sich ihm jedoch nicht. Als Julius den gläsernen Zylinder Agolars anfaßte war es, als erhielte er einen Stromstoß, der ihn zurückwarf. Das war eindeutig. Agolar, der Erdmagier und Vater Ailanorars und Naaneavargias, wollte nicht mit ihm in Kontakt treten. Da Camille noch bei Kantoran war suchte Julius Ianshira auf. Diese zeigte sich ihm. Sie lächelte ihn an.
"Du hast eine Tochter aus der Linie Daramirias zu uns geführt. Doch bevor sie zu mir gelassen wird wird sie noch bei einem anderen von uns vorsprechen wollen und müssen, Julius Erdengrund. Ich weiß, daß der Sohn der Muttersonne, auch als nie zu gebärender bezeichnet, dir die beiden wichtigen Lieder der Kraft beigebracht hat. Du hattest angst, du könntest wieder von mir gemaßregelt werden, richtig?"
"Ich wollte nur nicht, daß meine Begleiterin Camille nicht zu dir gelangen kann, Meisterin Ianshira", sagte Julius.
"Sie wird zu mir finden. In der Zeit kann ich dir das zeigen, was Darxandria dir in eurem Schlafleben zeigen wollte, aber durch die Erschütterungen des entwendeten Hammers in die falsche Richtung gedrängt wurde." Julius nahm das Angebot an und trat an den Zylinder heran. Als er ihn berührte stand er in einem hell erleuchteten Zimmer und erlebte Darxandrias Geburt aus zehn Metern Entfernung nach. Darauf folgte, von Ianshira kommentiert, eine in wohl zwei Stunden ablaufenden Rundumfilmsimulation erzählte Geschichte der Lichtkönigin, wie sie mit den acht anderen gegen Iaxathan ankämpfte, wie sie selbst Mutter wurde und wie sie ihre Kettenhaube schmiedete, in die sie immer wieder das Lied des inneren Friedens einwirkte. auf diese Weise prägte Julius es sich noch besser ein. Am Ende sah er, wie Darxandria mit aufgesetzter Kettenhaube in einem großen Bett lag und als uralte Frau, vierhundert Sonnen alt, ihre letzten Atemzüge tat. Kaum war ihr das Leben entwichen, glühte die Kettenhaube in einem goldenen und grünen Schein auf. Die bei der Sterbenden wachenden verharrten ehrfürchtig, bis das Leuchten nachließ und die Kettenhaube von selbst vom Kopf der Dahingegangenen herabglitt. Eine menschliche Dienerin trug die Kettenhaube ehrfürchtig davon. Ab nun durchlebte Julius mehrere Jahrhunderte im Zeitraffer. Er sah die Länder, wo die Kettenhaube war, bekam mit, wie drei französische Zauberer sie mit einem alten Zauberspruch zum leuchten anregten und sie so aus dem Sand der Sahara graben konnten. Er sah verschiedene Hexen und Zauberer, die die Haube trugen und erlebte mit, wie sie gegen die bösen Magier und Hexen ihrer Zeit kämpften. Schließlich sah er sich selbst, wie er die Haube trug und durch Slytherins Galerie des Grauens reiste. Obwohl es schon fünf Jahre her war graute es Julius immer noch, sich vor dem affengesichtigen Gründer von Hogwarts zu sehen und fast dem Todesfluch zu erliegen und statt dessen ein Weltuntergangsgeschehen auslöste, dem er nur Dank Lady Medea auf Aurora Dawns Besen entrinnen konnte. Zum Schluß sah er, wie aus der Kettenhaube feine Lichtfäden durch eine dicke Panzerwand drangen und zu ihm hinführten, bis sie sich zu einem geisterhaften, rotgoldenen Abbild Darxandrias verdichteten, das aus Julius herausflog und zielgenau im Körper der Flügelkuh Artemis verschwand. Diese bekam für wenige Sekunden Darxandrias Gesichtszüge, bevor sie unter starken Kontraktionen den kleinen Bullen Orion zur Welt brachte. Er sah sich dann wieder unter Temmies Euter hocken und begierig von ihrer Milch trinken. Dann sah er sich neben der fliegenden Anthelia, wie diese im gleißenden Licht der Heilssternformel erbebte. Warum die Hexe kurze Haare hatte wußte er bis heute nicht. Ianshira mochte seine Gedanken gelesen haben. Denn sie sagte: "Die Haartracht derer, die mit Naaneavargia zu einer einzigen Wurde ist eine Geschichte, die ich dir nicht zeigen darf, da sie die Sache der Mitternächtigen ist."
"Dann möchte ich gerne von euch wissen, was es mit Madrashtargayan auf sich hat", sagte Julius. Ianshira lächelte. "Es gab ihn schon, wo meine Muttermutter noch nicht geboren war. Die beiden mitternachtsgeborenen Schwestern haben seine Eltern mit böser Kraft dazu verurteilt, daß ihr erstes Kind erst dann geboren würde, wenn seine Mutter nur noch einen halben Zwölfteltag zu leben habe und er niemals aufwachsen werde." Julius bekam nun Madrashtargayans Eltern zu sehen, sah seine Mutter im Zeitraffer alt werden und dabei immer hochschwanger herumlaufen. Sie wurde dabei jedoch immer wider durchsichtig wie Glas, so daß der in ihr lebende Fötus immer wieder durch ihre Bauchdecke hinaus in die Welt sehen konnte. Ianshira nannte diesen Zauber "Lied des lichtdurchfluteten Fleisches". Er sah Madrashtargayan, wie er von einer Amme zur anderen gereicht wurde. Insgesamt hatten fünfzig sonnengelb gewandete Hexen die Ehre oder die Pflicht, ihn zu versorgen. Er wurde dabei körperlich gerade drei Monate alt. Irgendwann wurde ihm der Eintritt in die Halle der Altmeister gewährt. Dabei spielte Darxandrias Mutter eine wichtige Rolle. Denn sie erkannte in Madrashtargayan den besten Lehrmeister des Liedes des inneren Friedens. Damit endete die über ein erzähltes Jahrtausend reichende Nachbetrachtung. Als Julius gerade für die interessante Rückschau danken wollte sagte Ianshira:
"Sie möchte jetzt zu mir. Kehre zu meiner Base, deiner großen Schutzherrin, Amme und Wegführerin zurück und erwarte die Rückkehr deiner beiden Begleiterinnen dort!" Julius kam nicht mehr dazu, was dazu zu sagen, weil er unvermittelt im freien Fall von Ianshiras Glaszylinder fortstürzte. Er hörte Camille Dusoleil erschreckt ausrufen, ob sie ihn auffangen sollte. "Nein, ich kann mich selbst abfangen, Camille. Sie wollte nur, daß du freien Zugang zu ihr hast!" rief Julius zurück und stoppte den freien Fall. Millie kam ebenfalls von oben herab. Sie schwebte sanft und sicher.
"Monju, wir sollen schon zu Temmie hin, weil Camille wohl länger bei diesem Zeitwächter gebraucht hat als die Altmeister erwartet haben. Wir haben wohl noch vier Stunden zeit, um wieder zu Amatira zurückzufliegen", sagte Millie und umfing ihren Mann mit ihren Armen. Dieser ging darauf ein und umarmte seine Frau. Hier in der Halle reagierten die Herzanhänger nicht. Die Magie der Altmeister überlagerte jede künstliche Verbindung.
Im Transportkorb ging es rasant zurück zu Temmie, die gerade von drei goldenen Dienerinnen mit großen Ästen, an denen regenschirmgroße Blätter hingen, gefüttert wurde. Eine andere Dienerin schob gerade eine Schubkarre mit grünlichem Kuhmist davon. Eine weitere Dienerin kam mit einer leeren, aber sichtbar benutzten Schubkarre zurück. Die Karre war so groß wie ein mittelgroßes Auto. Doch die Dienerin jagte damit über den Boden wie eine Sprintläuferin beim 100-Meter-Finale.
"Wenn wir die mitnehmen könnten würde Tante Babs Feuer speien vor Wut, daß jemand so schnell und gründlich den ganzen Kuhmist abfahren kann."
"Das sind Roboter, was erwartest du, Millie", erwiderte Julius. Die mit ihnen heruntergefahrenen Goldfrauen erwiderten darauf:
"Wir sind Lebenshüterinnen, keine stumpfsinnigen Arbeitsgeräte. Wir sind dazu da, zu pflegen, zu füttern und auch alle anderen Bedürfnisse der unsere Sorgfalt verdienenden zu befriedigen."
"Alle? Das glaubst du aber sicher nicht wirklich, daß du alles machen kannst, was ich mit meinem Mann machen kann, um dessen Bedürfnisse zu befriedigen", erwiderte Millie übermütig.
"Da du ihn in dieser Weise sehr in Ausgleich hältst steht es mir nicht zu, dir zu zeigen, daß ich auch diese Bedürfnisse befriedigen kann", sagte die in Sonnengelb gewandete, die Julius bei der Fahrt nach unten sicher gehalten hatte.
"Das müssen wir jetzt sicher nicht alles aufdröseln", erwiderte Julius darauf. Er verließ den Korb und flog zu Temmie hinüber, wobei er millie fast wie einen Sack Federn so leicht mitnahm. Sofort stieg der Korb wieder auf und verschwand im Schacht- und Tunnelsystem des Turmes.
"Kailishaia mußte einmal so lachen, als sie mir gerade das Lied vom goldenen Reinigungsfeuer beibrachte", sagte Millie. "Als ich sie dann fragte, warum sie lachen müsse meinte sie, daß du dir von einem ungeborenen Kind zwei wichtige Schutzlieder beibringen ließest. Wie soll denn das gehen." Julius erklärte es seiner Frau. Dann fragte er, ob sie denn die Frage beantworten könne, die Amatira ihr gestellt habe.
"Also, zuerst wußte ich nicht, ob ich mich da nicht ähnlich wie du auf eine nicht mehr umzuwerfende Kiste einlasse. Doch als mir dieser Kantoran die Geschichte von Altaxarroi gezeigt hat und ich mitbekam, wie dieser Yanxothar gegen Skyllian und die Schlangenmenschen gekämpft hat, wurde mir klar, daß dieses Schwert, wenn es echt bei der Spinnendame gelandet ist, eine ziemlich üble Waffe ist. Mit der können auch Vulkanausbrüche ausgelöst werden. Da wurde mir klar, daß Kailishaia wohl möchte, daß jemand das Kleid von ihr abholt, um sowas zu verhindern, wenn dieses Spinnenflittchen meint, mal eben eine ganze Stadt damit plattmachen zu wollen. Deshalb war das kein Thema mehr, als ich bei Kailishaia war und sie mich gefragt hat. Da waren übrigens noch andere mit orange-goldenen Klamotten bei ihr, als sie mich gefragt hat. Ich habe zugestimmt, unter der Bedingung, daß ich von ihr und anderen Feuermagiern nicht zu irgendwelchen Sachen gezwungen werden darf, die gegen dich oder meine Familie oder sonst wen, der oder die mir wichtig ist gehen. Das haben diese Feuermagier dann auch akzeptiert. Da wurde ich nackig ausgezogen und von diesen Feuerleuten über ein Becken mit weißen Flammen gehalten. Ich wollte erst losschreien. Doch da wurde mir klar, daß das ja nicht echt passiert, sondern eine Art Traum ist. Deshalb habe ich mir das gefallen lassen, wie sie mich da hineingehalten haben. Ui, das tat aber schon weh am Anfang. Ich mußte die Schmerzen veratmen, wie ich das in der Schwangerschaft gelernt habe. Dann wurde mir plötzlich ganz wohlig und warm, als läge ich nicht im Feuer, sondern einer Badewanne mit warmem Wasser. Als die mich dann wieder aus dem Feuer gezogen haben war nichts an mir verbrannt. Kailishaia zog mir dann einen blutroten Badeanzug mit orange-goldenen Flammenmustern an. Dann sind die anderen einfach verschwunden. Ab da habe ich mal eben in wohl sechs Stunden zwanzig oder dreißig neue Zauber gelernt und mindestens siebenmal die bewußte Frage nachgebetet. Ich darf sie dir übrigens nicht übersetzen, weil das nur für Hexen sein soll und jeder Zauberer, der die Frage und die Antwort hört, im Tauffeuer verglüht, auch wenn er selbst nicht darin geweiht wurde, so Kailishaia. Ich vermute mal sowas wie den Schmelzfeuerzauber. Über den habe ich mich mit Kailishaia auch unterhalten, weil ich ja die Szene mit Pétain aus dem Denkarium nachbetrachtet habe. Sie meinte, daß es mit einem Lied der niedergehaltenen Flammen ginge, wobei ich aber die Farbe dieses Schmelzfeuers als Zielvorstellung im Kopf haben müsse. Das Schwert und das Kleid können aber sowas auch so zurückhalten, wobei man es dem Schwert befehlen muß und das Kleid es im Umkreis von drei Metern von alleine tut. Wie erwähnt habe ich zwanzig oder dreißig Zauber gelernt, alles Anfängerzauber, auf kleinster Flamme sozusagen. Wenn ich es hinkriegen kann, jedes Jahr für einen Tag zu ihr hinzukommen, bekomme ich weiteren Unterricht. Ansonsten würde ich halt mit den Zaubern auskommen müssen, die ich jetzt kann. Jedenfalls darf ich Faiandria übernehmen. Doch ich sollte dabei dran denken, daß sie dann so auf mich geprägt ist, daß sie jeden angreift, der mir oder meinen Nachkommen ans Leben will und sollte ich doch sterben jeden umbringt, den sie mit meinem Tod in Verbindung bringen kann. Abgesehen davon weiß ich nicht, ob ich sie bei uns in Millemerveilles unterbringen soll, weil sie ja dieses grelle Tausendsonnenfeuer spucken kann. Sowas muß ich ja nicht hinterm Haus herumstehen haben, abgesehen davon, daß ich den totalen Krach mit Camille bekäme, weil Florymont dann nur noch bei uns wäre, um Faiyandria zu erforschen. Deshalb nehme ich sie nur in Besitz, damit keine andere sie kommandieren kann, solange ich lebe."
"Eine ganze Menge Zeug", sagte Julius und berichtete seiner Frau noch einmal genauer von seiner intrauterinen Unterrichtsstunde.
Knapp eine Stunde vor dem Ende der Frist Amatiras kehrte auch Camille von ihrem Besuch bei den Altmeistern zurück. Temmie sprach mit Hilfe einer der Golddienerinnen, daß diese alle hier im Turm bleiben mögen, da sie in der Außenwelt mehr Fragen verursachen würden als helfen könnten. Danach flog die Latierre-Kuh mit ihren drei menschlichen Begleitern zurück zum Podest und nach dem Verlassen des Turmes durch Khalakatan zurück zum Tor.
"Ihr zwei wollt jetzt zu dieser Amatira hin, um den goldenen Drachen auszuprobieren?" fragte Camille. Millie und Julius bestätigten das. "Gut, ich muß zurück nach Millemerveilles. Nachher wollen so viele noch wissen, wo ich war. Muß ja nicht sein", sagte sie.
So apparierte Temmie vom Ausgangspunkt der alten Straßen in den Pyrenäen direkt nach Millemerveilles auf die Wiese hinter dem Apfelhaus. Dort sprühte sich Camille mit dem Entduftungselixier gegen Latierre-Kuhgeruch in Haar und Kleidung ab, bevor sie aus eigener Kraft in ihr eigenes Haus apparierte. Keine Minute danach verschwand Temmie mit den beiden Eheleuten Latierre wieder aus Millemerveilles. Keine Minute darauf rasten sie auch schon wieder über die alten Straßen dahin.
Julius begleitete seine Frau zu Amatira. Er hielt jedoch Abstand, als Millie der goldenen Dienerin die Frage im Flüsterton beantwortete. Amatira sagte dann laut, daß diese Antwort die Bestätigung sei, daß Millie von Kailishaia das Kleid der ruhenden Flammen geerbt habe und es zusammen mit Faiyandria, dem goldenen Drachen, in Besitz nehmen dürfe.
Durch mehrere Räume ging es zu einem mittelgroßen Raum mit mehreren Sitzgelegenheiten. Kernstück des Raumes war ein durchsichtiger, flimmernder Quader. Amatira berührte ihn und griff mit schwach blau leuchtenden Händen hinein. Jetzt konnten Millie und Julius es in Natur sehen, das Kleid, das wie aus orangen und goldenen Flammenzungen zusammengenäht aussah und so luftig leicht und dabei so reißfest war, daß selbst Drachenkrallen es nicht beschädigen konnten. Säure konnte es auch nicht angreifen, weil die in ihr mitwirkende Zersetzungskraft wie von Feuer aufgehoben wurde. Amatira zog das Kleid aus dem Quader. Es wirkte für Millie zu klein und zu eng. "Lege bitte deine Kleidung ab, um es ohne störenden Stoff an deinem Körper zu tragen, Mildrid Erdengrund Ashmiria!" bat Amatira. Millie sah sich das Kleid an. Ein wenig enttäusch blickte sie auf die gesamtlänge vom Kragen bis zum unteren Saum, der in winzigen Flammenzungenspitzen auslief. Doch dann kam sie der Aufforderung Amatiras nach. Da Julius sie mit und ohne Kleidung auswendig kannte hatte Millie absolut kein Problem, für dreißig Sekunden völlig nackt zwischen ihrem Mann und Amatira zu stehen. Die Goldene hüllte Millie behutsam in das Kleid ein. Doch es war zu eng, um es zu schließen und reichte Millie gerade bis zu den Hüften, wodurch ihre bloßen Hinterbacken unbedeckt blieben. Doch als Amatira die vielen Schließen des Kleides an Millies Rücken fest geschlossen hatte und Millie sichtlich um Luft ringen mußte, dehnte sich das Kleid geräuschlos aus. Mit jedem Atemzug Millies wurde es länger und weiter, bis es Millies Körper sanft umspielte. Ihre Figur wurde jedoch durch das fremde Kleidungsstück fast konturgenau nachgezeichnet. "Oha, jetzt hat es die richtige Größe", meinte Millie, als der bezauberte Stoff ihr vom Hals bis hinunter zu den Waden reichte und ihre Arme wie orange-goldene Flammenfächer umschmeichelte. "Ich darf aber hoffentlich noch Unterwäsche tragen, oder?" fragte Millie.
"Dies ist dir möglich", sagte Amatira. Julius bewunderte seine Frau, wie sie da vor ihm stand, ihr rotblondes Haar, ungebändigt auf den Rücken herabfallend, im um sie fließenden Kleid, daß aussah wie aus nicht leuchtenden, aber das Licht des Raumes hell widerscheinenden Flammenzungen. Er probierte es aus, ob es sich auch so anfühlte, wie Kailishaia es ihn bei seinem letzten Ausflug in die Halle der Altmeister hatte fühlen lassen. Tatsächlich hatte er den glatten, fließenden Stoff zwischen den Fingern. Millie meinte dazu: "Huch, ich fühle deine Hände so auf mir, als hätte ich nichts an."
"Weil ihr durch vierfaches Werk der Kraft einander verbunden seid", antwortete Amatira darauf. Julius streichelte seine Frau vorsichtig von oben bis unten, mied dabei aber ihre privaten Körperstellen, bis sie seine Hand ergriff und sie sich genau dort hinlegte. "Ja, fühlt sich echt an, als hätte ich gerade nichts an", sagte sie. Dann ließ sie sich von Amatira zeigen, wie sie das Kleid wieder öffnen und ausziehen konnte. "Es ist gegen Ortsversetzungen aller Art gefeit, die nicht von der es tragenden bewirkt werden", erläuterte Amatira noch. Millie nickte. Sowas ähnliches hatte Kailishaia ihr auch schon erzählt.
"Monju, nimm mich noch mal in die Arme!" hauchte Millie Julius zu, als sie das Kleid zur Übung noch einmal alleine angezogen hatte. Julius wußte nicht, warum er das tun sollte. Doch er tat es. Millie nahm ihren abgelegten Zauberstab in die hand und sagte: "Vahayanin!" Unvermittelt schossen orangerote Flammen aus dem Kleid heraus und durch Julius Hindurch, ohne ihm Schaden zuzufügen. Ehe er sich versah wurden seine Frau und er in eimen orangeroten Feuerball eingehüllt. Wohlige Wärme umfloß ihn. Dann verschwand die Feuersphäre um sie herum mit leisem Fauchen. Doch jetzt standen sie nicht mehr bei Amatira, sondern am Ufer des Titicacasees. "Geht also auch, Monju. Gut Festhalten, damit du mir unterwegs nicht verhungerst oder im Erdfeuer verbrennst! Vahayanin!" Erneut explodierte eine orangerote Flammenkugel aus Millies neuem Kleid und umschloß sie und ihren Mann, der sich fast überängstlich an ihr festklammerte. Wieder meinte er, in einer wohligwarmen Blase zu schweben. Erneut verschwand die Feuersphäre nach nur zwei Sekunden mit leisem Fauchen. Jetzt standen sie wieder bei Amatira, die so dastand wie vor Millies Versuch. "Das ist genial, Monju! Das hat Kailishaia mir erklärt, nachdem die mich in diesem weißen Tauffeuer haben brutzeln lassen, ohne daß mir was abgebrannt ist. Weil Yanxothar sein Schwert so gemacht hat, daß es wie ein Phönix dem Träger die Fähigkeit der Feuerreise verleiht, hat Kailishaia das für ihr Kleid auch gemacht und zwar so, daß es die Trägerin auf das Zauberwort, daß ich gerade gerufen habe, überall da hinbringt, wo die Trägerin frei atmen kann und wo sie im Leben schon mal war. Sie meinte, ich könnte alles mitnehmen, daß in dem Moment auch von mir angefaßt oder sonst wie am Körper hängt, solange ich will, daß es mitkommt."
"Und wenn du es nicht willst? Verbrennt das dann?" wollte Julius wissen.
"Wenn es ein mich mit dem Tod bedrohendes körperliches Wesen oder ein tödlicher Gegenstand ist ja, Monju. Aber wenn es jemand ist, den ich beschützen will oder den ich liebe, dann passiert dem oder der nichts. Deshalb bin ich auch froh, daß ich Kailishaias Zaubergilde beigetreten bin. Denn jetzt muß ich keine Angst mehr haben, daß dir oder unseren Kindern was passieren kann, wenn ich das Kleid anhabe."
"Ich hab's bei der ersten Sub-Rosa-Gruppe gesehen, wie Dumbledore mit seinem Phönix so verschwunden ist. Da helfen auch keine Antiapparierzauber gegen."
"Pulverisierte, ausgefallene Federn von Phönixen werden im Flohpulver verwendet, hat mir Kailishaia gesagt. Sie fand das ganz lustig, daß es mal wer geschafft hat, das Feuer als Reisemöglichkeit zu verwenden."
"Und das geht nur mit dem Kleid oder dem Schwert?" fragte Julius. Millie bejahte es. Amatira wandte sich ihnen beiden zu und fragte Millie, ob sie alle Geheimnisse des Kleides erfahren habe oder ob Kailishaia etwas gesagt habe, ob Millie noch was wissen müsse. Millie erwiderte, daß sie die fünf Fähigkeiten des Kleides erfahren habe. Julius fragte dann, welche fünf Fähigkeiten das seien. Millie sagte darauf: "Daß es mich und jeden in drei Schritt umkreis vor magischem und natürlichem Feuer oder Hitze schützt und daß ich damit wie ein Phönix durch das Feuer des Erdinneren und der Sonne von einem Ort an einen anderen wechseln kann. Ja, und daß es sich nur von einer Frau anziehen läßt. Wenn du jetzt das Kleid anziehen würdest, wärest du in dem Moment deine eigene Schwester, indem du die ersten zwei Schließen zumachst und könntest nur dann wieder du werden, wenn Aurore oder deine Mutter oder eine noch in mir auf ihren großen Tag wartende Tochter das Kleid anzieht. Falls das keine macht könntest du das Kleid zwar weitertragen, würdest dann aber eben als deine eigene Schwester weiterleben, und dann bekämen wir zwei richtig Krach, Süße." Julius verstand, was sie meinte und grinste über die Bezeichnung "Süße". "Dann ist da eben das, daß das Kleid sich der Trägerin anpaßt, egal ob sie gerade mal so groß wie Aurore ist oder so ein langes Elend wie Meglamora, ob es ein Hungergestell wie Céline oder ein Wonneproppen wie Madame Delamontagne oder Oma Line ist. Hauptsache menschenähnlich und weiblich. Tja, die letzte Fähigkeit ist was, daß ich nur anderen Frauen oder Hexen erzählen darf. Erzähle ich es einem Mann oder Zauberer, so hüllt ihn das Kleid ein und ... siehe Punkt drei auf der Liste!" Sie grinste.
"Öhm, also, wenn du mir das nur für Mädels bestimmte Geheimnis verrätst, würde das Kleid mich mal eben umhüllen und entsprechend umbauen, damit ich es auch wissen darf", erwiderte Julius. Millie nickte. "Und dabei ist es egal, ob ich das Kleid gerade anhabe oder es am anderen Ende der Welt liegt. Über die Feuerreise käme es sofort zu uns hin und würde zuschlagen."
"Dann wollen wir hoffen, daß du mir oder einem anderen Zauberer dieses Geheimnis nicht eines Tages verraten mußt", sagte Julius. Er traute den Altaxarroin und ihrer Magie solche Strafen zu, seitdem er wußte, wie heftig mächtig ihre Zaubergegenstände und Flüche sein konnten. Er schlug vor, jetzt nach Faiyandria zu sehen. Millie und Amatira stimmten zu.
Um Faiyandria zu erwecken bekam Millie ein goldenes Armband um den linken Arm gelegt. Das Armband war gerademal so dick wie zehn ineinandergeflochtene Haare und trug eine Brosche mit einem stilisierten Drachenkopf, der von magischen Symbolen umringt wurde. Als Millie, die nach dem ersten Ausziehen das Kleid noch mal anzog, um es auch alleine zuzukriegen, mit Julius und Amatira in die Halle des goldenen Drachens eintrat, sprühten von dem Armband goldene und grüne Funken zu dem zusammengerollten Ungetüm hinüber. Dieses entrollte sich langsam und metallisch knirschend. Dann setzte es sich auf wie ein Hund. Der lange Schwanz, an dessen Ende Julius nun drei spitze Dornen wie die Enden eines Dreizacks erkennen konnte, streckte sich für einen Moment, um sich dann links um den Drachen zu legen. Jetzt öffnete das goldene Ungeheuer seine Augen. Julius staunte. Zwei mehr als wagenradgroße Kugeln aus Jade zu sehen. Zentrum jedes Auges war eine senkrechte Pupille wie bei einer Katze. Faiyandria öffnete das gewaltige Maul, in das locker zwei erwachsene Menschen nebeneinander hineinpassen mochten. Die wie Schwertspitzen aussehenden Zähne glänzten elfenbeinfarben. Doch Julius war sich sicher, daß hierfür keine zwei Dutzend Elefanten ihr Leben hatten lassen müssen. Die Zunge des Drachens war wie bei einer Schlange gespalten und schimmerte rubinrot. Jetzt hatte Julius eigentlich ein Fauchen erwartet. Doch statt dessen erklang aus der Tiefe des Drachenmauls eine Stimme wie von einer mittelgroßen Kirchenglocke:
"Ich erkenne dich, meine Herrin, Trägerin mindestens eines Lebens. Ich bin dir nun dein Leben lang verbunden. Ich bin Faiyandria."
"Woher kann die Französisch?" fragte Millie Amatira. Diese deutete auf sich selbst. "Alles was ich kann und kenne erlernt und kann sie auch", sagte die goldene Dienerin. Millie fragte Faiyandria nun mehrere Sachen. Sie wirkte rein äußerlich ruhig. Doch Julius fühlte eine Mischung aus Begeisterung und Unbehagen. Es war für Millie so, als dürfe sie einen superschnellen Rennbesen ausprobieren, wisse aber nicht, ob der sie nicht bei der ersten falschen Handstellung abwerfen würde. Vor allem wollte sie wissen, ob Faiyandria ihr auch dann noch folgen würde, wenn sie das goldene Armband ablegen würde. Das goldene Drachenweibchen bestätigte das. Es erwähnte jedoch, daß es über das Armband immer wisse, wo seine Herrin sei, um ihr so schnell sie konnte zu Hilfe zu eilen. Julius staunte, daß Faiyandria sogar halb so schnell wie der Schall in der Luft fliegen und nicht nur in brodelnder Lava, sondern auch bis auf den tiefsten Meeresgrund hinabtauchen könne. Auf die Frage nach dem Tausendsonnenfeuer gab Faiyandria die Auskunft: "Das Tausendsonnenfeuer wird in meinem Inneren nur in der Menge erzeugt, in der ich es an einem Tausendsteltag aus mir hinausspeien muß. Brauche ich keines, dann habe ich keines in mir."
"Die hat einen Antimaterieerzeuger im Körper", seufzte Julius. Das durfte echt keiner wissen, schon gar kein Muggel, der mit Militärtechnik zu tun hatte. Deshalb mentiloquierte er Millie an, Faiyandria zu fragen, ob man ihr die Erzeugung des Tausendsonnenfeuers entreißen könne.
"Ich bin gegen alle bekannten Formen der körperlichen Gewalt unangreifbar. Und wenn mein Dauereisenleib mit Sonnenglanzüberzug nicht reichen sollte, so kann ich einen Mondschild um mich errichten."
"Einen was?" fragte Millie. Zur Antwort flirrte es um den sitzenden Drachen silbern, und ein erst haarfeines Netz aus Lichtstrahlen baute sich um den Drachenkörper herum auf. Keine halbe Sekunde später umhüllte eine fast größtenteils durchsichtige silberne Aura den Drachen. Julius kannte diese Art von Schutzschirm bereits von seinem zweiten Ausflug zur Himmelsburg. Da gab es diese jedem Zukunftsdichter die Neidesblässe ins Gesicht treibende Abschirmung auch für den Einpersonenbetrieb. Als Millie den Mondschild genug gewürdigt hatte zerfiel dieser in silberne Tropfen, die jedoch nicht in alle Richtungen davonflogen, sondern sich an einer Stelle des Drachenkörpers bündelten und darin verschwanden. Da lag wohl der entsprechende Generator verborgen. "Wenn ich sehr schnell fliegen muß, kann ich mit diesem Schild auch die Luft um mich verdrängen und damit doppelt so schnell durch die Luft eilen wie jeder Laut", informierte der goldene Kampfdrache aus Altaxarroi. Julius gedankensprach zu Temmie: "Oha, macht dich das nicht eifersüchtig, was die alles kann?"
"Das wesentliche kann sie nicht, Julius. Sie kann keine Geborgenheit geben, keine eigenen Kinder bekommen und keine nährende Milch hergeben. Außerdem ist und bleibt sie eine Waffe der Zerstörung, auch wenn sie außerhalb der Schlachten auch als verständigungsfähiges Arbeits- und Flughilfegeschöpf dienen kann. Warum sollte ich auf eine vordringlich zur Zerstörung gemachte künstliche Erscheinungsform eifersüchtig sein?" Das leuchtete Julius ein. Millie befahl dem Drachen nun, weiterzuschlafen und hier auf sie zu warten, es sei denn, sie riefe sie über das Armband. Faiyandria bestätigte den Befehl. Sie legte sich wieder hin und rollte sich zusammen. Als letztes schloß sie ihre jadesteinfarbenen Augen. jetzt lag sie wieder da wie eine goldene Skulptur, ein rein künstliches, völlig bewegungsunfähiges Abbild eines wahrhaftigen Drachens.
"Danke, Amatira. Ich möchte nun mit meinem Gefährten zurück zu unserem gemeinsamen Kind. Es wartet sicher schon sehr ungeduldig auf uns."
"Lebt beide wohl und erweist euch der großen Güter der alten Meister als würdig!" gab die goldene Dienerin im blutroten Gewand den beiden noch mit auf die Heimreise.
"Ich eifersüchtig auf ein mechanisches Ungetüm, das nur deshalb weiblich gestaltet wurde, weil es der Befehlshaberin zugeordnet sein muß, Julius. Schäm dich!" tadelte Temmie Julius auf dem Flug zurück zum Ausgangspunkt der alten Straßen.
"Na ja, immerhin kannst du auch sehr schnell fliegen und dich unsichtbar machen und den kurzen Weg gehen", sagte Julius.
"Ja, und dir und Millie das Lied vom inneren Frieden in die Köpfe singen und euch genauso mit meiner Milch am Leben halten wie den in mir aufgekeimten und herangewachsenen Sohn, den ich von Perseus bekommen habe. All das kann Faiyandria nicht. Sie ist und bleibt ein Werkzeug, ein Werkzeug des Krieges. Du hast sehr klug daran getan, sie nicht mit zu euch nach Millemerveilles zu bringen, Millie."
"Wie gesagt muß ich nicht irgendwelche Begehrlichkeiten oder überstarke Neugier wecken", grummelte Millie. "Und was du über die Funktion von Faiyandria gesagt hast stört mich das auch. Ich habe ihre Geschwister gesehen, wie die Felsen mal eben verdampft haben oder lebende Drachen im Flug eingeäschert haben. Ich hoffe echt, daß wir weit davon weg sind, sowas noch mal nötig zu haben. Ich möchte mit Julius noch ein paar Kinder in eine friedliche Welt bringen und groß werden sehen."
"Solange uns keine bösartigen Hexenschwestern verfluchen, daß ein gezeugtes Kind nicht geboren werden kann, aber auch nicht stirbt", wandte Julius ein.
"Das war Eifersucht, die dieses böse Verhängnis hervorrief", cogisonierte Temmie. "Der Vater von Muttersonnensohn, was auch das ewige Kind heißen kann, wurde von beiden Schwestern umworben. Doch er hatte sich schon eine Gefährtin aus den Reihen der Lichtgeweihten erwählt. Mit ihrer gemeinsamen Kraft verwünschten sie den Vater, daß er seinen Sohn zwar im Leib der Gefährtin würde wachsen und sich regen sehen können, er aber bis zu ihrem Tode darin gefangenzubleiben habe und danach immer als hilfloser Säugling zu leben habe, bis er freiwillig um den Tod bitte."
"Wollen wir hoffen, daß Naaneavargia diesen gemeinen Fluch nicht auch kann", grummelte Millie, der die ganze Sache doch sehr alptraumhaft vorkam.
"Wenn sie die Geschichte kennt, würde sie wissen, daß sie sich damit einen ewigen Feind heranzüchten würde", erwiderte Temmie. "Nein, sie wird euch nicht derartig verwünschen, selbst wenn sie den Wortlaut der Verwünschung und das dazu nötige Vorgehen kennen oder kennenlernen sollte. Denn Muttersonnensohn konnte aus dem ihn wie einen Kerker umgebenden Mutterleib heraus sich und seine Mutter vor anderen Nachstellungen schützen und auch dem Vater, den er nie ohne Hilfe des lichtdurchfluteten Fleisches zu sehen bekam, mit wichtigen Gedanken helfen. Er ist bis heute eine Legende, und ihr beide könnt stolz sein, daß Julius von ihm unterrichtet wurde."
Da wollen wir besser nicht weiter drüber reden, sonst träume ich noch davon, daß ich meine Mutter erst von außen sehe, wenn sie schon zum alten Knochenhaufen zerfällt. Neh, so wie die Natur das macht ist es richtig", sagte Millie. Temmie und Julius stimmten ihr zu.
Nachdem Temmie wieder auf dem Latierre-Hof abgeliefert worden war holten sich Millie und Julius ihre kleine Tochter zurück. Béatrice scherzte, daß die kleine fast genausoviel Hunger gezeigt hatte wie ihre zwei Großtanten Blanche Berenice und Lilau zusammen. Zumindest hatte Millie genug von sich ausgelagert.
Wieder zurück im Apfelhaus sprachen Millie, Camille und Julius im Schutze eines Klangkerkers noch einmal über die Reise nach Khalakatan. Camille konnte jetzt auch die vier starken Zauber und dazu noch einige mehr, wie eben auch das lied des inneren Friedens, das sie eigentlich nicht benötigte, solange sie den Heilsstern trug. "Aber das schattenlose Licht, mit dem ich auch aus dunkler Substanz bestehende Wesen schwächen kann, ist sehr wichtig. Es dürfte etwas ähnliches sein, wie das, was mein Großvater Lucian Binoche in seiner Jugend erlernt hat. Ianshira behauptete etwas, daß wir uns dafür wappnen sollten, daß die Vierschatten irgendwann wiederkommen könnten."
"Womöglich liegen in der Villa Binoche noch die entsprechenden Aufzeichnungen", erwiderte Julius. Camille nickte.
"Ich werde dort demnächst alleine hinreisen, weil ich nicht weiß, ob jemand, der nicht mit mir blutsverwandt ist Zutritt erhält. Kann sein, daß ich dort noch das große Hauptdenkarium finde, aus dem meine Mutter die an dich weitergereichten Erinnerungen herausgeschöpft hat, Julius."
"Gute Idee, ich lagere am besten gleich noch alle Erlebnisse in unser Denkarium ein, Millie", sagte Julius.
"Ich möchte das auch können, Erinnerungen verdoppeln und auslagern, damit ich die nacherleben oder weitervererben kann", grummelte Millie. Doch sie lächelte. "Dann könnten wir nämlich erfahrungen austauschen. Kailishaia hat nämlich klar angesagt, daß außer der Frage der feuergeweihten Frauen alles, was sie mir beibrachte auch an dich weitergegeben werden darf, weil du ihr so sehr gefällst, Julius."
"Da bin ich ja froh, daß sie ihre ganze Seele in den Glaszylinder auslagern mußte und nicht mit dem Kleid in dich umgezogen ist, Millie."
"Soll ich dir was sagen, Julius: Ich auch. Ich möchte meinen knackigen Junghexenkörper nicht als Überzug für eine Hexe hergeben, die schon vierhundert Jahre erlebt hat und mir um neun Kinder voraus ist, wobei sie drei verschiedene Väter bemüht hat. Nein, es gibt Sachen, die will und die werde ich ganz alleine erleben. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, daß du eines Tages auch zu diesen Altmeistern einziehen könntest, und dann hätte die große Meisterin dich in ihrer Nähe."
"Das will ich bis in mein hohes Alter besser mal ganz weit von mir weisen", erwiderte Julius. Camille mußte dem beipflichten.
"So stark verbunden sie alle dort sind und so viel sie von unserer Welt mitbekommen, sie sind dazu verurteilt, untätig und machtlos zuzuschauen. Da würde ich eher mit Ashtaria oder Ammayamiria zusammengehen wollen."
"Ja, die kann noch was bewirken", sagte Millie. Damit war die Unterhaltung über ihre erste Reise nach Khalakatan beendet.
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Vier Tage war es jetzt her, daß Hauptkommissar Kröger den Fall der verschwundenen Lucia Moretti übertragen bekommen hatte. Der Polizeipräsident hatte die Einrichtung einer Sonderkommission genehmigt, die mit den Kollegen in Köln zusammenarbeiten sollte. Es hatte sich herausgestellt, daß alle untersuchten Besucherinnen der Discothek Donnerkeil ebenso erhöhte Hormonwerte aufwiesen und vor allem, daß sie alle schon geschlechtlich verkehrt hatten. Demnach wäre, so Kröger, Lucia das einzige unberührte Mädchen in diesem Tanzpalast gewesen. Daraus ergab sich jedoch die Frage, ob der Fremde das gewußt hatte oder das Mädchen nur zufällig ausgesucht hatte. Eine nähere Befragung ergab, daß Lucia sich gegen alle Konkurrentinnen durchgesetzt und diesen Fremden am schnellsten erreicht hatte. Kröger fragte sich, ob es wirklich eine Form von Droge gab, die Menschen je nach Hormonhaushalt anders beeinflussen konnte, aber dann keine Spuren hinterließ. Auch die Sache mit den außer Gefecht gesetzten Türstehern war unheimlich. der größere der beiden, der vor zwölf Jahren eine Jugendstrafe wegen Körperverletzung eines Mitschülers erhalten hatte, behauptete immer wieder, daß der andere erst seinen Kollegen und Freund mit der flachen Hand an der Stirn getroffen hatte und ihm dann die bloßen Hände um den Hals gelegt habe. Von einem Elektroschockgerät habe der Türsteher nichts gesehen, und sowas kannte er, weil es ja doch Leute gab, die meinten, damit mehr Sicherheit und Überlegenheit zu gewinnen.
"Am Ende hat dieser Tänzer die beiden mit einer Art Lähmzauber umgehauen oder was?" fragte Kriminalassistent Brock.
"Klar, und die ganzen Frauen und Männer in der Disco mit einer Art Betörungszauber aus dem Tritt gebracht, wie? Am Ende ist das noch kein Mensch, sondern ein Vampir oder ein Dämon. Nach der Maueröffnung durften ja die ganzen Fabelwesen aus den Religionen auch wieder zu uns rüber", spottete der Hauptkommissar. Brock entschuldigte sich für seinen Vorwitz. Da trällerte das Telefon auf Krögers Schreibtisch. Der Hauptkommissar nahm ab und lauschte. Dann drückte er den Knopf für den Mithörlautsprecher. "... Kommissar Unterpfortner aus Ingolstadt, Hauptkommissar Kröger", hörten sie die Stimme der Frau in der Telefonzentrale. Kröger bestätigte und wartete. Dann erklang eine mittelalt klingende Männerstimme: "Grüß Sie Gott, Herr Kollege. ich heiße Anton Unterpfortner und bin Kommissar im Polizeipräsidium Ingolstadt. Ich rufe Sie an, weil vor zwölf Stunden ein Junges Madl aus einer unserer Discotheken verschwunden ist. Ihre Ältern haben sie vermißt gemeldet, als sie um zehn Uhr nicht wie angewiesen daheim war. Wir haben dann sofort die große Fahndung ausgerufen, weil das Madl gerad' fünfzehn Jahr' ist und dabei auf unserem Computer gefunden, daß Sie bei Ihnen in Dresden vor vier Tagen eine ähnliche Lumperei angezeigt bekamen."
"Erst mal guten Tag, Herr Kollege", sagte Kröger ganz ruhig. Dann fragte er nach Einzelheiten. Dabei kam heraus, daß wie bei Lucia Moretti ein Türsteher durch irgendeine Art von Betäubung aus dem Weg geschafft worden war und ein Mann mit blonder Mähne die Discothek Rocket betreten habe und sich auf eine schon an irgendwelchen Zauberspuk gemahnende Weise von mehreren jungen Frauen hat umringen lassen, bis er die gerade erst fünfzehn Jahre alte Christiane Feldmeier als Tanzpartnerin ausgesucht habe. Mit dieser habe er bis zehn Uhr getanzt und sei dann unangefochten mit ihr davongegangen. Diesmal habe es keine Zeugen gegeben, bis um elf Uhr der bewußtlose Türsteher gefunden worden Sei. Näheres über die Verschwundene sollte per E-Mail zugehen. Kröger und Unterpfortner kamen darüber ein, daß dies wohl eine Sache für das Bundeskriminalamt war, da die Entführungen in zwei verschiedenen Bundesländern stattgefunden hätten und es wohl um ein und denselben Täter gehe.
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Sie konnten ihm nichts. Sie waren ihm nicht gewachsen. Dieses Gefühl der Macht und Überlegenheit berauschte ihn genauso wie die Vorfreude, jedes der Mädchen als erster Mann in ihrem Leben zu lieben. Doch erst wollte er alle zusammenhaben. Denn es ging ihm darum, alle in der gleichen Nacht zu nehmen, um seinem toten Vater endlich zu zeigen, daß er diesem weit überlegen war, auch wenn der mit einem sehr starken Zauberstab gegen ihn angetreten war und ihn mit diesem verdammten Bann belegt hatte, der ihn nicht weiter als tausend Schritte von seinem Geburtsort fortgehen ließ. Wieso hatte diese verdammte Zauberschule Durmstrang ihn nicht haben wollen? Ja, klar, weil die keine wie ihn wollten. Die wollten ja noch nicht mal Leute, die keine Zauberer und Hexen als Eltern hatten. Das hatte ihm zumindest seine Mutter erzählt und seine verflucht angepaßte Tante, die von einem dieser Zauberstabschwinger aus Frankreich geschwärmt hatte und aus irgendeiner Krankhaften Schwäche raus zu diesem hingezogen war. Die hatte fünf Töchter ausgebrütet. Er wollte auch Kinder haben. Seine Mutter hatte außer ihm auch noch drei Mädchen bekommen, von drei verschiedenen Männern. Er war der einzige Sohn gewesen und sollte eigentlich was besonderes sein. Seine Mutter hatte ihm vorgeschwärmt, wie sie seinen Vater herumgekriegt hatte, einen berühmten aber auch versessenen Zauberstabschwinger, von dem sie behauptet hatte, daß der sich für keine Hexe, also keine Menschenfrau interessiert hätte, aber ihrer starken Ausstrahlung nicht widerstehen konnte. Doch er hatte sie und ihn dafür verflucht. Weil er wissen wollte, ob sein Vater wirklich nicht aus freien Stücken mit seiner Mutter zusammengewesen war, hatte er ihn gesucht und gefunden. Dabei hatte er seine ersten Erfahrungen mit kurzlebigen Menschenfrauen gemacht. Sein Vater hatte es über irgendwelche Wege mitbekommen und sich seinem Sohn zum Kampf gestellt. Er hatte den Haß in den Augen des achso starken Zauberers sehen können. "ich werde es nicht zulassen, daß du mir über den Kopf wächst und dann noch Bälger mit meinen Erbanlagen in die Welt setzt!" hatte der gerufen. Dann hatten sich beide bekämpft, er mit seinen natürlichen Kräften, der andere mit seinem Stab. Oft genug war er den Zaubern aus dem Stab ausgewichen, weil er sich schneller bewegen konnte als eine Katze. Doch mit einem gemeinen Bannspruch hatte sein Vater ihn in eine goldene Dunstglocke eingeschlossen. Er hatte seinen Vater dann sprechen hören:
"Mir abgerungen diese Brut,
mir entrissen Fleisch und Blut,
Sei gebannt dein Leben Lang,
wo dein erster Schrei erklang!
Sollst nicht weichen von dem Ort,
weiter als ein lautes Wort!
Niemals sollst du dich vermehren,
Erben will ich dir verwehren.
Niemand nimmt mein Wort zurück,
solang ich bleib in einem Stück.
Deine Mutter soll mich meiden,
oder ihren Tod erleiden.
Ego te maledico!" Er hatte dann gefühlt, wie der goldene Dunst sich in seinen Körper hineinbrannte und ihm unglaubliche Schmerzen bereitete. Dann hatte sein Vater noch etwas wie "Ad locum Naturam tuam te deporto!" gerufen. Er war dann in einen finsteren viel zu engen Schacht hineingestürzt und mit einem lauten Schrei draus herausgestoßen worden. Er hatte auch seine Mutter schreien hören können, obwohl sie nicht dort war, wo er sich wiedergefunden hatte. Ab da war er wirklich nicht in der Lage gewesen, weiter als tausend Schritte, soweit sein lautester Schrei dringen konnte, zu gehen, ohne wie von einem ruppigen Riesen an den Ort zurückgezogen zu werden, an dem seine Mutter ihn zur Welt gebracht hatte. Selbst in seiner zweiten Gestalt war ihm das nicht gelungen. Er hatte seiner Mutter erzählt, was passiert war. Sie hatte nur genickt und ihm gesagt, daß sein Vater Angst vor ihm hatte, weil ihm gesagt worden sei, daß jedes mit einem unberührten Mädchen gezeugte Kind seine Vorherrschaft schwächen würde.
Irgendwann aber mußte sein Vater wohl gestorben und zu Staub zerfallen sein. Seine Mutter hatte davon nichts mitbekommen. Jetzt war er unterwegs, um seinem verfluchten Vater nach dessen Tod noch alle seine errungenschaften abzujagen. Doch hierfür mußte er ihn mehrfach überflügeln. Deshalb diese Reise. Deshalb wollte er blutjunge Menschenmädchen haben, um durch diese eigenen Nachwuchs hinzubekommen, der ihm dann ein vielfaches an Macht geben würde. Zwei hatte er jetzt. Vier fehlten ihm noch.
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In Millemerveilles hatte außer Camille niemand was von Millies exklusiver Neuerwerbung und ihrer magischen Orientierung mitbekommen. Deshalb wußte auch niemand im Ministerium, was Julius am Wochenende getan hatte. Um eine lockere Unterhaltung über die Wochenenderlebnisse zu füllen erwähnte er, daß er mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen Latierre-Kuh einen Ausritt über Land gemacht hatten. Das war noch nicht einmal gelogen. Ornelle hatte ein Konzert von Hecate Leviata besucht, bei dem sie auch die Kollegin Britta Gautier aus der Desumbrateurentruppe getroffen hatte. Julius hörte den gewissen Unterton aus der Stimme seiner direkten Vorgesetzten heraus, daß er die erwähnte Hexe sicher bald kennenlernen würde. So sagte er, daß er die Kollegin sicher auf gesellschaftlicher Ebene treffen würde. Das schloß Ornelle nicht aus.
Nach der Pause gab Mademoiselle Ventvit ihrem bereits Außendiensterprobten Mitarbeiter ein dickes Buch. "Neben den Formularen sind die Gesetze in unserer Abteilung und die allgemeinen Zaubereigesetze Pflicht für jeden Quintannier", sagte sie. "Damit können Sie sich bis zum März auf den nötigen Stand für die erste Anwärterprüfung bringen. Ähm, da steht auch was über vernunftgemäßen Gehorsam drin, Monsieur Latierre. Das Kapitel sollten Sie vor einer neuerlichen Außenmission mit gefährlichen Anteilen gut gelesen haben." Julius verstand die unterschwellige Anspielung. Immerhin hatte er schon zweimal gegen Ornelles klare Anweisungen verstoßen. Er war bei seinem Einsatz gegen den Luftdschinn nicht weiter hinten geblieben, wie sie ihn angewiesen hatte, und er hatte bei der zeitraubenden Rangelei mit Louvois' Wachzauberern gegen ihre Anweisung direkt in die magische Auseinandersetzung eingegriffen. Bisher hatte sie ihm keine Abmahnung erteilt, weil durch die erste Mißachtung unschuldige Menschen gerettet wurden und Ornelle außer ihrer Nichte Héméra keinen Zeugen für die zweite Mißachtung zu fürchten hatte, so daß sie diese für nicht stattgefunden erklären konnte.
Er setzte sich also an seinen Schreibtisch. Da er gerade keinen weiteren Bericht zu schreiben oder bereits erledigte Vorgänge zu übersetzen hatte wollte er die Zeit nutzen, um in seinem Lehrbuch zu lesen. Dabei fand er ein veilchenblaues Lesezeichen am Anfang des empfohlenen Kapitels. Er nahm es und fühlte eine sachte Vibration. Da verblaßte ein Großteil der Oberfläche, bis er mehrere Reihen aus Runen erkennen konnte, die folgenden Text ergaben:
Monsieur Latierre,
hiermit wurden Sie seitens des Zaubereiministers Armand Grandchapeau, des Gesamtleiters der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, Arion Vendredi und der Leiterin des Büros für verständigungsfähige Zauberwesen über der Jardinane-Grenze, Ornelle Ventvit, zum amtlichen Betreuer der seit dem 15.09.2000 in der mediteranen Wassermenschenansiedlung Südfrankreich eingebürgerten Wasserfrau Meridana bestimmt.Ihre Aufgabe: Erörterung von Entstehung und Werdegang der erwähnten Meerfrau, sowie Eingliderung derselben und und ihrer zum Zeitpunkt dieser Mitteilung ungeschlüpften Nachkommenschaft, ohne Einbeziehung nichtamtlicher Mitglieder der Zauberergemeinde Frankreichs. Diese Mitteilung unterliegt der Geheimhaltungsstufe S9. Mit Kenntnisnahme dieser Mitteilung gehen Sie die Verpflichtung ein, die Vorschriften dieser Geheimhaltungsstufe einzuhalten oder bei Zuwiderhandlung die dafür auszusprechende Strafe auf sich zu nehmen.
Mit freundlichen Grüßen
Armand Grandchapeau
Arion Vendredi
Ornelle Ventvit
Julius hielt den gerade nur für ihn lesbaren Zettel in der Hand. Also hatten sie ihn nach der Absage der Riesenhochzeit zum Vermittler zwischen Ministerium und Meridana gemacht. Daß die Sache auf der zweithöchsten Geheimhaltungsstufe angesiedelt war hatte Minister Grandchapeau bereits in Aussicht gestellt. Damit durfte nur er und die drei erwähnten Personen in der Mitteilung wissen, was er mit dieser weit nach ihrer Geburt zur Meerfrau gewordenen Asylantin aus der Karibik besprach und durchführte. Was waren noch mal die Strafen für Geheimnisverrat? Bei einem Vergehen gegen die Geheimhaltungsstufe s9 drohte ihm neben der unehrenhaften Entlassung aus dem Ministerium und einem Amtsausübungsverbot auf Lebenszeit auch eine Gedächtniskorrektur, bei der er alles, was er im Ministerium gehört, gelesen und getan hatte vergaß. Insofern konnte er noch froh sein, daß es kein s10-Geheimnis war, daß nur dem Minister selbst und einem von diesem beauftragten Mitarbeiter bekannt sein durfte. Da hätte er neben einem Berufsverbot und einer Gedächtnislöschung auch zwanzig Jahre in der Festung Tourresulatant abzusitzen. Dementoren gab es da zwar keine. Aber an ein geregeltes Familien- und Freizeitleben war da nicht mehr zu denken. Er konnte dann von Glück reden, wenn er Aurores erstes Kind noch im Säuglingsalter miterleben konnte. Er sah Ornelle an und deutete auf seinen Federhalter. Sie nickte. Also mußte er den Zettel unterschreiben. Damit wurde es dann amtlich. Er nahm eine Feder, tunkte sie in ein Faß mit veilchenblauer Tinte ein und unterzeichnete in dem Feld neben der Passage, daß er die Mitteilung zur Kenntnis nahm. Kaum hatte er das getan, vibrierte der Zettel wieder und färbte sich wieder veilchenblau. Dann verschwand er aus Julius' Fingern. Das kannte er noch nicht. So fragte er Ornelle, ob der Zettel nun in ein besonderes Archiv zurückgekehrt sei. Sie nickte. Dann überließ sie ihn der Lektüre seines Gesetzbuches.
Nach der Mittagspause bekam er von Ornelle einen versiegelten Umschlag. Dieser enthielt eine Liste mit Fragen an Meridana und welche Vorkehrungen er treffen mußte, um die s9-Geheimhaltung sicherzustellen. Gleichzeitig wurde er beauftragt, am nächsten Morgen das erste Gespräch mit Meridana zu führen. Julius las und überlegte, wie er es anstellen sollte, die Fragen nach dem geheimnisvollen Heiligtum der Meerleute von Martinique beantwortet zu bekommen, ohne gegen Temmies Rat zu verstoßen, nichts über den Krug Aiondaras zu berichten, was immer er darüber hörte. Insofern war es gut, daß er mit dieser Befragung beauftragt war. Gut, man hätte auch jemanden wie Augustin Grandville oder Pygmalion Delacour damit beauftragen können. Aber dann hätten sie einen mehr einweihen müssen. Also blieb die Sache an ihm hängen. Er fragte sich nur, wie Ornelle seine Ausflüge zu den Meermenschen begründen würde. Denn wenn er nicht gerade mit ihr in einen Außeneinsatz ging oder von anderen Büros angefordert wurde bestand seine Arbeit doch eher aus Schreibkram. Das fragte er Ornelle, als Pygmalion Delacour, der nach der Mittagspause für drei Stunden an einem Bericht über die Registrierung von Dryaden in der Provence zu schreiben hatte, wegen einer abzufeiernden Überstunde früher nach Hause gehen durfte.
"Geländeerkundung, Vorstellungsrunde bei den bekannten Ansiedlungen humanoider Zauberwesen von Zwergen und Kobolden abgesehen. Wir haben auch eine Zentaurenansiedlung in der Bretagne", sagte Ornelle Ventvit. Julius verstand. Wenn man wollte, ließ sich alles irgendwie begründen. das war eine Grundregel der Bürokratie. Eine andere war, daß nichts sein konnte, was nicht sein durfte. Von der Regel hatte er bisher jedoch noch keinen Gebrauch machen müssen.
Wegen der s9-Stufe konnte Julius seiner Frau an diesem Tag nur berichten, daß er sich in der Theorie der Zaubereigesetze schlaulesen müsse und hoffte, zwischendurch wieder auf Dienstreisen geschickt zu werden.
"Grandville ist schon wieder aus dem Urlaub zurück?" fragte Millie. Julius nickte. Er hatte ihn zwar nicht gesehen. Aber er war sich sicher, daß der sich über das abgesagte Treffen der beiden Riesen sicher sehr freute.
"Die Kleine kann sich schon alleine umdrehen, Monju. Ich habe sie mal während sie Schlief auf den Bauch gedreht. Als sie wach wurde hat die sich ganz verbissen in Rückenlage zurückgerollt."
"Jau", sagte Julius und strich seiner kleinen Tochter über das rotblonde Haar. Aurore öffnete die Augen. Sie waren blau geblieben, so bllau wie seine Augen. Darauf war er stolz, weil sonst alle Latierre-Mädchen die rehbraunen Augen hatten, die auch Barbara die ältere und Ursuline besaßen. Würde seinen Vater sicher doch freuen, daß etwas von ihm in einem anderen Kind weiterbestand. Aurore gluckste. Im Moment fühlte sie sich pudelwohl. Julius meinte zu Millie: "Vom Bauch her kommt sie auf Oma Line raus."
"Das liegt an meiner guten Milch, Monju. Dann kommt sie zumindest gut durch den kalten Winter."
"Apropos Winter, wollte Camille nicht noch mal wegen der Winterpflanzen herkommen?"
"Das, soll ich dir von ihr bestellen, würde sie nur mit dir abhandeln, da da ja was zwischen euch zweien abgesprochen sei, daß du unseren Garten in Ordnung hältst."
"Dann kann ich das mit ihr erst wieder am nächsten Wochenende besprechen. Aber den Laubbehälter haben wir schon?"
"Steht auf der Gegenpilzseite vom Haus knapp an der Grenze, Monju", erwiderte Millie und versetzte die kleine Wiege in sanfte Schaukelbewegungen. Aurore fiel sofort in tiefen Schlaf. Julius beneidete sie darum, von einer Sekunde zur nächsten einzuschlafen. Er sagte, daß er sich das Ding mal ansehen würde und dann, wo er schon mal draußen sei, auch gleich in den Nachrichtenpilz gehen und seine tägliche Ladung Muggelweltneuigkeiten abholen wollte. Millie nickte. "Denk aber bitte dran, daß wir in 'ner Dreiviertelstunde abendessen, Monju! Laß mich dich nur rufen, wenn du was hast, was für uns zwei ganz doll wichtig ist, daß du es unbedingt zu ende lesen oder hören mußt!" Julius nickte zur Antwort. Millie wurde wirklich zur Hausherrin.
Nachdem Julius sich den großen Behälter für das aufzusammelnde Herbstlaub angesehen hatte setzte er sich in den kleinen Schuppen, der aussah wie ein Fliegenpilz. Dort ließ er nur den Laptop und das Satellitenmodem anlaufen, um nach elektronischer Post zu suchen. Brittany Brocklehurst hatte geschrieben, daß ihre Mannschaft die Rossfield Ravens mit mehr als dreihundert Punkten Vorsprung überragt hatte und nun schon wieder zehn Punkte Vorsprung auf Tabellenplatz eins hatten. Aurora Dawn schrieb ihm, daß sie seine Familie und ihn zur Weihnachtsfeier nach Australien einlud. Er mußte klären, ob dieses Jahr wieder eine Familienzusammenkunft der Eauvives anstand. Die wurde ja fällig, wenn jemand aus der Familie vierzehn Jahre alt wurde oder wie im Falle seiner Mutter von Antoinette Eauvive und ihrem Mann adoptiert wurde. Dann hatte er noch eine Mail von John Ross aus Denver, der fragte, ob er sich in seiner Vaterrolle immer noch wohlfühle. Dem schrieb er zurück, daß er ja nur eine Tochter zum üben habe und er im Moment noch sehr glücklich damit war.
In den Weltnachrichtenkanälen, die er aboniert hatte stand ein Artikel, daß der Leiter des britischen Museums, Professor Jonathan Stuard, zusammen mit seiner Familie verschollen sei. Seit dem zwanzigsten September würde weltweit nach ihnen gesucht. Es sei nur bekannt, daß Professor Stuard mit seiner Frau Amanda und der für das kommende Winterhalbjahr in der Lady-Magret-Hall in Oxford eingeschriebenen Tochter Moira eine vierwöchige Urlaubsreise antreten wollte. Wohin genau hatten sie nicht erwähnt. Außerdem stand noch etwas von einem neunundzwanzigjährigen Ingenieur der US-Armee, der tot in seinem Schlafzimmer auf dem Bett aufgefunden worden sei. Was die genaue Todesursache sei wurde nicht bekanntgegeben, zumal sich neben der Polizeibehörde von Los Angeles auch die Bundesermittlungsbehörde FBI, die Kriminalermittlungsbehörde der Armee CID und die Kriminalermittlungsbehörde der Marine NCIS um die Zuständigkeit bemühten. Denn die Freundin des Toten sei eine Luftfahrtingenieurin der US-Marineflieger. Nach ihr würde in den ganzen USA gefahndet. Das mit den Stuards traf Julius wie ein Schlag mit einer Eiskeule. Warum waren die jetzt alle drei verschwunden? Catherine hatte doch gesagt, daß Moiras Vater einen Gedächtniszauber abbekommen hatte, daß er davon überzeugt war, einem Gasangriff in einem sowjetrussischen Geheimstützpunkt zum Opfer gefallen zu sein. Warum waren die drei jetzt verschwunden? War das eine reine Muggelangelegenheit, weil Stuard seine Familie und sich vor irgendwem in Sicherheit bringen mußte? Oder hatte da wer in der britischen Zaubererwelt keine Ruhe gefunden und die Stuards mit oder gegen deren Willen von der Bildfläche verschwinden lassen? Er druckte schnell alle Mails und Nachrichten auf Papier und sah auf die Uhr. Er hatte noch zehn Minuten bis zum Essen. Er ließ alle Geräte herunterfahren und kehrte ins Apfelhaus zurück.
Während des Abendessens sprach er mit Millie über den Fall der Stuards, von dem er nicht wußte, was genau passiert war.
"Also, das Ministerium würde sicher keine Muggel verschwinden lassen, wenn mindestens einer von denen so wichtig ist, daß die ganze Öffentlichkeit nach ihm sucht. Die würden sicher was drehen, daß die nicht lange gesucht würden, vielleicht bei einer schweren Explosion umgekommen sind oder so. Aber nach denen lange suchen lassen paßt er zu diesem Irren Riddle und seinen Leuten. Oder das Spinnenweib hat die drei von der Bühne geholt, weil es sicherstellen mußte, daß kein anderer Zauberer an dem Gedächtniszauber Catherines herumfuhrwerken kann. Immerhin könnte der ja verraten, daß sie mit dir in diesem steinernen Biest herumgeflogen ist."
"Das hätte sie dann schon an Ort und Stelle haben können, Millie", sagte Julius. Die hätte Catherine und mich doch überrumpeln können und jeden Zeugen beseitigen können. Hat sie aber nicht."
"Vielleicht kann sie nicht mehr logisch denken und ist jetzt erst drauf gekommen, daß sie das ganze nicht bekannt werden lassen darf", erwiderte Millie.
"Dann ist es jetzt zu spät für sie. Denn die Angelegenheit ist im Geheimtresor beim Zaubereiminister. Wenn uns was passiert holt er das sicher hervor, und dann ist die ganze Welt hinter ihr her."
"Wenn sie das weiß", grummelte Millie. Doch dann nickte sie. "Sie hätte ja auch einfach wegbleiben können und dich und Catherine alleine gegen dieses Biest kämpfen lassen können. Aber du hast recht, daß das sicher kein Zufall ist, daß dieser Professor Stuard ausgerechnet ein paar Tage nach seiner Rückkehr mit seiner ganzen Familie verschwindet. Vielleicht hat Catherine Murks gemacht und den Gedächtniszauber nicht richtig durchgezogen."
"Neh das nicht, Millie. Jetzt kommt mir eine Möglichkeit in den Sinn. Der Professor hat vor seiner Reise nach Nordostland irgendwelche Unterlagen bei sich zu Hause versteckt, weil er wußte, wie wortwörtlich hammerhart die Sache werden könnte. Wenn er die nach der Rückkehr wiedergefunden hat hat der sich garantiert gefragt, was da wirklich passiert ist. Wenn ich vor die Birne geknallt bekäme, daß ich was anderes erlebt habe als das, woran ich mich erinnere, würde ich auch paranoid und zusehen, möglichst unauffällig mit denen zu verschwinden, die mir wichtig sind. Dann ist der mit seiner Familie abgetaucht, und zwar so, daß er auf keiner Passagier- oder Gästeliste auftaucht."
"Wie können Muggel sowas?" fragte Millie. Julius erwähnte heimliche Bootsfahrten aufs Festland oder noch besser, einen gemieteten Privatjet oder jemanden, der sowas beschaffen und fliegen konnte. "Wenn die dann noch in irgendeine südamerikanische Bananenrepublik eingereist sind, wo gegen gutes Geld keine schlechten Fragen gestellt werden, könnten die jetzt irgendwo im Amazonas, den Anden oder einer übervollen Großstadt stecken, wo die keiner so schnell findet. Ich fürchte aber, daß sich der MI6 und Scotland Yard, vielleicht auch andere Polizeibehörden und Geheimdienste das nicht bieten lassen, daß ein Bürger mit Bekanntheitsgrad so lange unauffindbar bleibt. Abgesehen davon, was die alles aufgeben müssenund daß sie im Grunde niemandem mehr über den Weg trauen dürfen."
"Dann hoffe ich mal, daß die drei nicht mit den falschen Leuten zusammengeraten. Ich hätte deine ehemalige Schulkameradin gerne mal kennengelernt."
"Ich weiß nicht, Millie, die wurde mit den Jahren immer hochnäsiger. Ihr hättet euch vielleicht keine zehn Minuten ausgehalten."
"Wer weiß. Vielleicht hätte ich die locker auf den harten Boden zurückgeholt, wenn die gesehen hätte, daß Lernen und vornehmtun allein nichts bringen und daß du ihr um ein Kind voraus bist."
"Wenn sie nicht einen auf die erste Königin Elisabeth und Jeanne d'arc zusammen machen will und sich zur ewigen Jungfrau erklärt." Bei diesem Gedanken mußte er unwillkürlich an die verhängnisvolle Wette zwischen Blanche Rocher und Ursuline Latierre denken. Millie grinste nur:
"Selbst meine Mutterschaftsbetreuerin Béatrice Latierre wird eines Tages einen süßen Wonneproppen auf diese unsere Welt schupsen. Aber wenn wir nicht wissen, wo deine Grundschulkameradin jetzt ist bringt's das auch nicht, sich drüber die Mäuler zu zerreißen, ob die und ich gut klargekommen wären oder nicht."
Nach dem Abendessen machten Millie und Julius für ihre Tochter Musik, bis sie schlummerte. Dann hielten Millie und Viviane Eauvives Bild-Ich noch eine Spanischstunde mit Julius ab. Das gehörte mittlerweile zu den werktäglichen Abendritualen, wenn es draußen nicht mehr warm genug war, um bis zur Bettgehzeit auf der Wiese zu sitzen.
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In den nächsten Tagen reiste Julius kurz nach Dienstantritt per Apparieren zur Mittelmeerküste, wo ein vom Ministerium bereitgestelltes Boot mit magischem Außenbordmotor bereitgehalten wurde. Er hatte ein s9-ausrüstungsformular ausfüllen müssen, um das Boot und einen Duotectus-Anzug mit Wasser- und Sättigungskeksvorräten ausborgen zu dürfen. Mit dem wasserblauen Boot, das "Thalassa" hieß, fuhr er in weniger als einer halben Stunde zu einem Punkt, wo er ohne Gefahr und Last für die Meerleute Anker fallen lassen konnte. Im Schutz des Duotectus-Anzuges mit der eingearbeiteten Reisewindel verbrachte er dort jeden Tag acht Stunden, wobei die Clanführer ihm und Meridana einen geschützten Platz in einer Unterwassergrotte freihielten. Dort notierte er sich alles, was die Meerjungfrau von Martinique ihm berichtete, angefangen von ihrer Wandlung von der Hexe zur Wasserfrau über den Auftrag, den sie auszuführen hatte und die Zeit in der Kolonie vor der von Frankreich verwalteten Vulkaninsel. Er notierte alles mit einem Fettstift auf weißen Marmortafeln. Allerdings ließ er alles, was er über den Krug erfuhr ungenau. Er notierte, um was für die Akten zu haben, daß nach der Gefangennahme der verwandelten, die trotz ständiger Nachfrage nicht ihren wahren Namen oder den Standort ihrer Auftraggeber verraten wollte, ein muschelschalenförmiges Etwas, was zwei Geister schiffbrüchiger Zauberer als Meeresheiligtum ausgegeben hatten, von irgendwem zerstört worden sei, was die Meerleute als Frevel an ihrem Heiligtum ahndeten. Was er wirklich erfuhr lagerte er in einer separaten Flasche für Erinnerungen aus, um diese nach Abschluß des Auftrages in sein eigenes Denkarium umzufüllen. Dann würde er auch Millie in die Sache einweihen, weil das ja im einzelnen eine SerSil-Sache war. Er war sich jetzt ganz sicher, daß der Krug Aiondaras existierte und daß jemand ihn hatte berühren und wegtragen dürfen. Damit waren aber nicht der Pottwal gemeint, den Meridana bei ihrer fehlgeschlagenen Bergungsaktion gesehen hatte und auch nicht andere Meerestiere, die sich wie fremdgesteuert in der Nähe des Kruges herumgetrieben hatten. Julius hatte in seinem Buch über Astralmagie was über den Weg der Fische gelesen, bei dem jemand seinen Geist in den Körper eines Meerestieres übertragen konnte, um dieses wie den eigenen Körper zu steuern. Damit konnten Sachen wie Kopfblasentiefenschwelle, Dianthuskrautwirkungsdauer und die Beschaffung von Duotectus-Anzügen umgangen werden. Dies wolte Julius sorgfältig festhalten.
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"Der arbeitet sich von Ost nach West durch", grummelte Hubertus Brunacker, als er nach einer langen Sitzung mit seinen Kollegen im Bundeskriminalamt und in einer ausführlichen Telefonkonferenz mit den Hauptkommissaren Kröger, Schramm, Unterpfortner und Gruber gesprochen hatte. Gruber war erst vor einem Tag als weiteres Mitglied im tragischen Club der ermittelnden Beamten dazugekommen, als trotz Fahndung nach dem Blondschopf, der Amtsintern als Tänzer bezeichnet wurde, ein weiteres junges Mädchen entführt worden war. Diesmal war es in Offenburg, Baden-Württemberg passiert. Die gerade erst vierzehn Jahre alte Gymnasialschülerin Heidemarie Drechsler war nach ihrer Jazzgymnastikstunde nicht nach Hause gekommen. Befragte Zeugen hatten sie mit einem schlanken, hochgewachsenen Mann gesehen, der auf sie eine überwältigende Ausstrahlung ausgeübt habe. Mit ihm sei sie in einem Kleinwagen der Marke Smart davongefahren. Allerdings hatte sich keiner der Zeugen die Autonummer aufgeschrieben. Brunacker ärgerte sich, daß man das BKA erst nach dem Verschwinden von Christiane Feldmeier eingeschaltet hatte. Vor allem ärgerte ihn, daß die Verbindungsfrau in Dresden ausgerechnet jetzt in Mutterschaftsurlaub sein mußte, wo offenkundig etwas vorfiel, was eindeutig in ihren und in seinen Zuständigkeitsbereich fiel. In Ingolstadt hatte er keinen Verbindungsmann und auch keine Verbindungsfrau. So hatte er erst davon erfahren, als über das Landeskriminalamt in München und das in Dresden ein gemeinsamer Ermittlungsantrag an das BKA ergangen war. Zumindest waren die Kollegen in Offenburg relativ schnell am Tatort gewesen. Brunacker saß wie auf glühenden Kohlen oder wie ein Frosch im langsam heißer werdenden Kessel, wie er sich gerne ausdrückte. Er mußte so schnell er konnte an den Tatort, ohne daß es den anderen Kollegen komisch vorkam, daß ein Innendienstmitarbeiter aus Wiesbaden die Ermittlungsarbeit vor Ort begutachten wollte. Aber wenn er innerhalb der nächsten 24 Stunden nicht an den Tatort kam mußte er es den anderen überlassen, die Spur zu verfolgen. Doch zuerst mußte er seine eigentlichen Vorgesetzten und Mitarbeiter unterrichten.
"Wenn der nach Berlin gekommen wäre hätten wir ihn wohl sofort eingekreist", seufzte Almut Lauterbach, die in Berlin als Polizeipsychologin arbeitete und da vor allem aufpaßte, das Fälle, die außerhalb des üblichen Rahmens verliefen, nicht von ahnungslosen Polizisten weiterverfolgt wurden. Außer ihr war noch Brunackers oberster Vorgesetzter, Herr Weizengold bei der Besprechung anwesend.
"Almut, Sie kennen sich sowohl in der Denkweise der Muggel als auch in der Lebensführung jugendlicher Muggel aus. Kann es wirklich nichts geben, daß muggelweltlichen Ursprungs ist?" fragte Armin Weizengold. Frau Lauterbach schüttelte den Kopf.
"Der Kollege Brunacker hat uns doch alle Aussagen und Untersuchungsergebnisse zur Verfügung gestellt, Armin. Es wird immer wieder erwähnt, daß der Entführer der jungen Mädchen eine besondere Ausstrahlung ausgeübt hat, auf die Männer und Frauen unterschiedlich ansprachen. Wir kennen doch alle Wesen, auf die sowas zutrifft."
"Töchter des Abgrundes", grinste Wilhelm Bärenzahn, der Assistent von Armin Weizengold.
"Wenn das jetzt ein Witz gewesen sein soll erwarten Sie bitte nicht, daß wir lachen", knurrte Armin Weizengold seinen Untergebenen an. Almut Lauterbach funkelte den Kollegen verärgert an. Doch dann gewann ihre kühle, alles sachlich erfassende art wieder die Oberhand.
"Ich denke nicht, daß die weiblichen Exemplare dieser Zauberwesenart davon begeistert wären, daß Sie sie mit den Abgrundstöchtern gleichsetzen, Willi. Ich sprach natürlich von den Veela, Kallanthropoidis orientalensis veela", sagte Almut Lauterbach. Brunacker nickte. Die Idee war ihm auch schon gekommen, nachdem er die Vorgehensweise des Entführers, kriminologisch auch Modus operandi, studiert hatte. Darauf bat Weizengolds Außendienstkoordinatorin für Norddeutschland, Albertine Steinbeißer, ums Wort.
"Dann ist das womöglich auch eine Sache des Zauberwesenbüros. Aber soweit ich weiß sind die männlichen Veela doch sehr menschenscheu und suchen nur die Nähe reinrassiger Veela."
"Ja, für gewöhnlich, Albertine. Aber wie bei Menschen und ordinären Tieren kann es eben auch vorkommen, das durch Gehirnbeeinträchtigungen oder traumatische Erlebnisse ein abweichendes Verhalten geäußert werden kann. Abgesehen davon, daß weibliche Veela keine Probleme damit haben, von reinrassigen Menschen gesunde Kinder zu bekommen", sagte Almut Lauterbach. Albertine Steinbeißer nickte zustimmend. Brunacker sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Platz auf. Sein Vorgesetzter blickte ihn tadelnd an. Doch Brunacker kümmerte sich nicht darum.
"Armin, Almut, dann haben wir es womöglich mit einem geistesgestörten, wenn nicht sogar geisteskranken also wahnsinnigen Halbveela zu tun, der aus einem nur ihm bekannten Grund unberührte Mädchen entführt. Dann beantrage ich, mit den Kollegen vom ZWB nach dem Entführer suchen zu dürfen. Noch kann ich seine Spur verfolgen. Wir haben schließlich zwei von diesen französischen Rückschaubrillen da, oder nicht?"
"Bitte setzen Sie sich wieder hin, Hubertus! entgegnete Armin Weizengold. "Auch wenn ich ein paar Zentimeter länger geraten bin als Sie und die Kollegen und Kolleginnen hier möchte ich mir nicht unnötig den Hals verrenken. Danke!" Brunacker nahm wieder Platz. "Können Sie das mit Sicherheit feststellen, ob es sich um einen geistesgestörten Voll- oder Halbveela handelt?" fragte Weizengold Almut Lauterbach.
"Dies wäre nur zu bestätigen, wenn Sie Hubertus' Antrag unterstützen und ihn mit einer der Rückschaubrillen den Tathergang nachbeobachten lassen, sofern dieser nicht schon zu lange her ist."
"Gerade mal einen Tag, sagte Brunacker, der seine Ungeduld nun nicht mehr länger zügeln konnte. "Wir haben also noch einen Tag zeit, den Tathergang nachzubetrachten und womöglich den Täter zu verfolgen und ihn dingfest zu machen."
"Falls es wirklich ein reinrassiger oder teilweiser Veela männlichen Geschlechts ist könnten Sie eine herbe Enttäuschung erleben, Hubertus. Bei allem Jagdeifer, den Sie an den Tag legen wirkt die auf Menschen betörend wirkende Aura eines oder einer Veela gleichzeitig als natürlicher Unortbarkeitszauber. Dieser erstreckt sich, soweit ich während meiner Studien humanoider Zauberwesen gelernt habe, so weit, wie ein Veela mit gesunder Stimme rufen, schreien oder singen kann, also zwischen zweihundert und eintausend seiner Körperlängen."
"Na und, die Brille muß ja nicht seinen jetzigen Standort zeigen, sondern nur sein Bild von vor einem Tag", sagte Hubertus Brunacker. Albertine Steinbeißer machte ein bedauerndes Gesicht und bat ums Wort.
"Ich möchte Ihnen nicht den letzten Hoffnungsfunken ausblasen, Hubertus. Aber Unortbarkeitszauber wirken immer da, wo der unortbare war oder ist. Abgesehen davon hat es sich schon mehrfach bestätigt, daß die Rückschaubrille, so genial sie für reine Nachbetrachtungen vergangener Ereignisse ist, an unortbaren Wesen gescheitert ist. Die erste Anführerin von Nocturnia, diese Griselda Hollingsworth, hat sich auch mit einer Unortbarkeitsaura umgeben. Die sorgte dafür, daß der Ort, den sie im Zeitrahmen der Rückschaubrille aufsuchte, undeutlich bis gar nicht zu erkennen war. Falls wir es wirklich mit einer männlichen Ausgabe einer Veela, vielleicht auch einem Halbling zu tun haben, würden Sie zum betreffenden Zeitpunkt nur Nebel oder Dunkelheit zu sehen kriegen. Wenn diese Zone wirklich mehr als zweihundert Meter Umkreis überdeckt, würden Sie nicht sehen können, in welche Richtung der Täter sich abgesetzt hat."
"Das will ich genau wissen. Hiermit beantrage ich eine Vor-Ort-Überprüfung mittels magischer Rückschauvorrichtung, Herr Weizengold."
"Sehen heißt glauben, sagen die Muggel", spottete Wilhelm Bärenzahn. Sein Vorgesetzter blickte ihn dafür wütend an und zischte:
"Willi, wenn Sie nichts konstruktives zu sagen haben sagen Sie besser gar nichts, bis die Wichtel, die Sie heute morgen offenbar gefrühstückt haben, ordentlich verdaut sind!" Dann wandte er sich an Brunacker. "Sie werden zusammen mit Frau Steinbeißer und einem Außeneinsatzkollegen aus dem Zauberwesenbüro nach Offenburg reisen. Um Ihr fernbleiben aus Wiesbaden zu rechtfertigen lasse ich Ihren Polizeikollegen in Stuttgart ein direktes Amtshilfeersuchen stellen, da Sie offenbar schon einmal mit solchen Fällen zu tun hatten. Diese Fälle müssen sie dann rückwirkend dokumentieren."
"Hauptsache, wir bekommen die Genehmigung für die Rückschaubrille innerhalb der nächsten zwanzig Stunden", schnarrte Brunacker.
"Und was machen wir, wenn wir diesen Tänzer wirklich finden und umstellen können?" fragte Albertine Steinbeißer.
"Falls Sie ihn nur mit einem der Mädchen stellen können unbedingt lebend festnehmen. Wir müssen ihn verhören und herausbekommen, wo die anderen sind. Ich gehe zu Minister Güldenberg und bitte ihn, uns Veela-Experten aus Bulgarien mit guten Deutsch- oder Englischkenntnissen zu Hilfe kommen zu lassen."
"Da müssen Sie nicht unbedingt nach Bulgarien", sagte Almut Lauterbach. "In Frankreich ist eine reinrassige Veela wohnhaft, deren Abkömmlinge ebenfalls dort wohnen. Eine bessere Expertin bekommen sie nicht. Abgesehen davon können Veela sich gegenseitig aufspüren."
"Also fangen wir einen Dieb mit einer Diebin", grummelte Hubertus Brunacker.
"Also ehrlich, gibt es bei Ihnen in diesem Muggelamt auch unsichtbare Wichtel zum Frühstück", knurrte Weizengold.
"Neh, nur Hannebambels", erwiderte Brunacker. Alle bis auf Albertine Steinbeißer machten "Häh?!" oder fragten "Wie bitte?!" Hubertus Brunacker mußte grinsen. Albertine grinste zurück und sagte:
"Das ist ein hessischer Ausdruck für einen Einfaltspinsel, Idioten oder Dummkopf, wenn ich das von meinem Vetter aus Frankfurt noch richtig mitbekommen habe."
"Dann hoffe ich sehr, Kollege Brunacker, daß Sie nicht auch ein solcher - ähm, - Hannebambel sind", erwiderte Armin Weizengold.
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Hubertus Brunacker hätte vor Wut aus der Haut fahren und sich selbst den Kopf abreißen und weit von sich fort schmeißen wollen. Doch das hätte auch nichts daran geändert, daß die Kolleginnen Steinbeißer und Lauterbach recht gehabt hatten. Als sie die Tanz- und Sportschule aufgesucht hatten, zeigte sich in der magischen Rückschau des Retroculars zum genauen Zeitpunkt der Tat nur dunkelgrauer, wabernder Nebel. Selbst als Brunacker sich vor die Schule hinstellte und zu Fuß losging, um zu sehen, ob er nicht doch was sah, blieb dieser dunkelgraue Dunst vor den Brillengläsern. Beinahe wäre er auf die Fahrbahn geraten und von einem Auto überfahren worden. Nur Kuno Emsenbein, der vom Zauberwesenbüro mit dabei war, verdankte Hubertus Brunacker, daß er nicht bei einem muggelmäßigen Autounfall in die ewigen Jagdgründe abberufen wurde. Der Fahrer des weißen Opel Kadett wurde per Gedächtniszauber darauf gebracht, hier niemanden gesehen zu haben.
"Also, wenn Sie sich schon überfahren lassen wollen, Hubertus, dann hier bitte nur von einem Mercedes", sagte Theo Reiserle, der für Stuttgart zuständige Muggelkontaktzauberer.
"Nein, von einem roten Yaguar E", knurrte Hubertus Brunacker und nahm die Rückschaubrille ab. Damit konnte er wieder klar und deutlich sehen, was hier und jetzt vor sich ging.
"Dafür müssen Sie nach New York fahren, Hubertus", trieb Theo Reiserle den Scherz weiter.
"Öhm, soweit ich weiß leben Yaguare eher im Urwald und nicht in Muggelsiedlungen, abgesehen davon, daß ich noch keinen Roten gesehen habe", erwiderte Kuno Emsenbein und erntete schallendes Gelächter der beiden anderen Zauberer. Albertine Steinbeißer sah den kleinen, drahtigen Zauberer Kuno Emsenbein an und sagte:
"Sie meinen ein viel zu schnell fahrendes und nur für Geldprotze erschwingliches Automobil, Kuno. Müssen Sie sich nicht merken."
"Also, wir müssen bedauerlich bekennen, daß wir mit Hilfe der Rückschaubrille keine Verfolgung des Täters aufnehmen können, da sich für dessen Flucht mehr als zwei Straßen anbieten und bei der möglichen Gesamtausdehnung der Unortbarkeit von tausend Metern wesentlich mehr weiterführende Abzweigungen anbieten, die alle abzusuchen mehr Zeit beansprucht als wir die Rückschau aufrechterhalten können, richtig?" fragte Theo Reiserle.
"So ungern ich das zugebe", setzte Hubertus an, "wir müssen uns auf die magielosen Fahndungsmethoden der muggelweltlichen Ermittlungsbehörden verlassen. Aber zumindest wissen wir nun mit absoluter Sicherheit, daß hier Magie im Spiel ist. Denn der Nebel besaß Kreisform, strömte also von einem sich bewegenden Zentrum aus."
"Dann gebe ich dieses Ermittlungsergebnis an meinen Vorgesetzten weiter und daß wir zusehen müssen, daß wir diesen Mädchenräuber beim nächstem Mal zu fassen kriegen."
"Gibt es ein Mittel gegen die Ausstrahlung der Veelas?" fragte Reiserle. Kuno Emsenbein schüttelte den Kopf. Albertine Steinbeißer sah jedoch sehr überlegen aus, als sie sagte:
"Nur wenn jemand auf übliche Weise auf die Ausstrahlung eines männlichen Veela reagiert."
"Falls Sie darauf anspielen, Albertine, daß eine Frau, die nicht für Männer empfänglich ist gegen die Veela-Ausstrahlung immun sei muß ich Sie enttäuschen", erwiderte Kuno Emsenbein. "Ich konnte vor unserer Ankunft hier in Offenburg ermitteln, daß es in Rußland eine Veela gegeben haben soll oder noch gibt, die sich darauf spezialisiert hat, unberührte Knaben oder homophil veranlagte Männer zu gewinnen, mit ihr Nachwuchs zu zeugen. Wer das genau war oder ist wissen leider nur die Russen. Aber falls Sie dies wollen kann ich ja nachfragen lassen."
"Ach, Sie meinen, es kommt nicht auf die Vorlieben, sondern nur auf die Anatomie an?" grummelte Albertine Steinbeißer.
"So müssen wir das wohl sagen", erwiderte Emsenbein. Hubertus fiel dazu was ein:
"Stimmt, eine von den Discogängerinnen in Dresden hat erwähnt, daß sie es hinterher abartig gefunden hat, daß sie von diesem Wesen betört worden ist, wo sie sonst nichts für Männer übrig habe." Albertine Steinbeißer nickte.
"Dann ist das reine Männersache, Jungs", sagte Hubertus. Gegen zehn oder zwanzig Zauberer gleichzeitig kann der dann auch nichts machen."
"Wenn er noch hier ist", sagte Reiserle. "In Dresden hat er angefangen, dann Ingolstadt, dann Offenburg. Könnte sein, daß der jetzt entweder sein Ziel erreicht hat oder noch weiter nach Westen und Süden vordringt."
"Dann freuen sich die Franzosen", grummelte Hubertus Brunacker. Immerhin wollten sie diese eh kontaktieren, zumindest Armin Weizengold wollte das.
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Als Julius am zweiten Oktobermittwoch zu einer letzten Unterredung mit Meridana fuhr wäre er fast in eine Herde Hippocampi hineingeraten. Die Mischwesen, die vorne Pferd und hinten Fisch waren, trugen Schüler aus Beauxbatons zur Unterwasserkolonie. Professeur Fourmier schwamm aus eigenen Kräften um die kleine Reitertruppe herum. Julius wäre sicher entdeckt worden, wenn er nicht den Desillusionierungszauber auf sich angewendet hätte, der ihn regelrecht im Wasser verschwimmen ließ. Er mußte eine Viertelstunde warten, bis er selbst zur Kolonie hintauchen konnte, ohne aufzufallen. Maritia, die gerade nach den gerade einjährigen Meerlingen, den Kindern der Wassermenschen, sehen wollte, sah Julius und geleitete ihn ohne ein Wort zur Unterwassergrotte. Erst dort sagte sie mit ihrer Weinglasmusikstimme:
"Sie wird bald ihre Meerlinge freidrücken, Julius. Weiß Ornelle Ventvit schon, was mit den beiden Meerlingen passieren soll?"
"Ich bin morgen noch mal da, wo wir sie hergeholt haben und spreche mit einer Kollegin auf der Insel, wie wir die Meerlinge zu ihrem ursprünglichen Volk zurückbringen können, Maritia. Die warten sowieso schon ungeduldig darauf, daß entweder Meridana oder die Meerlinge zu ihnen zurückkommen."
"Wann ist das Treffen der Wasser- und Landmenschen zu diesem Vorfall, daß eine Landfrau einfach so zu einer Wasserfrau geworden ist?" wollte Maritia wissen.
"Vor der Wintersonnenwende", sagte Julius. Sicher hatte das Ereignis bei den Meerleuten für Unruhe gesorgt. Denn daß ein Landmensch, der von vielen Meerleuten für ein rücksichtsloses, schwächliches Wesen gehalten wurde, zu einem gewandten, kraftvollen, erhabenen meermenschen werden konnte, durfte nicht einfach so hingenommen werden. Immerhin wußte Julius jetzt, daß diese Verwandlung durch einen Trank hervorgerufen worden war und dieser zwölf Stunden lang wirkte. Wer bis dahin im Wasser blieb blieb ein Wassermensch. Wer es gegen den eigenen Drang, im Wasser zu bleiben schaffte, das Wasser vollständig zu verlassen, verwandelte sich in einen Landbewohner zurück. Das sah Anthelia ähnlich, sowas einzusetzen. Doch Julius hatte nach dem ersten Impuls, Meridana auf die Führerin der Spinnenschwestern anzusprechen darauf verzichtet. Vielleicht wirkte der Verratsunterdrückungsfluch noch, mit dem Anthelia ihre Getreuen belegt hatte. Sich damit umbringen zu lassen hielt er für keine gute Idee. Der einzige Trost dabei wäre, daß Anthelia, sofern sie davon erführe, sehr verärgert über ihre eigene Untat sein würde, weil sie dadurch keine Gelegenheit mehr bekam, Julius ihre doppelte Dankbarkeit zu erweisen.
Nach dem letzten Gespräch mit Meridana, deren Hinterleib immer wieder von den langsam ans kalte Außenwasser der Weltmeere drängenden Nachkommen zuckte, erstattete Julius seiner Vorgesetzten noch einmal bericht.
"Gut, dann schließen wir die Angelegenheit morgen ab, Julius. Sie reisen nach Martinique und stimmen die Repatriierung der wohl in einer Woche schlüpfenden Meerlinge in ihr Heimatvolk ab. Mademoiselle Ventvit, Héméra, ist sicherlich schon sehr gespannt auf diese Unterredung."
"Ich auch", erwiderte Julius. Denn ihn interessierte schon, wie neugeborene Kinder von Wassermenschen aussahen. Angeblich sahen sie gewöhnlichen Fischen ähnlich. Falls ja, welchen Fischen genau?
Als Julius nach dem Abendessen noch einmal in seinem Fliegenpilz-Geräteschuppen saß las er eine am späten Nachmittag abgeschickte E-Mail seiner Mutter.
Hallo Julius!
Ich hoffe, deine Arbeit gefällt dir immer noch. Ich hörte sowas, daß du von deiner Vorgesetzten durch die Gegend geschickt wirst und auch häufiger in einer Stadt von Meermenschen zu tun hast, wegen der neuen Zuteilung dieser Zauberwesenart.
Sage millie bitte noch mal einen schönen Dank für die Bilder von Aurore! Die Kleine müßte ja in den nächsten Wochen anfangen, sich zumindest andauernd herumzudrehen. Millie deutete an, daß sie auch schon die ersten zielgerichtteten Greifversuche macht. Madeleine ist ein wenig eifersüchtig, weil ihr eine Tochter habt und sie nicht. Sie gönnt es euch aber. Du kennst Madeleine L'eauvite ja auch ganz gut. Daher sollte dich das weder wundern noch erschüttern, daß sie gesagt hat, daß sie ja mit Catherines Töchtern schon sehr intensive Pflegeerfahrungen gesammelt hat, aber davon dürfe "ihre kleine Schwester" nichts wissen.
In meiner Abteilung ist es nach den abgeklungenen Aktivitäten dieser lichtscheuen Gruppierung etwas weniger hektisch geworden. Ich habe Zeit, meinen Umzug in die Staaten und meinen Arbeitsplatzwechsel in gesittetem Tempo vorzubereiten. Außerdem wurde ich ja von Madame Nathalie Grandchapeau zur Kommunikationskoordinatorin mit gleichartigen Behörden in Großbritannien, Deutschland, Australien und den Staaten ernannt. Das heißt, ich betreue den Aufbau von Internetverständigungsplattformen. In dem Zusammenhang darf ich dich von Mrs. Priestley aus Cambridge grüßen. Sie hat es sehr wohlwollend aufgenommen, daß du vorzeigbare Prüfungsergebnisse erzielt hast und deshalb auch schnell in Erwerbsarbeit kommen konntest. Sie erwähnte zwar sowas, daß sie sich vorgestellt hat, daß du zumindest ein oder zwei Jahre in die besondere Fakultät nach Oxford gehst, um dein Theoriewissen weiter auszubauen und eigene Kontakte zu knüpfen, weiß aber, daß du das auf familiärer Ebene ja besser hinbekommst als in einem akademischen Betrieb und daß du jetzt mehr Wert auf praktische Umsetzung deiner Ausbildung legst. Du kannst sie ja gerne noch mal anschreiben, wenn es etwas gibt, was du ihr erzählen möchtest und darfst. Ich kenne diese internen Vertraulichkeiten ja auch aus meiner Arbeit.
Falls du am Wochenende Zeit und Lust hast, komm doch mal wieder zu mir zu Besuch! Immerhin stehen hier noch ein paar Sachen von dir, die du jetzt, wo du ja einen mehr als ausreichend großen Wohnraum zur Verfügung hast, sicher noch gut bei dir unterstellen kannst. Die ganzen Bücher, die du gelesen hast, auch noch manche Bilderbücher, wo du gerade vier und fünf Jahre alt warst. Dann können wir auch gerne über die Sachen plaudern, die besser nicht per E-Mail besprochen werden. Immerhin ist für uns beide ja doch einiges im Umbruch.
Wenn du Millie diese Nachricht zeigen möchtest: Danke noch mal für die letzten Fotos von der Kleinen! Allerdings kann ich das Bild, wo sie gerade ihr zweites Frühstück zu sich nimmt nicht frei aufstellen, da deine Frau in der Eile wohl vergessen hat, sich öffentlichkeitstauglich anzuziehen. Ich bin zumindest froh, daß ich den Umschlag mit den Bildern erst nach der angesetzten Vorbereitungsarbeit geöffnet habe. Madeleine hat ja schon häufiger anklingen lassen, daß sie auch gerne noch eine Tochter bekommen hätte, aber mit Catherines Töchtern "geübt" habe, wie das sein würde. Antoinette ist im Punkte Freizügigkeit wesentlich unerbittlicher als Madeleine. Wenn Millie mir zeigen wollte, daß ich sehr beruhigt sein kann, daß Aurore nicht verhungern muß, dann ist diese Botschaft bei mir angekommen.
Bitte schreibe mir auf dem einen oder anderen Weg, ob du am Wochenende Zeit hast!
Bis dann!
In Liebe, deine Mutter
Julius kannte seine Mutter. Wenn sie schrieb, daß sie gerne noch was privates besprechen wollte, dann mußte er das so auslegen, daß es etwas gab, über das sie nicht offen sprechen wollte oder durfte. Er schrieb ihr also zurück, daß er sich am Sonntag Zeit nehmen könne, da er dienstlich noch einmal mehrere Tage verreisen müsse. Er ließ aus, wohin und weshalb. Dann druckte er die E-Mail und seine Antwort darauf für Millie aus.
"Hätte mich jetzt auch gewundert, wenn Martha da nichts zu geschrieben hätte. Ist auch auf Madeleines Drachenmist gewachsen. Die hat gemeint, daß ich mich nicht trauen würde, mich und die Kleine beim Stillen fotografieren zu lassen. Da konnte ich ja schlecht den diskreten Umhang anziehen", rechtfertigte Millie das erwähnte Foto. Dann sagte sie: "Da ist bestimmt irgendwas passiert, was mit deiner oder ihrer Arbeit zu tun hatt. Sonst hätte sie ja nicht so klar betont, etwas privat zu besprechen. Wer seine Verwandten besucht redet doch ganz selbstverständlich über private Sachen. Diese Bilderbücher würde ich mir auch gerne ansehen, auch wenn die Bilder wohl auch nur ganz unbeweglich sind und keine Geräusche machen, wenn man auf eine bestimmte Stelle drückt."
"Sind ja auch eher Bücher über Tiere, Autos und Flugzeuge. Aber da sind auch ein paar Dino-Bücher bei, die ich mit fünf Jahren gekriegt habe."
"Ach, die magielosen Urweltdrachen? Die interessieren mich auch. Wie lange bist du auf Martinique?"
"Morgen hin, dann mit Mademoiselle Héméra Ventvit die letzten Absprachen mit den Meerleuten durchgehen und dabei sein, wenn das Abkommen unterschrieben wird. Ich hoffe nur, daß Monsieur Louvois nicht wieder so feindselig und bestimmerisch drauf ist wie beim letzten Mal."
"Und das darfst du alleine machen? Hoffentlich kriegen das ein paar Leute bei deiner Behörde nicht in den falschen Hals."
"Der einzige, der sich auf die Zehen getreten fühlen könnte ist Augustin Grandville. Aber der ist wegen anderer Sachen gut eingespannt, über die ich privat nichts erzählen darf." Millie grinste. "Muß ich auch nicht mitkriegen", sagte sie.
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"Immer schön den Ring anlassen, Monju. Sonst kommt Tines Klassenkameradin auf die Idee, wir zwei wären nicht mehr zusammen", scherzte Millie am Tag, als Julius nach Martinique verreisen sollte.
"Da könntest du recht haben, daß sie da vielleicht drauf lauert, sowas mitzukriegen", erwiderte Julius.
Er flohpulverte sich zuerst in das Ministerium. Von dort aus ging es per Portschlüssel direkt in die Außenstelle des Zaubereiministeriums nach Fort-de-France auf Martinique, wo er bereits von Mademoiselle Héméra Ventvit erwartet wurde. Für diese hatte er vorzeigbare Bilder seiner Tochter im Reisegepäck. Das wichtigste jedoch war die mit Ornelle abgesprochene Begründung, warum Meridana nicht mehr nach Martinique zurückkehren würde. "Ach, das darf sie, obwohl sie diesen Verwandlungszauber gemacht hat?" wollte Héméra wissen, als sie mit Julius in ihrem Büro saß und einen Klangkerker aufgebaut hatte.
"Laut der Neubestimmung der Meermenschen dürfen sie auch nach Zaubererweltrecht gegen Artgenossen klagen, die ihnen geschadet haben. Und daß sie dazu genötigt wurde, von Méribelles Gefährten zwei Kinder zu kriegen kann laut Zauberergesetz schon als strafbare Handlung betrachtet werden. Ich habe mich da noch mal durch die Gesetze gelesen und ..."
"Wie alle, die bei meiner offiziellen Vorgesetzten in Paris ihre ersten fünf Jahre erlebt haben", schnitt Héméra ihm das Wort ab. "Ich hätte jedoch gedacht, daß wegen der Einstufung des Falles keine öffentliche Verfolgung möglicher Straftaten ansteht."
"Davon wird auch abgesehen, indem Meridana bei uns in Frankreich Asyl bekommt und die Kolonie von Martinique trotzdem das Friedensabkommen bestätigt. Immerhin dürfen die von ihr ungewollt bekommenen Kinder ja wieder hierher, da Meerlinge ja keine Säuglinge sind, die bei der Mutter oder einer Amme bleiben müssen."
"Hoffentlich kriegst du das mit Méribelle hin, daß sie nicht doch noch auf Rückführung "ihrer neuen Bürgerin" besteht", sagte Héméra. Sie hatte die persönliche Anrede gebraucht, womöglich, um ein stärkeres Kameradschaftsgefühl zu erzeugen.
Monsieur Louvois meinte vor dem Aufbruch des aus dem Mutterland gekommenen Amtsanwärters noch, seine Rangstellung hervorheben zu müssen. "Auch wenn der Minister und Ihre direkte Vorgesetzte Ihnen die Verantwortung für diese Angelegenheit zugestanden haben sollten Sie sich immer dessen bewußt sein, daß, wenn Sie bei Ihrer Unterhandlung ein mir nicht genehmes Ergebnis erzielen, erst einmal mir persönlich rechenschaftspflichtig sind. Sehen Sie ja zu, daß uns die Mörder unserer fünf Mitarbeiter ausgeliefert werden! Ich werde dieses Friedensabkommen nur deshalb unterschreiben, weil ich keine unbeteiligten Menschen, Muggel oder Zauberer, gefährden will. Sollte meine Bedingung nicht angenommen werden, so behalte ich mir immer noch eine Strafexpedition vor. Es wäre sehr gut, wenn Sie dieser Unterwassermajestät dies deutlich, aber auch im Rahmen diplomatischer Sprachregelungen vermitteln könnten. Wenn Sie dazu nicht fähig sind, dann sagen Sie dies am besten gleich, um vermeidbare Fehler zu verhüten!"
"Ich werde weder offen noch indirekt drohen, Monsieur Louvois. Ich werde lediglich anbieten, daß die Meermänner, die Ihre fünf Mitarbeiter haben ertrinken lassen, zu einer Anhörung erscheinen, um ihre Sicht der Dinge vorzubringen. Sollten Sie dann immer noch davon ausgehen, es mit vorsätzlichem Mord zu tun zu haben, können Sie die betreffenden Wasserleute ja inhaftieren lassen."
erbittet dieser Monsieur Louvois die Befragung meiner Krieger?" Julius nannte den Termin. "Dann richte ihm bitte aus, daß die Krieger, die eure fünf Männer festgenommen und gefangengehalten haben, wegen Gefährdung der Stadt und ihrer Bewohner von mir in die offene Tiefe des Meeres verbannt wurden. Sie dürfen nicht näher als eine Mondreise von uns entfernt leben. Wenn er meint, sie finden zu müssen, dann soll er sie suchen. Kannst du ihm das so sagen?" Julius überlegte kurz. Dann nickte er. Zwar würde Louvois diese Behauptung nicht abkaufen, aber Grandchapeau würde diese Erklärung als offizielle Beteuerung der Königin erhalten, und der konnte Louvois dann dazu bringen, auf einen offenen Angriff zu verzichten. Falls das nicht gelang, würde jeder Vorstoß ins Leere gehen und womöglich eine Reihe von Haiangriffen und anderen "Unglücksfällen" im Meer provozieren.So sagte Julius:
"Ich bin nur der Bote. Ich darf keine Vorschläge machen oder Entscheidungen treffen."
"Dann kehre zurück zu den deinen und verkünde ihnen, daß ich mit zehn meiner Gardisten am nächsten Tag in der Nähe eures Strandes warte, um das Abkommen zu bekräftigen!"
"Ich werde es ausrichten! Vielen Dank, daß Ihr mich angehört habt!" erwiderte Julius höflich. Dann kehrte er mit Héméra Ventvit auf das Boot zurück, von dem aus sie getaucht waren. Dort klappte Julius die Muschel auf und fand einen flachen Stein, in den jemand etwas eingeritzt hatte: Er mußte den Stein aber gegen das Licht halten, um es genau lesen zu können:
An den Jüngling, der Meridana aus meiner Stadt hinausgebracht hat.
Wir sind nicht so unwissend, wie du vielleicht geglaubt hast. Uns sind viele Sachen heilig, und der große Muschelkrug war das wichtigste Heiligtum, daß die große Quelle allen Lebens uns anvertraut hat. Das die Propheten keine Boten des Guten waren wußte ich schon, als ich mitbekam, daß sie auch nur die verstoßenen Seelen von Landmenschen waren. Ich habe sie nur als unsere Propheten anerkannt und meinem Volk so vorgestellt, weil sie selbst den Krug der großen Wassergöttin nicht an eure gierigen und zerstörungsfreudigen Artgenossen ausliefern wollten. Ob ihr wirklich dafür betet, daß die Seelen eurer Toten in den Kreis des Lebens zurückkehren dürfen weiß ich nicht. Von den Körpern denke ich zumindest, daß sie zu neuen Pflanzen werden, die dann auch von Tieren gefressen werden und somit ein Teil von diesen werden. Um meine Welt nicht mit diesen toten Körpern zu vergiften habe ich zugestanden, sie euch zu überlassen. Ich denke auch, daß ihr die Meerlinge tötet, die Meridana von meinem Gefährten zu tragen bekommen hat. Ich stimme diesem Friedensabkommen aber aus zwei Gründen zu: Die im Krug schlafende Wassergöttin hat eine würdigere Hüterin als mich gefunden. Das muß ich anerkennen. Auch wenn ihr nicht bis zu uns vorstoßen könnt, um in einem Kampf Mann gegen Mann zu streiten weiß ich von den Waffen derer, die keine Zauberkraft besitzen. Ihr könntet diese Leute dazu bringen, solche Waffen bis zu uns hinunterfallen zu lassen. Meine Leute wissen nicht, wie gefährlich ihr seid. Aber ihr solltet auch wissen, daß wir euch auch gefährlich werden können. Ich bin die Königin meines Volkes, die Mutter dieser Stadt. Ich muß es beschützen und darf nicht erlauben, daß sein Blut vergossen wird, wenn es nicht unbedingt sein muß. Daher stimme ich dem Frieden zu. Du sollst nur wissen, daß ich nicht so unwissend und leicht einzuschüchtern bin, wie deine ältere Begleiterin und du es nach der ersten Begegnung denken mochtet. Wenn ihr die Meerlinge zu uns zurückbringen wollt, gut. Wenn ihr Meridana auch wieder zu uns bringen wollt wird sie weiterhin eine treue Magd bei uns bleiben. Wenn ihr sie aber für euch behalten wollt, dann sagt ihr, daß sie niemals wieder näher als eine halbe Mondreise an einen meiner Krieger herankommen darf. Denn wer sie findet, der darf mit ihr tun, was er will, weil sie meinen Schutz verachtet hat und geflohen ist. Sagt ihr das!
Lerne weiter über alle Wesen, die denken können! Vor allem lerne, daß Wesen, die zehn mal älter als du sind auch zehnmal mehr erlebt und gelernt haben! Das wird dir helfen, deine Mitgeschöpfe an Land und im Wasser zu achten und zu würdigen.
An Stelle einer Unterschrift hatte Méribelle eine Gravur hinterlassen, die entfernt an die olympischen Ringe erinnerte, so wie die Kreise und Ovale ineinander verschnörkelt waren. Héméra, die den beschriebenen Stein auch lesen durfte meinte, daß dies wohl die Lippenbewegungen beim Sprechen des Namens Méribelle und womöglich ihrer ganzen Titel darstellen konnte.
"Für dumm habe ich sie nicht gehalten", sagte Julius dazu. "Ich habe halt nur darauf gesetzt, daß sie Ehrfurcht vor unserem Wunsch nach Totenehrung hat."
"Das schreiben Sie bitte in Ihren Bericht für Mademoiselle Ornelle Ventvit und den Minister so rein, Monsieur Latierre. Den Stein geben Sie am besten auch Ihrer direkten Vorgesetzten für die Akten."
"Stimmt, wo die es eigentlich war, die die Kiste mit dem Seelenfreibeten angestoßen hat", grummelte Julius.
"Wird aber schwer sein, den Prozeß wegen geschlechtlicher Nötigung zu führen, ohne Meridanas Existenz zu verraten."
"Ich habe ihr das auch schon erzählt", erwiderte Julius. Zumindest war er froh, daß Méribelle dem Friedensabkommen zustimmen würde.
Wie Julius erwartet hatte kaufte Monsieur Louvois die Geschichte mit den verbannten Kriegern nicht ab. Héméra erwiderte darauf nur:
"So oder so müßten Sie eine großangelegte Fahndung unter Wasser aufziehen, Monsieur Louvois. Wir besitzen aber nur zehn Duotectus-Anzüge und nur zwei Blitzerwalzen. Minister Grandchapeau und vor allem Monsieur Colbert haben klar bekundet, daß wir nicht mehr Unterwasserausrüstung bekommen werden, schon gar nicht, wenn damit unschuldige Muggel und Zaubererweltbürger gefährdet werden."
"Grandchapeau wird auch nicht ewig auf seinem Stuhl kleben", hatte Louvois darauf nur zähneknirschend geantwortet. Immerhin ließ sich der Stellvertreter des Zaubereiministers dazu herab, im Schutz eines Duotectus-Anzuges den auf einem fünf Meter großem, hauchdünnen Goldblech eingravierten Friedensvertrag mit den Meerleuten zu unterschreiben. Er sagte aber zu der Königin, daß er es sehr wohlwollend vermerken würde, wenn "die Verbannten" die Gelegenheit bekämen, sich zu ihrer Vorgehensweise zu äußern. Denn so könne er nicht garantieren, daß nicht noch mal ein Mißverständnis mit Todesfolge auftreten könne. Méribelle hatte dafür nur ein Lächeln übrig.
Am Samstag kehrte Julius nach Frankreich zurück, wo er dem Minister und Ornelle Ventvit einen ausführlichen Bericht erstattete.
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Daß es um mehr ging, als das Julius seine nun alleine lebende Mutter zum Sonntagsnachmittagskuchen besuchte war ihm ja schon klar gewesen. Doch als Catherines und Joes Tochter Claudine mit Millie und Aurore im Wohnzimmer eine CD mit Kinderliedern hörten bat Martha Eauvive ihren Sohn in Julius' früheres Einzelschlafzimmer. Sie hatte drei Themen zu besprechen.
"Zum einen habe ich mit Catherine und deiner Klassenkameradin Laurentine darüber gesprochen, daß Laurentine nach meinem Umzug in die Staaten in dieser Wohnung unterkommen möchte. Catherine hegt die Befürchtung, daß Laurentine auf Grund ihrer in den letzten Jahren gezeigten Zauberkräfte als lohnende Zielperson für diese Wiederkehrerin in Frage kommen könnte. Durch das Abklingen der Nocturnia-Aktivitäten könnte die Wiederkehrerin jetzt wieder ihre eigentlichen Ziele in Angriff nehmen. Dazu braucht sie treue Anhängerinnen. Ich will Laurentine nicht unterstellen, sich freiwillig von ihr anheuern zu lassen. Aber Catherine und ich möchten nicht ausschließen, daß jemand aus Anthelias Schwesternschaft den Auftrag bekommen könnte, sie zugänglich zu stimmen. Deshalb, und weil Laurentine von hier aus auch mit ihren Verwandten in Kontakt bleiben kann, ist sie bereit, hier einzuziehen, sofern du nichts dagegen einzuwenden hast."
"Warum sollte ich, Mum. Laurentine hat mir nichts getan und ich verstehe vollkommen, was Catherine und du fürchtet. Wir wissen ja nicht, wer alles für die Spinnenlady arbeitet. Aber mit ihren Eltern ist es doch erst einmal aus und vorbei, oder?"
"Ich kann mir ehrlich keine Mutter vorstellen, die freiwillig darauf verzichtet, zu wissen, was ihr Kind tut und mit wem es Umgang hat", erwiderte Martha Eauvive. "Und eigentlich dürfte es auch keinen Vater kalt lassen, ahnungslos zu bleiben, ob sein Kind wen für eine Familiengründung findet, ob das Kind ein lebenswertes Auskommen hat und mit dem gelernten gut zurechtkommt. Ich denke, es sind eher die Zwangshandlungen von jemandem, der zu sehr im öffentlichen Licht steht und noch dazu einen sicherheitskritischen Beruf ausübt. Ein Ingenieur darf sich keine Hexe als Tochter leisten. Du kaufst mir das garantiert ab, daß ich weiß, wovon ich spreche." Julius nickte entschlossen. "Darf ich Laurentine dann mitteilen, daß sie nach Weihnachten hier einziehen darf?" fragte Martha Eauvive.
"Ich schreibe ihr das selbst, Mum. Aber eigentlich müßtest du Catherine fragen, ob sie das gerne hätte, daß eine alleinstehende junge Frau über Ihrer Wohnung einzieht."
"Lümmel! Ich glaube nicht, daß Joe sich noch einmal auf eine Beziehung mit einer Hexe einlassen würde. So wie er mich immer ansieht, weil ich mit Antoinettes Gabe so unbefangen und dankbar umgehe, ist er nur noch bei Catherine und den beiden Mädchen, weil sie ein Teil seines Lebens sind, auf den er nicht mehr verzichten möchte. Abgesehen davon liegt sein Vater ihm ja immer noch in den Ohren, ob nicht doch noch ein kleiner Enkelsohn zu ihm Opa James sagen wird. Aber das berührt dann wirklich Catherines und Joes Privatangelegenheiten."
"Muß mich auch nicht kümmern, solange nicht eins meiner Kinder zu Mrs. Jennifer Brickston Mum sagen muß", erwiderte Julius frech. Seine Mutter bedachte diese Bemerkung mit einem tadelnden Blick, konnte sich aber eines gewissen Lächelns nicht ganz enthalten. Julius legte deshalb nach und sagte: "Frage Sandrine und Gérard, wie leicht es passieren kann, daß Leute Kinder haben, die eigentlich erst mal oder überhaupt keine Kinder haben wollten!"
"Ist ja gut", erwiderte Martha Eauvive, die nun doch nicht so ganz so ernst gucken konnte, wie sie wollte. Deshalb kam sie schnell auf das zweite Thema:
"Das mit Moiras Familie hast du mitbekommen?" Julius mußte nicken. Auch wenn noch niemand wußte, ob die Stuards einemVerbrechen zum Opfer gefallen waren, aus eigenem Willen verschwunden waren oder irgendwo verunglückt waren, war das schon eine bedrückende Angelegenheit. "ich habe von Mr. Abrahams erfahren, daß Professor Stuard seitens eines im Geheimdienst als Feuermelder und Feuerlöscher tätigen Zauberers weiterverfolgt wird, was mit Professor Stuard passiert. Tim Abrahams hat mir nur gesagt, daß er die Angelegenheit regeln müsse, da es in seinen Zuständigkeitsbereich falle. Mehr wollte oder durfte er mir dazu nicht sagen. Nur, damit du weißt, daß wir womöglich nie wieder was von Moira und ihren Eltern hören werden. Sollte es dir doch möglich sein, mit Moira Kontakt zu bekommen mußt du dir genau überlegen, ob du es riskieren kannst, deinen Amtseid zu brechen und sie nicht zu melden oder ob du dich nicht mit Tim Abrahams zusammenschaltest, um als Vermittler zwischen ihm und ihr aufzutreten. Er hat mir das zwar nicht angeboten. Aber ich weiß von ähnlichen Fällen, wo für magielose Bekannte eines sogenannten Muggelgeborenen zauberers möglich war, daß dieser vermittelte. Tim Abrahams hat ja auch mal als Vermittler zwischen diesem Drachenhüterclan aus Schottland und einer Flugzeugträgermannschaft vermittelt, beziehungsweise die Wogen geglättet, um im nautischen Bereich zu bleiben."
"Hat er denn anklingen lassen, ob wir es mitbekommen, wenn Moira und ihre Eltern irgendwie irgendwo auftauchen sollten, sofern es nicht sowieso durch die Muggelweltnachrichten geht?" wollte Julius wissen.
"Du bist unbestreitbar mein Sohn. Denn original diese Frage habe ich ihm auch gestellt", erwiderte Martha Eauvive. "Und die Antwort ist nein, da wir keine Verwandten von den Stuards sind und zudem nicht mehr in deren Heimat und auch nicht in seinem Zuständigkeitsbereich wohnten. Was schließt du daraus?"
"Daß er es für höchst unwahrscheinlich hält, daß die Stuards bei uns in Frankreich auftauchen", erwiderte Julius nach fünf Sekunden Bedenkzeit. "Das wiederum kann bedeuten, daß er jetzt schon weiß, wo die drei sind."
"Wie gesagt, du bist eindeutig mein Sohn", erwiderte Martha Eauvive. "Ich unterstelle ihm sogar, absichtlich so formuliert zu haben, damit wir diesen Schluß ziehen. Dann hat er uns nicht verraten, was er weiß, aber klargestellt, daß wir wissen, daß er weiß, was passiert ist und uns nicht öffentlichkeitswirksam darum kümmern mögen."
"Klingt nicht gerade aufmunternd. Aber was anderes können wir dann ja nicht machen", seufzte Julius.
"Dann komme ich gleich zum dritten Grund, warum ich gerne wollte, daß du zu mir hinkommst. Ich muß zum einen davon ausgehen, daß E-Mails eben doch von irgendwem mitgelesen werden. Zum anderen habe ich den Verdacht, daß die Vorfälle der letzten Wochen in unser Arbeitsgebiet fallen könnten, auch wenn es so aussieht, als sei die Sache auf Deutschland beschränkt. Gibt es ehrlich keine männlichen Exemplare dieser dämonischen Geschöpfe, mit denen dein Vater und du unliebsame Bekanntschaft gemacht habt?"
"Okay, bevor ich dich frage, warum du das fragst, Mum. Diese Biester können sich Männer unterwerfen, für sie Lebenskraft zu stehlen, wie Paps es ja unfreiwillig getan hat. Ich weiß von zwei noch wachen Schwestern dieser Kreatur. Ist irgendwas passiert, was danach stinkt, daß so ein Abhängiger auf Frauenjagd für eine solche Monsterbraut geht?"
"Sagen wir so, im Moment hält das Bundeskriminalamt in Wiesbaden, das ist im deutschen Bundesland Hessen, den Deckel auf alle Vermutungen. Tatsache ist, daß in den letzten Drei wochen ein einzelner Mann drei sehr junge Mädchen, die jüngste gerade vierzehn, aus Discotheken abgeschleppt hat. Dabei hat ihn niemand aufgehalten. Die männlichen Gäste und Angestellten waren handlungsunfähig, die weiblichen Gäste und Angestellten waren wie berauscht, als hätten sie lustfördernde Drogen genommen. Jedenfalls hat der Mann sich immer die jüngste Besucherin einer Discothek ausgesucht und sie irgendwie seinem Willen unterworfen. Erst war er in Dresden, dann in der bayerischen Stadt Ingolstadt und dann in der Stadt Offenburg, irgendwo in dem Bundesland Baden-Württemberg. Das Bundeskriminalamt hat die Ermittlungshoheit übernommen. Ich bekam von den Vorfällen was mit, weil ich mit dem deutschen Kollegen Weizengold über Nocturnia und Nachahmungstäter korrespondiere. Da ich mittlerweile weiß, daß Vampire Menschen durch magischen Blick unterwerfen können, aber nicht viele auf einmal, wollte ich wissen, ob das jemand sein kann, der die bösartige Magie dieser Abgrundstöchter benutzt."
"Oha, wenn das so ist, dann ist der Typ sicher ein S4-Fall oder höher, Mum. Das erzählen die mir kleinem Amtsanwärter nicht, wenn ich nicht unmittelbar mit dem zusammenrassel", erwiderte Julius. Seine Mutter nickte.
"Deshalb kann ich dir das wohl auch jetzt noch erzählen, weil es sich ja nicht in unserem Zuständigkeitsbereich abspielt. Herr Weizengold hat mir das nur geschrieben, für den Fall, daß wir in Frankreich auch so einen Fall erleben könnten. Denn die gehen davon aus, daß es ein und derselbe Täter ist."
"Also, der entführt junge Mädchen, wohl noch ohne geschlechtliche Erfahrung", folgerte Julius. "Dabei macht er was, daß Männer außer Gefecht setzt und Frauen bedröhnt, als wäre das ihr Traummann?" Martha nickte. "Ich kenne Wesen, die das mit Männern so machen, daß die total verdreht werden können. Du kennst die übrigens auch. Immerhin hatten wir ja mal zwei von ihnen hier im Haus, und du hast in Hogwarts eine davon gesehen, als du mit June Priestley da warst."
"Achso, diese Veelas. Öhm, ja, gut, da die sich offenbar nicht jungfräulich vermehren gibt es sicher auch Männliche. Aber irgendwas hat mir Antoinette erzählt, daß die sehr zurückgezogen leben und nur dann in Erscheinung treten, wenn sie mit einer Gefährtin Nachwuchs zeugen, was bei deren langer Lebenszeit und den langen Schwangerschaften, die diese Wesen austragen, nur alle zwanzig bis fünfzig Jahre passieren soll."
"Stimmt, die männlichen Veelas - die Bezeichnung gilt für beide Geschlechter - leben von Menschen abgeschieden. Wenn Menschen in ihre Nähe kommen, verwandeln sich die Männchen in harmlose oder der Region entsprechende Vögel. Das hat uns zumindest Léto, Gabrielles Großmutter, in einer Zauberseminarstunde erzählt." Julius mußte daran denken, daß er Léto vor kurzem erst wiedergesehen hatte und es versäumt hatte, sich erfolgreich gegen ihre Veela-Ausstrahlung zu wehren. Vielleicht half ihm jetzt das Lied des inneren Friedens.
"Dann kann es ja eigentlich nicht so ein männlicher Veela sein. Der müßte ja dann zwischen hunderte von Menschen treten."
"Öhm, was behauptet denn die deutsche Polizei?"
"Daß der Täter eine gasförmige Droge benutzt, die auf Männer und Frauen unterschiedlich wirkt."
"Gute Erklärung", erwiderte Julius. "Und die konnten den nicht verfolgen?"
"Als die Polizei ankam war er mit seinem Opfer weg. Und ja, die Mädchen müssen wohl sehr behütet erzogen worden sein, daß sie in ihrem Alter noch unberührt waren."
"Klingt nicht gut", erwiderte Julius. "Wenn es ein einfacher Mensch mit einer Wunderdroge ist, die ihm diese Fähigkeit gibt, dann sammelt der vielleicht Mädchen, um deren erster Liebhaber zu sein. Das ist schon ziemlich krankhaft und feige obendrein. Mit Drogen kriegst du jeden dazu, dich ranzulassen."
"Gut, und wenn es kein magieloser Mensch ist, Julius?"
"Dann entweder ein Zauberer, der einen neuen Trick auf Lager hat, vielleicht sogar die Liebesdroge kennt, die mich auf der Suche nach der Himmelsburg fast benebelt hätte oder der hat sich den Aura-Veneris-Fluch aufgeladen. Aber dann hätten den alle Mädels im Umkreis anfallen müssen, um mit dem zusammenzusein. Die Männer hätten dann auf jeden Fall versucht, ihn als lästigen Konkurrenten niederzuprügeln."
""Ja, ist aber nicht passiert."
"Oder es ist kein reinrassiger Veela, sondern ein halber Veela, wie Madame Apolline Delacour oder ein Viertel-Veela wie Fleur oder Gabrielle. Der hätte dann keine Probleme, sich zu anderen Menschen .... Moment mal. Okay, Mum, am besten gibst du das erst mal nicht an Herrn Weizengold weiter, was ich dir jetzt sage, weil der nicht wissen darf, daß du mit mir drüber geredet hast. Aber ich weiß von einem männlichen Halbveela, der vor mehr als fünfzig Jahren in irgendwas verstrickt gewesen sein soll. Das ist aber eine C3-Sache, in die ich keinen Einblick bekommen habe."
"Was hast du genau herausgefunden?" fragte Martha Eauvive. Julius erwähnte, was er über die Beziehung von Pygmalion Delacour gelesen hatte. Da diese Sache vertraulich war durfte er das eigentlich nicht erwähnen. Aber wenn wirklich jener Halbveela in Deutschland sein Unwesen trieb, dann war es zumindest nicht verkehrt, schon einmal darauf gefaßt zu sein. Er mentiloquierte seiner Mutter den Namen: "Diosan." Sie fragte auf gedanklichem Weg zurück, wie der Name geschrieben würde. Julius überlegte kurz und buchstabierte ihn dann: "D i o s a n"
"Ich verstehe, was du meinst, Julius", erwiderte Martha Eauvive mit körperlicher Stimme. "Dann könntet ihr oder könnten wir mit diesem Herren, falls er es ist, tatsächlich noch zu tun kriegen. Es sei denn, seine nächsten drei Raubzüge finden nicht in Frankreich statt."
"Nur, daß wir anders als der hinter diesem Telefon-Agenten herjagende KGB-Oberst nicht wissen, wo er das nächste mal zuschlagen könnte. Die Auswahl ist uns unbekannt", erwiderte Julius.
"Ja, ich verstehe. Behalte das also auch für dich, nichts davon zu Millie", sagte sie dann noch. Julius mußte entgegen den Ernst der Lage grinsen und deutete auf seinen Herzanhänger. Doch Martha Eauvive war mit einer passenden Erklärung zur Stelle: "Wir hatten es doch von Moira. Das kannst du ihr erzählen. Das wird dich tief genug erschüttert haben, um mögliche Gefühlsschwankungen von dir zu begründen." Julius nickte. Dann sagte er noch einmal, daß er dieses Thema erst einmal nicht weiter erwähnen würde. Das mit Laurentine ginge voll in Ordnung. Allerdings wolle er dann wirklich alles, was ihm gehöre in das Apfelhaus hinüberschaffen. "Ob Aurore mit meinen Playmobilrittern spielen möchte?" fragte er seine Mutter. "Oder mit Eddie Epsilon?"
"Wenn du ihr Mr. Bally zum spielen läßt hat er noch einmal wen, der mit ihm kuschelt", sagte Martha Eauvive.
"Die Bilderbücher und vor allem die Dino-Bücher möchte Millie gerne mal sehen. Ach ja, Meine Dinosammlung ist noch vollständig?"
"Könte nur sein, daß dem Diplodocus das Schwanzende abgebrochen ist. Ich habe nicht mehr in die große Kiste reingesehen, seitdem Mr. Perseus Forester sie hier hingestellt hat."
"Das wäre das kleinste Übel", lachte Julius. Er stieg mit seiner Mutter in den Keller hinunter und inspizierte seine große Spielzeugkiste. Tatsächlich lag die Schwanzspitze des langhalsigen, langschwänzigen Urzeitwesens in einer anderen Ecke. Doch mit einem ungesagten Reparo-Zauber war das Urweltungeheuer in einer halben Sekunde wieder vollständig. Er bezauberte den dickbäuchigen Teddybären in der blauen Latzhose mit einem Imperviuszauber, damit Aurores Speichel sein bereits angejahrtes braunes Fell nicht noch mehr in Mitleidenschaft zog. Eddie Epsilon, der schwarz-silberne Roboter mit der Drillings-Laserkanone und den blinkenden Augen konnte in Millemerveilles wohl nicht seinem Auftrag nachkommen, und den Mond, den Mars und alle anderen Planeten untersuchen. Aber vielleicht konnte er ihn bei sich im Arbeitszimmer auf ein Regal stellen. Muggelsachen mit Eigenleben zu bezaubern war ja verboten.
Abends brachte Julius alle Bilderbücher und das für Kleinkinder geeignete Spielzeug ins Apfelhaus hinüber. Die Dinosaurier baute er zusammen mit dem Roboter in seinem Arbeitszimmer auf. Jetzt wachte der mächtige T Rex über ein Bild, das Aurore klar erkennbar im Leib ihrer Mutter zeigte und Eddie Epsilon hatte Posten zwischen dem Verlobungsfeierbild mit der ganzen zukünftigen Familie und dem Bild wo Millie, Aurore und er wenige Tage nach Aurores Geburt zusammengestanden hatten.
"Jungs und ihre Spielsachen", scherzte Millie, als sie die Kindheitserinnerungen von Julius vereint mit ihrer jungen Familie sah.
"Sind wie Mädchen und ihre Klamotten", konterte Julius. Millie zwickte ihm dafür in die Nase. Sie mentiloquierte ihm: "Aber schön, wie mein neues Kleid im Schrank über dem Denkarium hängt." Julius bejahte es auf dieselbe Weise.
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Am letzten Wochenende vor Martines Verlobung besorgten Millie und Julius in Millemerveilles mehrere Geschenke. Da Julius Alon Gautier noch nicht kannte kaufte er ihm nur ein leeres Fotoalbum und schrieb ihm die Widmung hinein: "Die Zukunft, das immer weiter zu schreibende Buch." Da Julius über Martine wußte, daß sie sich wie ihre Schwester und Anverwandten mit asiatischer Kampfkunst auskannte besorgte Julius in Paris zwei Bücher über Judo und Karate, Um den Ursprung dieser Selbstverteidigungsarten zu erläutern. Dabei mußte er an seinen Karatelehrer Meister Tanaka denken. Eigentlich hätte er seine Ausbildung noch weitertreiben und den schwarzen Gürtel erwerben können. Wie nützlich es sein konnte, sich ohne eine Waffe in der Hand zu verteidigen hatte er ja bei der zum Alptraum gewordenen Party der Sterlings erkannt. Außerdem würde Julius gerne wissen, was Sensai Tanaka gerade machte, ob er noch unterrichtete oder nach Japan zurückgekehrt war, wie er es ihm vor acht Jahren erzählt hatte, ein halbes Jahr vor dem Brief, der Julius' Leben vollständig umkrempeln sollte.
Als Millie und er alles zusammen hatten besuchten sie noch die Dorniers. Cythera war seitdem die Latierres sie das letzte Mal gesehen hatten noch größer geworden, aber auch pummeliger. Jedenfalls freute sich das nun vier Jahre alte Hexenmädchen, die kleine Aurore mal in echt zu sehen, wo sie bisher wohl nur ein Bild von ihr gesehen hatte.
"Nehmt die bloß wieder mit nach Hause. Sonst kommt meine Tochter noch auf die Idee, ich müßte ihr auch noch so ein kleines Bündel zum mit Großwerden ausbrüten", lachte Constance Dornier. Millie lachte nur. "Du gibst deine ja auch nicht mehr ab", sagte sie. Constance lächelte daraufhin.
Laurentine war sehr erfreut, als Julius ihr erzählte, daß sie in die Rue de Liberation 13 umziehen dürfe. Catherine habe angeboten, sie mietfrei dort wohnen zu lassen. Doch das wollte Laurentine nicht. Da sie eine feste Anstellung hatte wollte sie für ihren Wohnraum bezahlen. Immerhin legte sie ja auch was von ihrem Geld in die Einkaufskasse der Dorniers.
"Dann kann ich zumindest mit denen allen chatten und mailen, die schon denken, irgendwo stehe ein Grabstein von mir", sagte Laurentine Hellersdorf. Daß Catherine und Martha sie in das mit Sanctuafugium-Zauber umhüllte Haus holen wollten, weil sie fürchteten, daß Laurentine von den Anthelianerinnen umworben oder gar geshanghait werden konnte wollte Julius ihr nicht erzählen. Es reichte ja schon, wenn er leicht paranoid war.
"Und die Mercurios gehen gegen die Pelikane voll baden", bekräftigte Céline, als es um die demnächst anstehende Quidditchpartie ging.
"Wo ich in dieser Stadt auf die Welt gerutscht bin würde ich dir glatt zustimmen. Aber können die Pelikane jetzt alle die Doppelachse?" fragte Millie.
"Ach, hast du es noch nicht von deiner Maman gehört, daß die Doppelachse jetzt ausnahmslos von allen Mannschaften trainiert werden darf und Beaufort die auch in Beauxbatons offiziell unterrichtet. Gut, hat den Grünen gegen die Violetten nicht viel gebracht, weil deren Sucher nach nur fünf Minuten den Schnatz erwischt hat. Aber meine große Schwester meint, daß die Weißen gegen die Roten damit gut durchkommen."
"Connie, wovon träumst du nachts?" fragte Millie und erwähnte, daß Callie, Pennie und Patricia ja noch in der Mannschaft spielten und Sylvie Rocher ja tatsächlich schon als Hüterin die Blauen geärgert hatte, weil die jeden Torwurf abgefangen hatte und die Blauen mit 0:400 von Tabellenplatz drei auf Tabellenplatz 6 durchgereicht worden waren.
"Dann haben deine kraftüberladenen Basen dir das noch nicht geschrieben, Mildrid, daß Beaufort in Übereinkunft mit Madame Faucon und Professeur Fixus durchgesetzt hat, daß die sich bei jedem Spiel abwechseln, also immer nur eine von denen Treiber spielen darf?" Millie schüttelte den Kopf. Das mußte sie dann gleich klären. Jedenfalls gingen Millie und Julius davon aus, daß die zum Auswärtsspiel in Paris antretenden Mercurios aus Millemerveilles zumindest den Schnatz fangen würden.
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Als Julius am kommenden Montag mit Mademoiselle Ventvit im Büro alleine war legte die Bürovorsteherin ihrem jungen Mitarbeiter zwei Pergamentbögen hin, auf denen mit scharlachroter Zaubertinte das Kürzel S6 geschrieben stand. Dazu gab sie ihm noch einen kleinen Ordner, auf dem ein mit dem Kürzel C3 beginnendes Aktenzeichen stand und darunter der Titel: "Diosan Sarjawitsch. Von der im Aktenzeichen enthaltenen Zahlenkombination las Julius ab, daß die Akte vor fünfundfünfzig Jahren angelegt worden war und dazu noch die Abkürzung TCORusMM trug. Das T stand für Transskription also Übersetzung von einer in eine andere Schrift, das CO für Kopie einer Originalakte, die Kombination Rus stand wohl für Rußland und das doppelte M für Magieministerium.
"Da sie inoffiziell schon auf S9 zugegriffen haben habe ich Sie mit dieser Angelegenheit betraut, da Sie drei wesentliche Voraussetzungen mitbringen, die meine jahrgangsälteren Mitarbeiter nur einzeln oder gar nicht vorweisen. Zum einen kennen Sie sich in der magielosen Welt aus und verstehen es, deren technische Geräte zu nutzen. Das kann außer Ihnen nur die Kollegin Ventvit, Adrastée. Doch die ist derzeit für Monsieur Beaubois in Bayonne, eine Horde Poltergeister einsammeln, die meinten, in einem Kongresshotel eine Zusammenkunft abhalten zu wollen. Die zweite Voraussetzung ist, daß Sie zumindest der englischen Sprache mächtig sind, was Sie für Auslandskontakte empfiehlt. Die dritte Voraussetzung, die Sie mitbringen ist, daß Sie bereits Erfahrung mit gefühlsbeeinflussenden Zauberwesen gesammelt haben und durch die Nebenwirkungen der Entgiftungstherapie im Zusammenhang mit den Schlangenmenschen lernen mußten, ihre eigenen Gefühle in Balance zu halten. Für den Punkt zwei könnte ich auch Monsieur Grandville einsetzen. Doch was Punkt drei angeht hat er sich nach der unrühmlichen Szene im Zusammenhang mit der Riesin Meglamora nicht für diesen Einsatz empfohlen und wurde in weiser Voraussicht von Monsieur Vendredi nach Französisch-Guayana beordert, um das Waldkoboldwanderungsüberwachungsabkommen mit José Torrinha von der brasilianischen Zauberwesenbehörde zum Abschluß zu bbringen. Außerdem wurde parallel dazu gleich das Besenhandelsabkommen ausgearbeitet, was die US-Amerikaner sicher ein wenig verärgern dürfte." Julius erinnerte sich noch sehr gut an den Tag des Spiels Frankreich gegen Brasilien, wo er José Torrinha und vor allem dessen Schwester Claudia kennengelernt hatte. Insofern war er froh, daß er nicht nach Französisch-Guayana mußte. Doch die Akte und die Pergamente sagten ihm überdeutlich, daß er sich vielleicht wünschen konnte, lieber mit dem leicht zu verärgernden José Torrinha zu tun bekommen zu haben. Denn jetzt hatte er die Bestätigung für das, was er mit seiner Mutter besprochen hatte.
"Na ja, mit Madame Léto bin ich bei ihrem Besuch hier nicht so ganz selbstbeherrscht geblieben, was ich selbst sehr bedauere", erwiderte Julius vorsorglich.
"Weil Léto Sie wohl mit ganzer Kraft beeinflussen wollte. Immerhin haben Sie sie nicht entkleidet und hemmungslos beschlafen", stellte Ornelle klar. Julius wagte nicht, darauf etwas zu antworten. Ihn interessierte die Akte über Diosan Sarjawitsch. Er konnte kein Russisch. Er wußte jedoch, das die Endung -witsch "sohn von" hieß und im zweiten Vornamen des Jungen hinter den Namen des Vaters gesetzt wurde. Daß Sarja Létos Schwester war wußte er schon. Also hatten die vom russischen Zaubereiministerium den Jungen notgedrungen mit dem Namen seiner Mutter vermerkt. "Studieren Sie bitte erst die losen Pergamente, bevor ich sie in die gerade angelegte Akte zurücklege!" wies Ornelle ihren jungen Mitarbeiter an. Julius nickte und las die Pergamente. Er ließ sich dabei keine Gefühlsregung anmerken. Außerdem war das, was er las keine Überraschung mehr. Denn die Pergamentblätter enthielten eine genaue zeitliche Zusammenfassung über drei gleichartig erscheinende Entführungsfälle in der Bundesrepublik Deutschland. Zwar stand in der Akte, daß das deutsche Zaubereiministerium die Federführung bei der Suche hatte, dies gelte jedoch nur, solange der Gesuchte, den man als "entarteten" oder "gemischtrassigen" Veela-Abkömmling erkannt hatte, auf bundesdeutschem Hoheitsgebiet herumlief.
"Codename Tänzer", las Julius im Flüsterton. Der Name kam daher, daß der Täter sich durch besonders überragende Tanzkünste in Erinnerung gebracht hatte. Laut eines Muggelkontaktbüromitarbeiters namens A. Steinbeißer sei das Tanzen mit einem auserwählten Opfer das letzte Auswahlkriterium oder gehöre zur Vertiefung des magischen Einflusses auf das Entführungsopfer. Daß der Fremde sich jungfräuliche Mädchen fing wurde auch erwähnt und auch mit der Befürchtung vervollständigt, daß der Entführer sich an den Entführten vergehen würde und daher große Eile geboten sei.
"Und Sie gehen davon aus, daß es sich bei dem Täter um den Neffen von Madame Léto, Monsieur Diosan Sarjawitsch, handelt?" fragte Julius sicherheitshalber nach.
"Es liegen uns Anhaltspunkte vor, die diese Annahme rechtfertigen", erwiderte Ornelle Ventvit.
"Warum dann eine so geringe Geheimhaltungsstufe?" fragte Julius mit Hinweis auf das Kürzel S6.
"Weil zum einen die Zusammenarbeit mit unseren Muggelkontaktleuten nötig sein könnte und zum anderen eine internationale Suche erforderlich ist. Und was die Annahme angeht, es könne sich um den Neffen von Madame Léto handeln, so studieren Sie bitte noch einmal die zeitliche Reihenfolge der Entführungen und versuchen Sie, ein Muster daraus abzuleiten!"
"Habe ich schon", preschte Julius vor. "Die Entführungen verliefen bisher in einer groben Ost-West-Richtung im südlichen Teil Deutschlands. Also möchte der Täter weiter nach Westen oder uns zumindest glauben machen, das sei seine Richtung. Die Städte fangen mit den ersten drei Buchstaben des Namens Diosan an. Ich bin kein Psychomorphologe oder Muggelpsychiater. Aber wenn der Täter wirklich Diosan ist und meint, seinen Namen über ein ganzes Land schreiben zu wollen, dann muß ich zumindest befürchten, daß er krank ist, oder er will so tun, daß es Diosan ist, ihm also die Entführungen in die Schuhe schieben. Was die unheimliche Ausstrahlung angeht könnte sie wirklich von einer Veela stammen, beziehungsweise einem männlichen Exemplar. Aber die Veela-Jungen und -Männer sind sehr menschenscheu. Das gilt für die Reinrassigen."
"Sie haben eine bemerkenswert schnelle Auffassungsgabe und Kombinationsfähigkeit, Julius. Wir müssen wohl davon ausgehen, daß Diosan Sarjawitsch einem zwanghaften Plan folgt. Da wir im Moment nicht für ihn zuständig sind konnte ich noch keine Bitte um Amtshilfe an das russische Zaubereiministerium richten, um die Mutter Diosans herzubitten. Abgesehen davon weiß ich nicht, ob sie Französisch oder Englisch sprechen kann."
"Hmm, steht in der Akte alles, was die im russischen Zaubereiministerium wissen oder nur das, was die wollten, das wir es wissen?" fragte Julius.
"Lustig, die Frage habe ich Madame Léto auch gestellt, als sie mich wegen ihrem Neffen aufsuchte. Sie erwähnte, daß ihre Schwester Sarja ihr zugesungen habe, was eine Form des Mentiloquismus unter Veela darstellt, daß Diosan ihrer Obhut entwichen sei und aus dem bis vor einem halben Jahr wirksamen Rückhaltebann entkommen konnte, den sein Vater über ihn verhängt hat."
"Wer ist denn der Vater von Diosan, daß er einen Veela derartig sicher auf einen Ort beschrenken kann. Sagen Sie jetzt bitte nicht, daß es Tom Riddle alias Lord Voldemort war!" Ornelle zuckte mit einer Wimper, als der immer noch mit Angst genannte Name fiel. Doch sie beherrschte sich besser als die meisten anderen Zauberer.
"Nein, es war nicht der von Ihnen erwähnte Dunkelmagier", sagte sie und deutete auf die Akte. "Nur so Viel zu der von ihnen zuvor gestellten Frage: Wo wir nicht sicher waren, ob die Kollegen vom russischen Zaubereiministerium uns wirklich alles mitgeteilt haben, haben wir Madame Léto befragt. Mit Wir meine ich in diesem Fall unsere Behörde als rechtliche Person, denn ich war zu dieser Zeit noch nicht im Zaubereiministerium beschäftigt." Julius nickte, weil das Jahrgangschiffre im Aktenzeichen ihm das schon irgendwie klargemacht hatte. Er las noch einmal die Protokolle der Tathergänge, soweit die Kontaktleute aus dem bundesdeutschen Zaubereiministerium sie von Polizeibehörden erfahren konnten. Immerhin hatte da jemand dran gedacht, eine französische Zusammenfassung zu schreiben. neben dem Ministeriumsmitarbeiter A. Steinbeißer zeichnete auch eine Almut Lauterbach für diese Zusammenfassung verantwortlich.
"Diese Madame oder frau Lauterbach arbeitet im Lichtwächtertrupp als Überwacherin von Fällen, die mit dunkler Magie oder bösartigen Zauberwesen zu tun haben", erwähnte Julius. "Dann ist noch das Muggelkontaktbüro einbezogen. Aber ich vermisse hier die Zuständigkeit des Zauberwesenbüros."
"Von denen werden wir in den nächsten Stunden noch eine genaue Stellungnahme erhalten. Womöglich ist damit auch schon ein Amtshilfeersuchen verbunden, daß wir uns an der Aufklärung der Vorfälle beteiligen. Madame Grandchapeau hat bereits Kenntnis von diesen Fällen erhalten und bemüht dieses elektronische Nachrichtennetzwerk. Monsieur Vendredi trägt sich mit dem Gedanken, eine Sonderkommission zu gründen, die den Namen der Muggelweltpolizeikommission aufgreifen möchte. Das wäre dann die Akte "Tänzer".
"Und Sie möchten mich grünen Jungen mit in dieser doch ziemlich heiklen Sache mitarbeiten lassen?" fragte Julius.
"So grün sind Sie nicht mehr, wenn dann höchstens von den Algen, die Sie in den ersten Wochen Ihrer Tätigkeit hier angesetzt haben könnten", erwiderte Ornelle Ventvit. "Zudem haben Sie ja wie erwähnt schon Erfahrungen mit gefühlsverändernden Zauberwesen machen müssen, etwas, was normalerweise erst gestandenen Ministerialmitarbeitern beschieden ist."
"Na ja, bei Hallitti bin ich nicht gerade überragend unbeugsam weggekommen. Ohne diese Hexenschwesternschaft der Wiederkehrerin säße ich jetzt nicht hier, und wie erwähnt muß ich wohl noch heftig trainieren, um im Wirkungsbereich einer Veela-Aura klaren Kopf zu behalten."
"Das ist auch ein Grund, warum ich Madame Léto gebeten habe, zu der heute Nachmittag anberaumten Konferenz dazuzustoßen. Unter Umständen können wir über sie auch Verbindung zu ihrer Schwester herstellen, um diese um Mithilfe zu bitten."
"Falls sie uns helfen will", sagte Julius. Dann kam er wieder auf Diosans Vater. Doch Ornelle deutete auf die Aktenmappe. Julius nickte und ging damit an seinen Schreibtisch. Er las die Geburtsdaten von Diosan. Denen nach war dieser knapp achtzig Jahre alt. Auf die Frage bei Sarja, wer der Vater des Halbveela sei hatte diese erst nur erwähnt, daß es ein starker, junger, blonder Zauberer gewesen sein soll, den sie in der Ukraine getroffen habe, als er da nach Mitstreitern für ein Vorhaben gesucht hatte. Doch Léto hatte es dann nachdem Diosan sich überaus umtriebig gezeigt hatte verraten, daß dessen Vater kein geringerer gewesen sei, als Gellert Grindelwald. Als Julius den Namen las mußte er erst einmal fünf Sekunden pausieren. Da war er jetzt nicht drauf vorbereitet gewesen. Gellert Grindelwald hatte einen Sohn gezeugt? Dabei hieß es doch, er habe sich nur mit Hexen und Zauberern umgeben, die für seine Sache, die Unterwerfung der Muggelwelt unter das großmütige Kommando der Zauberer, eintraten. Dann kam ihm der düstere Gedanke, daß Grindelwald nicht ganz freiwillig zum Vater geworden war. Wenn er von Sarjas voller Veela-Kraft benebelt worden war, hatte die ihn womöglich dazu bekommen, mit ihr das Lager zu teilen. Oder hatte Grindelwald die Veela mit einem Zauber unterjocht, ihm ein Kind zu gebären, das er dann in seinem Sinne aufziehen und gegen den Rest der Menschheit einsetzen konnte? Das wäre aber nicht der erste Tyrann gewesen, der sich damit gründlich vertan hätte. Das war also zu klären, ob Diosans Zeugung einvernehmlich stattgefunden hatte oder der Vater die Mutter oder die Mutter den Vater dazu gezwungen oder verführt hatte. Er las die Akte weiter, daß Diosan nicht nach Durmstrang gedurft hatte, obwohl er als halber Veela auch Zaubererweltbürger sein konnte, so wie es seine ältere Cousine Millétoile in Frankreich werden konnte, die Apollines fünfzig Jahre ältere Schwester war. Doch die berühmt-berüchtigten Durmstrangregeln verboten ja den Unterricht für Schüler, die keine reinrassigen Zaubererkinder mit mindestens neun magischen Vorläufergenerationen ohne Muggelverwandtschaft waren. Also hatte Diosan Sarjawitsch nur die ihm angeborenen und unter seinen Blutsverwandten nutzbaren Zauberkräfte üben können. Dazu gehörte neben dem Gestaltwechsel zu einem großen schwarzen Storch auch das Verschießen von Feuerbällen oder Blitzen, die betörende Ausstrahlung und eine perfekte Singstimme, mit der er Nichtveela beeinflussen konnte. Da er noch vier ältere Schwestern besaß, die alle namentlich erwähnt wurden, fühlte er sich wohl als einziger Männlicher als Außenseiter, ja ausgestoßener. Auch wenn seine Mutter ihn nach eigener Aussage sehr liebte und ihm jeden Ärger vom Hals halten wollte, drängte es ihn danach, sich und dem Rest der Welt seinen Wert zu beweisen. Der Akte nach fand Diosan heraus, daß Grindelwald sein Vater war. Damit stand für Julius fest, daß Diosan nicht von Grindelwald geplant worden war. Dies bestätigte sich auch im weiteren Verlauf der berichteten Ereignisse. Denn Diosan suchte seinen Vater. Dabei spielte er wohl auch seine Veela-Kräfte aus und betörte mehrere Frauen, verheiratet oder ledig, blutjung bis über fünfzig Jahre. Da er hierbei nicht auf Hexen alleine ausging hatte sich das Zaubereiministerium eingeschaltet. Sarja hatte ihren Sohn immer gesucht. Doch der konnte sich offenbar vor seiner Mutter unauffindbar machen. jedenfalls hatte er sich damals schon darauf festgelegt, eine Gruppe unberührter Mädchen zusammenzutreiben, um diese zu müttern seiner Kinder zu machen. Dabei mußte er wohl Grindelwald getroffen haben. Wie genau die Begegnung zwischen Vater und Sohn verlaufen war hatte Sarja nur ihrer Schwester berichtet und nicht dem russischen Zaubereiministerium. Demnach wollte Diosan Anerkennung von Grindelwald haben. Der sah in dem Halbveela jedoch sowas wie einen fleischgewordenen Fehltritt und stritt mit Diosan. Am Ende vom Lied verfluchte Grindelwald den eigenen Sohn, bis zu seinem Tod dort bleiben zu müssen, wo er geboren worden war. Julius pausierte. Grindelwald hatte diesen Superzauberstab vor Dumbledore besessen, mit dem Voldemort gedacht hatte, der unbesiegbare Kaiser aller Zauberer zu werden. Von dem Stab hieß es ja, daß er jedes Duell gewinnen und jeden damit gewünschten Zauber mit größtmöglichem Erfolg ausführen konnte. Das galt aber eben nur, solange der Stab nicht auf die Idee kam, seinen Meister zu wechseln oder nicht auf hinterhältige Weise von seinem Vorbesitzer entwendet zu werden. Also hatte Grindelwald seinen eigenen Sohn verflucht. Dieser war tatsächlich an den Ort zurückgeworfen worden, wo er geboren worden war. Für das russische Zaubereiministerium wurde nur erwähnt, daß Sarja ihren Sohn wegen seiner Unbeherrschtheit und seiner ungezügelten Triebe zurückgeholt hatte. Der Rest war Geschichte. Grindelwald verlor im Duell gegen Dumbledore. Doch er wurde nicht getötet, sondern nur geschwächt und in seinem eigenen Gefängnisturm Nurmengard eingekerkert. Also galt der Bannfluch solange, wie Grindelwald lebte. Doch das hatte sicher nur bis zur Machtergreifung Voldemorts gedauert. Denn von irgendwem mußte der doch gewußt haben, wo der von ihm so heftig gesuchte Zauberstab war. Er hatte ihn ja schließlich aus Dumbledores Grab gestohlen und gedacht, damit dessen ganze Kraft zur Verfügung zu haben. Julius erkannte, wie wichtig es gewesen war, daß Lea Drake ihm und anderen den Kampf in Hogwarts per Zweiwegespiegel-Direktübertragung übermittelt hatte. Jetzt fiel Julius auch die Denkariumsszene ein, wo Grindelwald in die Villa der Binoches eindringen wollte. Lucian hatte ihn als "homophilen Halunken" bezeichnet. Da war die Frage, ob Grindelwald wirklich gleichgeschlechtlich geneigt war oder auch mal mit Frauen mehr als ein paar Worte teilte. Jedenfalls war sich Julius jetzt sicher, daß Grindelwald nicht freiwillig mit Sarja intim geworden war. Wenn er das Diosan um die Ohren gehauen hatte und ihm dann noch einiges mehr an Ablehnung an den Kopf geworfen hatte mußte Diosan ja aus dem Tritt geraten. Dann dieser Ortsverharrungsbann, der ja schon einer Gefängnis- oder Käfighaltung gleichkam. Aber warum konnte Diosan nicht schon vor zwei Jahren anfangen, seinen Namen über den Kontinent zu schreiben? Vielleicht lag es an dem genauen Wortlaut von Grindelwalds Fluch. Der war nicht in dem Aktenordner erwähnt. Am Ende stand da nur noch, daß Sarja ihren Sohn weiterbetreute und dem russischen Zaubereiministerium schriftlich versprechen mußte, ihn nie unbeaufsichtigt zu lassen.
"Ich glaube, wenn der wirklich derartig wahnhaft ist, daß er jetzt junge Mädchen entführt, weil er meint, sich und anderen was damit beweisen zu müssen, dann brauchen wir eher einen Heiler oder den Ausschuß zur Beseitigung gefährlicher Geschöpfe", sagte Julius, nachdem er die Akte vollständig durchgelesen hatte.
"Die Heiler können und dürfen ihn nicht festnehmen. Da er zur Hälfte ein Veela ist müßte er sich freiwillig in ein Zaubererweltkrankenhaus begeben, das die Aufnahme verweigern kann, weil gemischtrassige Humanoide keinen bedingungslosen Behandlungsanspruch haben. Madame Eauvive stellt lediglich in Aussicht, das Vorgehen Diosans psychomorphologisch zu begutachten und seine nächsten Schritte vorherzusagen, falls dies möglich ist", sagte Ornelle. "Und was den Ausschuß angeht, um Belenus' Willen, Julius, erwähnen Sie diese Möglichkeit niemals, wenn ein Veela-Abkömmling in Hörweite ist. Auch wenn Diosan offenkundig schwer verhaltensgestört bis geisteskrank sein mag - wohl gemerkt sein mag - genießt er den Schutz des Blutes, den alle von einer Veela geborenen oder von einem Veela gezeugten Kinder genießen. Wer einen Veela oder eine Veela tötet, im Kampf, in Notwehr oder durch Fallen oder Sabotageakte, ist ab dem Augenblick für jeden Träger von Veelablut zur gnadenlosen Tötung freigegeben. Und nicht nur das: Diese generelle Blutrache trifft nicht nur den, der einen Veela getötet hat, sondern dessen Angehörige, Nachkommen und deren Nachkommen. Was meinen Sie, warum Grindelwald Diosan nicht mit dem Todesfluch oder einem anderen tödlichen Zauber getötet hat? Der wußte das ganz genau, daß er ab dem Moment keine ruhige Minute mehr haben würde. Selbst Sarja hätte ihn dann getötet."
"Öhm, Grindelwald hatte einen sehr mächtigen Zauberstab", sagte Julius.
"Mit dem auch er gerade einmal zehn normalschnelle Personen auf dem Boden oder in der Luft zur Zeit hätte angreifen können. Abgesehen davon, das Veela teilweise oder vollständig Vogelgestalt annehmen können sind sie blitzschnell und können vielen Zaubern ausweichen. Dazu können sie noch Feuerbälle schleudern, wie die Veela es bei der Weltmeisterschaft auch getan haben, als die russischen Maskottchen sie beleidigt haben. Kein noch so mächtiger Zauberer hätte sich gegen auch nur sieben oder acht bluträcherische Veelas halten können. Hinzu wäre dann noch der lähmende Gesang gekommen. Grindelwald mag brutal, skrupellos und größenwahnsinnig gewesen sein, aber unwissend war er nicht."
"Danke für die Warnung", erwiderte Julius, dem es bei der Erwähnung der generellen Blutrache ganz anders geworden war.
"Die stanzt du dir am besten ins Gehirn ein, Julius, bevor wir gleich drei große Zaubererfamilien verlieren und deine kleine Tochter niemals auf einem Besen durch Millemerveilles reiten wird", sagte Ornelle, jetzt unvermittelt die persönliche, großmütterliche Anrede benutzend.
"Ja, aber wenn die Muggelweltleute ihn zuerst finden und mal eben mit Feuerwaffen auf ihn losschießen ... woher erfahren die anderen Veela, wer ihn tötet?"
"Soweit ich es von Madame Léto weiß erfahren sterbende Veela im Augenblick ihres Todes, wer sie tötet und strahlen Namen und Aussehen des Mörders oder Unfallgegners an ihre Blutsverwandten aus. Die geben diese Information dann unverzüglich weiter. Das einzige Glück für den Mörder besteht darin, daß Veela nicht apparieren können, zumindest keine reinrassigen Veela. Apolline Delacour könnte dich aber in dem Augenblick angreifen, in dem sie vom Tod ihres Vetters erfährt, ebenso Fleur Weasley und andere Halbveela. Ebenso würde es den Muggeln ergehen, die ihn töten. Wer Pech hat, im Blickfeld des sterbenden zu stehen, könnte ebenso der Blutrache verfallen, weil er ja den Mord hätte verhindern können."
"Mit anderen Worten, da draußen läuft eine lebende Zeitbombe herum, die entweder selbst explodiert oder durch ihren eigenen Tod dazu führt, das Dutzende von Unschuldigen getötet werden", seufzte Julius.
"Genau das ist es, mein Junge", sagte Ornelle. dann schwang sie ihren Zauberstab. "Am besten trinkst du erst mal was, das deinen Kreislauf wieder in Ordnung bringt. Du siehst ja aus wie der Botschafter von Nocturnia." Julius erschrak und blickte sofort auf seine Uhr, die als improvisierter Taschenspiegel taugte. Tatsächlich war er sichtlich erbleicht. Doch da hatte er schon ein Glas mit goldgelbem Inhalt vor sich stehen. Er schnüffelte und bekam einen scharfen Geruch in die Nasenflügel. "Öhm, Alkohol im Dienst?" fragte Julius mit belegter Stimme.
"Nein, das ist Kreislauftonikum. Der Alkoholanteil dient nur der Konservierung der Wirkstoffe bis zur Einnahme", erwiderte Ornelle Ventvit. Julius nahm es mal als gegeben hin und trank behutsam die erst warm und dann sehr heiß die Speiseröhre hinunterrinnende Flüssigkeit, die in seinem Magen zu Wellen wohliger Wärme und Anregung wurde. Als er nach einer Minute das kleine Glas mit der nötigen Andacht geleert hatte fühlte er sich gleich erheblich besser. Immerhin wußte er jetzt, woran er war.
Am Nachmittag trafen sich Ornelle, Monsieur Vendredi, Monsieur Montpelier von den Desumbrateuren, sowie Madame Nathalie Grandchapeau und ihre Tochter Belle mit Julius im Vendredis Büro. Der Zaubereiminister kam auch noch hinzu. Ebenso betrat Madame Léto den Besprechungsraum. Sofort stimmte Julius in Gedanken das Lied des inneren Friedens an, wobei er sich ein ruhig schlagendes Herz als Taktgeber dachte. Tatsächlich fühlte er, wie die ihn benebelnde Ausstrahlung der reinrassigen Veela von ihm abgehalten wurde. Er sah sie jetzt nur noch als sehr schöne, altersmäßig nicht festlegbare Frauengestalt mit langen, silberblonden Haaren. Er vollendete das Lied, während die anderen Männer sichtlich um ihre Selbstbeherrschung ringen mußten und die anwesenden Frauen mit großer Ablehnung auf die Veela blickten. Diese nahm es aber hin und setzte sich. Dabei fing ihr Blick den von Julius ein, der sich gerade frei von jeder irritierenden Einwirkung fühlte.
"Für alle die sich wundern mögen, daß ich einen Quintannier im ersten Semester zu dieser unter der Geheimhaltungsstufe S6 klassifizierten Zusammenkunft gebeten habe: Monsieur Latierre ist, sofern Sie alle nicht schon mit ihm persönlich zu tun hatten, der Mitarbeiter von Mademoiselle Ventvit und durch drei unbedingt vorzuweisende Befähigungen als geeignet befunden, in dieser leidigen Angelegenheit mitzuarbeiten", begann der Minister die Unterredung. Dann faßte er die bisherigen Ereignisse zusammen und erwähnte auch die für Julius' Einbeziehung ausschlaggebenden Fähigkeiten und Erfahrungen.
"Warum ist Monsieur Lesfeux nicht bei dieser unterredung dabei?" wollte Belle Grandchapeau wissen.
"Zum einen sind wir bisher nicht offiziell um grenzüberschreitende Amtshilfe gebeten worden. Zum anderen liegt die Kompetenz der Einsatzgruppe Lesfeux in der beseitigung magisch verursachter Material- und Personenschäden, die durch magische Menschen verursacht wurden. Die Gesetze zur Behandlung von Unglücken unter Beteiligung von Zauberwesen oder magischen Tieren fällt in die Zuständigkeit der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Sofern schwarzmagische Kreuzungen verwickelt sind, ist auch der Trupp der Desumbrateure einzubeziehen", sagte der Minister. "Allerdings gehen wir im Moment von einem Einzelwesen aus, das nicht selbständig disapparieren kann. Um der Geheimhaltung willen ist der Personenkreis der an der Festnahme zu beteiligenden Beamten daher möglichst klein zu halten."
"Ja, aber Monsieur Latierre ist gerade erst mit Beauxbatons fertig. Eigentlich gehört er noch in den Innendienst", sagte Monsieur Montpelier. Belle widersprach ihm:
"Das wäre Zeit- und Goldverschwendung, Monsieur Montpelier. Monsieur Latierre hat in seinen jungen Jahren schon einige sehr einschneidende Erfahrungen gemacht und überdies durch hohe Zauberkräfte sehr früh fortgeschrittene Magie erlernt. Insofern betrachte ich ihn als einen Anwärter, der bereits im zweiten oder dritten Halbjahr ist und damit voll Außendiensttauglich."
"Vom magisch-praktischen her ja. Aber vom juristischen her womöglich noch nicht. Gerade in dieser Angelegenheit ist es doch auch wichtig, daß die ausführenden Beamten rechtlich einwandfrei handeln", sagte Montpelier. Julius sah Ornelle fragend an. Diese nickte ihm zu. Er hob die Hand zur Wortmeldung. Minister Grandchapeau erteilte ihm das Wort.
"Was in diesem Fall das oberste Gebot ist habe ich schon gelernt, Monsieur Montpelier: Töte keinen Träger von Veelablut!" Léto nickte heftig, ebenso Ornelle und auch Belle Grandchapeau. Die anderen starrten verdutzt durch die Gegend. Belle bat nun ums Wort und bestätigte, daß ihre damalige Saalkameradin Fleur Delacour in einer allgemeinen Aussprache im violetten Saal die wichtigsten Verhaltensregeln der Veela erläutert hatte, zu denen auch die generelle Blutrache gehörte. Damit war die Lage klar. Julius beantwortete noch einige Fragen nach magischen Gesetzen zum Umgang mit Zauberern und Muggeln, die er schon in Hogwarts und Beauxbatons nachgeschlagen hatte. Dann mußte er seinen inneren Frieden wiederherstellen, weil die Kraft dieses rein geistig gewirkten Zaubers nachließ. Léto erkannte wohl, daß der junge Zauberer einen sehr brauchbaren Kunstgriff gelernt haben mußte, seine Selbstbeherrschung gegen äußere Einflüsse aufrechtzuhalten. Sie erwähnte dann im Lauf des Gespräches, daß ihre Schwester Sarja sie um Hilfe bei der Rückführung ihres Sohnes Diosan gebeten hatte. Ornelle erwähnte das Muster der Tatorte in räumlicher und alphabetischer Beziehung und erwähnte, daß es nicht vorherzusagen war, welchen Ort Diosan als nächstes heimsuchen mochte. Jedenfalls rechne sie mit einem Ort mit dem Anfangsbuchstaben Es. Damit kamen aber hunderte von Städten und Dörfern westlich von Offenburg in Frage, von Straßburg hinunter nach Slima auf Malta und hinauf bis nach Shanon in Irland.
"Wieso denken Sie, daß dieser offenbar psychopathische Halbling seinen Namen in Form von Tatortnamen schreibt, und warum dann nur auf Europa bezogen?" fragte Monsieur Montpelier. Léto funkelte ihn dafür stahlblau an. Julius hätte sich nicht gewundert, wenn gleißende Laserblitze aus den Augen geschossen wären und den Desumbrateurentruppler eingeäschert hätten.
"Weil er nicht apparieren kann", sagte Ornelle. "Entweder ist er auf ein Landfahrzeug oder ein Wasserfahrzeug angewiesen. Fliegen kann er nur in seiner Zweitgestalt. Da die Muggelwelt nach ihm fahndet kann er nicht zu einem Flughafen hingehen und eine der Überseeflugmaschinen benutzen. Soviel zur Beweglichkeit."
"Außerdem", setzte Léto nun an, als der Minister ihr das Wort erteilte: "legte er Wert darauf, das wir, seine Verwandten, erfahren, wo er seine Zeichen setzt. In den Amerikastaaten wohnt keiner von uns. Das gleiche gilt für die Afrikaländer oder die Länder, wo die gelben Menschen wohnen. Auf der ganz großen Insel Australien wohnt eine Enkeltochter von mir, die vor zwanzig Jahren einen Besenstielbauer geheiratet hat. Aber dieses Land liegt östlich. Zudem habe ich das nicht zu erklärende Gefühl, daß sein ganzer Plan eine Racheaktion gegen mich und meine Kinder und Enkel ist. Er will zeigen, daß auch er die gleichen Rechte und Möglichkeiten hat wie meine Töchter und Enkel." Dann sah sie Montpelier noch einmal sehr gefährlich an und zischte: "Und nennen Sie keinen meiner Verwandten je wieder einen Halbling, Monsieur!" Julius stimmte ihr in Gedanken zu. Außer für Hobbits war die Bezeichnung Halbling sicher eine tödliche Beleidigung, genau wie Halb- oder Schlammblut für Zauberer. Und Hobbits gab es seines Wissens nach wirklich nur im Land Mittelerde. Er sang in Gedanken wieder das Lied des inneren Friedens, um den Kopf freizubehalten.
"Haben Sie die Befugnis Ihrer Schwester, uns um Hilfe zu bitten?" wollte der Minister wissen. Madame Léto nickte und sprach es für die mitschreibende Flotte-schreibe-Feder laut aus. "Dann werde ich meinem wackeren Amtskollegen Güldenberg auf halbem Weg entgegenkommen, und ihm unsere Einsatzmöglichkeiten anbieten." Anschließend sprachen sie über das weitere Vorgehen. Belle schlug vor, als Polizisten und Bedienungen verkleidete Ministeriumsbeamte an Treffpunkten für junge Leute zu postieren. Allerdings gab es allein in Paris so viele, daß dieses Unterfangen personell nicht zu bewältigen war. Auch wenn sie von der Annahme ausgingen, daß der nächste Tatort mit S anfangen sollte, gab es noch zu viele Ortschaften im deutsch-französischen Grenzgebiet und landesweit. Somit blieb nur der Zugriff auf Polizeiüberwachungsgeräte und den Polizeifunk, so Madame Grandchapeau. Julius war sich aber sicher, daß sie dem mädchenjagenden Halbveela dann immer um zwei oder drei Minuten hinterherhinken würden. Deshalb bat er ums Wort, nachdem er zum x-ten Mal seinen Schutz vor äußerer Beeinflussung aufgefrischt hatte:
"Darf ich Sie fragen, Madame Léto, ob Sie irgendwie fühlen oder hören können, wo einer ihrer Blutsverwandten ist?"
"Nur wenn es ein von mir selbst geborener ist und mein Geschlecht hat, Junger Mann. Bei meiner Schwester liegt das Problem, daß ihr Sohn seine eigene Lebenskraftausstrahlung gegen sie verbergen kann. Wenn er sich konzentriert kann sie ihn nicht erspüren oder ansingen." Julius nickte. Das war in der Tat ein Nachteil. Sonst hätte er vorgeschlagen, daß alle mit Léto verwandten mit ihr zusammen ein Netzwerk bildeten, das auf Diosans Ausstrahlung ansprach. Aber so war das natürlich reiner Unsinn. So blieb im Moment wirklich nur eine vollständige Belauschung der Polizei in ganz Frankreich, auch auf die Gefahr hin, die nächste Tat nicht verhindern, sondern nur unmittelbar nach Verübung aufklären zu können.
Als die Besprechung mit der schriftlich fixierten Erklärung, niemanden in Wort, Schrift oder Gedankensprechen davon was zu berichten beendet war, war es bereits halb sechs. Julius kehrte in das Apfelhaus zurück. Millie wollte wissen, ob heute was wichtiges passiert sei. Julius sagte nur: "Heute nicht. Aber ich habe in Aussicht gestellt bekommen, daß ich bei einem Außeneinsatz dabei sein kann. Darüber darf ich aber nicht mehr sagen oder dir aufschreiben."
"War ja zu befürchten", grummelte Millie. Julius dachte nur, daß eine nörgelige Ehefrau für ihn in absehbarer Zeit das wohl kleinste Problem sein würde.
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Julius hatte in den nächsten Tagen sichtlich Mühe, seine innere Alarmstimmung niederzuhalten. Die Besorgnis um die wohl von Diosan Sarjawitsch entführten jungen Mädchen und die bange Frage, wann und wo er wieder zuschlagen würde, qwollte trotz Routinearbeiten nicht aus dem Kopf verschwinden.
Am Vorabend der Verlobungsfeier Martines sah Millie ihn sehr ernst an. "Bevor du was auch immer zur Verlobungsfete meiner Schwester hinschleppst frage ich dich, was an dem geheimer sein soll als an den Sachen, die wir schon erlebt haben. Warum legst du das Zuneigungsherz nicht ab, wenn du nicht willst, daß ich das mitkriege, wie irgendwas von Ornelle Ventvit in dir rumbrütet. Ich will nicht, daß du gegen irgendwelche Gesetze verstoßen mußt. Aber ich will auch nicht, daß du rumläufst, als hättest du wen auf dem Gewissen oder wüßtest von wem, der wen auf dem Gewissen hat." Julius starrte seine Frau an. War das jetzt schon ein Punkt, wo es zwischen ihm und ihr krachen konnte? Doch er beherrschte sich. Das hatte er ja schmerzvoll gelernt, wie wichtig eine gute Selbstbeherrschung war, wenn er seine Gefühle nicht offen ausleben durfte.
"Ich darf dir leider nicht erzählen, was da los ist, Millie. Ich darf es nicht aufschreiben, dir sagen oder zumentiloquieren. So steht's in einer schriftlichen Vereinbarung."
"Ja, doch Tine könnte finden, du hättest was gegen ihren Bräutigam, wenn du da so ankommst. Gut, die kriegt nicht alles von dir mit, was ich von dir mitkriege. Aber wenn da ein falsches Wort fällt, und du bist gerade in dieser Alarmstimmung, dann könnte ein falsches Wort reichen. - Moment, du darfst es nicht erzählen, aufschreiben oder meloen?" fragte Millie. Julius nickte. Dann ging ihm mit der Kraft einer Supernova auf, was Millie mit dieser Frage meinte. Wozu hatte er ein Gefäß, in das er alle ihn bedrückenden Gedanken und Erinnerungen auslagern konnte? Davon stand nichts in der Vereinbarung. Schlagartig hellte sich seine Stimmung auf. Er sagte: "Nein, ich darf es dir nicht auf direktem Weg mitteilen. Es aufzuschreiben wäre ja sowas wie ein aktives mitteilen." Für sich dachte er aber daran, daß er Millie nicht daran hindern konnte, das gemeinsame Denkarium zu benutzen. Immerhin hatte sie von ihm gelernt, Erinnerungen von sich auszulagern. Sie hatte Erlebnisse aus der Schwangerschaft mit Aurore in das Denkarium ausgelagert und ihren Mann eingeladen, diese Erinnerungen einmal nachzuerleben, wenn er wollte. So ging es also.
"Stimmt, Millie, du hast verdammt noch mal recht. Ich kann nicht mit dem ganzen Wust aus der Arbeit im Kopf zu Tines Verlobungsfete hin. Die denkt nachher noch, es hätte zwischen uns gekracht. Das muß ja echt nicht so rüberkommen. Gibst du mir bitte eine Stunde Zeit?" Millie grinste. Sie hatte verstanden, was Julius vorhatte. Immerhin hatte sie ihn ja darauf gestoßen.
"Verdammte Geheimnistuerei", dachte Julius, als er das Granitbecken aus dem mit dem durch Blut bekräftigten Schutzzauber verhüllten Schrank gehoben und sich in eine Bequeme Haltung davor hingesetzt hatte. Er blickte in die silbern leuchtende Substanz, die das berunte Gefäß ausfüllte. Er dachte einige Sekunden an die Altmeister von Khalakatan. Deren Ruhezustand strahlte das gleiche Licht aus. Was wollte er alles in das Denkarium einfüllen? Er entschied sich, auch die Sache mit Meridana dort einzulagern. Zwar stand deren Existenz noch höher in der Geheimhaltung. Doch was sie ihm über Aiondaras Krug erzählt hatte war zu wichtig, um nur für ihn allein verfügbar zu sein. So führte er die Zauber aus, um seine Erinnerung zu verdoppeln, um eine Kopie davon in das Denkarium zu übertragen. Silberlichtfaden umd Silberlichtfaden glitt aus seinem Kopf auf den Zauberstab und wanderte in das steinerne Becken, das unendlich viel Platz für mehrere hundert Lebenserinnerungen bereithalten mochte. Als er Meridanas Erzählungen und den dritten Ausflug nach Khalakatan ordentlich in das Denkarium übertragen hatte, konzentrierte er sich auf Diosan. Er sah das Bild, das eine Überwachungskamera vor der Disco in Ingolstadt aufgenommen hatte, die den Namen Club Orbit trug. Dann erinnerte er sich an alle besprochenen und von ihm gelesenen Dinge, die in diesem Zusammenhang erwähnt worden waren. Immer wieder übertrug er die klar greifbaren Erinnerungen. Als er nach einer Dreiviertelstunde alle mit dem halben, offenbar geisteskranken Veela in das Denkarium eingefüllt hatte, fühlte er sich gleich wesentlich leichter. Er hatte nicht gegen die von ihm unterschriebene Vereinbarung verstoßen. Er ging aber auch nicht mehr alleine mit diesen schweren Erinnerungen und Sorgen schwanger. Er dachte amüsiert daran, daß er Millies Gefühlsschwankungen, Sorgen und Wutanfälle mit ihr ausgehalten hatte. Würde sie das aushalten, was er gerade in das gemeinsame Erinnerungsgefäß eingefüllt hatte?
"Es geht dir Besser, merke ich", sagte Millie. "Hast du dich gut erleichtert oder nur das Gewicht verteilt?" Julius sagte, daß er das Gewicht verteilt habe. Er durfte Millie keinen deutlichen Hinweis auf seine ausgelagerten Erinnerungen geben. Aber einen für sie nachvollziehbaren Tipp: "jetzt weiß ich zumindest, warum manche Sachen von einer Abteilung alleine nicht getragen werden können." Millie nickte.
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Weil bereits Gäste aus dem Bekanntenkreis der Braut im Honigwabenhaus eingetroffen waren nutzten Millie, Julius und Aurore nicht den Verschwindeschrank, sondern den Flohpulveranschluß von der Wohnküche aus. Julius trug den grünen Umhang mit den eingewirkten Goldfäden. Er wunderte sich nicht, neben Barbara Latierre und ihrer Familie auch ehemalige Klassenkameraden Martines zu sehen, darunter César Rocher mit dessen Eltern und der fülligen Großmutter Laura. Aber auch Héméra Ventvit war extra von Martinique herübergekommen, um sich den Zauberer anzusehen, mit dem Martine ab dem nächsten Sommer das restliche Leben verbringen wollte. Sie begrüßte Julius sehr erfreut. Héméra trug ein bordeauxrotes Trägerkleid, das die Schultern freiließ und gerade so bis zur Oberkante ihrer Knie reichte. Dazu trug sie weiße Seidenstrümpfe und kokosnußfarbene Halbschuhe.
Millies kleine Schwester Miriam war noch draußen im Garten und tobte mit Barbaras Zwillingssöhnen Boreas und Notus. Außer Hémera Ventvit und ihren Eltern waren noch Hexen und Zauberer da, die Julius noch nicht kannte, bis auf eine goldblonde Hexe im strahlendblauen Rüschenkleid. Er hatte sie in der Ministeriumskantine schon öfter von weitem gesehen. Sie sah ihn auch und winkte ihm. Martine, die zur Feier des Tages einen mintgrünen Festumhang trug, winkte Julius. Er ging zu ihr. "Kennt ihr beiden euch schon offiziell?" fragte sie ihren Schwager. Dieser schüttelte den Kopf. So winkte Martine der blondhaarigen Hexe mit den zu ihrem Kleid passenden Augen. "Britta, das ist mein Schwager Julius. Julius, das ist Britta Gautier, die Frau meines zukünftigen Schwagers Roger. Britta, Julius arbeitet im ZWB für die Kollegin Ornelle Ventvit. Julius, Britta Gautier ist eine von den Desumbrateuren Montpeliers."
"Wir haben uns schon mehrmals aus zwanzig Metern entfernung gegrüßt", sagte Julius. Britta Gautier nickte und erwiderte, daß sie eigentlich damit gerechnet habe, daß Julius bei ihrer Abteilung oder der Truppe von Lesfeux unterkommen würde. Sie sprach fast akzentfreies Französisch. Doch vom Aussehen und Vornamen her stammte sie eindeutig aus einem Land weiter nördlich. Das erwähnte sie auch, nachdem Julius sie fragte, ob sie auch ins Land eingeheiratet habe wie er. Sie lachte und erwähnte, daß sie aus dem schwedischen Zaubererdorf Draksborg stamme, das fünfzig Kilometer südlich von Treriksröset liege. Julius mußte zu seinem Bedauern eingestehen, daß er sich in Schweden nicht auskannte. So erfuhr er, daß der Ort fast am nördlichsten Punkt des Königreiches lag und von dichten Wäldern mit vielen Zaubertieren und -wesen umgeben sei.
"Eigentlich ist es, wie der Name sagt, eine große Burg, eine Festung, die auf einem Felsen liegt und von einer acht Meter hohen, im Sechseck gebauten Mauer mit einem Turm an jeder Ecke umgeben ist", erklärte Britta Gautier Julius. Er vermutete dann noch, daß sie ja dann wohl die Mitternachtssonne kannte. Sie bejahte das und erwähnte, daß sie am Mittsommertag um halb eins morgens geboren worden sei. Dann winkte sie ihrem Mann, der sich mit dem zweiten wichtigen Teilnehmer dieser Feier noch über irgendwas unterhalten hatte. Roger Gautier war ungefähr zwanzig Zentimeter kleiner als seine Frau und trug einen dunkelgrünen Samtumhang. Sein nachtschwarzes Haar war ordentlich gescheitelt.
"Ah, Sie sind Monsieur Julius Latierre geborener Andrews", sagte er leicht ungehalten klingend. "Ich hörte sowas, daß Sie ja schon sehr früh ins Erwachsenenleben gestartet sind." Seine Frau blickte ihn verstimmt an und zischte ihm was zu, was Julius nicht hörte. "Warum soll ich das nicht erwähnen, Britta. Der junge Mann weiß genau, wie ich das meine."
"Gut, jetzt kann man verschiedene Sachen erwähnen, warum jemand als erwachsen gilt. Ich habe schon eine feste Arbeit, bin verheiratet und habe eine kleine Tochter. Wenn das alles die Bedingungen sind, mich für erwachsen zu halten kann ich Ihnen da absolut nicht widersprechen", sagte Julius ruhig. Er fragte sich, was seinen zukünftigen Schwippschwager so verstimmt hatte und hoffte, daß nicht er der Grund war. Martine bemerkte sehr wohl, daß da zwischen Julius und Roger irgendwas nicht im Gleichklang war und fragte behutsam, ob Roger einen harten Tag gehabt habe.
"Ohne auf innerbetriebliche Einzelheiten eingehen zu müssen, Mademoiselle Latierre, ich hatte den üblichen Stress. Daher wollte ich eigentlich nicht hergekommen sein", erwiderte Roger gegen alle Regeln der höflichen Zurückhaltung.
"Ja, aber jetzt bist du hier, Roger. Dafür danke ich dir. Ich wollte nur sicherstellen, daß mein Schwager nicht denkt, du wärest aus einem mir und ihm unerfindlichen Grund verärgert über ihn", erwiderte Martine.
"Ich muß nicht jeden hofieren, der oder die mit meinem kleinen Bruder zu tun hat oder irgendwann verwandt mit ihm ist", knurrte Rogerr Gautier. Seine Frau errötete an den Ohren. Ihr war dieser Auftritt sichtbar peinlich. So wunderte es Julius nicht, daß sie sagte: "Große Feiern sind nicht das rechte für Roger. Das ist für ihn immer mit Stress verbunden. Ich hoffe, daß ihr das versteht."
"Britta, du mußt mich deiner zukünftigen Schwippschwägerin und ihrem viel zu jung verheirateten Schwager gegenüber weder entschuldigen noch in Schutz nehmen noch rechtfertigen noch sonst was", grummelte Roger. "Ich sage, was ich zu sagen habe. Wenn dir das peinlich ist können wir ja gerne nach Hause flohpulvern."
"Das besprechen wir besser für uns", erwiderte Britta Gautier sichtlich angenervt. "Wo können wir für uns sein?" fragte sie Martine.
"Wenn meine mittelgroße Schwester nichts dagegen hat könnt ihr in ihrem früheren Kinderzimmer miteinander sprechen. Ist auf jeden Fall eine gute Idee", sagte Martine und winkte Millie, die gerade aus dem für die mitgebrachten Babys bereitgestellten Zimmer kam. Ein par kurze Sätze später nickte Millie den Gautiers zu und beschrieb den Weg in ihr früheres Zimmer, wo außer den Möbeln nichts mehr von ihr war.
"Öhm, wenn der Probleme mit mir hat bleibe ich dem am Abend aber schön aus dem Weg. Habe selbst genug Stress um die Ohren", zischte Julius seiner Schwägerin zu.
"Er ist mit Britta seit zehn Jahren verheiratet. Er selbst ist schon zweiunddreißig Jahre alt. Daß du mit meiner Schwester so früh eine Familie aufgelegt hast nervt ihn wohl an. Aber das ist kein Grund, dir das zum Vorwurf zu machen. Dazu hat er kein Recht."
"Achso, der fühlt sich von mir rechts überholt oder was? Das ist dann sein Problem", erwiderte Julius darauf.
Alon Gautier war wesentlich freundlicher und umgänglicher gestimmt als sein großer Bruder. Er freute sich, daß er in eine so interessante Familie einheiraten durfte.
"Das hat mich auch gefreut", sagte Julius darauf.
Zehn Minuten vergingen, bis Britta und Roger Gautier in den großen Festraum zurückkehrten. Roger ging zu Hippolyte und Albericus und deutete in Richtung Kamin. Hippolyte verzog das Gesicht. Dann nickte sie. Britta Gautier umarmte ihren Mann kurz, der diese Zärtlichkeit jedoch nicht hier vor aller Augen haben wollte. Er ging zum Kamin, bekam von Albericus eine Prise Flohpulver und entfachte das smaragdgrüne Zauberfeuer, mit dessen Hilfe das Flohnetz benutzt werden konnte. Dann winkte er kurz angebunden in die Schar der Festgäste und verschwand im Kamin.
"Tut mir leid, daß er fast die Feier ruiniert hat, Leute. Aber ihr müßt verstehen, daß er so viele Leute auf einen Haufen nicht vertragen kann, wenn es in seiner Firma anstrengend ist", sagte Britta Gautier. Es war ihr offenbar nicht schwergefallen, ihren Mann alleine abreisen zu lassen.
Von diesem eher unangenehmen Zwischenfall abgesehen wurde die Feier sehr fröhlich. Ein von den Brauteltern angeworbenes Streichquartett spielte Tafelmusik und anschließend auch zum Tanz auf, wobei viele Walzer von Johann Strauß erklangen. Julius fand Gelegenheit, sich mit Alon über seinen Beruf bei Cyrano zu unterhalten und sprach mit Britta über die Tier- und Zauberwesen ihres Geburtslandes.
"Früher haben sich die Großzauberer Kurzschnäuzler gehalten, um zu zeigen, wie furchtlos sie waren", sagte Britta zu Julius, Martine und Millie. Ursuline Latierre tanzte derweil mit ihrem zukünftigen Schwiegerenkel. Julius erwähnte, daß er einen Kurzschnäuzler beim trimagischen Turnier in Hogwarts gesehen hatte und ja auch die Bergtrolle in der dritten Runde des gerade in Beauxbatons ausgetragenen Turniers gut in Erinnerung behalten hatte.
"Ja, die Bergtrolle. Deshalb war ich ja auch da, als die Runde war, weil zwei von denen aus Schweden stammten und ich ein wenig Trollensvenska kann, also das was die schwedischen Trolle als Lautsprache benutzten."
"Grunzen die lauter oder tiefer als die aus Norwegen und Großbritannien?" fragte Millie. Britta lachte nur und erwähnte, daß manche Silben die genau entgegengesetzte Bedeutung hatten. "Dann kann es dir passieren, daß du zu einem Troll sagen willst: "pass auf ihn auf" und der das als "mach ihn platt" versteht. Will keiner wirklich."
Julius durfte noch mit seinen Schwiegergroßmüttern tanzen, wobei die eine ihm zusprach, Aurore nicht zu lange alleine auf ein Geschwisterchen warten zu lassen und die andere etwas verstimmt war, daß Millie gegen die Tradition verstoßen und nicht ihr, sondern Béatrice den Vorzug bei der Mutterschaftsbetreuung gegeben hatte.
Es war so gegen zehn Uhr, als zwei Eulen aus dem Kamin der Latierres herauspurzelten und wild mit den verrußten Flügeln schlagend zu Britta und Julius hinflogen. Julius nahm der ihn anfliegenden Waldohreule einen versiegelten Umschlag ab, auf dem das Kürzel S6 und der Vermerk "Nur in völliger Abgeschiedenheit von anderen Personen lesen" stand. Julius sah, wie Britta ebenfalls einen Umschlag betrachtete und dann in Richtung Toilettenraum ging. Julius entschuldigte sich bei den Gastgebern und fragte seine Frau, ob er ihr früheres Zimmer zum Lesen benutzen durfte. Sie sah ihn leicht ungehalten an, nickte aber.
In Millies bis auf den Schrank und das mit einer grünen Tagesdecke bedeckte Bett leerem Zimmer öffnete er den Brief, der wohl auf ihn geprägt war.
Subjekt Tänzer in Straßburg gesehen worden. Dringlichkeitssitzung um Punkt zwölf Uhr Mitternacht in Büro Vendredi angesetzt. Um pünktliches Erscheinen wird dringend gebeten. Es gilt die unterschriebene Mitteilungsbeschränkung.
"Schweinepriester", zischte Julius. Er hatte zwar damit gerechnet, daß der sogenante Tänzer irgendwann wieder zuschlagen würde. Doch ausgerechnet heute und dann auch wahrhaftig auf französischem Staatsgebiet. Also Straßburg, mal eben über den Rhein. Damit war zumindest die Frage nach dem Ort mit S beantwortet. Er wollte den Brief fortstecken. Doch dieser zerfiel bereits zu Staub. "Die fünf Sekunden hättest du mir aber ansagen dürfen", grummelte Julius. Auch der Umschlag löste sich in feinen Staub auf. Julius beseitigte die beiden Staubhäufchen mit dem Staubsammelzauber. Dann ging er wieder hinunter zu den anderen. Britta Gautier stand bereits bei den Gastgebern und sprach mit leicht verlegenem Gesichtsausdruck auf sie ein.
"Ich wurde in mein Büro gerufen, Hippolyte und Albericus. Tut mir leid, nicht bis zum Partyende bleiben zu können", sagte Julius.
"Du auch?" fragte Hippolyte. "Sag nicht, daß du mit Britta Gautier an der gleichen Sache arbeiten mußt!"
"Nein, das sage ich nicht", erwiderte Julius darauf. Dann sprach er kurz mit Millie und bat sie, nicht mit dem Schlafengehen auf ihn zu warten. Sie grummelte, daß er es seiner Chefin gerne sagen dürfe, daß ein Wochenende ein Wochenende sei und es nicht nur das Amt gebe."
"Ich lass das als Überstunden gutschreiben, Mamille", rang sich Julius einen Scherz ab. Eigentlich war ihm nicht nach Scherzen zu Mute. Denn wenn Diosan alias der Tänzer wirklich wieder aufgetaucht war hatte der sicher wieder ein unschuldiges Mädchen verschleppt oder hatte dies zumindest vorgehabt. Vielleicht hatten sie ihn aber auch auf frischer Tat ertappt und festnehmen können, und die Besprechung sollte nur klären, wie mit dem halben Veela verfahren werden sollte, da ja weder seine Mutter noch er französischer Staatsbürger war. Am Ende stellten die deutschen Zaubereibeamten noch einen Auslieferungsantrag.
Zusammen mit Britta Gautier flohpulverte er sich eine Viertelstunde vor Mitternacht ins Voyer des Zaubereiministeriums. Britta hatte die plötzliche Abreise mit einem Scherz abgetan, daß es auf dem Mont Martre wohl zu einer Massenprügelei zwischen Bergtrollen gekommen war. Natürlich glaubte ihr das niemand.
Als Britta Gautier und Julius gemeinsam im Fahrstuhl im fast leeren Ministerium hinauffuhren fragte sie ihn, ob er auch in einer S6-Angelegenheit einbestellt worden war. Julius nickte dazu nur.
"Ich möchte vorausschicken, daß es mich am meisten Ärgert, daß unsere Vorkehrungen sich als unzureichend, ja absolut untauglich erwiesen haben", setzte Monsieur Vendredi an, der als Hauptleiter der Kommission Tänzer fungierte. "Unsere Informanten bei den Polizeibehörden wurden durch fünf Meldungen, die alle auf die Aktivität des Halbveela deuteten, vom wirklichen Tatort abgelenkt. Als unser Informant in Straßburg erfuhr, daß in einem Tanzhaus namens Eurobeat ein gerade sechzehn Jahre altes Mädchen vor hunderten von Zeugen entführt wurde, war es für die Bereitschaftstruppe aus Zauberwesenexperten und Fluchabwehrtrupplern zu spät. Wir wissen nur, daß der Täter mit einem kleinen Motorwagen namens Smart fortgefahren ist und alle ihm nachjagenden Muggel durch seine besonderen Kräfte von der weiteren Verfolgung abgebracht hat. Zwei Polizeiautomobile gerieten in Brand. Die Überwachung mit einem dieser Drehflügel-Flugapparate der Muggel führte zu keinem Erfolg. Er hat uns wahrhaftig überrumpelt und sein Opfer gefunden."
"Ist es jetzt sicher, daß es dieser halbe Veela sein soll, der angeblich Grindelwalds Sohn sein soll?" wollte Britta Gautier wissen.
"Absolut. Er hat eindeutig Veelazauber verwendet, um die nicht ganz in seine Beeinflussung geratenen Sicherheitsleute zu bekämpfen", erwiderte Vendredi. Dann erwähnte er noch, daß das entführte Mädchen Schülerin einer westlich von Straßburg angesiedelten Ordensschule sei.
"War sie die einzige Jungfrau in diesem Laden?" fragte Julius, nachdem er vorschriftsmäßig ums Wort gebeten hatte.
"Diese intime Einzelheit bedarf noch der vollständigen Klärung, Monsieur Latierre. Die Wahrscheinlichkeit liegt jedoch beim gegenwärtigen Wissensstand über achtzig Prozent", erwiderte Vendredi sehr verdrossen.
"Die Frage ist, ob er sich an den Mädchen vergehen will oder andere Gründe hat, warum er sie entführt", wandte Montpelier ein. "Immerhin könnte er auch irgendwelche magischen Experimente machen, wozu er das Blut unberührter Menschen braucht."
"Für mich stellt sich nicht die Frage, ob er sich an diesen unschuldigen Mädchen vergehen wird, sondern nur, wann", erwiderte Belle Grandchapeau darauf.
"Also, die Maßnahmen funktionieren nicht", setzte Julius an. "Madame Léto hat mit Bedauern erklärt, daß ihre Schwester keinen Kontakt zu ihrem Sohn herstellen kann. Kann Jetzt nicht mit dem Retrocular nachgeforscht werden, wo Diosan Sarjawitsch hingefahren ist?"
"Veelas besitzen eine natürliche Abschirmung gegen Aufspür- und Ortungszauber", wußte Ornelle Ventvit. "Da nützt uns leider auch kein Retrocular."
"Ja, aber wir können doch nicht zusehen, wie der einfach bei uns junge Mädchen in seine Gewalt bringt und sich an diesen vergeht", schnaubte Montpelier.
"Kann man die Entführte vielleicht mit dem Sanguivocatus-Zauber orten?" fragte Julius. "Ich weiß, das Mädchen ist wohl keine Hexe und deren Eltern sind es auch nicht. Aber mit entsprechenden Gedächtniszaubern müßte es doch erlaubt sein, die Eltern als Suchhilfe zu engagieren."
"Das verbieten die Gesetze leider, Monsieur Latierre", erwiderte Monsieur Vendredi. "Muggel dürfen nicht gezielt in weitreichende Bezauberungen einbezogen werden, sofern sie keine familiäre Beziehung zu anerkannten Hexen und Zauberern besitzen", fügte er noch hinzu. Julius kannte das Gesetz auch. Aber in der Muggelwelt konnten Polizisten auch mal auf Ausnahmen zurückgreifen, um gefährliche Verbrecher dingfest zu machen, auch wenn dabei unschuldige Dritte gefährdet wurden. Britta Gautier fragte dann, ob sie nicht mit Hilfe eines Trollvargs das entführte Mädchen finden konnten.
"Madame Gautier, das Zaubereiministerium Ihres Landes weigert sich trotz wiederholter Anfragen der Kollegin Barbara Latierre und meiner Wenigkeit beharrlich, uns mehrere Trollvargen zur gezielten Suche nach flüchtigen Zauberwesen und Personen zu überlassen. Sie berufen sich immer darauf, daß diese Tierwesen nur von dafür ausgebildeten und mit ihnen in Lebenspartnerschaft lebenden Führern eingesetzt werden dürfen. Ich hätte diesem unzweifelhaft wahnhaften Halbling sofort ein ganzes Rudel Ihrer trefflichen Spürwölfe auf den Hals gehetzt", sagte Montpelier.
"Wozu dann diese Sitzung um Mitternacht?" stellte Belle Grandchapeau die Frage, die Julius sich auch gerade stellte.
"Weil es jetzt darum geht, alle Spuren zu sichern, solange sie heiß sind, alle Zeugen zu befragen und anschließend mnemoplastisch zu behandeln, um die französische Zivilbevölkerung nicht an übersinnliche Vorgänge denken zu machen", sagte Vendredi. "Beziehen Sie bitte Ihre Bereitschaftsposten oder finden Sie sich gemäß Ihrer Einsatzrichtlinien am Tatort ein!"
"Ist die Polizei schon vor Ort?" fragte Julius. Die Antwort war ein klares Ja. "Dann sind auch schon die Leute von den Nachrichtenmedien da und vielleicht auch welche von den Geheimdiensten. Straßburg ist ja die Stadt, wo das Europaparlament residiert. Das wird anstrengend."
"Wir haben schon zwanzig unserer Mitarbeiter vor Ort und dreißig Desumbrateure", sagte Vendredi. Dann wandte er sich an Julius: "Sie stellen die von elektrischen Bildaufnahmevorrichtungen erstellten Aufzeichnungen sicher und klären mit Madame Grandchapeau, wie diese muggeltauglich abgeändert werden können, Monsieur Latierre."
"Wenn man mich ranläßt", grummelte Julius. "Abgesehen davon steht die Fortbildungseinheit Gedächtnisbezauberung für Außeneinsatzbeamte mit Muggelberührungswahrscheinlichkeit erst nach der Halbjahresprüfung an", fügte er noch hinzu.
"Ich habe darum gebeten, Sie als Assistenten bei der muggeltauglichen Darstellung maschinell erfolgter Bild- und/oder Tonaufzeichnungen zugeteilt zu bekommen, Monsieur Latierre", sagte Belle Grandchapeau. Das leuchtete Julius ein. Er wandte aber nach Erteilung des Wortes ein, daß die Aufzeichnungen sicher schon von Polizeibeamten oder gar Geheimdienstmitarbeitern ausgewertet würden und die meisten Aufzeichnungen sowieso auf Auswertungscomputer abgespeichert würden, um Bildausschnitte zu vergrößern, Bilderfolgen verlangsamt wiederzugeben oder Personenerkennungsprogramme einzusetzen, die nach bekannten Gesichtern suchten. "Dann können wir nur hoffen, daß wir noch früh genug dran sind", sagte er noch. Belle Grandchapeau grummelte leise, nickte aber auch. Natürlich war ihr ebenfalls klar, daß die Aufzeichnungsmethoden der Muggelwelt heute wesentlich umfangreicher und schneller auszuwerten waren als vor fünfzig Jahren noch.
"Vordringlich gilt es, die Verbreitung über das Medium Fernsehen oder das weltweite Rechnernetzwerk Internet zu verhindern, falls es den Ordnungsbehörden einfallen sollte, die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Suche aufzurufen", legte Belle Grandchapeau fest. Julius nickte. Das konnte klappen. Britta Gautier sollte bei der "Erstellung muggeltauglicher Erinnerungen" helfen, da sie wie Belle und Julius neben Französisch noch fließend Englisch sprach und zudem noch ihre Muttersprache Schwedisch, Norwegisch und Spanisch beherrschte. Julius hätte fast gefragt, warum so umfangreiche Sprachkenntnisse bei Gedächtniszaubern so wichtig waren. Doch schmerzhaft fiel ihm ein, daß es mit den Gedächtniszaubern wie beim Mentiloquieren und Gedankenhören war, daß der Anwender die benutzte oder Muttersprache des anderen kennen mußte, um sorgfältig zu arbeiten. Gruselig fand Julius es immer noch, daß mal eben die Erinnerungen von Menschen verändert werden konnten, und er hoffte, daß er nicht all zu häufig in die Lage geraten würde, diese Zauberei anzuwenden. Adrasthée Ventvit hatte es ihm ja bei der Jagd auf den Luftdschinn vorgehalten, daß er diese Zauberei erlernen müsse, wenn er Einsätze "mit Muggelberührung" durchzuführen habe. Doch im Moment wurde von ihm nur verlangt, am "Gedächtnis" einer Videocasette oder einer Computerfestplatte oder CD-ROM herumzuwerkeln.
"Prüfen Sie vor Ort, ob es Aufzeichnungen über den Vorfall gibt! Falls Ja, Sicherstellen und muggeltauglich bearbeiten!" Befahl Vendredi Belle Grandchapeau und Julius Latierre.
Unterwegs im Fahrstuhl wechselten die beiden Einsatzpartner per Schnellumkleidezauber ihre augenblickliche Kleidung. Julius war froh, neben den Umhängen auch Muggelweltsachen in seinem Haus zu haben und den Zauber im letzten Schuljahr oft genug mit seiner Frau geübt zu haben. Das hatte sich ja angeboten, weil sie beide nicht in ihren früheren Schülerschlafsälen gewohnt hatten.
"Waren Sie Gast auf derselben Festlichkeit wie Madame Gautier?" fragte Belle Grandchapeau, nachdem sie sich in ein Sommerkostüm mit heller Bluse und knielangem Rock hineingezaubert hatte und Julius eine dunkelgraue Hose und ein graublaues Hemd trug.
"Es wäre schön gewesen, wenn ich mit meiner Frau und meiner Tochter zusammen nach Hause hätte flohpulvern dürfen. Aber ich denke, wenn wir den Kerl kriegen, bevor der den Entführten was antut oder noch wen entführt, ist diese Eile gerechtfertigt", sagte Julius.
"Glauben Sie dies, daß wir den Halbveela noch vor seiner nächsten Untat dingfest machen können?" wollte Belle wissen. Julius fragte sich, ob sie jetzt eine hoffnungsvolle oder eine Ehrliche Antwort haben wollte. Er beschloß, nicht aus Höflichkeit oder aufgesetztem Zweckoptimismus zu lügen und schüttelte den Kopf.
"Wenn wir den nicht bald auf eine Weise orten können tanzt der uns wortwörtlich auf dem Kopf herum, ohne Angst vor irgendwelchen Folgen zu haben. Madame Léto und ihre Schwester können ihn nicht aufspüren, weil er sich als männlicher Halbveela gegen die Suchzauber oder Spürsinne abschirmen kann."
"Der Vater der beiden Veelas könnte ihn aber aufspüren, oder?"
"Interessant, die Frage habe ich nicht gestellt und meine Vorgesetzten auch nicht", erkannte Julius. Doch zunächst galt es, die zu erfassenden Spuren zu sichern und für die magielosen Fahnder nachvollziehbare Aufzeichnungen hinzubiegen.
Warum die Angelegenheit Diosan in die Kategorie S6 eingeordnet worden war wurde Julius klar, als er im Voyer des Ministeriums eine löcherige Plastiktüte von einem in Nachtschicht arbeitenden Ministeriumskollegen erhielt. Denn die Geheimhaltungsstufe erlaubte höhere Beamte von bis zu vier Abteilungen in den laufenden Vorgang einzuweihen, sofern es mehr als eine Abteilung betraf. In dem Fall war es das Portschlüsselüberwachungsbüro aus der Personenverkehrsabteilung. Die Plastiktüte war als Portschlüssel auf das Polizeihauptquartier in Straßburg ausgerichtet. Als Belle und Julius aus dem farbigen Wirbel zwischen Raum und Zeit herausfielen fanden sie sich in einem gefließten Gang mit einer Reihe von Waschbecken vor mehreren Kabinentüren.
"Oha, das scheint die Damentoilette des Gebäudes zu sein", bemerkte Belle nach Prüfung des Standortes. Julius war darüber weder überrascht noch verlegen. "Gut, wenn Madame Beaubois den Portschlüssel eingerichtet hat wird sie diesen Ort natürlich bevorzugt haben. Desillusionieren wir uns besser."
Julius hätte lieber die vollständige Unsichtbarkeit angewendet. Doch um Belle sehen zu können war es besser, sich nur den Hintergrundfarben anzugleichen.
Nach nur zwei Minuten hatten sie den Ort gefunden, an dem das aus der Discothek beschaffte Überwachungsband eingetroffen war. Zwei Bildbearbeitungstechniker hatten die Aufzeichnungen schon auf einen Computer überspielt und ließen die Daten durchlaufen. Belle und Julius ließen sie zunächst arglos weiterarbeiten, bis sie sahen, welche Bilder und Erinnerungsinhalte verändert werden mußten. Belle und Julius belegten die beiden Techniker mit dem Schockzauber. Dann zogen sie sich durchsichtige Handschuhe an und setzten sich an zwei Tastaturen. Die auf die Festplatte gezogene Datei war schnell auf den Parallelarbeitsplatz überspielt. Gerade wollte Julius ansetzen, ein Bildbearbeitungsprogramm aufzurufen, als das Telefon läutete. Belle tippte sich mit dem Zauberstab an den Kehlkopf und wisperte "Varivox!" Da sie die Stimmen der beiden Techniker lange genug gehört hatte, war es kein Problem, die Stimme von einem zu imitieren. Sie ergriff den Hörer und drückte die Mithörtaste am Telefon selbst.
"Hier Moureau", meldete sich Belle. den Namen des imitierten Technikers hatte sie bei ihrer Belauschung vorhin erfahren.
"Hier Chefinspecteur Gérard. Wie weit sind Sie mit dem Video?"
"Wir haben die Aufzeichnung gerade überspielt und bereits erkannt, daß der Täter offenbar ein miniaturisiertes Elektroschockgerät verwendet hat, um die Türwache außer Gefecht zu setzen. Wie er die Mädchen in dem Tanzssaal manipuliert hat geht aus der Aufzeichnung nicht hervor."
"Das dürfen die Kollegen von der Chemischen Abteilung klären. Inspecteur Fouquet meint ja, der Täter habe ein künstliches Pheromon benutzt, um den Verstand der Zeugen zu benebeln. Falls das stimmt kriegen wir wohl noch Besuch von den Schlapphüten, weil die sowas gerne hätten."
"Ein was?" fragte Belle sichtlich überrascht. Julius mentiloquierte ihr "gasförmiger Botenstoff zur Anregung bestimmter Verhaltensweisen bei Tieren"
"Sie wissen nicht, was Pheromone sind? Das weiß doch sogar ich", wunderte sich der Anrufer. Belle, die Julius' Gedankenbotschaft verstanden hatte erwiderte mit Techniker Moureaus Stimme: "Ich war nur erstaunt, daß sowas technisch möglich sein soll. Ich habe bisher nur geglaubt, sowas gäbe es nur in der Unterhaltungsliteratur."
"Jedenfalls will ich die Ergebnisse Ihrer Bilderzauberei in zehn Minuten auf meinem Schirm haben. Wenn das VID-Programm läuft und wen ausspuckt will ich den Namen des Verdächtigen auch gleich haben."
"Verstanden, Chefinspecteuer Gérard", sagte Belle und verabschiedete sich. Als sie den Hörer wieder aufgelegt hatte sprach sie mit Moureaus Stimme weiter: "Vertrackt, diese muggeltaugliche Erklärung wäre mir nicht eingefallen. Wissen Sie, ob derartige künstliche Stoffe wirklich verfügbar sind?" Julius erwiderte, daß der nette Chefinspecteur recht hatte, daß sowas ein gefundenes Fressen für Geheimdienste, aber eben auch Verbrecher sei, wenn jemand mit Hilfe solcher künstlicher Geruchsstoffe Menschen um den Verstand bringen konnte. Gasförmige Drogen gäbe es ja schon, vor allem Betäubungsmittel und Halluzinogene, die traumhafte oder alptraumhafte Trugbilder erzeugen konnten.
"Gut, dann konstruieren wir dies als mögliche Erklärung. Aber dann müßte der Täter ja gegen die Wirkung dieser Droge Immun sein, oder nicht?"
"Stimmt, weil Gase sich nun einmal in jede Raumrichtung ausbreiten. Tun wir so, als hätte er Filter in der Nase, die die Chemikalie neutralisieren, daß sie ihm nicht den Verstand benebelt", sagte Julius und ging nun daran, die Aufzeichnung bis zu den entscheidenden Einzelbildern durchzuspulen. Belle gab ihm eine Mini-CD, auf der ein Zusatz zu jedem Bildbearbeitungsprogramm gespeichert war. Damit baute Julius in die Bilderfolgen mit den Türstehern einen feuerzeuggroßen, funkensprühenden Elektroschocker ein und für die Szenen mit den Mädchen in der Disco tief durchatmende Frauen und Männer, die wohl einen betörenden Geruch in sich aufnahmen. Auch wenn er den netten Chefinspecteur nicht persönlich treffen würde konnte er diesem glatt für die Steilvorlage mit dem Pheromon danken. Gab es in den Batman-Comics nicht die Schurkin Poison Ivy, die auf diese Weise Männer um den Verstand bringen konnte?
Nach nur neun Minuten waren die entsprechenden Bilder aufbereitet und sogar das Videoband an der betreffenden Stelle überspielt. Aus einer Liste interner Netzwerkadressen fand Julius die von Chefinspecteur Gérard heraus und schickte ihm das Ergebnis seiner und Belles Bilderzauberei. Er grinste, weil sie hierfür noch nicht mal Magie benutzt hatten. Die wurde jetzt erst wieder benötigt, um die beiden echten Techniker mit entsprechenden Gedächtnisinhalten zu versehen, wobei der echte Techniker Moureau sich auch an das Telefongespräch mit Gérard erinnern konnte. Als das alles erledigt war kehrten die beiden Ministeriumsmitarbeiter per Seit-an-Seit-Apparition ins Voyer des Ministeriums zurück. Die beiden Techniker erwachten erst eine halbe Minute später aus den Schockzaubern.
"Kann man die Aura einer Veela vielleicht messen?" fragte Julius Ornelle Ventvit, bevor er sich zur Nacht verabschieden durfte.
"Es gibt kein Artefakt, daß diese Ausstrahlung erkennen und weitermelden kann. Noch nicht. Aber danke für die wichtige Anregung", sagte Ornelle Ventvit. Dann entließ sie Julius für den Rest des Wochenendes, sofern nicht doch noch etwas über den Verbleib Diosans ermittelt werden konnte.
Zu Hause in Millemerveilles fand Julius seine Frau in jenem Zimmer, wo der von beiden benutzbare Schrank stand. Er sah im Licht einer Kerze das orange-goldene Kleid Kailishaias an seinem Bügel im Schrank hängen, darunter den Lotsenstein, das Buch über die Entzauberung der alten Götter und den Pokal der Verbundenheit, sowie die conservatempus-Schatulle mit der Flöte Ailanorars. Das Denkarium stand jedoch auf dem Beistelltisch. Millie hatte ihr Gesicht in das Innere des Gefäßes getaucht. Julius hätte eigentlich jetzt lospoltern müssen, daß sie um diese Zeit nicht mehr mit dem Denkarium herumhantieren und auf keinen Fall von ihm darin eingelagerte Erinnerungen nachbetrachten sollte. Doch er hatte es ja in gewisser Weise darauf angelegt. So wartete er, bis Millie ihren Kopf wieder hob und sich streckte. Julius half ihr ohne ein Wort zu sprechen, das Denkarium in den Schrank zurückzustellen und schloß diesen ab.
"Ich dachte, du wärest schon im Bett", sagte er leise.
"Und du weißt genau, daß ich nicht schlafen gehe, wenn du noch mal irgendwo hingehst, Monju", erwiderte Millie alles andere als Schuldbewußt. Doch er fühlte, daß ihr sichtlich beklommen zu Mute sein mußte. Er sagte nur, daß er jetzt auf jeden Fall wieder da sei und hoffentlich einen freien Sonntag genießen konnte.
"Das hoffe ich auch", erwiderte Millie darauf.
Im Gemeinsamen Bett mit Schallschluckvorhängen rückte Millie damit heraus, daß sie sich alle neuen Erinnerungen angesehen habe und er ihr bloß keine Vorhaltungen machen solle. "jetzt weiß ich zumindest, was dich in den letzten Tagen so umgetrieben hat. Von mir bekommt das keiner mit. Ich könnte es ja sonst gleich in die Temps de Liberté reinsetzen lassen. Wenn dieser halbe Veela echt so abartig oder durchgeknallt ist, dann habt ihr einen brandgefährlichen Auftrag am Hals. Vor allem, wenn du den nicht aus Notwehr oder anderen Gründen umbringen darfst ... Pass bloß auf, daß der sich nicht umbringt, wenn er keine andere Wahl mehr hat, Monju. Nachher soll die kleine Victoire unsere Aurore mit ihren vollgemachten Windeln ersticken, weil diese verdammte Blutrache das so befiehlt!"
"Wie erwähnt, Mamille, das darf keiner wissen, der oder die nicht von den entsprechenden Beamten informiert wird. Da du ja noch die UTZs vor dir hast gehörst du leider nicht zu denen, die was wissen dürfen."
"S6 zwingt noch nicht dazu, die zu töten, die nicht informiert werden durften, aber trotzdem was erfahren haben", erwiderte Millie schnippisch. "Aber das mit dieser nachgebauten Meerfrau ist auch sehr heftig, Monju. Gut, daß das Denkarium nur von uns beiden aus dem Schrank geholt werden kann." Dem wollte und konnte Julius nicht widersprechen.
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"Junge, lass das sein, was du machst", hörte er eine wie aus großer Ferne singende Frauenstimme. Das machte ihn wütend. Hatte er sich nicht sorgfältig genug dagegen abgesichert, daß sie ihn fand? Nein, sie wußte nicht, wo er war. Sonst hätte sie ihm nicht zugesungen, sondern wäre direkt zu ihm hingekommen, um ihm seine Mädchen wieder wegzunehmen. Sollte er sie vielleicht doch jetzt schon nehmen? Nein, er wollte seinem verfluchten und endlich vom Winde verwehten Vater ein für alle mal zeigen, daß er ein lebendes Wesen war, das die gleichen Bedürfnisse und Rechte hatte wie ein Mensch. Er wollte es auch seinen reinrassigen Verwandten zeigen, die ihn immer nur als "armen Halbling" angesehen hatten, vor dem die anderen Jungen Reißaus nahmen und die weiblichen immer wieder zeigten, daß sie sich von ihm nicht unterwerfen ließen. Außerdem wollte er es diesen überheblichen Leuten von Durmstrang zeigen, daß sie ihn nicht wie einen Zauberersohn angenommen und unterrichtet hatten. Seine Halblingscousinen im Westen hatten alle in dieses Beauxbatons-Institut gehen dürfen, weil sie eben auch menschliche Anteile hatten. Auch diesen auf ihn wie auf einen armen, verkrüppelten Burschen herabblickenden Gänsen, die glaubten, Schwäne zu sein, wollte er es heimzahlen, auch wenn ihm keine von denen was getan hatte. Wie denn auch? Der Bannfluch seines verhaßten Vaters hatte ihn doch an den Ort festgeklebt, an dem er seinen ersten Schrei ausgestoßen hatte. Und seine Mutter hatte nichts unternommen, seinen Vater vor der Zeit zu töten. Im Gegenteil, die hatte womöglich noch allen erzählt, ihn bloß nicht umzubringen, damit ihr einziger Sohn, der arme Junge, in Frieden leben konnte. Ja, auch dieser reinrassigen Glucke, die ihn ausgebrütet hatte, wollte er es heimzahlen, daß sie ihn überhaupt geboren hatte. Wenn er erst sechs eigene Kinder mit sechs bis dahin unberührten Menschenweibchen hinbekommen hatte, dann würde er die absolute Macht seiner Rasse und die seines machtvollen Vaters ergreifen und sogar weit übertreffen. Die letzten drei Mädchen würde er sich dort holen, wo seine achso angepaßte Tante wohnte. Auch wenn sie ihm deshalb alle diese Zauberstabschwinger nachjagen würden. Er würde denen und ihr und ihrer Brut zeigen, daß er sie alle besiegen konnte.
Er lauschte. Die drei von ihm unterworfenen Mädchen saßen ruhig um den runden Tisch in der Mitte des großen Transportwagens herum, den er für seine Mission beschafft hatte. Vielleicht hatten sie den Besitzer von diesem Wagen schon gefunden. Pech nur, daß er denen nichts mehr erzählen konnte. Denn er hatte ihm ja das ganze Gedächtnis aus dem Kopf gerissen, um mit diesem Wagen fahren zu können. Daß er das konnte hatte seine Mutter nicht mitbekommen. Aber er hatte lange genug an Waldtieren üben können. Pech nur, daß diese Tiere das nicht überlebt hatten. Der Mensch, dem dieser Wagen gehört hatte, war auch nur wenige Minuten lang am Leben geblieben.
"Morgen, Tante Léto, morgen beehre ich dein Land und setze meinen Weg fort. Und du kannst nichts dagegen tun", schnarrte er. Da hörte er wieder die Stimme seiner Mutter, die nur er vernehmen konnte. "Mein Sohn, laß es sein, was du tust und komm wieder nach Hause!" sang sie ihm zu. Doch er verlachte die Botschaft. Zurücksingen durfte er nicht. Denn dann wüßte sie ja, wo er war. Nein, er würde weitermachen.
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Seit der Entführung aus Straßburg war Julius jeden Tag darauf gefaßt, von einem weiteren Angriff zu hören. Jetzt galten alle Orte mit A zu überwachen. Doch die Aktion in Straßburg hatte überdeutlich aufgezeigt, daß sie nur dann was erfuhren, wenn es schon zu spät war. Immerhin bekamen die Ministeriumsmitarbeiter von ihren Informanten bei der Polizei mit, daß der Entführer den Kleinwagen vom Typ Smart vom Parkplatz eines Autohändlers in Straßburg selbst gestohlen hatte. Der Wagen wurde drei Tage nach dem Angriff auf die Disco Eurobeat gefunden. Der Täter hatte ihn in Brand gesetzt und restlos ausbrennen lassen. Spuren Fehlanzeige. Am Abend desselben Tages erfolgte der nächste Coup des Halbveelas. Diesmal war es Avignon. Gegen neun Uhr drang er auf die bereits bewährte Art in ein von Jugendlichen gern besuchtes Bistro ein und setzte dort alle Gäste mit seiner übernatürlichen Ausstrahlung außer Gefecht. Sein Opfer war die dreizehnjährige Colette Hollande. Zwar waren ihm noch drei gerade zwölf Jahre alte Mädchen bis zur Tür hinterhergelaufen. Diese hatte er aber durch seine Fähigkeit, Menschen durch Berührung zu betäuben, von sich abgeschüttelt. Da in dem Lokal keine Überwachungskameras waren, bekam Julius erst am nächsten Morgen mit, was passiert war.
Pygmalion Delacour war inzwischen auch in die Angelegenheit eingeweiht worden, konnte aber nicht viel mehr dazu beitragen. Er wußte von seiner Frau, daß sie mit ihren Töchtern über das Singen der Veelas Kontakt aufnehmen konnte, sogar mit der in England wohnenden Fleur. Aber mit Diosan bekam sie keinen Kontakt.
"Könnte ihr Großvater da nichts machen, wollte Julius wissen. Pygmalion Delacour schüttelte den Kopf.
"Der ist vor achtzig Jahren von einer grünen Waldfrau in Rumänien getötet worden, weil er versucht hat, sie aus ihrem Revier zu vertreiben", seufzte Pygmalion Delacour. "Meine Schwiegermutter hätte ihn mir gerne vorgestellt. Doch von ihm ist nur Asche übriggeblieben. Die betreffende Waldfrau ist dann der Blutrache der Verwandten zum Opfer gefallen, zusammen mit ihren drei Töchtern. Dabei ist ein Großteil des von ihr bewohnten Waldes abgebrannt", fügte er noch hinzu.
"Öhm, und der Vater dieser Waldfrau war wohl ein argloser Zauberer?" fragte Julius.
"Seinen Namen hat sie nicht preisgegeben, obwohl die Veelas versucht haben, ihn aus ihr herauszufoltern. Sicher ist der betreffende Zauberer schon seit mehr als hundert Jahren tot und hat auch nicht erfahren, daß er eine grüne Waldfrau gezeugt hat. Seine Nachkommen leben sicher besser, wenn das auch nicht bekannt wird, wer es war", seufzte Pygmalion. Julius nickte. Wie grausam und gnadenlos die Veela sein konnten, um den Tod eines Artgenossens zu rächen, hatte er sich bisher nur in Gedanken ausgemalt. Zu wissen, daß diese Vergeltungswut gegen nicht-Veelas tatsächlich ausbrechen konnte machte die Sache für ihn nicht angenehmer.
Gegen zehn Uhr wurde Pygmalion Delacour zu einer Unterredung mit Monsieur Vendredi geschickt. Das war nötig, weil eine Absprache im Ministerium verbot, daß er und seine Schwiegermutter während der Dienstzeit im selben Raum waren. Woher das kam wußte Julius aus den Akten. Demnach hätte Léto ihren Schwiegersohn während der Dienstzeit durchaus mit ihrer eigenen Ausstrahlung zu ihr gefälligen Handlungen treiben können. Daher durfte sie nur dann zu Mademoiselle Ventvit, wenn Pygmalion außer Sicht- und Rufweite war.
Als die Großmutter Fleurs und Gabrielles das Büro betrat, wendete Julius unverzüglich das Lied des inneren Friedens an. Léto fühlte es, daß er sich erfolgreich gegen ihre Kraft stemmen konnte. Sie versuchte offenbar, seine Widerstandskraft auszuloten. Denn Ornelle verfiel unvermittelt in eine Kampfhaltung und zog ihren Zauberstab. "Wenn Sie nur hier sind, weil Sie meinen, meinen Mitarbeitter ihrem fragwürdigen Charme unterwerfen zu müssen verschwinden Sie besser sofort wieder!" fauchte die sonst sehr ruhig und umgänglich auftretende Hexe. Julius fühlte von der Veela-Aura nichts mehr. Er konnte die reinrassige Veela ganz unbefangen ansehen. Diese sah Ornelle abbittend an und entspannte sich. Ornelle schnaubte noch einmal und steckte dann den Zauberstab fort.
"Ich fühle, daß Sie was erlernt haben, um störende oder fremde Gedanken abzuwehren, junger Monsieur Latierre. Ich wundere mich nur, daß Ihre direkte Vorgesetzte dies nicht auch kann."
"Ich habe vor Jahren eine sehr hilfreiche Meditationsformel gelernt, die mir geholfen hat, die Zeit mit dem Blut Madame Maximes im Körper ohne größere Tobsuchtsanfälle zu überstehen", sagte Julius. Er konnte ja schlecht erwähnen, daß er Zugang zu Zaubern hatte, die dem Ministerium größtenteils unbekannt waren.
"Ich habe es bei unserer letzten Begegnung schon gespürt, daß sie sich mir nicht so hilflos hingezogen fühlen, wenn Sie dies nicht wollen", erwiderte Léto. Dann entschuldigte sie sich bei Ornelle für ihre Dreistigkeit, ihre ganze Kraft gegen sie und Julius aufgeboten zu haben.
"Nur der Gedanke, Sie nicht töten zu dürfen hat mich davon abgehalten, Sie zu verfluchen", knurrte Ornelle Ventvit. Dann kam sie auf das, was in den letzten Tagen passiert war.
"Sarja und ich haben uns getroffen. Wir sind uns beide darüber einig, daß Diosan sich an ihr und an mir rächen will. Ihr ist er böse, weil sie ihm nicht gegen seinen Vater geholfen hat. Auf mich ist er eifersüchtig, weil ich mit den magisch begabten Menschen zusammenleben kann und mit ihnen eine Familie ohne Arg und Abscheu gegründet habe. Der Grund für seine Untaten ist, daß sein Vater ihm vor dem Fluch, mit dem dieser ihn an seinen Geburtsort verbannt hat, gesagt hat, daß Diosan niemals Kinder haben darf, die ihm, also seinem Vater, gefährlich werden könnten. Außerdem hat dieser Zauberer, den Sarja zum Vater Diosans hat werden lassen, sie nicht wirklich als Mutter seiner Kinder haben wollen. Sie hat gehofft, ihm durch ihre Zärtlichkeiten dazu bringen zu können, nicht nur Macht und Zerstörung zu lieben, sondern auch sowas wie Liebe zu empfinden."
"Nichts für ungut", setzte Julius an", nachdem Ornelle ihm Sprecherlaubnis erteilt hatte. "Aber wenn Ihre Schwester Grindelwald durch ihre Zauberkraft dazu gezwungen hat, sie körperlich zu lieben, dann ist das nicht die Art von Liebe, die Sie und ich von unseren Partnern kennenlernen durften. Meine Frau wollte gerne Kinder von mir und ich wollte Kinder mit ihr. Nur deshalb leben wir so friedlich zusammen."
"Erzählen Sie mir nichts, was ich nicht schon hundertmal mit ihr ausgefochten habe", schnarrte Léto. "Aber sie war damals der Meinung, den stärksten Zauberer des Erdteils zum Vater ihrer Kinder machen zu müssen. Daß es nur bei diesem einen Sohn geblieben ist lag daran, daß dieser Grindelwald sich selbst unfruchtbar gemacht hat, als er erfuhr, daß die ihm aufgezwungene Vereinigung mit meiner Schwester einen ungewollten Sohn hervorgebracht hat."
"Ja, und töten durfte er den Jungen nicht", grummelte Julius. Léto nickte heftig. "Ich hörte auch, daß Ihr Vater schon tot ist und daher nicht helfen kann, seinen Enkelsohn zu suchen und er deshalb, weil er eben männlich ist, gegen Ihre Suchzauber immun ist. Haben Sie nur Töchter?"
"Ja, nur töchter, und diese haben auch nur Töchter bekommen", erwiderte Léto voller Bedauern.
"Ja, und jemand anderes könnte keinen Kontakt zu Diosan aufnehmen, kein anderer Veela?"
"Nur unmittelbar der Blutlinie folgende könnten daß. Meine Großväter sind seit einem Jahrhundert tot."
"Also geht nur die direkte Verbindung über Sarjas und Ihr Blut zu Diosan?"
"Ja, nur wer körperlich mit mir oder ihr verbunden war kann mit ihm Kontakt aufnehmen", sagte Léto. Dann verfiel sie in eine nachdenkliche Haltung. Ornelle sagte in der Zeit:
"Diosan kann nur von Leuten gesucht und gefunden werden, mit deren Blutlinie er körperlich verbunden war, also bestenfalls mit seiner Mutter. Aber gegen diese hat er sich doch abgeschottet."
"Wenn Sie ihn an dem Ort, wo er zuletzt ein unschuldiges Mädchen verschleppen will nicht sofort finden, dann wird er die entführten Mädchen in seiner Macht halten und diese dazu bringen, ihm Kinder zu gebären. Daß er so rasch auf dieses Ziel hinarbeitet liegt daran, daß in einigen Tagen die Wiederkehr des Geburtstages von Grindelwald stattfindet. Ich fürchte, diesen Tag wird er als Beginn seiner eigenen Familiengründung im Auge haben", sagte Léto.
"Also hat er den entführten Mädchen noch nichts angetan?" fragte Julius.
"Sicher sagen will ich das nicht. Aber es würde zu seinem Rachefeldzug passen, wenn er damit bis zum siebten November wartet", erwiderte Léto.
"Oha, ist nicht mehr lange hin", seufzte Julius. "Das ist dann echt bedauerlich, daß Sie keinen Sohn bekommen haben, Madame Léto. Der müßte dazu dann wohl auch von einem Zauberer stammen, um die Verbindung perfekt zu machen."
"Das ist richtig", erwiderte Léto nachdenklich. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. Sie strahlte Ornelle und Julius an. Dann deutete sie auf den jungen Amtsanwärter und sagte sehr zuversichtlich: "Es gibt eine Möglichkeit, über Sarja und vor allem Mich an ihn heranzukommen und wohl zu verhindern, daß er seine krankhaften Pläne ausführt. Aber dazu müßten Sie beide mir ihr volles Vertrauen schenken und Sie, Monsieur Latierre, müßten sich mir sogar offen hingeben, allerdings nur geistig, nicht körperlich."
"Bitte was?" schnarrte Ornelle, während Julius sich fragte, was die Veela ihm abverlangen mochte.
"Ich kann Ihren sehr begabten und hoffnungsvollen Mitarbeiter zum Vermittler zwischen mir und Diosan machen. Allerdings müßte er sich dafür auf eine direkte geistige Verbindung mit mir und meinen Töchtern einlassen. Körperlich wird ihm dabei nichts geschehen, was er nicht will. Aber er müßte sich wirklich ganz auf mich einlassen und sich nicht dagegen wehren."
"Wie soll das gehen und wie stark beeinflußt es die geistige Beschaffenheit meines Mitarbeiters?" wollte Ornelle Ventvit wissen. Léto beschrieb ihr und Julius, wie genau sie Diosans Abwehr gegen jeden Aufspürzauber seiner Verwandten durchbrechen konnte. Als Julius hörte, was sie vorschlug, erbleichte er erst. Doch dann siegte zum einen die Neugier, dieses Experiment zu machen, als auch die feste Überzeugung, daß Diosan aufgehalten werden mußte und er die Möglichkeit hatte, ihn zu finden und hoffentlich lebend gefangenzunehmen.
"Das ist etwas, daß ich Ihnen unmöglich befehlen kann, Julius. Ich bin auch sicher, daß der Zaubereiminister Ihnen diese Vorgehensweise nicht befehlen wird, selbst wenn er sich der Alternative bewußt ist, daß wir den offenkundig schwerkranken Diosan nicht aufhalten könnten", seufzte Ornelle Ventvit. Julius wiegte den Kopf. Um das durchzuführen mußte er ein hohes Risiko eingehen, nämlich auf Gedeih und Verderb von der Veela abhängig zu werden, daß diese über ihn jederzeit verfügen konnte wie sie wollte, ihn in jeder Hinsicht an sich binden konnte. Auf jeden Fall durfte Millie nicht mit hineingezogen werden. Denn über sie konnte Diosan wiederum Einfluß auf ihn gewinnen. Er mußte sich dabei voll und ganz auf Léto, ihre Schwester und ihre eigenen Kinder konzentrieren. Er dachte jedoch an sechs unschuldige Mädchen, die dazu gezwungen werden sollten, Brutmütter eines eindeutig wahnsinnigen Halbmenschens zu werden. Würrde der sich mit nur sechs Kindern abfinden oder sein ganzes Leben lang ddarauf verwenden, möglichst viele Nachkommen in die Welt zu setzen? Dann würde er sicher weitere unberührte Mädchen entführen, immer und immer wieder. Dagegen waren Verbrecher wie der belgische Kinderschänder Dutroux und Massenmörder wie Grindelwald, Voldemort und Bokanowski vergleichsweise Harmlos, weil im Notfall auch zu töten. Wenn es wirklich an ihm hängen sollte, Diosan aufzuhalten, dann wollte er dieses Risiko eingehen. So sagte er: "Auch wenn der Minister mich nach dieser Aktion in die geschlossene Abteilung der Delourdesklinik einweisen lassen könnte, ich lasse mich darauf ein, um diesen armen kranken Burschen aufzuhalten."
"Ist schon eine sehr wichtige Grundhaltung, Diosan nicht zu hassen, sondern zu bedauern. Denn er tut das was er tut nur, weil sein eigener Vater ihn verstoßen hat und ihm das Recht auf ein freies Leben verwehrt hat."
"Ja, und weil er sich unterdrückt und ausgeschlossen fühlt", sagte Julius. Léto nickte. Julius hoffte nur, daß dann, wenn er Diosan wirklich finden sollte, auch noch so dachte, wie er gerade gesprochen hatte. Was hatte er damals im Zauberwesenseminar über Werwölfe gesagt? Er hatte sie als kranke, zu bedauernde und hilfsbedürftige Menschen bezeichnet. In Diosan steckte auch was menschliches. Das hatte dieser jedoch nicht ausleben dürfen. Durmstrang hatte ihm die Zaubereiausbildung verweigert. Sein Vater hatte ihn verflucht, bis zu dessen Tod an seinem Geburtsort zu bleiben. Jetzt wollte er Rache und vor allem das Gefühl, doch irgendwie wichtig zu sein.
"Ich möchte von Ihnen beiden eine magisch bindende Zusage, daß Sie, Léto, meinen Mitarbeiter nicht dazu verleiten, ihm unzumutbare Dinge zu tun und von Ihnen, Julius, daß Sie in dem Moment, wo Sie fühlen, daß sie nicht mehr Herr Ihres freien Willens sind, unverzüglich heilmagische Hilfe erbitten, um sich von Létos möglichem Einfluß wieder freizumachen", sagte Ornelle. "Des weiteren muß ich dieses Vorgehen um drei Geheimhaltungsstufen anheben. Wenn Sie, der sich offenbar erfolgreich gegen die Ausstrahlung einer Veela abschirmen kann, als einziger auch gegen Diosans Kraft bestehen können, zu ihm vordringen können, um ihn unschädlich zu machen, ohne ihn zu töten, dann darf das außer mir und dem Minister keiner hier erfahren." Julius nickte. Daß er diese Schweigepflicht schon unterminiert hatte mußte er Ornelle nicht auf die Nase binden. Dann fragte er Léto: "Wann können wir zwei uns außerhalb des Ministeriums treffen, um mich vorzubereiten?"
"Am besten nach Ende Ihres Arbeitstages. Es ist dann vielleicht besser, wenn Sie solange bei mir wohnen, bis wir Diosan gefunden haben. Im Moment wird er sich gegen Sarja und mich verbergen. Doch wenn er wieder auf Mädchenraub ausgeht muß er sich ein wenig öffnen. Dann erst können wir ihn gezielt suchen."
"Vorher unterschreiben Sie mir, daß Sie die von mir erhobene Forderung akzeptieren, Monsieur Latierre. Und Sie, Madame Léto, unterschreiben mir, daß Sie meinen Mitarbeiter nicht dazu verleiten, etwas seinem freien Willen entgegenstehendes für Sie oder mit Ihnen zu tun!" stellte Ornelle klar und holte mit einem Zauberstabwink ein leeres Pergament hervor und dazu silberne Zaubertinte.
Zehn Minuten später hatte Ornelle den von ihrer Seite her unmißdeutbaren Text des magisch bindenden Vertrages niedergeschrieben. Sie bezauberte das Pergament, daß jeder, der es unterschrieb, sich an die darin aufgeführten Bedingungen halten mußte. Zwar wußte sie nicht, ob eine Veela den Folgen einer Mißachtung ausgeliefert war. Doch das regelte sie damit, daß sie Léto darum bat, ihr eine winzige Probe ihres Haares zu überlassen, um den Vertrag an sie zu binden. Léto zupfte sich ohne zu zögern eine Strähne ihres silberblonden Haares aus und gab es Ornelle. Diese zerschnitt es in winzige Stücke und bestreute damit den Vertrag, wobei sie eine Zauberformel murmelte, die den Träger des Haares mit den Worten des Vertrages verband und dabei auch Létos Namen dreimal sagte. Dann unterschrieb Julius mit Ornelles Adlerfeder. Er fühlte, wie ein kalter Schauer durch seinen Körper rann. Immerhin stand da in dem Vertrag nichts von einer Erinnerungsauslagerung in ein Denkarium, die er nicht vornehmen durfte. Er durfte es nur keinem Menschen sagen oder es aufschreiben oder mentiloquieren. Wußte Ornelle, daß Julius ein Denkarium hatte. Wenn nicht, dann sollte das auch so bleiben. Als Léto unterschrieb knisterte es, und vom Pergament sprangen einzelne Funken zu ihrem Kopf über. Ihr Haar schien elektrisch aufgeladen zu werden. Drei Sekunden lang stand es wie eine dichte Baumkrone von ihrem Kopf ab. Dann floß es wieder weich und locker um ihren Körper.
"Dann gebe ich Ihnen für den Nachmittag frei, Julius. Unterrichten Sie Ihre Frau im Rahmen des gerade unterschriebenen Vertrages, daß Sie die nächsten Tage in den Bereitschaftsräumen des Ministeriums übernachten werden, um jederzeit einsatzbereit zu sein, weil eine geheime Angelegenheit Ihre Muggel- und Sprachkenntnisse erfordert!" Julius nickte.
Nach dem Mittagessen traf er seine Frau im Apfelhaus an. Er erklärte ihr, daß er vorübergehend das Zuneigungsherz ablegen müsse, um sich ganz auf den geheimen Einsatz konzentrieren zu können. "Es könnte immerhin passieren, daß jemand über mich Einfluß auf dich bekommen kann, Mamille. Das ist anders als bei den Schlangenmenschen damals", fügte er hinzu.
"Hat Ornelle dir befohlen, den Anhänger solange abzulegen?" fragte Millie verdrossen. Julius bejahte es, auch wenn er nicht direkt dazu aufgefordert worden war. "Weiß sie, was du außer dem Anhänger noch alles hast?" fragte Millie.
"Wenn Madame Faucon, Madame Rossignol oder Mademoiselle Maxime es nicht im Ministerium haben herumgehen lassen, was ich in Beauxbatons alles erworben habe, dann weiß sie es nicht", antwortete Julius.
"Dann hoffe ich, daß du weiterhin vollstes Vertrauen zu mir hast. Vor allem, laß dich nicht versklaven oder umbringen! Ich möchte dich nicht verlieren, Monju!"
"Ich dich und Aurore auch nicht", erwiderte Julius. Dann küßte er seine Frau leidenschaftlich. Die Idee, mit ihr vielleicht noch darauf hinzuarbeiten, daß Aurore nicht lange ohne Geschwisterchen blieb, verwarf er. Zum einen stillte Millie die kleine noch und konnte nicht so leicht ein weiteres Kind empfangen. Zum anderen wollte er nicht mit wilden Gefühlen im Kopf in das gewagte Experiment hineingehen.
Immerhin hatte er noch genug Zeit, das Denkarium mit den neuesten Eindrücken zu füllen. Er sagte Millie: "Warte bitte bis nach dem siebten November. Solange soll der Einsatz maximal dauern." er deutete auf das Denkarium. Millie verzog das Gesicht. Doch sie nickte. Er legte seine Hälfte des Zuneigungsherzens neben das Denkarium in den Schrank hinein und schloß ihn. Dann nahm er seine diebstahlsichere Reisetasche mit genug Wäsche für die nächsten zwei Wochen und flohpulverte direkt in Ornelles Büro. Hierfür hatte er eine Prise des Spezialpulvers bekommen, mit dem jemand direkt in sonst so gut abgesicherte Ministeriumsbüros hineingelangen konnte. Millie blieb mit Aurore alleine zurück. Sie fühlte den nun nicht mehr pulsierenden Anhänger unter ihrem praktischen Stillumhang. Da hörte sie Temmies Gedankenstimme:
"Er ist unterwegs, um jemanden aufzuhalten, dessen Körper erzwungen wurde und dessen inneres Selbst von Dunkelheit erfüllt ist. Ich werde über ihn wachen und ihm helfen, wenn er aus eigener Kraft nicht überleben kann."
"Das ist sehr nett von dir, Temmie", schickte Millie zurück. Jetzt fühlte sie sich nicht mehr so hilflos und zurückgewiesen wie vor einer Minute noch.
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Ornelle hatte Julius Seit an Seit zum Treffpunkt mit Léto gebracht. Diese wohnte in einem hohlen Baum, der von außen noch sehr lebendig wirkte. Als Ornelle dann in das Ministerium zurückappariert war hatte Léto mit Julius jenen für ihn so heftigen Zauber ausgeführt. Einmal meinte er, sich im Strudel der über ihn hereinbrechenden Erinnerungen und Gefühle zu verlieren, ja nicht mehr zu wissen, wer er eigentlich war. Jedesmal, wenn ein Durchgang erfolgt war, hatte sie ihm etwas um ein Bein gebunden. Fünf Durchgänge dauerte es. Am Ende konnte Julius erst einmal nicht anders als wie gerade erst geboren zu schreien. Das dauerte, bis Léto ihn durch ein sanftes Summen in die Gegenwart seines Lebens zurückrief. Er fühlte, wie alles, was sie ihm um die Beine gebunden hatte, sanft im Gleichtakt pulsierte und ihn mit warmen Schauern durchströmte. Fast hilflos am Boden liegend ließ er sich von ihr mit frischem Obst füttern. Dabei sah er sich immer wieder, als wenn er auf ein Drittel Körperlänge geschrumpft wäre. Erst nach einer Stunde hatte er seine Gedanken wieder ganz im Griff. "Alles, was mich mit meinen Kindern verbindet, liegt nun auch in dir. Solange du die Lebensbänder trägst, die mich mit jeder meiner Töchter verbunden haben, bist du mit mir und meinem Blut verbunden", sagte sie, wobei sie ihn duzte.
"Und ich fange nicht an, nur noch zu schreien, wenn ich was von Ihnen brauche?" fragte Julius.
"Nur wenn du das willst, Julius Latierre. Doch du bist kein Kind mehr. Genau das ist es, was dir und mir helfen wird, meinen Neffen zu erreichen und hoffentlich von seinem verderblichen Weg abzubringen. Sarja will ihn wiederhaben. Nur bei ihr und unseren Verwandten ist er sicher aufgehoben."
"Er ist euch schon einmal entwischt", seufzte Julius, nun auch das vertraute Du benutzend.
"Ja, weil meine nachlässige Schwester meinte, ihn unbeaufsichtigt lassen zu können. Aber jetzt, wo er gezeigt hat, daß er auf Vergeltung und Nachwuchs ohne Liebe ausgeht wird sie ihn nicht mehr fortlassen. Er wird sie ihn in tiefen Schlaf singen."
"Und der hält vor?" fragte Julius.
"Wenn eine Mutter ihr Kind in Schlaf singt ja", sagte Léto. "Womöglich geht es auch, wenn ich dich in den Schlaf singen möchte." Julius fragte sie, wozu das gut sein sollte. "Damit du nicht vor Ungeduld und angst deinen Auftrag vergißt", sagte sie. Julius wollte gerade darauf antworten, da stimmte sie schon ein Lied an, das bereits beim ersten Ton bis zum Grund seines Bewußtseins vordrang und ihn von einem Moment zum anderen in wohliger Hingabe treiben ließ, bis seine Sinne unter dem Zauberlied der Veela schwanden.
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Melina Constantinis und ihre Freundin Elena Nikolaidis amüsierten sich prächtig in der Stadt an der Côte d'azur. Das hier war genau das, was sie nach der anstrengenden Schulzeit haben wollten. Elena war dankbar, daß Melinas Vater sie auf seiner Yacht mitgenommen hatte, um den beiden Mädchen vor dem Studienanfang noch die Glitzerwelt Südfrankreichs zu zeigen. Sie hatten Montecarlo besucht und sogar eine Privataudienz bei Fürst Reinier bekommen. Melina war jedoch enttäuscht aus dem Palast zurückgekehrt. Ihre hoffnung, den begehrtesten Junggesellen der europäischen Aristokratie an Land ziehen zu können, war enttäuscht worden. Das lag wohl nicht an ihrem Aussehen, sondern daran, daß der Fürst von Monaco nach den unglücklich verlaufenen Ehen seiner Tochter Stephanie kein bürgerliches Schwiegerkind mit einem angeblich anrüchigen Stammbaum haben wollte. Zumindest hatte ihr Vater das so verstanden, der ebenfalls gerne einen Prinzen in der Familie gehabt hätte. Geld allein machte eben nicht immer glücklich. Dann hatte Elena auch noch ihr halbes Taschengeld im Kasino auf den Kopf gehauen. Daher waren die beiden Mädchen froh, jetzt an den Stränden von Nizza lustwandeln zu können. Das einzige, was sie störte waren die fünf Leibwächter, die Melinas Vater zum Schutz seiner einzigen, streng orthodox erzogenen Tochter angeheuert hatte. Vor allem Fatme Özdemir, die als Anstandsdame und Leibwächterin zugleich arbeitete, war eine echte Spaßbremse. Und wen sie mit ihrem Gouvernantengehabe nicht abschreckte, den verscheuchte ihr Kollege Murat Kemal, den seine Kollegen wegen der schwarzen wilden Mähne und dem Nahkampf gestählten Körper Aslan, den Löwen, nannten. Also, sich mit Jungs aus der Provence einzulassen war für die beiden neunzehnjährigen Griechinnen nicht drin. Überhaupt fragte sich Elena, was an den ganzen Behauptungen dran war, Türken und Griechen könnten sich nicht riechen. Melina hatte auf diese Frage mal den lateinischen Spruch "Pecunia non olet" gebracht. Ja, für manche überdeckte das nicht stinkende Geld jeden anderen Geruch.
"Dein Vater will, daß ihr um eins wieder auf der "Eos" seid", sagte die türkische Anstandsdame ihren Schützlingen. Sie hatte gerade die Kleidung der beiden Mädchen geprüft und befunden, daß sie so züchtig genug waren, um nicht für haltlose Mädchen gehalten zu werden. In ihrer Aufmachung sah Fatme aus wie das Paradeexemplar einer strenggläubigen Muslima, mit langem Mantel und Kopftuch. Damit, so wußte Melina, würde sie garantiert nicht in die exklusive Discothek reingelassen, die sie mit Elena besuchen wollte. Hier verkehrten auch andere Töchter reicher Leute. Vielleicht konnten sie hier auch mal Paris Hilton treffen. Melina hätte aber auch nichts dagegengehabt, einen einfachen französischen Seefahrer zu treffen. Das Leben im goldenen Käfig machte irgendwann jeden Vogel schwermütig.
Wie zu erwarten war wurde Fatme von den drei Türstehern des Château Verre wegen ihrer Aufmachung abgewiesen. Auch als sie darauf bestehen wollte, daß sie in der Nähe der beiden Schutzbefohlenen zu bleiben hatte, zeigten sich die drei muskelbeladenen Burschen uneinsichtig. "Kopftuchträgerinnen versauen unser Image", sagte einer der drei, der zu seiner blauen Kleidung noch einen Silbernen Ring am rechten Ohr baumeln hatte. Murat machte dem Türsteher klar, daß die beiden nicht ohne Bewachung in die Disco durften und er sich das gut überlegen sollte, wenn er die Tochter von Anaximander Constantinis nicht in den exklusiven Club reinlassen konnte, weil deren Leibwächter nicht reindurften.
"Wir haben eigene Security, Monsieur und alle Räume soweit unter Videoüberwachung, wie es nicht die Privatsphäre der Gäste beeinträchtigt. Sie können ja gerne von draußen aufpassen, daß den beiden nichts passiert. Ich hab kein Problem damit, die beiden auch ganz abzuweisen, wenn die gleich mit fünf Mann Bodyguard einrücken und dazu noch eine in alttürkischer Hausfrauenuniform. Mein Boss hat da klare Kleidervorschriften, nicht zu hurig und nicht zu spießig. Wer hier rein will will sehen und gesehen werden. Wollen sie das auch?"
"Du läßt mich da auch rein", knurrte Murat. "Oder wir rücken ab." Der zweite Türsteher telefonierte gerade mit seinem Chef. Dann sagte er: "Okay, die beiden Mädchen und zwei Leibwächter. Die Kopftuchtante bleibt draußen. Sonst laufen uns die Gäste weg."
"Wie haben Sie mich genannt, junger Mann?" fauchte Fatme. Doch die drei Türsteher glubschten sie nur von oben an. Murat sah seine Kollegin an und wechselte mit ihr ein paar Sätze auf Türkisch. Sie nickte und sagte dann: "Ich beziehe Posten vor den Toilettenfenstern."
"Dann müßten Sie über die Mauer hinter dem Haus und an unseren eigenen Sicherheitsdamen vorbei, die da schon sitzen, Madame oder Mademoiselle. Das will der Boss aber nicht."
"Dann gehen wir wieder weg", setzte Fatme an. Doch der Rest ihrer Worte verebbte, als sie ihn sah. Da kam ein hochgewachsener, schlanker Mann mit goldenem Haar, das genauso eine fließende Mähne bildete wie die ihres Kollegen Murat. Der Mann trug hautenge, rote Lederkleidung, die jede Körperpartie nachzeichnete. Er bewegte sich geschmeidig wie ein Raubtier, und sein Blick verströmte Entschlossenheit. Fatme und ihre Schutzbefohlenen standen nur da, als der andere auf die Gruppe zutrat. Irgendwas ging von diesem Mann aus, daß die Anstandsdame und die Mädchen überwältigte, machte, daß sie sich zu ihm hingezogen fühlten. Die vier männlichen Leibwächter und die drei Türsteher sprangen vor, um sich zwischen die drei Damen und den Mann mit der merkwürdigen Ausstrahlung zu stellen. Dieser sah es zwar, lächelte aber nur. Er betrachtete die drei Frauen ungeachtet der sieben Männer, die auf ihn zukamen und dabei versuchten, die Anstandsdame und die Mädchen zurückzuhalten. Er fixierte jeden einzelnen mit seinen Blicken. Das war für die auf Nahkampf und schnelle Abwehr gedrillten Männer eine stumme Kampfansage. Sie sprangen vor, um den Fremden zu überwältigen. Dieser tanzte ihren Angriff jedoch aus und ließ zwei der drei Personenschützer mit Wucht zusammenstoßen. Als sie sich schnell wieder voneinander entfernen wollten, um den sie in höchste Alarmstimmung versetzenden und total anwidernden Mann zu packen, hieb dieser blitzschnell seine flachen Hände gegen die Stirnen der beiden athletischen Gegner. Ohne lauten Aufschrei zuckten die beiden zusammen und fielen um wie gefällte Bäume. Murat alias Aslan hatte damit zu tun, Fatme zurückzuhalten, die versuchte, ihren Kollegen mit Karatehieben aus dem Weg zu räumen, um an den Mann ihrer größten Begierden heranzukommen. Der andere verbliebene Leibwächter zog aus der Kleidung einen teleskopstab mit gummiertem Griff und Schaltvorrichtung. Die Türsteher zogen ebenfalls kleine Geräte aus ihrer Kleidung und schalteten sie ein. Funken sprühten davon aus. Auch von dem Stab des vierten Leibwächters flimmerte es verdächtig. Der Unheimliche lachte überlegen, als der noch stehende Leibwächter mit seinem ausgefahrenen Stab ausholte und zuschlug. Er sprang geschmeidig und flink wie ein kampferprobter Kater zur Seite. Er fühlte zwar das bedrohliche Prickeln elektrisch aufgeladener Luft an seinem Kopf vorbeistreichen. Doch der geführte Stab verfehlte ihn um fünfzehn Zentimeter. Einen Sekundenbruchteil später klatschte die schmale Hand des Blondschopfes gegen die Stirn des Leibwächters und raubte ihm Bewußtsein und Bewegungsfähigkeit. Der Kampfstab klapperte zu Boden. Der unheimliche schnellte aus geduckter Haltung heraus vor. Er tauchte unter dem gegen ihn geführten Elektroschocker durch und rammte dem Türsteher den Kopf in den Bauch. Dieser klappte wie ein Taschenmesser zusammen. Der Unheimliche pflückte ihm das Funken sprühende Gerät aus der Hand. Einen Moment lang durchzuckte ihn eine Stromladung. Doch er verblies ihre Wirkung mit einem lauten Fauchen, bevor er das erbeutete Gerät weit von sich schleuderte. Der zweite Türsteher wollte ihn angehen, da traf ihn selbst ein unerträglicher Stromstoß. Melina hatte den Elektrostab des gefällten Leibwächters ergriffen und damit den lästigen Türsteher außer Gefecht gesetzt. Daß der Stab auf tödliche Ladung gestellt war hatte Melina nicht gewußt. Doch sie kümmerte es nicht. Der dritte Türsteher bekam eine Sekunde später die unheimliche Kraft des Fremden zu spüren, mit der er Konkurrenten oder Feinde ohne sichtbare Waffe bewußtlos machen konnte. Jetzt stand nur noch Murat auf den Beinen. Dieser hatte sofort erkannt, daß der andere ein höchstgefährlicher Gegner war. Er zog keine Nahkampfwaffe, sondern eine Beretta, um den anderen mit einem gezielten Kopfschuß zu erledigen. Dieser erkannte jedoch die Bedrohung und rollte sich noch im Sprung zusammen. Der Schuß peitschte wirkungslos über ihn hinweg. Doch der Unheimliche wußte, daß er nicht schnell genug an den Mann mit der schwarzen Löwenmähne herankommen würde, um einen zweiten Schuß zu verhindern. Er riß die Hände nach oben. Murat dachte eine Sekunde lang, daß der andere sich ergeben wollte. Doch als ihm der zwischen den Händen entstehende grelle Blitz genau an den Kopf traf erkannte der Leibwächter, daß der andere nicht im Traum an Aufgabe gedacht hatte. Murat verlor die Besinnung und fiel neben die anderen ausgeknockten Männer zu Boden. Der Blitz hatte ihm nur die Besinnung geraubt. Das war sein Glück. Denn sonst hätte ihn seine Schutzbefohlene Melina sicher den Elektrostab seines Kollegen übergezogen und ihm mehr als hunderttausend Volt bei knapp einem Ampere Stromstärke durch den Körper gejagt.
Als nur noch Fatme und die beiden Mädchen auf ihren Beinen waren grinste der Goldschopf. Das war ja besser gelaufen, als er gedacht hatte. Drei zum Preis von einer, und er hatte dafür nicht in diesen lauten Tanztempel hineingehen müssen. Wie ein Marionettenspieler lenkte er die drei seiner überragenden Ausstrahlung unterlegenen Menschenfrauen hinter sich her. Die älteste von denen hätte er eigentlich zurücklassen wollen. Doch er erkannte noch rechtzeitig, daß sie in seinen Plan hineinpaßte. Sie hatte sich aufgehoben, für ihn aufbewahrt. Hauptsache, er war der erste, der sie lieben würde.
Gerade als mehrere laute Polizeisirenen in der Ferne erklangen, bugsierte er seine drei Opfer in den Liferwagen, den er eine Stunde vorher vom Hof eines Möbelgeschäftes entwendet hatte. Er schaffte es noch, loszufahren, bevor fünf Polizeiwagen mit wild rotierenden Warnlichtern und lautstarkem Sirenengeheul vor dem Château Verre vorfuhren.
Inspecteur Bouvier von der Kriminalpolizei Nizza hatte sofort reagiert, als der Sicherheitschef vom Château Verre einen Kampf vor der Eingangstür und eine Entführung meldete. Auch der Name eines der Entführungsopfer hatte ihn unverzüglich handeln lassen. Constantinis, Anaximander, gehörte zur neuen Generation griechischer Reeder. Dazu hielt er noch Anteile an Ölförderunternehmen und hatte in die Nachrüstung eines bulgarischen Atomkraftwerkes investiert. Seine einzige Tochter Melina war garantiert ein hochbegehrtes Ziel für Entführer. Deshalb war es kein Wunder, daß sie von vier Leibwächtern und einer wohl auch in Kampfkünsten ausgebildeten Anstandsdame beschirmt wurde. Alle diese Schutzleute waren von einem einzigen Mann überwältigt worden, der keine sichtbaren Waffen eingesetzt hatte. Zwar sah das Video des Überfalls aus wie in einem mittleren Schneesturm aufgenommen. Doch Bouvier konnte in verlangsamter Wiedergabe genug Einzelheiten erkennen. Ja, so sah der Mann aus, der in fünf Discotheken in Deutschland und Frankreich junge Mädchen verschleppt hatte, unter den Augen von mehreren Zeugen, die nichts dagegen hatten tun können. Jetzt hatte er auf einen Streich drei weibliche Geiseln genommen und dabei sieben mit Elektroschockern und sogar einer Pistole bewaffnete Männer ausgeschaltet. Was für ein Nahkampfspezialist konnte das, sich so schnell bewegen und durch bloßes Aufdrücken der flachen Hand einen austrainierten Nahkampfspezialisten außer Gefecht setzen. Vor allem der grelle Blitz, mit dem er den Leibwächter erledigt hatte, der noch eine Pistole gezogen und abgefeuert hatte, hatte Bouvier das Gruseln gelehrt. Konnte dieser Mensch elektrische Schläge austeilen wie ein Zitterrochen? War das überhaupt ein Mensch? Die Art, wie er die drei Frauen ohne jede Gewalt hinter sich hergeleitet hatte, ließ schon an Geister und Dämonen denken. Einen winzigen Moment dachte Bouvier sogar daran, dem Teufel selbst bei einem Raubzug zugesehen zu haben. Doch das verwarf er sofort wieder. Sicher gab es für die Zaubertricks des Unheimlichen wissenschaftlich fundierte Erklärungen, wenn er auch nicht wußte, welche das sein sollten. Wichtig war jetzt auch erst, daß der unheimliche Mädchenräuber drei weitere Geiseln hatte und entkommen war. Bouvier rief sofort seinen obersten Vorgesetzten an, der mit Interpol und der Staatspolizei und den Geheimdiensten in Verbindung stand. Er ließ eine Kopie von der Videoaufnahme machen, um sie an die Polizeibehörden und den Inlandsgeheimdienst weiterzuleiten.
Bouvier war gerade im Aufzug zu seinem Büro, um von dort aus die Fahndung nach dem Fremden zu überwachen, als der Fahrstuhl zwischen zwei Stockwerken anhielt. Bouvier wollte gerade den Notrufknopf drücken, als mit leisem Plopp ein Mann im eleganten Anzug aus leerer Luft vor ihm erschien und ihm einen dünnen Holzstab entgegenhielt. Da schwand Bouvier die Besinnung. Als er sie wiederfand wußte er nur, daß er nach einem blonden Mann suchen lassen sollte, der mit einer Gasladung die Leibwächter von Melina Constantinis ausgeschaltet hatte und die drei bewußtlosen fortgeschleppt hatte. Zumindest hatte das Videobild der Überwachung soetwas gezeigt, auch wenn der Angreifer eine Rauchbombe gezündet hatte, um die Überwachungskamera auszutricksen. Er ärgerte sich darüber, daß der Fahrstuhl steckengeblieben war. Er wolte gerade auf den Notrufknopf drücken, als der Aufzug seine Fahrt fortsetzte. Als die Falttüren auseinanderglitten und dem Inspecteur den Weg in den Korridor freigaben, beeilte der Polizist sich, sein Büro zu erreichen. Es galt, diplomatische Verwicklungen zu verhindern. Denn Constantinis würde erst die Stadt nizza und dann die französische Regierung für die Entführung seiner Tochter verantwortlich machen.
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Eigentlich wollte er ja nur so viele Mädchen haben, wie Buchstaben in seinem Namen steckten. Immerhin hatte er es geschafft, seinen Namen über den Kontinent zu schreiben. Seine Mutter suchte noch nach ihm. Auch seine Tante versuchte, ihn anzusingen. Doch er hatte es geschafft. Jetzt hatte er acht unberührte Menschentöchter zu seiner Verfügung. Welche sollte er zuerst nehmen? Er beschloß, die älteste zuerst zu nehmen, um sie auch weiterhin unter seinem Einfluß zu halten. Denn sie war stark und auch gefährlich. Hätte er nicht mit ganzer Kraft auf sie eingewirkt, hätte sie vielleicht noch für ihn gefährlich werden können. Doch wenn er sie erst einmal gehabt hatte, war sie ihm ganz und gar unterworfen. Dann würde sie ihn sogar verteidigen, wenn er angegriffen würde.
"Wie heißt du, geduldiges Mädchen?" fragte er auf Russisch, seine Muttersprache. Doch die Frau im Mantel und Kopftuch reagierte nicht. So fragte er auf Französisch und erfuhr, daß sie Fatme hieß. Er lachte. Da hätte er doch gleich drauf kommen müssen, daß sie eine Türkin war. So sprach er die nächsten Sätze mit ihr auf Türkisch. Er erklärte ihr, daß er sie als seine Geliebte haben wollte, in dieser Nacht vom siebten auf den achten November. Damit wollte er seinen endgültigen Triumph über seinen Vater erringen, da dieser genau vor 120 Jahren geboren wurde. Doch zunächst wollte er einen Platz weit genug fort von der Stadt ansteuern, um ungestört zu sein. Er sang die acht Gefangenen mit seiner glockenreinen Stimme weiter in Tiefschlaf und schlüpfte von der zugedeckten Ladefläche herunter.
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Murat Kemal erwachte in einem Krankenhaus in Nizza. Um sein Bett herum waren drei Polizisten postiert, die ihn befragen wollten. Vor allem interessierte es sie, ob er mit dem Fremden irgendein Wort gewechselt hatte. Daß er seine Beretta benutzt hatte, die ihm gemäß seiner Zulassung als Personenschützer und Diplomatenstatus seines Dienstherren zustand, wurde ihm als Nothilfeversuch angerechnet. Die Polizeibeamten wollten ihn ersuchen, vorübergehend in Frankreich zu bleiben, um bei einer möglichen Gerichtsverhandlung als Zeuge verfügbar zu sein. Doch ein von Constantinis engagierter französischer Rechtsanwalt setzte durch, daß Murat Kemal nach der abschließenden ärztlichen Untersuchung freigelassen wurde. Wieder zurück auf der "Eos", der 30 Meter langen Luxusyacht von Constantinis, erwachte der Jagdtrieb in ihm. Er wollte diesem unheimlichen Kerl, der ihn mal eben aus dem Weg geräumt hatte, das Lebenslicht ausblasen. Denn was der Typ nicht wußte war, daß Melina seit ihrem vierzehnten Geburtstag einen Chip in der rechten Gesäßbacke implantiert hatte, der auf abgestimmte Satellitenfunksignale Energie für zweihundert Antwortimpulse hatte, die bis zu eintausend Kilometer weit geortet werden konnten. Auf diese Weise war es Constantinis' Leuten gelungen, den Standort Melinas zu orten. Murat sollte den entscheidenden Befreiungsschlag ausführen.
"Wenn der wirklich so gefährlich ist, daß er im Nahkampf nicht zu packen ist, mach es mit Gas, Murat!" sagte Anaximander Constantinis, als er den Chefleibwächter seiner Tochter im abhörsicheren Salon der "Eos" sitzen hatte. "Ich habe schon zwei Kanister K.O.-Gas aus den Waffenbeständen der griechischen Armee abzweigen lassen und die mit UPS herschicken lassen. Ich lasse dich und deine drei Mitarbeiter per Helikopter zur angepeilten Position fliegen. Du übernimmst die Präzisionspeilung. Wenn der Kerl sich noch mit Melina bewegtbleib über dem, bis er anhält. Dann blas ihm die Sinne weg und hol Melina von ihm weg, wenn ihr könnt auch Fatme und Elena. Den Kerl selbst knipst du aus und legst ihn so aus, daß er schnell gefunden wird, damit die Polizei ihn hat und jeder andere Kriminelle weiß, daß es sehr ungesund ist, sich an meiner Tochter zu vergreifen."
"Und wenn er ... ich meine, wenn der Drecksack Melina ..." druchste Murat herum. Er wußte, daß er seinen Chef sehr wütend machen würde, wenn er es laut aussprach.
"Dann darfst du ihm alles abschneiden, was er da hatte, wo es nicht hingehörte", schnaubte Anaximander Constantinis mit lodernder Wut in den Augen. Murat nickte.
Der Leibwächter wollte sich gerade zurückziehen, um den Einsatzplan anlaufen zu lassen, als die von innen verschlossene Tür aufsprang und zwei Männer in wasserblauen Umhängen in den Raum stürmten. Murat griff sofort zu seiner Pistole. Doch noch bevor er diese freiziehen konnte erwischte ihn etwas, das ihn wie festgefroren im Sessel sitzen ließ. Constantinis' rechter Fuß zuckte vor, um auf den getarnten Alarmknopf unter dem Teakholztisch zu treten, als auch ihn etwas förmlich einfror.
"Hui, das war aber gerade noch rechtzeitig", sagte der eine Umhangträger. "Gut, daß diese Abhörsicherungen keine Mithörmuscheln blockieren können." Der zweite Umhangträger nickte und deutete mit seinem Zauberstab auf das Regal mit den Schalen von Meeresweichtieren. "Neh, lass die noch da, Boreas! Könnte sein, daß wir die noch mal brauchen, solange wir den Tänzer noch nicht haben."
"Der hat was von Gas gesagt, Jean", sagte der zweite Umhangträger. Dann wandte er sich an Constantinis und sah ihm in die Augen. "Legilimens!" grummelte er. Eine Minute später wußten die beiden Eindringlinge, auf welchem Weg das Betäubungsgas ins Land kommen sollte. Die beiden Männer in den Sesseln wurden darauf gebracht, daß die beiden Fremden nicht da gewesen waren.
"Wie steht der Kompetenzenstreit zwischen uns und Vendredis Zauberwesenbändigern?" fragte Boreas seinen Kollegen.
"Die Ventvit will mit der Brickston und einem weiteren Zauberer alleine gegen den Tänzer vorgehen", sagte Boreas' Kollege schön weit fort von der im Hafen liegenden Yacht.
"Vielleicht wäre es doch besser, diesen Halbling zu erledigen."
"Bist du seltendämlich oder hast du bei der Besprechung gepennt?!" schnarrte Boreas. Wer eine Veela oder deren Abkömmling umbringt handelt sich eine unwiderrufliche Blutrache mit dessen Familie ein, bei der der, der die oder den Veela getötet hat und dessen ganze nähere und ferne Verwandtschaft umgebracht werden soll. Wenn dabei noch mehr Veelas sterben geht das immer weiter, bis nachher alle Veelas gegen alle Zauberer und/oder Muggel Krieg führen. Und wenn dieser durchgeknallte Typ, den sie wie die Muggel als Tänzer bezeichnen, auch nur ein Halbling ist wie die Töchter von Léto, und hat trotzdem solche Kräfte im Körper, dann rechne dir mal aus, wie stark die reinrassigen Veelas sind, vor allem im Rudel. Britta hat uns doch das Buch genannt, wo drinsteht, wie die alteingesessene Familie der Bleumonts vor dreihundert Jahren komplett ausgelöscht wurde, weil einer von denen eine junge Veela gefangen, vergewaltigt und dann ermordet hat. Die geben bei ihrem Tod eine Art mentalen Todesschrei von sich, den alle Blutsverwandten mitkriegen. Dabei wird auch der wahre Name des Mörders oder Totschlägers mitgeteilt, zumindest aber dessen Gesicht beschrieben. Ich will das nicht haben, daß meine Frau und die beiden Kleinen wegen mir von wütenden Veelas aus dem Osten abgefackelt werden."
"Der Typ ist doch krank!" Blaffte Jean. "Der ist doch gemeingefährlich. Dann dürfen wir den sogar auf der Flucht mit dem Todesfluch erledigen."
"Ja, und die Veela würden uns das voll um die Köpfe hauen, daß wir einen kranken Artgenossen von ihnen totgemacht haben, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, von seinen Artgenossen gesundgepflegt zu werden oder von denen und nur von denen sicher verwahrt zu werden. Vielleicht kriegen wir ihn in die DK rein und kommen mit den Verwandten von dem darüber ein, daß wir ihn besser aufbewahren können als die. Aber umbringen dürfen wir den nicht."
"Wenn er sich nicht so heftig wehrt, daß keine andere Möglichkeit besteht, als ihn umzubringen, in Notwehr, Boreas."
"Vendredi hält die Hand über Ventvit und der sagt, daß die und ihre ausgesuchten Helfer diesen durchgeknallten Halbling einfangen sollen. Wenn die dabei draufgehen sind wir am Zug", sagte Jean. Boreas nickte verbissen. Einerseits hatte sein Kollege recht, daß sie sich nicht von einem Zauberwesen auf der Nase herumtanzen lassen durften. Andererseits waren Veela stärker als Kobolde. Und wie lange es gedauert hatte, den letzten Koboldaufstand in England zu beenden und zu welchen heftigen Bedingungen für die Zaubererwelt, wußte er auch noch zu gut aus den Geschichtsstunden.
Aus dem Nichts heraus apparierten zwei weitere Zauberer. Einen kannte Boreas. Es war Augustin Grandville. Dieser legte ihm ein Pergamentstück vor, das er den Auftrag habe, mit seinem Kollegen die Spur von Nizza an zu verfolgen.
"Ich dachte, Mademoiselle Ventvit macht das mit einem anderen Mitarbeiter", wunderte sich Boreas, bis er die Unterschrift Vendredis las.
"Wir haben den Auftrag, alle Zeugen zu befragen und den möglichen Fluchtweg zu rekonstruieren", erwiderte Grandvilles Kollege. Daraufhin erfuhren die beiden aus der Außeneinsatzgruppe Zauberwesen, was passiert war und wie die Mitarbeiter von Constantinis die entführten Mädchen überwachen wollten. Ab da war für Jean und Boreas aus dem Muggelkontaktbüro der Einsatz beendet. Sie disapparierten.
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Die erste Jungfrau, die sein Kind bekommen sollte hatte er sich zwar etwas zierlicher und jünger vorgestellt. Aber da er ja sieben weitere unberührte Menschenweibchen zur Verfügung hatte würde er das schon überstehen. Im Grunde brauchte er ja nur ein paar Minuten mit diesem Weib zu verbringen. Doch nur so, wollte und durfte er den Erfolg über den Fluch seines verstorbenen Vaters erringen. Was ihn störte waren die ständigen Gesänge seiner Mutter und seiner Tante. Die hatte jetzt auch noch ihre schön angepaßten Halblingstöchter dazu angestiftet, ihn anzusingen. Wenn er jetzt einer antwortete, würden sie ihm im Chor das Hirn zwischen den Ohren zersingen. Er mußte sich noch dagegen wehren. Erst wenn er sicher war, sein Erbgut erfolgreich weitergegeben zu haben, dann erst würde er sich offen zu erkennen geben und seinen Triumph in die Welt hinausrufen. "Diosan, mein Junge! Lass die Mädchen frei und komm zu mir zurück! Mach dich und mich nicht unglücklich!" drang die wunderschöne, Geborgenheit und Liebe tragende Stimme seiner Mutter in sein Bewußtsein ein. Doch sie war zu schwach, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er blickte Richtung Osten. Dort im Osten war er zur Welt gekommen. Dort im Osten hatte er seinen Vater, der nie was von ihm hatte wissen wollen, ja ihn sogar für sein ganzes Leben verbannt hatte, zur Rede gestellt. Ja, seine Mutter hatte sich diesen Zauberstabschwinger unterworfen, um von ihm ein Kind zu kriegen. Aber er hätte ihn, seinen Sohn, nicht so demütigen dürfen. Heute Nacht würde er über seine Mutter und seinen Vater siegen und gleichzeitig die Welt der Menschen verhöhnen, seine Saat ausstreuen und zusehen, wie sie aufging.
Diosan fühlte, wie die Vorfreude auf die kommende Nacht ihn erregte. Auch wenn er zuerst die älteste der acht nehmen würde, würde das seinen Willen und sein Verlangen nicht beeinträchtigen. Er wollte schon auf die Ladefläche, wo die acht schlafenden Gefangenen untergebracht waren, als seine Mutter ihn noch einmal ansang: "Diosan, mein Junge! Lasse die Mädchen wieder frei und komm nach Hause. Mach dich und mich nicht unglücklich! Du wirst dadurch nicht von deinen Schmerzen geheilt, die dein Vater dir zugefügt hat." Diesmal schien die Stimme lauter zu sein. Er fühlte sogar, daß sie aus nordöstlicher Richtung kam. Dann stimmte auch noch seine angepaßte Tante in dieses Gesinge mit ein. Gleichzeitig meinte er, einen warmen Windhauch zu fühlen, der seinen ganzen Körper umwehte und dann verklang. Er straffte sich auf dem Fahrersitz. Irgendwo war da was, daß ihn berührt hatte. Eigentlich hätte der Gesang seiner Tante Léto ihn nicht erreichen können. Doch er hatte wohl das andere dazu gebracht, ihn zu berühren. Hektisch blickte er nach Westen. Die Dämmerung war restlos verschwunden. Der dunkle Mantel der Nacht breitete sich nun von Horizont zu Horizont aus. Doch irgendwas beunruhigte ihn. Wieder sangen seine Mutter und seine Tante ihm zu. Woher nahmen die die Kraft, so oft über diese Strecke hinwegzusingen? Da fühlte er jenen warmen Hauch erneut. Diesmal empfand er ihn aber so wie ein Paar behutsam über seinen Körper tastender Hände. Das gefiel ihm nicht. Er wurde von irgendwas oder irgendwem berührt, den oder das er nicht erkennen konnte. Er stieß die Fahrertür auf und sprang aus dem Führerhaus hinunter. Falls ihn wirklich jemand berühren und finden konnte, dann durfte der oder die ihn nicht mehr aufhalten. Er mußte jetzt anfangen, diese unberührte Anstandsglucke zu seiner ersten Geliebten dieser Nacht zu machen, bevor wer auch immer ihn fand oder davon abhielt.
Er lief um den Lastwagen herum und erklomm die Ladefläche. die acht Gefangenen lagen langsam atmend auf der mit Pelzen bedeckten Ladefläche. Sie alle waren nur soweit bekleidet, daß sie nicht froren. In Richtung Führerhaus standen die Kisten mit den Fertigspeisen in Metalldosen und der mit Spiritus betriebene Ofen aus dem Führerhaus. Doch sein Blick galt der stämmigen Frau bei der Tür. Er berührte sie mit der rechten Hand und summte ihr zu, daß sie aufwachen möge. Gleichzeitig verstärkte er seine besondere Ausstrahlung, mit der er jedes weibliche Wesen außer seinen Artgenossinnen für sich gewinnen konnte. "Heute ist deine große Stunde, Fatme", flüsterte er auf Türkisch. "Heute wirst du mein."
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Julius schrak auf. Wie spät war es? Welchen Tag schrieben sie heute. Er hörte nur Létos leise Stimme und fühlte ihre Hand an seiner Stirn. "Er ist aus seinem Versteck gekommen. Sarja kann ihn spüren, weiß aber nicht, wo er genau ist. Fangen wir an!" Julius nickte und ließ sich gefallen, wie Léto ihm etwas vorsang. Er dachte an Diosan, sah sein Bild vor sich und hörte Létos Stimme und die einer anderen Sängerin, daß Diosan von seinen Taten ablassen sollte. Er fühlte, wie aus ihm im Takt der um seine Beine gebundenen Lebensbänder Kraft ausging und sah verschwommen einen Lastwagen über eine Straße fahren. Unter dem Gesang hörte er auch den Namen einer Stadt: Nizza. Er fühlte aber auch, daß jemand sich gegen ihn wehrte. Wieder und wieder sang Léto zusammen mit ihrer Schwester. Julius meinte, wie durch sich immer mehr lichtenden Nebel ein Paar beim Liebesakt zu sehen, einen goldblonden Mann und eine schwarzhaarige, sehr stämmige Frau. Furcht und Ungewißheit, ob er da nicht zu spät kam trieben Julius an. Er fühlte, wo er hin mußte. das war wie mit dem Lotsenstein. Er sprang auf und ergriff seinen Zauberstab. Als er sicher war, wo er hinspringen mußte, disapparierte er. Diesmal war es nicht wie sonst, wo er durch ein viel zu enges Gummirohr getrieben wurde, sondern als schwebe er in einem dunklen Raum und höre Létos Stimme und Herzschlag. Dann nahm die Welt um ihn herum wieder Gestalt an. Er sah zweihundert Meter vor sich einen großen Lastwagen mit einer Plane und fühlte abwechselnd Verbundenheit und Ablehnung von dort aus in ihn einströmen. Das Experiment trat in seine kritische Phase ein.
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Gleich war er am Ziel. Gleich würde diese Aufpasserin da seine erste Geliebte nach langer Zeit. Da hörte er wieder die Stimme seiner Mutter durch Raum und Zeit zu ihm singen. Und er fühlte jenen warmen Hauch, nein, es war ein sicherer, fester Griff, der ihn erfaßte und in der Bewegung hin zu seiner ersten Gefangenen zurückhielt. Er fühlte, daß jemand in der Nähe war, jemand, der oder die eine Verbindung zu ihm bekommen hatte. Er lauschte in sich hinein. Seine Erregung drohte, ihn um den Verstand zu bringen. Er mußte sich entscheiden, hier und jetzt, kämpfen oder lieben, dem unbekannten Gegner entgegentreten oder seine Aufgabe erfüllen. Zehn Sekunden rang er mit sich. Doch dann siegte der Trieb und das Verlangen, sein eigentliches Ziel zu verfolgen. Entschlossen warf er sich vorwärts. Fatme kam ihm auf halbem Weg entgegen. Dann trafen sie aufeinander. Was nun folgte ließ Diosan vergessen, daß jemand nach ihm suchte, ja womöglich schon wußte, wo er ihn suchen mußte. Erst als er fühlte, daß er am Ziel seiner größten Begierde war, bemerkte er, daß es nicht nur Fatmes warmer Körper war, der ihn berührte, nicht nur ihre Arme, die ihn sicher hielten. Da war noch etwas, das ihn umfangen hielt und nicht mehr von ihm abließ. Jetzt fühlte er auch, wo es herkam. Er wurde wütend, weil das andere ihn beinahe überrascht und absolut wehrlos erwischt hätte. Er stieß Fatmes Körper von sich, die ihn verstört ansah. Mit der aufkommenden Wut verging auch Diosans betörende Aura. Fatme erwachte wie aus einem tiefen Traum. Doch sie wußte und fühlte, daß es kein Traum war, was ihr passiert war. Sie schrie vor ohnnächtiger Wut. Diosan erkannte, daß er die Gewalt über seine gerade geliebte Gefangene verlieren würde. Er hieb ihr die flache Hand gegen die Stirn. Fatmes Gebrüll erstarb. Die anderen Mädchen regten sich. Diosan erkannte, daß wer immer ihn da suchte sein Vorhaben stören konnte, wenn er diesem Jemand nicht sofort Einhalt gebot. Er schlüpfte in seine Unterkleidung und sprang aus dem Lastwagen hinaus. Da sah er ihn, einen hochgewachsenen, durchtrainiert wirkenden Burschen, für einen Menschen wohl noch sehr jungen Kerl mit hellblonden Haaren in einer Aufmachung, wie sie sonst nur die magielosen trugen. Doch der Kerl hielt einen Zauberstab in der Hand und zielte auf Diosan. Dieser lachte nur und konzentrierte sich. Er blickte den anderen an und verbreitete seine Ausstrahlung, die Frauen und vor allem Mädchen dahinschmelzen ließ und Männer in Ablehnung und Unterlegenheit erstarren oder offen gegen ihn losschlagen ließ. Er blickte auf den Zauberstab des Jünglings, bereit, sofort auszuweichen, wenn der Bursche ihm damit etwas aufhalsen wollte. Doch der andere blieb ruhig. Ja, Diosan fühlte, daß er ganz ruhig blieb, weder ablehnend noch angriffslustig zu ihm hinüberblickte.
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Julius stand vor Diosan. Der Unheimliche, der in den letzten Wochen fünf junge Mädchen entführt hatte stand mit zerzaustem Haar vor ihm. Er trug ein Hautenges Kostüm und funkelte den jungen Zauberer mit seinen stahlblauen Augen böse an. Dann versuchte er, ihn mit seiner Kraft zu treffen. Doch zum einen hielt Julius nun, wo er Diosan gefunden hatte, mit dem Lied des inneren Friedens dagegen. Zum anderen fühlte er, wie von seinen Beinen aus ein Strom aus Wärme durch seinen Körper jagte und seinen Geist freihielt. Diosan fauchte etwas in einer Sprache, die Julius nicht konnte.
"Diosan Sarjawitsch, ich bin gekommen, Sie zu ihrer Mutter zu bringen. Sie ist in großer Sorge um Sie", sprach Julius auf Französisch. Diosan lachte lauthals. Seine stimme klang hell und raumfüllend. Dann sagte er:
"Deshalb kannst du kleiner Menschling dich so gut gegen mich stemmen, wie? Meine Mutter hat dir all die widerlichen Schläuche umgebunden, an denen meine Schwestern dranhingen, bevor sie aus ihr hinausgestoßen wurden. Hat sie meinen auch noch?"
"Das weiß ich nicht", erwiderte Julius ruhig. Er mußte immer daran denken, es nicht mit einem bewußt böse handelnden, sondern mit einem immer und immer wieder zurückgewiesenen Kind zu tun zu haben. Nur so konnte er jede Verachtung oder Wut auf diesen Burschen niederhalten. Er war nicht so wehrlos wie alle anderen. Das gab ihm Zuversicht und innere Ruhe ein.
"Du bist auf jeden Fall ein mieser kleiner Menschling. Meine Mutter hat dich dazu angestiftet, mich zu fangen und ihr zurückzubringen, weil sie Angst hat, daß ich sonst zu stark für sie werde. Meine achso schöne Mutter, die meinte, jeden Menschling auf ihr Lager holen zu dürfen", stieß Diosan aus. "Wenn sie dich an sich gebunden hat, dann wird sie hier und heute den größten Schmerz erleiden, den sie nach meiner Geburt je erleiden kann. Ich lasse mich nicht mehr aufhalten. Ich habe schon angefangen, ihr und diesem Menschling, dessen klebrige Saat sie abgerungen hat um mich auszubrüten, ein für alle mal zu entwachsen. Jetzt bin ich mit Säen dran, und meine Ernte wird euch alle hinwegfegen, Veelas, Menschlinge und diese überheblichen Halblingsmädchen, die meinen, besser zu sein als ich, mehr zu haben als ich haben durfte. Du hast nur noch drei Sekunden, mich zu töten oder zu sterben, Menschling. Wenn du stirbst wird meine Mutter alle Schmerzen erleiden, die sie bei der Geburt meiner verhaßten Schwestern und mir erlitten hat und sie wird sterben. Und das schönste daran wird sein, daß du ihr den Tod bringen wirst."
"Armselige Kreatur", dachte Julius. Jetzt mischte sich doch eine gewisse Verachtung in seine Gedanken. Aber Mitleid war auch dabei. Fast hätte er übersehen, wie der Veela seine Hände zusammenführte und kleine Funken entstanden. Julius sprang zur Seite, als ein laut fauchender Feuerball keine zwei Zentimeter an seinem linken Ohr vorbeiflog. Diosan wollte nachstoßen, sprang mit lautem Schrei nach vorne. Das hätte er besser nicht tun sollen. Denn so konnte er nicht mehr aus Julius' Zauberstabausrichtung wegtauchen. "Katashari!" rief Julius, wobei er sich einen zum Monster gewachsenen Diosan vorstellte. In dem Moment, wo Diosan auf Julius Prallte, umfloß ihn silberweißes Licht. Der halbe Veela schrie laut auf, als habe ihm jemand eine glühende Klinge durch den Körper gestoßen. Julius taumelte vom Anprall einen Schritt zurück. Doch sein Training und seine Reflexe bewahrten ihm vor dem Sturz. Diosan jedoch landete wimmernd auf dem Bauch vor seinem Gegner.
Diosan wimmerte und wälzte sich. Doch als Julius ihm mit einem Fangzauber die Beweglichkeit nehmen wollte, sprang der Sohn Grindelwalds auf und rannte mit langen Schritten um den Lastwagen herum. Julius lief ihm hinterher. Würde der Todeswehrzauber noch vorhalten? Diosan wollte sich am Führerhaus hochziehen. Julius versuchte, ihn mit beiden Händen zu packen. Da durchzuckte ihn ein brennender Schmerz von den Beinen bis zum Kopf. Er prallte zurück. In dem Moment ließ der Todeswehrzauber nach. Diosan hörte zu wimmern auf und grölte vor Lachen.
"Ich weiß nicht, woher du das kannst, was du da gemacht hast. Aber jetzt bin ich wieder frei und leide keinen Schmerz mehr. Hat dir meine Mutter nicht gesagt, daß du mir keine Gewalt antun kannst, solange du die widerlichen Lebensschläuche an den Beinen oder Armen hast? Aber ich kann dich töten, weil ich der Sohn des achso großen Gellert Grindelwald bin. Und ich werde seine Erben in die Welt stoßen, auch wenn er mich daran hindern wollte. Heute, wo er vor hundertzwanzig Jahren seiner Mutter entkrochen ist, werde ich die von ihm in mir gereifte Saat noch in sieben junge Beete setzen. In einem stekct bereits mein Keim." Er warf sich herum und jagte noch einmal einen Feuerball auf Julius zu, der den heftigen Stromstoß oder was es war gerade erst verdaut hatte. Blitzartig ließ Julius sich fallen. Der Feuerball fauchte knapp über seiner Nasenspitze ins Leere. Diosan hätte jetzt nachsetzen können. Julius hätte ihn nun auch nicht mehr mit dem Todeswehrzauber zurücktreiben können. Denn der gelang nur einmal am Tag beim selben Lebewesen. Der Halbveela dachte aber nicht daran, Julius körperlich anzugreifen. Er feuerte aus der linken Hand blaue Blitze ab, die knisternd und knatternd um Julius herum in die Erde fuhren. Julius dachte einen Moment an die Szene, wo Luke Skywalker vom bösen Imperator beharkt wurde. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis einer der Blitze ihn treffen würde. "Aura Sanignis!" stieß Julius leise aus. Mit leisem Plopp umfing ihn eine Kugelschale aus goldenen Flammen. Genau in diesem Moment entlud sich einer der blauen Blitze in dieser magischen Flammenschale. Die Flammen färbten sich für einen Moment giftgrün. Doch mehr passierte nicht. Also so ging es, die Feuerzauber eines Veela abzuwehren, erkannte Julius und stimmte sofort das Lied des inneren Friedens an, weil Diosan anfing, etwas zu singen. Er fühlte noch, wie eine Lähmung seinen Körper erfassen wollte. Da hatte er aber schon die wichtigsten Worte gedacht. Die Lähmung klang langsam ab. Als er das Lied vollständig in seinen Gedanken hatte erklingen lassen, konnte er im Schutz der Feuerschutzaura wieder aufstehen.
"Du wirst mich schon töten müssen, wenn du mich aufhalten willst, Menschling!!" brüllte Diosan und breitete Seine Arme aus, als wolle er jemanden um armen oder gleich davonfliegen. Doch in Wirklichkeit baute sich zwischen den weit ab gespreizten Händen ein Lichtbogen auf, der mit gewaltigem Knall zu einem blauen Kugelblitz wurde, der Julius traf und fast alle Flammen seiner Schutzaura hinwegfegte. Was Dämonsfeuerkreaturen nicht vermocht hatten hätte dieser krankhaft bösartige Halbling da fast mit einem einzigen Blitz geschafft. Julius fühlte, wie ihm die Kräfte schwanden. "Na, hältst du noch mehr davon aus?!" spottete Diosan. Doch Julius hörte ihm an, daß der mächtige Angriff auch ihn Kraft gekostet hatte.
"Ich bin besser trainiert als Sie, Monsieur Sarjawitsch", entgegnete Julius lächelnd. Er wollte diesem kranken Hirn da beweisen, daß er trotz der Gefahr noch höflich bleiben konnte.
"Dann stirb!" brüllte Diosan und breitete seine Arme wieder aus. Julius dachte jedoch nicht daran, sich einfach so umbringen zu lassen. Er wiederholzauberte die Schutzaura gegen magisches und unmagisches Feuer. Da kam der nächste Kugelblitz auch schon angedonnert und warf ihn fast um. Diosan keuchte, als er sah, daß Julius immer noch unversehrt war. Der junge Zauberer fürchtete, daß Diosan sich selbst umbringen würde, wenn er den Gegner nicht auf Abstand halten konnte. So versuchte er es mit einem Schockzauber. Doch dieser ging daneben, weil Diosan blitzartig zur Seite hüfpte. Zwar ächzte der Sohn einer Veela und eines machtsüchtigen Zauberers. Doch seine Beweglichkeit reichte aus, um zwei weiteren Fangzaubern auszuweichen. Diosan baute sich wieder vor Julius auf, um neue Blitze zu produzieren. Doch dieser trieb es ihm aus, in dem er ihn mit Zauberflüchen beharkte, denen Diosan nur durch Wegtauchen, austanzen, wegdrehen und Beiseitespringen entgehen konnte. Eigentlich konnte Diosan dadurch auch den Todesfluch abhalten. Doch das wollte Julius auf keinenFall ausprobieren. Diosan sang, während er tanzte. Julius fühlte unvermittelt, wie seine innere Abwehr erlosch. Widerwille und grenzenlose Hilflosigkeit fluteten seinen Verstand. Dieser Mistkerl da vor ihm, dieser Bastard eines Unmenschen und einer auf dessen Kinder scharfen Kreatur verhöhnte ihn. Der Kerl zeigte ihm, wie klein und schwach er war. Aber er konnte dem ein Ende machen. wenn die friedlichen Zauber nicht gingen ... Da hörte er in sich jenes Lied des inneren Friedens von einer celloartig klingenden Frauenstimme und fühlte, wie der in ihm aufgeflammte Haß und Vernichtungswille verschwand. Er erkannte, wi nahe er daran gewesen war, einen tödlichen Fehler zu machen. Denn wenn er Diosan tötete, war er selbst so gut wie tot, er, Millie, Martine, Ursuline und alle unschuldigen Kinder bishin zu seiner eigenen Tochter Aurore. Er keuchte. Diosan merkte, daß Julius seine Aggression verloren hatte. Er warf sich vorne über und rannte auf den Gegner zu. Dabei brüllte er etwas in seiner Heimatsprache, was Julius nicht verstand. Er steppte jedoch zur Seite, als Diosan fast bei ihm war. Der Halbveela pakcte zu und bekam den Linken Arm des jungen Zauberers zu fassen. Julius fühlte, wie ein starker Energiestoß durch den Arm jagte und den ganzen Körper ausfüllen wollte. DA jagte ein Gegenstoß durch seine Beine in den Körper zurück und entlud sich in Form eines roten Blitzes um Julius linken Arm. Laut schreiend wurde Diosan zurückgeworfen. Julius fiel hin. Die beiden in ihm freigesetzten Energieentladungen hatten ihn sichtlich geschwächt. Am Rande der Bewußtlosigkeit sah er noch, wie Diosan gerade so noch auf den Beinen blieb und hörte ihn vor unbändiger Wut schreien. Dann warf sich der Sohn Grindelwalds herum und sprang mit weiten Sätzen zum Führerhaus des Lastwagens. Julius lag keuchend am Boden. Sein von Erschöpfung eingetrübter Blick ging nach oben. Da sah er einen Zauberer auf einem Besen. Er dachte erst, eine Halluzination zu erleben. Doch als der Zauberer seinen Zauberstab auf den gerade in das Führerhaus hineinkletternden Halbveela richtete, erkannte Julius, daß wirklich jemand gekommen war. Er schaffte es noch, den Zauberstabarm zu heben. Da erklang bereits das erste von zwei verbotenen Zauberwörtern: "Avada ....!
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"Wie bitte?!" stieß Ornelle Ventvit aus. "Wieso ist der jetzt hinter ihm her?"
"Als diese Leibwächter und der Vater von dem letzten Mädchen gerade noch daran gehindert werden konnten, ihrerseits Jagd auf den Halbling zu machen, haben wir mitbekommen, daß die das Mädchen mit einem Aufspürgerät unter Kontrolle halten, einem sogenannten Peilsender. Ich habe gedacht, daß es nichts schaden könnte, diese Apparatur zur Verfolgung einzusetzen", klang die Stimme von Ornelles Außeneinsatzmitarbeiter Henri Brassu.
"Ja, und warum sind Sie nicht mit ihm mitgeflogen, Henri?" wollte Ornelle wissen.
"Weil er mich mit einem Impedimentazauber festgenagelt hat, Ornelle. Als der endlich abklang waren schon zehn Minuten um. Der ist mit einem Besen los. Wenn der das Mädchen und den Halbling einholt ..."
"Er weiß, daß er ihn nicht töten darf", schnarrte Ornelle in ihre Mithörmuschel.
"Er hat zu mir gesagt, seine Frau und seine beiden Kinder in einen Sanctuafugium-Raum zu bringen, sobald ich wieder laufen kann. Der will den umbringen!"
"Gut, führen Sie diese Empfehlung unverzüglich aus!" rief Ornelle. Angst und ohnmächtiger Zorn erfüllten sie zugleich. Sollte es gerade auf den letzten Metern noch zu einer Katastrophe kommen? Wenn Julius von Diosan als Zeuge seines Todes weitergemeldet wurde, dann waren alle, die mit Julius Latierre verwandt waren in tödlicher Gefahr. Sie hatte hier im Büro ausgeharrt, weil sie sofort einsatzbereit sein wollte. Aber die Latierres waren alle in ihren Häusern oder dem Stammschloß an der Loire. Wie sollte sie die alle Warnen? Außerdem müßte sie dann alle Vorschriften der Geheimhaltung mißachten, wenn sie erklären wollte, warum die Latierres auf einmal in tödlicher Gefahr schwebten und wohl für den Rest ihres Lebens in der sicheren Umfriedung des Sanctuafugium-Zaubers verbleiben mußten. Außerdem gab es noch die in Spanien und den USA lebenden Zweige der Familie. Die alle für den Rest des ganzen Lebens auf engem Raum zusammenzupferchen war so gut wie unmöglich. Aber sie mußte es zumindest versuchen. Noch hatte sie keine Mitteilung, daß ihr Mitarbeiter Diosan getötet hatte. Zudem konnten Veelas nicht apparieren, was den Zauberern und Hexen genug Vorsprung gab, sich zu verstecken. Sollte sie jetzt warten, bis sie die bestürzende Mitteilung erhielt oder Alarm schlagen? Sie sah die Bilder auf Julius' Schreibtisch. Da war seine junge Familie. Ein Mädchen, das doch gerade erst sechs Monate auf der Welt war. Sollte die kleine Aurore ihr ganzes Leben in einem Schloß eingesperrt bleiben? Dann wäre sie, Ornelle, daran schuld. Sie konnte nur hoffen, daß ihr Mitarbeiter nicht früh genug bei Diosan eintraf, um ihm den Todesfluch aufzuerlegen und Julius die Lage unter Kontrolle bekommen hatte. Sie hoffte auch, daß Julius nicht selbst getötet würde. Zwar hatte sie eine Ahnung, daß der junge Zauberer Dinge tun konnte, von denen sie bisher nichts wußte. Doch das machte ihn nicht unbedingt unverwundbar oder gar unsterblich. Sie nahm sich vor, in dem Moment die Latierres zu alarmieren, wenn sie die Meldung vom Tod Diosans erhielt. So begann ein banges Warten und die Furchtt, doch zu spät zu reagieren.
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Julius erschrak so heftig, als er die Absicht des anderen bemerkte, daß es ihm seine Kräfte zurückbrachte. Er riß den Zauberstab hoch. Das erste der beiden geächteten Worte war fast verklungen, als er "Katashari!" rief. Die Angst vor dem eigenen Tod reichte aus, um den Zauber mit voller Kraft freizusetzen. Ein silberner Blitz traf den auf dem Besen sitzenden, der gerade das Wort "Kedavra!" ausrief!" Diosan lachte laut und bot sich mit seinem ganzen Körper dem verheerenden Angriff an. Der grüne Blitz fegte durch die Luft. Sein lautes Sirren wurde von einem lauten Schrei begleitet. Diosan breitete die Arme aus, bereit, den Tod zu umarmen. Doch die gleißend grüne Vernichtungsenergie fand nicht das erwählte Ziel. Der Fluch sauste knapp einen halben Meter über Diosans Kopf hinweg und traf das Dach des Führerhauses. Mit einem lauten, metallischen Knall und einer Wolke weißer Funken platzte das Dach in alle Richtungen davon. Rotglühende Metallsplitter pfiffen durch die Luft. Diosan wollte hochspringen, sich den glühenden Geschossen als Ziel anbieten. Doch da erwischte ihn Julius' Schockzauber am Bein. Diosan kippte nach hinten über und schlug neben dem gewaltigen linken Vorderrad auf den Boden. Knirschend brachen die vom plötzlichen Zerstörungsschlag überlasteten Scheiben immer mehr auf. Ein glutheißes Metallstück schlug in den Besenschweif des Zauberers, der völlig betroffen von der ihn so unerwarteten Abneigung zu töten einen Moment zu lange herumflog. Der Besen begann wie eine Fackel zu brennen. Julius sah, daß er dem anderen schnellstens helfen mußte. Doch für den Brandlöschzauber war der andere doch zu weit. Er sprang auf seine Füße und dachte die fünf entscheidenden Worte, um frei fliegen zu können. Da sah er, wie der Besenreiter sich seitlich vom Besenstiel abfallen ließ. Julius fühlte die Schwerelosigkeit und schwebte bereits eine Handbreit über dem Boden. Er zielte auf den anderen Zauberer und rief "Cadelento!" Das bremste den Fall ab. Der ehemalige Besenreiter sank zu Boden. Sein Zauberstabarm hing schlaff herunter. Noch wirkte wohl der Todeswehrzauber. Der Besen flog derweil immer mehr brennend davon. Als der andere auf dem Boden landete erkannte Julius ihn. Es war Augustin Grandville. Wie kam der denn hierher? Hieß es nicht, daß Diosan nicht geortet werden konnte? Egal! "Stupor!" rief Julius. Grandville bekam den roten Schockzauberblitz voll in den Bauch und blieb liegen wo er war. "Volltroll!!" brüllte Julius ihm noch entgegen. Dann sah er, wie Diosan sich erhob. Der Schockzauber hatte nicht vorgehalten.
"Du hättest ihn seinen Fluch richtig machen lassen sollen, Bürschchen!" brüllte Diosan. Da sah er, daß das Führerhaus kein Dach mehr hatte. Aus dem inneren drang Qualm. Offenbar waren von den Metalltrümmern auch welche in den innenraum hineingeschossen und hatten Sitze und Armaturenbrett entzündet. Diosan hielt seine Hände zu einem Trichter und konzentrierte sich. Da verschwand der Qualm. Also konnten Veela nicht nur Feuer erzeugen, sondern auch Feuer löschen, solange sie nichtmagischen Ursprungs waren. Wußte Millie das vielleicht auch schon? Julius merkte jedoch, daß der Halbveela das Feuer sicher nicht gelöscht hatte, um sich jetzt zu ergeben. Diosan warf sich auf den leicht angerußten Fahrersitz und stieß die rechte Hand zum Lenkrad. Keine Sekunde später brüllte der kraftvolle Dieselmotor auf. Julius wußte nicht so viel über Motoren. Aber daß ein Diesel erst einige Sekunden vorglühen mußte, bevor er gezündet werden konnte hatte er schon gelernt. Doch das von Menschen gemachte Ungetüm war zum Leben erwacht. Seine Scheinwerfer flammten auf. Der Lastwagen fuhr an und beschleunigte. Julius erkannte, daß er jetzt nur noch im freien Flug hinter dem LKW herjagen konnte. Nein, er mußte nur auf der Ladefläche landen. Er konzentrierte sich auf den freien Flug, wählte genau den toten Winkel des Lastwagens aus und flog diesen an. Er schaffte es gerade so, noch an der Heckklappe anzulangen. "Alohomora!" zischte er. Die Heckklappe flog auf und hätte ihn dabei fast weggeschlagen. Doch Julius schaffte es, den Lastwagen zu entern. Sofort sah er acht reglos daliegende Gestalten, davon eine nackte Frau mit schwarzen Haaren. Mit gewissem Entsetzen erkannte er, daß es die war, die er in der Vision von Diosan gesehen hatte. Er hatte sich also doch schon an wem vergangen. Warum er eine mittelalte, noch dazu eher wie eine muskelüberladene Walküre gebaute Frau verschleppt hatte, wo er sonst alles über zwanzig verschmäht hatte, wollte Julius im Moment nicht bedenken. Womöglich war der Frau da zum Verhängnis geworden, daß sie sich für einen auf sie wartenden Ehemann aufgehoben hatte.
Der Dieselmotor dröhnte laut und kraftvoll. Ob Diosan wußte, daß er einen blinden Passagier an Bord hatte? Zumindest mußte Julius davon ausgehen, daß der Halbveela mit einem Verfolger rechnete. Der Anblick der wie ohnmächtig daliegenden Mädchen rührte Julius sichtlich an. Er sah einen Moment Mädchen wie Gabrielle, Babette oder Nadine Albert, ja auch seine Schwiegercousinen Callie und Pennie, daß sie so daliegen mochten. Dann kam ihm eine Idee. Er wollte Diosan die Tour verderben. Er zielte auf die unbekleidete Frau und murmelte einen Mensch-zu-Ding-Verwandlungszauber. Keine zwei Sekunden später lag ein grünes Handtuch auf der Ladefläche. Dann wiederholzauberte er noch siebenmal. Unvermittelt bremste der Lastwagen ab. Hatte Diosan doch gemerkt, daß jemand ungebetenes bei ihm mitfuhr? Julius hatte gerade das letzte der sieben jungen Mädchen mit einem Verwandlungszauber belegt, als der Wagen zum stehen kam. "Accumulus!" zischte Julius und bewirkte, daß alle Handtücher auf einem Haufen zusammenflogen. Er klemmte sich den Haufen unter den linken Arm und warf sich in eine Disapparition. Gerade in dem Moment tauchte Diosans Kopf über der Ladefläche auf.
Julius reapparierte genau unter dem Führerhaus. Sofort zielte er mit dem zauberstab nach oben und stieß einen weiteren Zauberspruch aus: "Mechanetototalum mechanicum immobilis! Da hörte er Diosans Wutgebrüll. Sofort wendete er das Lied vom inneren Frieden an. Denn er fühlte eine Woge der Aggression gegen sich anfluten. Wenn er den Halbveela nicht doch noch töten wollte mußte er jetzt einen klaren Kopf behalten.
"Ich habe die Mädchen nach Hause gezaubert. Du bist ganz umsonst losgezogen, Diosan, du armer, kranker Junge!" rief Julius Sarjas Sohn entgegen.
"Ich bring dich um. Ich werde mir neue Mädchen holen. Ich werde meine Kinder über die ganze Welt verteilen!" brüllte Diosan und fügte dem noch Schimpfworte hinzu, die wohl russisch waren. Das konnte Julius locker vertragen. Was ihm schon eher zusetzte waren die fünf kopfgroßen Feuerbälle, die unter der Ladefläche hinwegfauchten und ihn fast trafen. Dann sah Diosan seinen Gegner.
"Was soll das sein, da?" fragte Diosan. Julius tat unwissend. "Du hast meine Mädchen in was anderes verwandelt. Mach sie sofort wieder richtig!"
"Nö!" stieß Julius aus.
"Die werden wieder richtig, wenn du stirbst!" brüllte Diosan. Er wollte wieder die Zauberei mit dem Kugelblitz bringen. Julius versuchte es jetzt mit "Petrificus Totalus!" Tatsächlich klappten Arme, Beine und Kiefer des Halbveela zusammen und lagen wie angeschweißt am Körper an. Diosan fiel nach hinten über. Diesmal wollte Julius nicht warten, bis der Gegner den aufgehalsten Zauber abschüttelte. Er beschwor mit "Per Catenam Incarcerus!" daumendicke Stahlketten herauf, die den Halbveela einschnürten und sich wie von unsichtbaren Hämmern zusammenschmiedeten. Gegen in den Körper gedrungene Magie konnte Diosan wohl schnell was machen. Doch der Fesselungszauber würde halten. Um den Halbveela nicht zu einem tödlichen Schrei oder dergleichen kommen zu lassen knebelte Julius den Gefangenen mit einem luftdurchlässigen schwarzen Tuch. Zudem verband er ihm noch die Augen. Als Diosan den Ganzkörperklammerfluch tatsächlich abschüttelte kämpfte er gegen die anderen Fesseln an. Doch die hielten. Julius atmete auf. Er hatte den gesuchten endlich handlungsunfähig bekommen. Er zog den Zweiwegspiegel aus seiner Umhangtasche hervor, auf dessen Rückseite Ornelle Ventvit geschrieben hatte: "Nur bei Erfolg benutzen!" Julius rief den Namen seiner Vorgesetzten gegen das Spiegelglas. Er war froh, daß das kleine Zauberartefakt überhaupt noch in einem Stück war. Fünf Sekunden später tauchte Ornelles Gesicht im Spiegelglas auf. Julius sah sofort die große Furcht in den Augen der Hexe. "Habe Subjekt Diosan und alle seine Opfer gefunden und in Gewahrsam nehmen können. Bitte um Hilfe zum Rücktransport von Gefangenem und Opfern!" Meldete er.
"Lebt Diosan noch?" war Ornelles erste Frage.
"Gerade soeben noch. Sie hätten mir ruhig sagen dürfen, daß der Kollege Grandville auch auf ihn angesetzt war. Wie hat der den überhaupt gefunden? Doch hoffentlich nicht über den Zweiwegspiegel?"
"Wo ist Grandville?" stellte Ornelle die zweite Frage. Julius erwähnte es. "Dann werden Sie bei ihm eine muggeltechnische Vorrichtung zum Aufspüren elektrischer Signalgeber finden. Das letzte Opfer ist die Tochter eines sehr betuchten Kauffahrteischiffers. Das Mädchen, seine Freundin und deren Anstandsdame wurden entführt. Wir konnten gerade noch verhindern, daß deren andere Leibwächter einen aus der Luft geführten Giftgasanschlag auf Diosan ausführten. Man wollte ihn töten. Grandville hat die Aufspürvorrichtung beschlagnahmt, den Kollegen mit einem Lähmzauber überrumpelt und ihm gesagt, seine Familie in Sicherheit zu bringen. Dies ließ unzweideutig auf eine unerlaubte Tötung Diosans schließen. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, welche Nachricht ich wohl zu hören kriege."
"Ähm, daß Veela nicht sterben dürfen ist dem Kollegen Grandville aber mal erzählt worden, oder?" fragte Julius.
"Er sah es wohl als seine Pflicht, einen unkontrollierbaren Halbveela töten zu dürfen, auch wenn er dafür vielleicht selbst getötet worden wäre."
Diosan versuchte zu brüllen. Er wälzte sich in seinen Ketten. Da hörte Julius eine Stimme in seinem Kopf. Sie sang. Gleichzeitig fühlte er das bisher so sachte Pulsieren der um seine Beine gebundenen Nabelschnüre, mit denen Léto mit ihren Kindern verbunden war stärker werden. "Bring meinen Neffen zu mir. halte ihn bei der Hand und wünsch dich zu mir hin!"
"Ich bekomme gerade einen Anruf von unserer Helferin, daß ich den Gefangenen Diosan zu ihr bringen möchte", sagte Julius weiter. Er fühlte, wie der Drang, der gesungenen Aufforderung zu folgen immer größer wurde. Er war fast versucht, das Lied des inneren Friedens dagegenzusetzen.
"Dann markieren Sie bitte die Position der Opfer und Monsieur Grandvilles und führen Sie den Gefangenen seinen Angehörigen zu!"
Diosan grummelte und knurrte. Er wollte wohl was sagen oder rufen. Julius hörte seine Stimme im Kopf: "Ich lebe länger als du. Und wenn du jemals Töchter hast, werden sie eines Tages mein sein."
"Träum weiter, Bubi", knurrte Julius an Diosans Adresse. Dann legte er die Handtücher in den Lastwagen zurück. Er erwähnte, daß er die Opfer Diosans vorübergehend mit gegenständlicher Fremdverwandlung dem Zugriff des Halbveelas entzogen hatte. "Die werden bei der Rückverwandlung vom Bann Diosans befreit sein, denke ich", sagte Julius noch.
"Gut, ich schicke sowieso zehn Leute rüber. Markieren Sie bitte die Position!" Julius kannte das schon. Er berührte den Lastwagen vorne, rechts, links und hinten mit dem Zauberstab und murmelte dabei immer "Iste locatus Locum revelio!" Als er dies viermal wiederholt hatte, überzog den Lastwagen für eine halbe Minute ein grünlicher Schimmer. Jetzt würde eine auf ihn abgestimmte Landkarte genau an der Stelle blinken, wo er den Lastwagen in der echten geographischen Position markiert hatte. "Gut, Position wurde bestätigt. Führen Sie den Gefangenen jetzt wieder seinen Artgenossen zu und stellen Sie sich nach erfolgreicher Entbindung von Létos Überwachungs- und Verständigungszaubern bei mir ein!" Julius bestätigte und steckte den Zweiwegespiegel fort. Er hörte jetzt zwei Frauenstimmen in seinem Kopf. Da war Léto und auch die, die wohl ihrer Schwester gehörte. Er ergriff Diosan, der erst schmerzvoll aufstöhnte. Doch dann floß etwas aus Julius' Körper in den des Gefangenen über. Julius fühlte, daß Diosan immer leichter wurde. Ja, er konnte ihn mitnehmen. Er wirbelte auf der Stelle herum und verschwand mit lautem Knall.
Wie bei der raschen Hinreise fühlte Julius keine ihn zusammendrückende Enge, sondern ein Gleiten durch einen weiten Raum. Er hörte die singenden Veelas und Létos pochendes Herz. Einen Moment war ihm danach, für immer in dieser Zone des Schwebens und Behütetseins zu bleiben. Da fiel er unsanft aus jener ihm bisher unbekannten Empfindung heraus, direkt vor Létos Füße. Doch die Veela war nicht allein. Neben ihr saß eine zweite Veela, ebenfalls mit silberblondem Haar. Doch deren Augen schimmerten im Licht freischwebender Feuerkugeln dunkelgrün. Sie strahlte Julius an. Gleichzeitig meinte er, daß diese Augen ihn abtasteten, seine Tauglichkeit als möglicher Liebhaber ausloteten. Da zischte Léto ihrer Schwester etwas zu. Das Gefühl des Abtastens verschwand. Julius atmete auf. Dann nahm er die Hand von Diosan, der laut wimmerte, weil irgendwas in seinem Kopf passierte, was Julius nicht mitbekam.
"Du hast ihn wahrhaftig lebend überwunden. Ich habe schon befürchtet, daß er dich oder sich töten würde."
"Hätte auch nicht viel gefehltt", seufzte Julius. Dann wurde ihm Sarja vorgestellt, die Mutter des Halbveelas, wegen dem sieben Mädchen und eine erwachsene Frau über Wochen verschleppt waren. Sie lächelte Julius an. Dieser sagte sofort: "Ich bin nicht Grindelwald und ich bin auch schon Vater. Ich liebe meine Frau und danke ihr jeden Tag, daß sie meine Tochter geboren hat." Sarja verzog das Gesicht. Léto nickte jedoch. Sarja sagte mit einer fast sphärischen Stimme:
"Du empfindest meine Handlung als verdorben oder böse, richtig?"
"Kann ich leider nicht abstreiten. Jemanden wehrlos zu machen und dann über ihn herfallen und ihm was abzwingen, was er nicht freiwillig hergeben möchte kann jeder kleine Junge und jedes kleine Mädchen, wenn er oder sie das Opfer mit Rauschgift betäubt oder fesselt. Das ist aber keine große Tat und absolut keine Liebe, sondern nur schwach und feige."
"Junge, ich danke dir, daß du meinen Sohn wiedergefunden und zu uns zurückgebracht hast. Aber was ich mit wem tue hat dich nicht zu kümmern."
"Er hat aber recht, Sarja. Es ist wirklich keine Kunst, einen Mann, ob er zaubern kann oder nicht, solange zu besingen, bis er sich hingibt. Echte Liebe ist wesentlich schwieriger zu erreichen und noch schwerer zu erhalten. Aber das wolltest du ja nie hören, Schwester."
"Das sagt eine, die sich diesen Kurzlebigen angebiedert hat", schnarrte Sarja. Julius wunderte sich, daß er die Veela verstand. Sprach sie etwa Französisch.
"Jeden Tag gibt es irgendwo in der Welt Verbrechen, wo ein Mann ein junges Mädchen mit Alkohol oder anderen Betäubungsmitteln wehrlos macht und sich dann über sie hermacht. Das ist wie gesagt keine Macht, sondern Schwäche", beharrte Julius auf dem, was er eben gesagt hatte. "Ja, und es kümmert mich schon, wenn unschuldige Menschen gegen ihren Willen verschleppt werden und womöglich dazu gezwungen werden sollen, Kinder von einem Mann zu kriegen, den sie nicht lieben, warum dieser Jemand tut, was er tut. Deshalb habe ich verdammt noch mal das Recht, mich darüber zu äußern und es denen ins Gesicht zu sagen, die daran Schuld sind."
"Du bist noch sehr jung, sicher schon um einiges erfahren, aber doch noch sehr jung. Eines Tages wirst du verstehen, daß es Ziele gibt, die über das hinausgehen, was ihr Menschen Anstand und Moral nennt. Ich wollte Grindelwald zu einem besseren Mann machen, ihm zeigen, daß es nicht nur lohnt, zu töten, sondern auch, daß es sich lohnt, für etwas zu leben."
"Was nicht funktioniert hat und einmal mehr beweist, daß gut gemeint häufig danebengeht. In der Muggelwelt gibt es einen Spruch, der das ganz klar auf den Punkt bringt: Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten. Nur daß Ihr Sohn uns Menschen fast die Hölle auf Erden bereitet hätte. Er war bereit, mich umzubringen oder sich von mir umbringen zu lassen, damit Sie ihrer althergebrachten Blutrache nachgehen und mich und meine Familienangehörigen umbringen müssen. Also kümmert und betrifft mich das voll und ganz, warum jemand so ist, wie er ist. Also, haben Sie Grindelwald geliebt oder nur als Deckhengst benutzt?"
"Du stehst unter dem Schutz meiner Schwester, Junge! Sonst hätte ich dich für diese Unverschämtheiten schon längst bestraft!" schrillte Sarja. "Aber wenn wir Diosan von euch fernhalten sollen, wirst du den Schutz meiner Schwester aufgeben müssen, damit sie und ich ihn endgültig an uns binden können, daß er nicht noch einmal Unheil anrichtet."
"Unheil? Eben haben Sie behauptet, es gebe Ziele, die über jeden Anstand hinausgehen", ereiferte sich Julius. Da erklang eine Stimme in seinem Kopf, die nicht von den Veelas stammte: "Julius, sie will es nicht hören. Dann vergeude nicht deine Kraft damit, es ihr immer wieder zuzubrüllen!" Julius erstarrte einen Moment. Sarja witterte wohl eine Art Morgenluft und entgegnete:
"Grindelwald hätte Diosan geliebt, wenn ihm diese alte Hexe nicht gesagt hätte, daß seine Enkelkinder ihn vom Thron stoßen werden. Er hätte ihn geliebt, Julius Latierre. Er hätte mich geliebt und gelernt, daß sinnloses Morden nur sinnloses Leid erzeugt. Er hat es gelernt. Denn durch Diosan war ich immer mit ihm verbunden, sogar bis in die Stunde seines Todes. Denn der Bann, mit dem er seinen Sohn an seinen Geburtsort gebunden hat, bis seine letzten sterblichen Überreste von Erde und Luft verschlungen sind, hat ihn mit mir verbunden. Er hat erkannt, daß er das gute mit den falschen Mitteln gewollt hat. Somit stelle ich jetzt dir die Frage, wo du meinst, über mich urteilen zu dürfen: Was ist besser, zu morden oder neues Leben zu erschaffen?"
"Leben und Tod sind im natürlichen Einklang. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Doch wer sich der Dunkelheit hingibt, erschafft selbst dann den Tod, wo er neues Leben entstehen läßt", sagte Julius unvermittelt klar und deutlich. Doch irgendwie hatte er den Eindruck, daß es nicht seine Worte waren, die aus seinem Mund drangen. Léto nickte ihm zu. Doch sie zwinkerte auch. Dannhörte Julius ihre Stimme in seinem Kopf: "Ich werde jetzt die Lebensbänder meiner Töchter von dir nehmen, damit du dein freies Leben fortsetzen kannst. Ich fühle, daß du meinen Schutz nicht länger brauchst. Denn jemand paßt auf dich auf."
Julius fühlte mit jedem Handgriff, den Léto an seinen Beinen ausführte, wie etwas aus ihm herausgezogen wurde. Er hörte das ängstliche Wimmern und Schreien von Neugeborenen, fühlte sich immer hilfloser. Dann hatte Léto ihm alle ihre Gaben abgenommen. Da fühlte er, daß es kein Zurück mehr gab. Er war wieder auf sich allein gestellt. "Nicht ganz", klang die tröstende Stimme Temmies in Julius' Kopf.
"Kehre nun zurück in deine Heimat, Julius Latierre, bevor meine Schwester dich doch noch für die restliche Nacht gewinnt, um dich damit zu strafen, daß sie dein nächstes Kind trägt."
"Da kann ich mich gegen wehren", grummelte Julius. Er hoffte nur, daß er das auch dann noch sicher wußte, wenn er jemandem gegenüberstand, der oder die es drrauf anlegte, ihn wehrlos zu machen. Denn er wußte noch von zweien, die ihn sicher gerne für sich gewonnen hätten, nicht nur für den Rest einer einzigen Nacht.
Was weiter mit Diosan geschah erfuhr Julius nicht in dieser Nacht. Wichtig war nur, daß er Ornelle Ventvit den Zweiwegespiegel wiedergeben konnte. Einen gewissen Schock erlebte er, als er auf den Kalender blickte: Heute war schon der achte November. Er hatte bei Léto mindestens vier Tage am Stück geschlafen!
Julius hängte sich sein Zuneigungsherz wieder um. Sofort fühlte er, wie die Verbindung zu seiner Frau erneut erwachte. Sanft und warme Ströme in seinen Körper schickend pulsierte der kleine, rubinrote Anhänger, der ein wie eine Brötchenhälfte geteiltes Herz bildete. Keine halbe Stunde später kehrte Julius in das Apfelhaus zurück, wo seine Frau ihn mit offenen Armen erwartete.
"Ich habe echt gedacht, du würdest nicht mehr wiederkommen, Monju", hauchte sie ihm zu, bevor sie ihn leidenschaftlich küßte. Er erwiderte, daß es fast auch so ausgegangen wäre.
"Aurore hat gestern gequängelt. Ich glaube, sie wird bald ihre ersten Zähnchen kriegen", sagte Millie. Julius sagte: "Da müssen wir alle drei durch, Millie. Dafür hat sie uns zwei ja um sich herum."
"Hast du die auch getroffen, die euch diesen durchgeknallten Burschen eingebrockt hat?" wollte Millie wissen. Julius deutete auf die Tür zu dem Zimmer mit dem Schrank, in dem das Denkarium stand. "Ich habe vier Tage am Stück geschlafen. Ich habe glaube ich noch genug Ausdauer, um das ganze Gedöns sicher unterzubringen, Mamille."
Nachdem Julius dem Denkarium seine Erlebnisse dieser Nacht anvertraut hatte half er Millie, die kleine Aurore zu wickeln. Diese würde bald den nächsten Schritt im Leben tun, feste Nahrung essen zu können. Er war froh, daß sie dies im Moment ohne Angst vor Blutrache erleben durfte, auch wenn es für sie sicherlich sehr schmerzhaft sein würde.
Am nächsten Tag erfuhr Julius, daß die sieben Mädchen und die eine Leibwächterin nach der Gedächtnisbezauberung in ihre Heimatstädte zurückgebracht worden waren. Sie gingen nun davon aus, von einem Mann mit sogenannten K.O.-Tropfen betäubt worden zu sein. Die Leibwächterin Fatme wurde vorsorglich mit der blauen Empfängnisverhütungslösung behandelt. Doch sie würde damit leben müssen, daß ein fremder Mann sie gegen ihren Willen genommen hatte. Ob das für ihre Schutzbefohlene eine gute Sache war wollte Julius nicht überlegen. Augustin Grandville wurde wegen unerlaubten Einsatzes unumkehrbarer Zauber vor die Wahl gestellt, entweder eine dreijährige Gefängnisstrafe anzutreten, den Rest seines Lebens von allen Ämtern und öffentlichen Berufen ausgeschlossen zu bleiben oder in die Zaubertierüberwachungszentrale auf Réunion umzusiedeln. Nach kurzem Überlegen entschied sich Grandville für die Versetzung. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, Julius Latierre noch einmal anzusprechen:
"Sie fühlen sich jetzt wohl noch größer, weil Mademoiselle Ventvit in Ihnen einen brauchbaren Außeneinsatzzauberer gefunden hat und sie mit diesem Halbling fertig geworden sind. Aber verheben Sie sich bloß nicht. Es gibt auch für Sie noch Grenzen, und eines Tages könnte Ihnen jemand eine sehr schmerzhafte Lektion erteilen. Das werde aber nicht ich sein. Ich habe mich selbst genug verhoben. Da werde ich mich nicht an Ihnen vergreifen."
"Grüßen Sie Ihre Frau und Ihre Kinder von dem Mann, der verhindert hat, daß ihr Ehemann und Vater zum Mörder wurde und sie dadurch fast in Lebensgefahr gebracht hat!" erwiderte Julius, der es hier und jetzt nicht nötig hatte, sich was über irgendwelche schmerzvollen Lektionen anzuhören. Denn er hatte ja gerade wieder eine gelernt, wenngleich sie eher bestätigte, was er schon immer geahnt hatte. Wer ein Kind in die Welt setzte mußte es wollen und nicht, weil er oder sie es konnte. Kinder brauchten Eltern, die es beide gleichstark ehrten und liebten. Das hatte er von Sarja und ihrem Sohn Diosan gelernt, auch wenn sie ihm das garantiert nicht beibringen wollten.
Zu Hause sprach er noch einmal mit Millie über die vergangenen Wochen, die ihm aufgeladenen Geheimnisse und die Gefahr, daß ihre Ehe daran kaputtgehen könnte. Millie sagte dazu:
"Ich weiß, daß meine Mutter mir nicht alles erzählen wollte und daß auch Tante Babs ihre geheimen Sachen hat. Aber du hast sicher gemerkt, wie leicht es für uns beide ist, wenn wir nicht nur Tisch und Bett teilen. So wie wir es jetzt halten geht es, daß du nicht gegen die klaren Anweisungen verstoßen mußt und trotzdem nicht alleine mit dem ganzen Kram herumläufst. Ich gebe dir auch vollkommen recht, daß es für alle Seiten nur danebengehen kann, wenn jemand von jemandem ein Kind haben will, der andere es aber nicht haben will und dem Kind das auch ganz fies zeigt. Ich hoffe, wir zwei kriegen das mit Aurores Brüdern und Schwestern auch immer hin, alle gleich gut zu lieben.
"Nach dem Ding mit diesem Tänzer muß ich im Grunde jeden Tag begrüßen, den ich erleben darf", sagte Julius. Denn er ahnte, daß Grandvilles Bemerkung nicht so aus reiner Wut dahergesprochen worden waren. Eines Tages würde er für alles, was er errungen hatte, einen Preis zu zahlen haben. Er hatte seinen Vater verloren, damit er weiterhin zaubern konnte. Er hatte Claire verloren, damit er weiterleben konnte. Er hoffte nur, daß er nicht eines Tages zwischen seinem Leben und das von Millie, Aurore oder seiner Mutter wählen mußte, weil irgendwer auf jeden Fall ein Leben einforderte.
Als er darüber nachdachte fielen ihm die Worte Madrashtargayans wieder ein. Er war ein Daisirian, ein Zwiegeborener, einer der bereits sein zweites Leben erlebte, genauso wie Temmie, Anthelia, Larissa Swann und die Hemlocks. Er sollte sich auf nichts einlassen, was ihn wieder klein und hilflos machen würde. Sicher, der Infanticorpore-Fluch würde ihn heftig zurückwerfen. Denn durch den Zeitpakt in Hallittis Höhle hatte er es unmöglich gemacht, schneller als von der Natur vorgesehen wieder aufzuwachsen.
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Die zur Sonderkommission Tänzer gehörenden Kriminalbeamten blickten auf den Großbildschirm der Viedeoanlage im Hauptgebäude des Bundeskriminalamtes. Darauf spielte sich gerade folgende Szene ab: Ein mobiles Sonderkommando der französischen Polizei hatte einen Lastwagen mit Plane umzingelt und den Fahrer aufgefordert, unbewaffnet und mit erhobenen Händen herauszukommen. Die Einsatzkräfte trugen neben den klobig wirkenden Schutzwesten auch Helme und vor allem Gasmasken. Am Fahrerseitenfenster des Führerhauses erschien jenes Gesicht, nach dem seit Wochen halb Europa fahndete. Der altersmäßig nicht zu bestimmende Mann grinste überlegen in die Runde der ihn umstellenden. Erneut erklang die laute Aufforderung, den Wagen unbewaffnet zu verlassen. Währenddessen pirschten sich schon Beamte an die Ladefläche heran und machten sich an der Klappe zu schaffen. Da sprang der Mann aus dem Führerhaus. "Ich nehm alle meine Mädchen mit!" rief er und hielt einen Flammenwerfer in Händen. Die ihn umzingelnden Sondereinsatzkräfte rissen ihre automatischen Waffen hoch und gaben Feuer. Aus dem Flammenwerfer des gestellten Täters fauchte eine weißblaue Lohe heraus, die wie der Strahl einer Hochdruckwasserspritze zwischen die Beamten fuhr. Der gestellte Täter bekam gleich in der ersten Sekunde mehrere Schüsse in Kopf und Brustkorb. Drei Polizisten standen da wie lebende Fackeln. Sofort rückten zehn Kollegen mit Feuerlöschern an und erstickten die auf der feuerfesten Schutzkleidung tanzenden Flammen. Gleichzeitig wurde der niedergeschossene Täter auf eine Bahre gelegt und davongefahren. Die sieben verschleppten Mädchen und die Leibwächterin Melinas wurden aus dem Lastwagen geholt. Einer der Beamten rief noch was, daß sie sich beeilen müßten. So rannten die Beamten mit den noch sehr benommen wirkenden Geiseln davon. Keine halbe Minute später zerbarst der Lastwagen in einem gewaltigen Feuerball. Hier endete die Aufnahme.
"Es handelt sich fraglos um den bei Görlitz geraubten Lastwagen, dessen Fahrer tot aufgefunden wurde. Jetzt ergibt es auch einen Sinn, daß der oder die Täter einen Großteil der Fracht im Straßengraben entsorgt hat", faßte der BKA-Beamte Brunacker zusammen. Auf die Frage, wann die Franzosen näheres über den Täter und seine Vorgehensweise ermittelt hätten machte Brunacker ein bedrücktes Gesicht. Er schien zu überlegen, was er jetzt sagen sollte. Dann gab er sich einen Ruck und antwortete: "Die im Lastwagen verbaute Sprengladung wurde über einen verzögert auslösenden Funkzünder ausgelöst. Offenbar hat der Täter, der seinen Namen Dank voreilig handelnder Kollegen mit ins Grab genommen hat, mit seiner Verhaftung gerechnet und für den Fall auf Selbsttötung mittels Polizeibeamten gesetzt. Die Kollegen vermuten, daß der Täter einen Impulsgeber am Körper trug, der auf seine Körperfunktionen abgestimmt war. Sobald sein Herz aussetzte, tickte die Zünduhr im Lastwagen. Doch sie war nicht die einzige. Eine Minute nach der Befreiung der Entführungsopfer detonierte eine am oder im Körper des Täters verborgene Sprengladung. Sie zerstörte das Einsatzfahrzeug, mit dem der Leichnam zur gerichtsmedizinischen Untersuchung verbracht werden sollte und tötete dessen Besatzung. Damit sind leider alle verwertbaren Spuren vernichtet, die Aufschluß über Herkunft, Motiv und Vorgehensweise des Täters hätten geben können."
"Und ich gehe davon aus, daß die vom französischen SEK oder wie das heißt die Namen ihrer übereifrigen Kollegen neet rausrücken werden", grummelte der ingolstädter Kommissar Unterpfortner. Seine Kollegen aus Dresden und Offenburg nickten beipflichtend.
"Ich zitiere den Kollegen aus Paris: "Mit der Befreiung der Geiseln und der Rückführung der bundesdeutschen Staatsbürgerinnen in ihre Heimat können wir zumindest einen Teilerfolg verbuchen. Hätte der Täter die Zündverzögerung unmittelbar nach Eintritt seines Todes programmiert, so wäre die Aktion zum vollständigen Fehlschlag geworden." Ende des Zitats. So bleibt uns im Grunde nur, herauszufinden, woran sich die entführten Mädchen und die Leibwächterin dieser Melina Constantinis erinnern. Zumindest müssen wir nach dem Zustand der Entführten davon ausgehen, daß wir es mit einem Sexualstraftäter mit mutmaßlich psychopathischen Neigungen zu tun hatten. Näheres dürfen wir dem schriftlichen Abschlußbericht entnehmen, der uns demnächst zugestellt wird, sagt mein Gesprächspartner in Paris."
"Dann müssen wir damit rechnen, daß solch eine Tat mit diesem merkwürdigen Wirk- oder Kampfstoff erneut geschehen kann?" wollte der dresdener Hauptkommissar Kröger wissen. Brunacker wiegte den Kopf und erwiderte:
"Auszuschließen ist das leider nicht, weil wir eben nicht mehr erfahren können, was für ein Mittel der Täter benutzt hat und wer davon außer ihm Kenntnis und vor allem Zugriffsmöglichkeiten besitzt. Ich würde jedoch von einer allgemeinen Alarmstimmung absehen, da diese die Bevölkerung eher verunsichert als beschützt."
"Mit anderen Worten", begann Unterpfortner, "da is' so a hundselendiger Lump aus dem Nichts gekommen, hat seine Schurkereien begangen und is' mit allem, was er bei sich hatte vernichtet worden. Warum haben's die Kollegen aus Frankreich net hinbekommen, den lebendig zu fangen?"
"Die Frage wird uns von denen wohl keiner beantworten können", entgegnete Brunacker darauf. Als wolle es das letzte Wort in dieser Sache haben trällerte das Telefon auf Brunackers Schreibtisch. Der BKA-Beamte schaltete den Mithörlautsprecher zu und nahm den Hörer ab. Er meldete sich und hörte dann wie alle anderen von einer großen Sprengstoffexplosion im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Dabei sei eine bis dahin als nicht mehr bewohnte Ruine pulverisiert worden. Von der Uhrzeit her war das genau zu der Zeit, als in der Nähe von Nizza der geraubte Pelztransporter in die Luft geflogen war. Das konnte kein Zufall sein. Brunacker sprach es nach dem Auflegen des Telefonhörers auch aus: "Da war wohl die Hexenküche des Tänzers, wo seine Vorräte der Betörungschemikalie gelagert wurden." Die bei ihm sitzenden Beamten nickten nur. Sie hofften, daß das Geheimnis um den blonden Tänzer und seine unheimliche Macht, Männer und Frauen auf verschiedene Weise zu beeinflussen, tatsächlich zu Staub zerfallen war.