Wie in der letzten Woche schon zur Gewohnheit geworden, wurde Julius Andrews am Morgen nach dem Tanzabend mit Musik aus seinem neuen, von Claire gemalten und bezauberten Bild geweckt. Diesmal spielten der Zwerg mit der Trompete und der in Jägergrün gekleidete Musikzwerg mit dem Waldhorn den melodischen Morgengruß. Als Julius sich aus dem bequemen Himmelbett erhob und sich für die nicht zu laute aber schöne Musik bedankte, hörten die gemalten Musiker zu spielen auf und nickten dem Gast der Dusoleils zu.
Nach Morgendusche, Frühstück und Zeitunglesen flogen Jeanne, Claire und er mit den übrigen Ferienschülern zu Madame Faucon. Julius hatte von Madame Dusoleil seinen Flugbesen wiederbekommen, glatt poliert und mit geradegebogenen Reisigbündeln. Niemand verlor über den Tanzabend ein Wort, zu sehr waren die Eindrücke vom Sommerball noch im Bewußtsein, als daß sie durch Worte zerredet werden sollten. Claire, die auf dem Besen ihrer Schwester mitflog, war munter und guter Dinge. Nichts deutete darauf hin, daß sie gerade wieder dem unangenehmen Zeitraum im Monat erlebte, in den beinahe jedes Mädchen über zwölf Jahren mit dem eigenen Körper zu tun hatte. Julius war sich sicher, daß er davon auch nichts mitbekommen hätte, wenn der Überschwang des Sieges beim Sommerball Claires üblichen Körperrhythmus nicht durcheinandergebracht hätte.
Bei Madame Faucon lernten sie einfache Bann- und Meldezauber. Dabei erfuhr Julius mit gewissem Schrecken, daß Zauberbanne, die durch den Zauberfinder "Monstrato Incantatem" sichtbar gemacht wurden, denen, die den Bann errichtet hatten, davon mitteilten. Julius' leichtes Unbehagen mußte wohl für die Lehrerin sichtbar gewesen sein. Denn sie sah ihn kurz aber konzentriert an und sagte:
"Gewissenhafte Zauberer, die einen Schutz- oder Abgrenzungsbann, eine Alterslinie zum Beispiel, um ein zu schützendes oder nur für bestimmte Personen zugängliches Objekt oder Gebäude legen, bauen immer diesen Meldezauber ein, um bereit zu sein, aktiv gegen einen Eindringungsversuch vorzugehen. Hätte also jemand sich beim trimagischen Turnier über die Bannlinienbeschränkung hinweggesetzt, wäre dies wohl sogleich geahndet worden. Deshalb war Harry Potters Teilnahme ja so unerwartet."
Julius zwang sich zur Selbstbeherrschung, obwohl die Lehrerin ihm mit diesen Worten klargemacht hatte, daß Dumbledore ihn wohl bei seinen Experimenten an der Alterslinie hätte erwischen müssen. Immerhin hatte er ja den Zauberfinder benutzt, um zu sehen, wie die Alterslinie den Feuerkelch umgab.
Nach den etwas leichter abgehaltenen Unterrichtsstunden bemühte sich Julius, schnell aber nicht fluchtartig das Haus der Lehrerin zu verlassen und ließ Elisa, die er heute auf seinem Besen mitnahm, schnell hinter sich aufsteigen.
Der Nachmittag verflog mit Lesen im Garten der Dusoleils. Julius fühlte beinahe minütlich, daß die Sommersonne immer stechender vom Himmel brannte und die Luft immer schwerer wurde. Offenbar kündigte sich ein Unwetter an.
"Haben wir hier sowas wie eine Wetterstation?" Fragte der Hogwarts-Schüler, der besorgt in den noch wolkenlosen Himmel blickte. Monsieur Dusoleil nickte und deutete auf den Werkstattbau, der etwas abgesetzt vom Wohnhaus errichtet worden war. Dann kam noch Madame Dusoleil und deutete auf ein ovales Beet, aus dem große blaue Blumen herausguckten, deren Blütenkelche sich sachte aber beobachtbar wie die Rippen einer Ziehharmonika zusammenfalteten.
"Florymont, ich bitte dich. Du wirst doch dem Jungen nicht deine mechanischen Wettergeräte anbieten, wo er an den Faltkelchblumen ablesen kann, wie das Wetter ist und wird."
"Die Blumen habe ich bestimmt schon hundertmal beobachtet. Aber so'ne Reaktion haben die bis heute nicht gezeigt, solange ich nun hier bin", bemerkte Julius zu den sich immer mehr zusammenfaltenden Blütenkelchen.
"Weil es auch erst im Juni das letzte Gewitter gab, Julius. Die Blumen fühlen den Wetterumschwung und schließen die Kelche. Die Himmelstrinker, die ich auf der anderen Seite des Hauses angepflanzt habe, öffnen dagegen erst ihre Kelche, wenn sich Regen ankündigt, den sie dann auffangen können. Kuck die dir auch ruhig an!" Schlug die pflanzenkundige Hausherrin vor. Julius nahm den Vorschlag an und besah sich die unscheinbaren braunen Blüten eines niedrigen Gebüsches. Tatsächlich klappten sie sich langsam auf, wie sich öffnende Münder, die auf etwas zu essen oder zu trinken warteten.
"Professeur Sprout hat diese Pflanzen unter Garantie auch in den Zaubergärten um Hogwarts. Sie sind jedoch zu empfindlich, um von Schülern unterhalb der vierten Klasse betreut zu werden. Aber wer diese Pflanzen kultiviert, kann an ihnen Art, Zeit und Richtung eines aufkommenden Wetterumschwungs ablesen", erläuterte Madame Dusoleil und erklärte ihrem interessierten Gast, wie dies möglich war. Dann sagte sie:
"Das Gewitter kommt über das Mittelmeer herein und verdrängt die warme Luft. Wahrscheinlich werden wir am Abend davon getroffen."
"Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wird das ziemlich heftig werden", stellte Julius fest. Seine Gastmutter nickte bestätigend.
Tatsächlich grummelte ferner Donner während des Abendessens, und kalte, immer stärkere Windböen wehten über den Garten der Dusoleils und brachten die Baumkronen zum rauschen.
Um neun Uhr abends sah Julius die ersten Blitze in südlicher Richtung aufleuchten und nutzte die Gunst der Stunde, Arcadias Verlangsamungssichtglas, die echte Zeitlupe, auszuprobieren, ihr Geburtstagsgeschenk für ihn. So schaffte er es, tatsächlich einen Blitz zu erwischen und zu beobachten, wie dieser sich in der tausendfachen Verlangsamung beinahe trippelnd aus einer Wolke herabbewegte und dann mit grellem Finale eine Glutbahn in den Himmel zurückbrannte.
"Eh, das ist ja genial, daß Blitze aus zwei Phasen zusammengesetzt sind", stellte Julius laut fest. Claire, die neben ihm stand, ließ sich das magische Sichtglas geben und fing damit ebenfalls das Bild eines aufleuchtenden Blitzes ein. Julius zählte in Gedanken die Sekunden zwischen Blitz und Donner und teilte die Zahl durch drei, wie sein Vater es ihm schon mit fünf Jahren beigebracht hatte.
"Noch einen Kilometer weg", sagte er. Doch da zuckte schon der nächste Blitz über den Himmel, erleuchtete gespenstisch die schwarzen Wolkenungetüme, und keine zwei Sekunden später krachte ein Donnerschlag über Millemerveilles, gefolgt von einem zweisekündigen Grollen und Grummeln. Dann blitzte es wieder auf, worauf nur eine Sekunde später der Donner erscholl.
"Ups! Das Unwetter ist doch schon näher bei uns", bemerkte der Hausgast der Dusoleils. Eine Windböe rüttelte an allem, was ihr in den Weg kam. Dann begann es zu regnen, erst zaghaft tröpfelnd, um dann von einer Sekunde zur anderen zu einem Wolkenbruch wie aus großen Waschkesseln anzuschwellen.
"Wollt ihr wohl reinkommen!" Rief Madame Dusoleil gegen Wind und Regenflut an und klatschte fordernd in die Hände. Julius ließ sich das nicht zweimal sagen und kehrte mit Claire ins Wohnhaus zurück, getrieben von einem Donnerschlag wie von einer zwanzig Meter durchmessenden Pauke.
Die ganze Nacht schüttete es laut vom Himmel, wurden Regenfluten vom Wind gegen die Fensterläden geblasen, krachten und röhrten Donnerschläge über dem Wohnhaus. Denise, die wohl Angst vor Gewittern hatte, hing zitternd in den Armen ihrer Mutter, während Claire sich von Julius das mit der Entfernungsschätzung erklären ließ. Irgendwann jedoch waren die Hausbewohner zu müde, um im Wohnzimmer auszuharren und gingen zu Bett.
Als Julius nach einem unruhigen Schlaf erwachte, war das Unwetter immer noch nicht vorbei. Zwar donnerte es nicht mehr, aber der Regen und die böigen Winde waren noch da.
"Tolles Quidditchwetter!" Bedachte Jeanne die seltene Wetterlage beim Frühstück. Julius meinte:
"Dann kann ich jetzt mal den Regenumhang testen, den Madame Faucon mir zum letzten Geburtstag geschenkt hat."
"Jetzt kriegst du zumindest einmal mit, daß es in Millemerveilles auch regnen kann", stellte Claire fest. Offenbar gefiel es ihr nicht sonderlich, daß sie bei einem solchen Wetter fliegen sollten.
So flogen dann alle Ferienschüler in Regenumhängen, die tatsächlich kein Wasser durchließen, zum Ferienunterricht, wo sie sich mit Madame Faucon über magische Fallen unterhielten, die man erkennen und unschädlich machen konnte.
Am Nachmittag des 30. Juli klarte es auf, die vom Gewitter gereinigte Luft roch belebend und würzig, die Sonne tauchte hinter den letzten grauen Wolkenfetzen auf und wärmte alles und jeden. Madame Dusoleil und Jeanne reinigten die Gartenmöbel, auf denen sich vom Regen mitgeführter feiner Staub als Schlammfilm abgesetzt hatte. Sie überprüfte die Himmelstrinker und meinte:
"So, jetzt ist wieder Ruhe für einige Wochen. Die Pflanzen haben sich ausreichend vollgesogen und warten auch nicht auf weitere Regengüsse", stellte sie fest und fragte Julius, ob sie ihn auf einem Rundflug über die Gärten mitnehmen wollte. Dabei traf er auch die Delamontagnes, die Lagranges und Madame Clavier, die Nichte Madame Matines, die sich noch mal bei Julius erkundigte, ob es ihm in Millemerveilles immer noch gefalle, was dieser sofort bejahte.
Der nächste Tag war dem Quidditch vorbehalten. Julius spielte auf Seiten der Jungen aus dem Dorf mit und schaffte es, gegen Barbara Lumière wieder zwei Tore zu erzwingen.
Nachmittags bekam er eine Eule mit Post aus England. Ein Brief Mrs. Priestleys verkündete ihm, daß er nun rechtskräftig das Patent an der Zauberlaterne besaß. Der Hogwarts-Schüler überlegte schon, ob er dies nun nutzen wollte. Claire, der er ja die Zauberlaterne gebastelt hatte, war ja einverstanden, daß er diese Erfindung verkaufte. Doch er würde es sich noch überlegen, ob er Monsieur Dusoleil oder Arcadia Priestley oder vielleicht auch Mr. Hollingsworth, der ebenfalls ein Zauberhandwerker war, die Erlaubnis geben sollte, seine Zauberlaterne nachzubauen und mit einem Gewinnabschlag an ihn zu verkaufen.
Am Morgen des ersten Augustes lief Julius mit Barbara um den Teich in der Dorfmitte. Sie trugen je einen Schwermacher, jene magischen Kristalle, die dem Körper immer mehr Anstrengung bei einfachen Übungen abverlangten. Nach nur fünfzehn Minuten beendeten sie die morgentliche Übung und kehrten zurück. Barbara sagte noch:
"Heute kommt Madame Unittamo, Julius. Falls sie Besucher duldet, sage ich dir und deinen Mitbewohnern noch heute Bescheid."
"Gut, Barbara", erwiderte Julius. Die Ankunft der weltberühmten Verwandlungskünstlerin Maya Unittamo versetzte ihn in eine wohlige Spannung. Würde er sie tatsächlich von Angesicht zu Angesicht treffen? Wie sollte er sich verhalten? Sollte er spontan auf sie zugehen oder warten, was sie tun würde? Er beschloß, seine bisher so brauchbare Zurückhaltung beizubehalten und sich im Hintergrund zu halten, wenn er mit Jeanne und Claire zu ihr gehen durfte.
Julius nutzte den sonnigen Nachmittag für Besenflugübungen über Millemerveilles, bei denen ihm Jeanne und César Gesellschaft leisteten. So gegen vier Uhr nachmittags kehrten Jeanne und er zurück zum Haus der Dusoleils, wo Claire mit ihrer Mutter gerade einen großen Kuchen fertiggebacken hatte. Sie tranken Kaffee und Kakao auf der Terrasse hinter dem Wohnhaus und unterhielten sich darüber, wann Jeanne und Claire in die Rue de Camouflage reisen wollten, um die neuen Schulsachen für Beauxbatons zu besorgen. Da dort am zwanzigsten August das neue Schuljahr begann, wurde es langsam Zeit, die erforderlichen Bücher und Ausrüstungsgegenstände, Zaubertrankzutaten und auch neue Schulumhänge zu kaufen. Man beschloß, am nächsten Freitag nach Paris zu reisen, um die Sachen zu kaufen. Julius fragte, ob man besonders vorsichtig sein müsse, wegen der möglichen Übergriffe durch Todesser des dunklen Lords. Monsieur Dusoleil sagte:
"Da Minister Grandchapeau wesentlich ernster mit diesem Problem umgeht, wird wohl die Schutzgruppe an allen Eingängen zur Rue de Camouflage postiert sein, unsichtbar für alle, die nicht über magische Sichtgeräte verfügen. Dein Besuch bei Minister Grandchapeau, sowie die Tätigkeit von Madame Grandchapeau, dürften ihr übriges beitragen, um die Einkaufsstraße so sicher zu machen, wie es eben geht."
"Ich weiß nicht, ob Gloria, Pina oder Kevin schon in der Winkelgasse waren. Vielleicht muß man da auch nun an magischen Polizisten vorbei", vermutete Julius. Madame Dusoleil nickte.
"Möchtest du mit, wenn ich mit Jeanne und Claire einkaufen gehe? Denise war ja schon mit Uranie und Florymont in der Grundschulausstattung."
"Ich habe mir die Straße ja mit Madame Delamontagne angesehen. Sonst wüßte ich nicht, was ich dort soll. Ich habe ja noch keine Liste von Hogwarts, was ich brauche. Außerdem denke ich nicht, daß ich in Paris Hogwarts-Umhänge kriegen kann", sagte Julius.
"Stimmt, Julius. Lass die Frauen besser alleine einkaufen. Ich habe das einmal gemacht, als Jeanne dreizehn wurde. Das hat gedauert, bis wir aus allen Läden wieder rauswaren", warf Monsieur Dusoleil ein und fing sich dafür einen verärgerten Blick seiner Frau und seiner ältesten Tochter ein.
So gegen sechs Uhr abends kam ein Waldkauz mit einem Brief für Madame Dusoleil. Sie ging damit in die Küche, wo sie das Abendessen vorbereiten wollte. Als sie nach nur zwei Minuten wieder aus der Küche kam sagte sie nur:
"Roseanne hat uns und die Lagranges und Delamontagnes eingeladen, ganz spontan. Offenbar möchte sie uns was wichtiges mitteilen."
Julius, der wußte, was dahintersteckte, fragte mit gespielter Neugier: "Ist das wegen ihrer neuen Töchter?"
"Das stand da nicht drin", erwiderte Madame Dusoleil. Julius dachte sich, daß dies ja wohl auch nicht so sein würde.
"Ist eine besondere Garderobe erwünscht?" Fragte Monsieur Dusoleil. Seine Frau sagte:
"Sauber ist die einzige Vorgabe, Flory." Dies nahm der Hausherr zum Anlaß, seinen leicht verdreckten Gebrauchsumhang gegen einen dunkelgrünen Sonntagsumhang zu tauschen. Seine Töchter zogen sich etwas bessere Kleider an, keine Umhänge. Claire trat in einem tulpenroten Kleid an, Jeanne hatte sich ein malvenfarbenes Kleid herausgesucht und ihr Haar etwas glatter frisiert. Julius zog sich den tulpenroten Gebrauchsumhang an, den Madame Dusoleil vor drei Tagen frisch gewaschen und mit einem magischen Weichspüler seidenweich hinbekommen hatte. Dann glättete er sein Haar jedoch ohne die Frisurhaltlösung zu benutzen, die er von Glorias Mutter geschenkt bekommen hatte.
So flog die ganze Familie einschließlich Hausgast um kurz vor sieben Uhr los. Julius hatte Claire wieder hinter sich sitzen, Jeanne nahm Denise mit, Mademoiselle Dusoleil flog auf ihrem Einkaufsbesen, die Dusoleils saßen auf dem Familienbesen zusammen. In wenigen Minuten ging es unter der Führung der Familieneltern zum Grundstück der Lumières, wo Barbara gerade einen großen rechteckigen Marmortisch auf einer von großen Blumenkübeln umringten Dachterrasse deckte. Wie in Millemerveilles üblich landeten die Besucher mit ihren Besen auf einer Wiese vor dem Haus, daß einen geräumigen, wenngleich nicht so großen Garten besaß. Feiner weißer Rauch kräuselte sich aus einem der zwei Schornsteine in den fast windstillen Sommerabendhimmel.
Der Hausherr persönlich kam heraus und begrüßte die Besucher.
"Schön, daß du mitgekommen bist, Julius", sagte Monsieur Lumière. "Du kannst sehr gut im Zweiergespann fliegen, habe ich mir angesehen."
"Das macht die Übung, Monsieur. Ich darf ja außer zum Quidditch nicht mehr allein auf dem Besen fliegen", erwiderte Julius schnell. Claire, die hinter ihm stand, zwickte ihn kurz aber spürbar in den Arm. Dann trat sie vor und ließ sich begrüßen.
Madame Lumière trat in einem himmelblauen Kleid aus dem Haus und begrüßte die Dusoleils und ihren Hausgast. Dann trafen auch die Delamontagnes, sowie die Lagranges ein. Seraphine hatte ihre jüngere Schwester Elisa hinter sich auf dem Besen sitzen. Der Hogwarts-Schüler wartete höflich, bis sich alle einander begrüßt hatten, dann ging er mit Jeanne und Claire auf die Dachterrasse.
Oben angekommen begrüßte Barbara die Schulkameradin und den Gast aus England, jedoch ohne zu erwähnen, weshalb sie nun alle herkommen sollten. Jacques stand in einen dunkelvioletten Gebrauchsumhang gekleidet am Tisch und zählte die Gedecke und Stühle. Dann sah er Julius und fragte:
"Und wie fühlt man sich, wenn man sich wieder einmal zum Liebling der Gemeinde gemacht hat?"
"Ich weiß zwar nicht, weshalb du meinst, mit mir Streit suchen zu wollen, Jacques, aber wenn du auf den Ball anspielst, so habe ich mich sehr gefreut, daß ich dabei sein durfte. Du hast was verpaßt."
"Die einen sind frei, und die anderen fügen sich in alles", meinte Jacques nur dazu. Barbara grinste gehässig und sagte:
"Es gibt Leute, die jede Freiheit verfluchen, wenn sie bedeutet, immer allein und außen vor zu bleiben."
"Du bist ja nur neidisch, weil alle anderen Jungs aus deiner Klasse und deinem Haus tanzen lernen und du gerade mal bei deiner Maman die notwendigen Schritte lernst", erwiderte Claire Jacques zugewandt. Julius stupste sie an und meinte:
"Lassen wir das, Claire. Ich habe keinen Krach mit Jacques und lege es auch nicht darauf an."
"Na klar, dann müßtest du ja eine eigene Meinung haben und dir nicht von den Mädels vorbeten lassen, was du zu tun und zu sagen hast", erwiderte Jacques gehässig. Barbara packte ihren Bruder kräftig an den rechten Arm und meinte:
"Paß mal lieber auf, daß du nicht lernen mußt, wie schnell eine Hexe verärgert ist. Julius ist unser Gast. Vielleicht nicht deiner, aber zumindest ein Gast hier. Außerdem solltest du dich nicht gleich mit jedem anlegen, den du nicht gut genug kennst um abzuschätzen, was er oder sie kann."
"Bla bla bla!" Entgegnete Jacques. Dann verstummte er, weil das Schwirren eines Besens über ihm seine Aufmerksamkeit forderte. Er sah wie alle anderen Besucher der Dachterrasse nach oben und erblickte Madame Faucon, die mit ihrem Besen über das Haus hinwegflog und auf der Landewiese niederging.
"Mist!" Fluchte Jacques leise, während sich Claire und Jeanne fragten, was die Beauxbatons-Lehrerin hier wollte. War sie auch eingeladen worden? Dann mußte es doch wichtiger sein, als sie zunächst geglaubt hatten. Jacques sah noch mal über den Tisch und zählte die Gedecke. Dann suchte er sich einen hochlehnigen Stuhl aus, von dessen Sorte es sechs an diesem Tisch gab. Es waren insgesamt zwanzig Plätze an diesem Tisch eingerichtet worden, erkannte Julius, der bis dahin nicht darauf geachtet hatte, für wieviele Leute die Lumières hier aufgedeckt hatten. Er rechnete schnell durch, wieviele Personen nun schon da waren und kam auf neunzehn, wenn die beiden Babys der Lumières nicht mitgezählt wurden. Fehlte nur der Ehrengast, dann stimmte die Zahl der Gedecke mit der Zahl der Gäste und Hausbewohner überein.
Die Delamontagnes kamen auf die Terrasse. Julius stand bereit, die Dorfrätin und ihre Familie zu begrüßen. Madame Delamontagne trug ihren üblichen Purpurumhang und hatte ihren strohblonden Zopf mit goldenen Bändern zusammengebunden. Virginie trug einen grasgrünen Rock und eine weiße Bluse. Monsieur Delamontagne trug einen himbeerfarbenen Umhang.
Als dann die Lagranges auf der Terrasse ankamen, trat Elisa noch mal auf Julius zu und begrüßte ihn.
"Hallo, Julius. Ich hoffe, du hattest ein schönes Wochenende. Wir waren gestern und heute bei Belisamas Familie. Die hat sich erkundigt, was du so machst."
"Huch, wie denn das?" Fragte Julius verunsichert.
"Weil du dich so gut mit ihr unterhalten hättest", erwiderte Elisa. Claire, die sich gerade zu ihr umdrehte, sagte dazu:
"Ach, hat sie ihn etwa vermißt, nachdem der Ball vorüber war?"
"Nicht direkt, aber sie war neugierig", erwiderte Elisa.
Madame Faucon trat in einem langen Kleid aus hellblauer Seide auf die Terrasse hinaus und begrüßte die, die sie unten noch nicht getroffen hatte.
Jacques blieb sitzen. Offenbar schien ihm das nichts auszumachen, daß die Lehrerin anwesend war. Julius ging das nichts an, ob der Bruder Barbaras sich damit unbeliebt machte. Er begrüßte seine Ferienlehrerin mit der Höflichkeit, die ihm anerzogen worden war.
"Madame Lumière trat nun auf die Terrasse hinaus und sah, daß alle auf sie warteten.
"Es freut mich", begann sie zu sprechen, "daß ihr alle gekommen seid. Es ist mir eine große Freude, euch hier und jetzt einer wichtigen Person vorzustellen, die sich sehr gefreut hat, als ich anfragte, ob sie nach den wichtigen Aufgaben der letzten Tage Besuch wünsche, falls mir jemand bekannt sei, der sie gerne einmal antreffen würde. Sie hat mir gesagt, daß sie noch im Badezimmer zu tun hat und entschuldigt durch mich eine kleine Verspätung, die auftreten mag. Setzt euch alle schon einmal an den Tisch!"
Alle setzten sich. Julius fand sich zwischen Claire an seiner linken und Jeanne zu seiner rechten Seite am Tisch sitzend. Madame Dusoleil saß mit Denise rechts von Jeanne, ihr Mann saß rechts neben seiner jüngsten Tochter, links von seiner Schwester, die rechts von Madame Lagrange flankiert wurde. Julius gegenüber saßen die Delamontagnes, rechts flankiert von Madame Faucon und links von Madame Lumière, die Jacques links von sich sitzen hatte. Der wurde an seiner linken Seite von Barbara flankiert und fühlte sich offenbar nicht so recht wohl. Er kippelte mit dem hochlehnigen Stuhl, auf dem er saß. Julius zwang sich, nicht auf den gleichaltrigen Jungen mit den kurzen braunen Haaren zu starren und suchte die beiden Schwestern Lagrange, die rechts von Monsieur Lumière saßen, allerdings einen Platz zwischen sich und ihm freihaltend, wohl für einen Ehrengast, fand Julius. Er wußte natürlich, wer dieser Ehrengast sein sollte und malte sich aus, daß die berühmte Verwandlungskünstlerin wohl ihr Make-Up auffrischen und ihre Haare etwas glänzender frisieren würde. Er hatte schließlich bei und von den Damen Porter gelernt, daß eine Hexe ab dem zwölften Lebensjahr viel Wert auf das Aussehen legte, auch wenn sie nicht gerade auf der Suche nach einem Partner war. Mrs. Dione Porter hatte ihm einmal erzählt, daß für diese Achtung des eigenen Aussehens keine Altersgrenze bestand, was, wie sie tiefgründig lächelnd betonte, ihren Beruf unverzichtbar für die Hexenwelt mache.
Fünf Minuten verstrichen, und die erwartete Dame erschien nicht. Jacques wackelte immer wieder leicht mit dem Stuhl, bis Barbara sanft aber eindeutig die rechte Hand auf seine Schulter legte, was den unruhigen Geist sofort zähmte. Als der Stuhl dann wieder zu wackeln begann, zischte Madame Lumière ihrem Sohn etwas zu, doch dieser erbleichte, eher vor Schrecken als vor Ertapptheit. Dann ruckelte der Stuhl zurück, ohne daß Julius irgendeine Körperbewegung Jacques' sehen konnte. Jacques sprang wie unter Strom gesetzt vom Stuhl auf und starrte das Sitzmöbel an, das sich auf seinen vier Beinen mit staksigen Schritten vom Tisch entfernte, dann ein Bein nach dem anderen ausstreckte, die Lehne nach hinten umbog und sich dann in einen Wirbel aus flirrenden Farben auflöste, der sich eine Sekunde später zu einer erst nebelhaften, dann greifbaren Erscheinung verdichtete, der Erscheinung einer kleinen, zerbrechlich wirkenden Frau wohl fortgeschrittenen Alters, mit langem, weißem Haar mit einem Hauch von Blond, das in Höhe des dünnen Nackens zu einem eleganten Knoten gebunden war und bis zur Mitte ihres Rückens herabreichte. Sie trug eine goldgeränderte Brille mit zehneckigen Gläsern, durch die goldbraune Augen schalkhaft in die Runde der Gäste blickten, ein blaßrotes Kleid, welches ihr im Stehen bis zu den Waden hinabreichte und war mit einer Kette aus kugelrunden Bernsteinen und je einem gleichartig gearbeiteten Armband geschmückt. Ihr Gesicht wirkte jugendlich frisch, wenngleich sich doch einige Fältchen nicht verbergen ließen, was, wie Julius durch Mrs. Porter wußte, nur dann zu sehen war, wenn die Hexe dies so wollte. Sie trug feingeschnittene Halbstiefel aus weißlackiertem Leder und abgerundeten Spitzen.
Julius mußte wohl sehr fasziniert auf die unvermittelt aus dem Lehnstuhl Jacques' entstandene Hexe gestarrt haben, denn sie warf ihm einen intensiven Blick zu und lächelte mädchenhaft. Jacques war erst schreckensbleich und dann tomatenrot geworden. Barbara und ihre Mutter sahen leicht irritiert auf die Hexe, während Madame Faucon sehr entrüstet dreinschaute, wohl mit sich ringend, ob sie gleich ein Donnerwetter loslassen sollte oder nicht. Madame Delamontagne zuckte zwar kurz mit den Achseln, als Julius ihr einen kurzen Blick gönnte, blieb jedoch gefaßt. Virginie strahlte übers ganze Gesicht, und so ging es auch Seraphine und Elisa. Jeanne grinste nur.
Unvermittelt hing Claire Julius um den Hals und flüsterte leicht verärgert:
"Wenn du das vorher gewußt hast, hättest du mir das ruhig sagen können."
"Wie, von was gewußt?" Fragte Julius scheinheilig. Dafür knuffte Claire ihm schnell und nur für ihn wahrnehmbar in die Seite.
"D-das w-w-wußte ich nicht", stotterte Jacques total verlegen und wohl auch geschockt.
"Dann hätte es mir bestimmt nicht solchen Spaß gemacht, junger Mann", erwiderte die Hexe im blaßrotem Kleid und lächelte wohlwollend. Madame Lumière erhob sich und sagte etwas verunsichert:
"Meine lieben Gäste, offenbar hat Madame Unittamo es vorgezogen, einen spektakulären Auftritt zu inszenieren, um einer langwierigen Ankündigung zu entgehen. Euch allen ist sie ja hinlänglich bekannt, Madame Maya Unittamo, bis vor zehn Jahren noch Lehrerin an der Thorntails-Akademie für nordamerikanische Hexen und Zauberer."
Alle klatschten Beifall zur Begrüßung. Die damit geehrte bedankte sich durch eine kurze Verbeugung. Dann sah sie Madame Faucon an. Diese fragte laut:
"Nichts für ungut, Madame Unittamo. Aber mußte dieser derbe Scherz wirklich sein?"
"Nein, mußte er nicht, Madame Faucon. Allerdings erübrigen sich viele Worte, wenn man etwas eindrucksvolles tut, wie Sie sicherlich auch wissen", erwiderte Madame Unittamo lächelnd. Dann sah sie alle Gäste noch mal genau an. Claire versank fast auf ihrem Platz, als die große Verwandlungskünstlerin, die vor nicht einmal einer Minute eine Probe ihres Könnens abgeliefert hatte, sie ansah. Irgendwann sah sie auch Julius an, der seine eingeschliffene Haltung bewahrte und freundlich zurückblickte, als er begutachtet wurde. Madame Lumière stellte ihre Gäste in der Platzreihenfolge vor. Dann meinte sie:
"Ich werde noch einen Stuhl besorgen, da unser Gast ja für seinen Auftritt einen freien Stuhl fortgenommen hat."
"Nicht nötig", erwiderte Madame Unittamo. Sie holte aus einer tiefen Tasche ihres Kleides einen zwölf Zoll langen Zauberstab aus einem Holz, daß Julius nicht kannte, mit einer glitzernden Spitze und ließ diesen mal eben in einer schnellen Abfolge von Figuren durch die Luft wischen. Sogleich flimmerte es dort, wo Jacques' Platz war, und von jetzt auf gleich stand dort ein weiterer hochlehniger Stuhl.
"Auf dem kannst du sitzen, junger Mann. Der ist völlig harmlos", bedeutete sie Jacques, während sie ihren Zauberstab wieder fortsteckte und gemessenen Schrittes zu dem Stuhl hinüberging, der direkt rechts von Monsieur Lumière bereitstand. Jacques zögerte etwas, bevor er sich wieder hinsetzte.
Nun redeten auch die Gäste wieder miteinander, nachdem vorhin fast keiner was sagen konnte. Claire fragte Julius, ob er das vorher schon gewußt habe. Dieser nickte nur. Seine Sitznachbarin zur linken fauchte nur:
"Du hättest mir das wirklich vorher sagen können. Dann hätte ich mir einen besseren Umhang rausgesucht."
"Und dann nichts von ihr mitbekommen, weil wir dich hätten zurücklassen müssen", erwiderte Julius schlagfertig.
"Wieso?" Stieß Claire ungehalten aus.
"Ja, bis du einen Umhang gefunden hättest, der dir zu diesem Treffen gut genug erschienen wäre, hätte es ja Stunden gedauert und ... Autsch!" Bemerkte Julius und mußte sich schnell zusammennehmen, nicht allzu schmerzvoll dreinzuschauen, weil ihm ein wütend auf den linken großen Zeh gestellter Absatz nicht gerade wohlige Empfindungen durch Bein und Körper trieb.
"Wo er recht hat, hat er recht, Schwesterherz. Welches rote Kleid hättest du denn angezogen?" Sprang Jeanne Julius bei. Claire beherrschte sich, an Julius vorbeizulangen und Jeanne zu kneifen oder zu schlagen und beließ es nur bei einem verärgerten Schnauben.
"Barbara wird ihm wohl geraten haben, nichts zu verraten. Immerhin hätte es ja auch passieren können, daß Madame Unittamo nicht gekommen wäre oder keine Besucher geduldet hätte", begründete Jeanne Julius' Verschwiegenheit. Dieser nickte zustimmend. Dann sagte er zu Claire:
"Trittst du mir noch mal auf einen Fuß, kann ich nicht mehr tanzen. Dann war das dieses Jahr der letzte goldene Tanzschuh."
"Immerhin ist Madame Unittamo nicht so streng, wie Madame Faucon", meinte Claire. Julius nickte grinsend.
"Gut, daß es Jacques erwischt hat und nicht dich oder mich oder gar Madame Delamontagne", flüsterte Julius mit frechem Grinsen.
"Wieso Madame Delamontagne?" Fragte Jeanne, die ihn verstanden hatte.
"Das wäre wohl gegen ihre Würde gewesen, wenn unter ihr ein Stuhl angefangen hätte, sich zu bewegen. Abgesehen davon dürfte sie nicht gerade so stark sein, eine so gewichtige Person lange auszuhalten", flüsterte Julius und blickte vorsichtshalber zu Madame Delamontagne hinüber, die aber gerade im Gespräch mit Madame Faucon vertieft war.
Kurz nach der Begrüßung trugen Hausherrin und älteste Tochter ein mehrgängiges Abendessen auf, zu dem es verschiedene Weine und Fruchtsäfte gab. Madame Dusoleil fragte Claire und Julius, ob sie ein wenig von dem Rotwein haben wollten und erlaubte es Julius, als dieser meinte, daß er doch noch zu jung dafür sei. Er trank einen kleinen Schluck des fruchtigen, aber auch gehaltvollen Weines und unterhielt sich mit den Delamontagnes und seinen Gastschwestern über die letzten Tage, natürlich über das Unwetter und schließlich auch über Maya Unittamo. Claire erzählte noch mal, daß sie sie für eine sehr gute Lehrbuchschreiberin hielt und sich immer gewünscht hatte, mal direkt mit der berühmten Verwandlungslehrerin zusammenzutreffen. Julius sagte nur:
"Wenn ich das richtig mitbekommen habe, habe ich die Verwandlungstechniken aus ihrem Lehrbuch. Babettes Tante sagte das, und du, Jeanne, sagtest das ja auch mal."
"Ja, hast du. Professeur Faucon muß ja wirklich sehr sicher sein, daß du die so gründlich lernen würdest. Ich habe die Wendel-Techniken in Hogwarts beobachtet. Die sind zwar ebenso erfolgreich, aber etwas unbeholfener, eben eher für den langsamen Gebrauch des Zauberstabes geeignet. Außer Professeur McGonagall habe ich dort ja keinen gesehen, der mit diesen Techniken schnell zaubern konnte", erwiderte Jeanne.
"Die Unittamo-Zauberstabtechniken sind nicht einfach. Einige aus meiner Klasse haben es bis heute nicht auf die Reihe gebracht, sie so gut anzuwenden", erwiderte Claire.
"Ich denke, der Trick dabei ist wirklich, daß du die Zauberworte wie ein Lied hersagen mußt, um die entsprechenden Bewegungen zeitgenau hinzubekommen. Ich hörte auch, daß diese Techniken sehr leicht Fehlschläge verursachen. Ich dachte, bevor mir eure Lehrerin diese Zauberstabbewegungen gezeigt hat, daß es für jede Zauberei ein und dieselben Bewegungen gibt. Offenbar gilt da aber auch der Grundsatz, daß viele Wege nach Rom führen."
"Häh?" Machte Claire. Jeanne lachte und erklärte, daß damit gemeint sei, daß es für jede Sache verschiedene Ausführungsmöglichkeiten gebe, wie im alten Rom ja die Hauptstadt mit so vielen anderen Städten verbunden war, daß es egal war, über welche Strecke man dorthin reiste.
"Was die Zauberstabtechniken angeht, so gibt es schon eine gewisse Gesetzmäßigkeit", wandte Madame Delamontagne ein, die aufmerksam zugehört hatte. "Das wichtigste Gesetz lautet, daß alle Komponenten des Zaubers ineinanderfließen müssen. Da ich gesehen habe, wie du Verwandlungszauber praktizierst, verstehst du, was ich meine."
"Hmm, so kann jemand irgendwelche neuen Zauber erfinden, wenn er oder sie sich an dieses Grundgesetz hält?" Fragte Julius, obwohl er sich die Antwort ja denken konnte.
"Natürlich. Wenn er oder sie sich an dieses Basisgesetz hält, kann er oder sie neue Zauber erfinden. Wäre dem nicht so, würde die Zauberei ja keine Fortschritte machen. Es ist hier genauso wie bei der Technik der Muggelwelt. Deshalb verstehe ich nicht, daß die Muggel unsere Arbeit für unwissenschaftlich ansehen. Vieles bedarf einer gründlichen Forschung, bevor es allgemein genutzt werden kann."
"Leuchtet mir natürlich ein, Madame Delamontagne", gestand Julius ein.
Nach dem Essen ging der Ehrengast um den Tisch herum und unterhielt sich mit den übrigen Gästen. Immer rückte jemand einen Stuhl weiter, um ihr einen Sitzplatz zu geben. Claire wurde immer hibbeliger. Julius fühlte irgendwie ähnlich, wie sie, dachte er. Wenn Madame Unittamo sich an ihn wandte, was würde er mit ihr reden. Sollte er ihr erzählen, daß er ein Muggelstämmiger war? Vielleicht war die ältere Dame genauso schlecht auf Nichtzauberer zu sprechen, wie Claires Tante Cassiopeia.
Diszipliniert ließ sich die Tischgesellschaft gefallen, daß Maya Unittamo sich immer mit den beiden gerade bei ihr sitzenden Tischnachbarn unterhielt. Julius fragte sich, ob er der berühmten Hexe einige Fragen stellen sollte, wie das mit der Selbstverwandlung ging und ob sie eine Animaga sei, eine Hexe, die sich aus eigener Kraft in ein Tier verwandeln könne. Er lauschte auf die Gespräche, die die berühmte Hexe führte. Er hörte, wie sie sich über ihre Bücher und ihre Zauberstabtechnik unterhielt. Dabei erfuhr er auch, daß sie offenbar häufig in der nichtmagischen Welt unterwegs war, weil sie dort wichtige Erfahrungen machen wollte. Irgendwann saß sie zwischen Jacques und Barbara. Jacques errötete wieder, weil ihm die Sache mit dem verhexten Lehnstuhl noch nicht ganz aus dem Kopf gegangen war. Er entschuldigte sich noch mal dafür, daß er sich auf sie gesetzt hatte. Sie sagte:
"Du bist mir nicht zu schwer geworden. Aber die Kippelei war nicht so angenehm. Aber ich habe es ja darauf angelegt, daß irgendwer auf mich hereinfällt, Jacques. Du brauchst dich also nicht zu entschuldigen."
"Aber warum ausgerechnet ein Lehnstuhl?" Fragte Jacques.
"Weil ich das lange nicht mehr ausprobiert habe. Außerdem wäre ein Teller oder eine Gabel nicht besonders glücklich gewählt gewesen", erwiderte Maya Unittamo. Dann sah sie zu Claire und Julius hinüber. Claire schien vor Ehrfurcht in den bequemen Stuhl einzusinken, während Julius das unbestimmte Gefühl nicht loswurde, als sei die Hexe aus dem Ausland neugierig auf ihn, müsse sich aber noch zurückhalten.
"Ich habe immer gedacht, daß jemand, der so schwierige Zauberstabbewegungen vorschreibt, sehr ernst drauf ist", wandte Jacques ein und nahm Julius damit eine Frage ab, die er hatte stellen wollen.
"Magie ist eine schwierige, teils umständliche, teils gefährliche Betätigung. Insbesondere Verwandlungen sind nicht gerade einfach. Wer da nicht genau richtig vorgeht, verursacht manche unangenehme Überraschung. Dir sind meine Techniken zu schwer?" Fragte Madame Unittamo Jacques. Dieser nickte, errötete dabei und warf schnell einen Blick zu Madame Faucon hinüber, die ihn genau ansah und sehr streng zurückblickte.
"Ich weiß, daß nicht jeder damit sofort was anfangen kann, selbst wenn er bei einer sehr begabten Lehrerin wie Professeur Faucon lernt. Aber glaube mir, diese Techniken sind die erfolgreichsten, die ich herausfinden konnte. Eure Verwandlungslehrerin hat sie aus den vieren, die es weltweit an den Schulen gibt, herausgesucht, eben weil sie letztendlich erfolgreich sind."
"Barbara schrieb mir, daß die in Hogwarts eine andere Technik benutzen, die zwar an sich schwierig sei, aber mit weniger Bewegungen auskommt", warf Jacques ein. Barbara fühlte sich herausgefordert, dazu was zu sagen:
"Ich schrieb dir aber auch, daß die dort sehr langsam vorankämen. Viele haben es in der Klasse, wo ich drin war, nicht hinbekommen, schnelle Vivo-ad-Vivo-Verwandlungen hinzukriegen, weil der Fluß in den Bewegungen fehlte."
"Na und! Wer will denn schon andauernd wen oder was verwandeln? Ich bin froh, wenn ich das nach Beauxbatons nicht mehr tun muß", knurrte Jacques unbeherrscht. Madame Faucon räusperte sich vernehmlich, Madame Unittamo lachte jedoch herzhaft.
"Noch einer, der lieber nur in dunklen Kämmerchen herumsitzen und Zaubertränke anrühren will. Davon hatte ich in Thorntails genug in den Klassen. Aber die haben das irgendwann alle gelernt, auch ohne strenge Führung."
"Glaube ich nicht", erwiderte Jacques. Dann fragte er: "Wie soll denn das gehen?"
"In dem ich einmal alle Tische in Blumenkübel verwandelt habe. Alle Sitzbänke waren von mir in pieksende Dornenbüsche verwandelt worden. Die Klasse murrte, und ich sagte, daß es jedem überlassen bleibe, sich damit abzufinden oder zu lernen, wie er oder sie sich die bequemsten Sitze und die Schreibpulte zurückzaubern könne. Das hat funktioniert."
"In welcher Klasse war denn das?" Fragte Barbara.
"In den Klassen fünf und sechs", erwiderte Madame Unittamo. Dann sagte sie noch:
"Was Hogwarts angeht, so hörte ich von der dortigen Verwandlungslehrerin, daß einer ihrer jüngeren Schüler wohl doch die bessere, meine Technik erlernt habe und sie auch erfolgreich lernbereiten Mitschülern weitervermitteln konnte. Vielleicht kommt sie ja doch noch von Wendels übervorsichtiger Hantiererei weg."
Julius errötete. Dann hatte Professor McGonagall von ihm erzählt? Oder hatte sie eben nur erzählt, daß ein jüngerer Schüler diese Techniken anwendete? Er hörte noch, wie Maya Unittamo sagte:
"Immerhin hat besagter Schüler damit höherstufige Verwandlungen hinbekommen können. Allerdings führte sie aus, daß da wohl auch ein gerüttelt Maß an Zauberbegabung vorhanden sei. Aber gerade das bedeutet, daß meine Techniken gut erlernt werden müssen, wenn sie erfolgreich angewendet werden sollen."
"Ich hörte und sah es auch", sagte Barbara, jedoch ohne Julius namentlich zu erwähnen. Aber, so fand der Hogwarts-Schüler, er hatte wohl schon durch sein Gesicht gezeigt, daß ihm dieser Schuh wie angegossen paßte.
"Es ist auf jeden Fall nicht verkehrt, Verwandlungen zu können. Vielleicht mußt du dich einmal vor wem verstecken oder irgendwas, was kaputtging, zurückholen. Da kann Verwandlung hilfreich sein", sagte die Besucherin aus dem Ausland.
"Bei allem Respekt, Madame Unittamo, setzen Sie meinem Sohn bitte keinen weiteren Floh ins Ohr", erhob Jacques' Mutter entschiedenen Einspruch. Die Besucherin lachte nur und sah Madame Lumière beruhigend an.
"Keine Sorge, Madame. Es gibt eine einfache Möglichkeit, etwas verwandeltes zu erkennen. Ihr Sohn wird sich also nicht vor Ihnen verstecken können, indem er sich beispielsweise in einen Schnuller Ihrer jüngsten Tochter verwandelt."
"Bloß nicht", wandte Jacques auf diesen Scherz ein und schüttelte sich angewidert. Dann wanderte Madame Unittamo am Tisch entlang weiter und unterhielt sich wenige Minuten mit den erwachsenen Hexen und Zauberern, bis sie bei Claire und Julius angelangt war. Beide standen höflich auf, und Maya Unittamo setzte sich auf Claires Stuhl. Dann bedeutete sie der mittleren Dusoleil-Tochter, sich links neben sie auf den freien Stuhl zu setzen, den ein Fernbewegungszauber von der gegenüberliegenden Tischseite dorthin befördert hatte.
"Hallo, Madame Unittamo", begrüßte Claire überaus schüchtern die Besucherin. Julius nahm flüchtig das erfrischende Parfüm wahr, mit dem sich die offenbar sehr rüstige ältere Dame benetzt hatte. Dann sah er sie mit sicherem Blick an und begrüßte sie auf Französisch, wie es hier am Tisch alle mit ihr gesprochen hatten.
"Hallo, ihr beiden! Ihr seid also die, die dieses Jahr beim Sommerball so gut abgeschnitten haben", erwiderte Maya Unittamo. Dann wandte sie sich an Claire:
"Ich hörte von Madame Faucon, daß du zum zweiten Mal in Folge Klassenbeste in Verwandlung geworden bist. Offenbar macht dir dieses Fach Spaß. Wie kommt das?"
"Ähm, ... ist einfach sehr interessant und ... ist auch sehr vielseitig", erwiderte Claire.
"Achso, und ich dachte schon, es sei einfach", erwiderte Madame Unittamo erheitert. Sie erkundigte sich bei Claire, ob sie durch den Verwandlungsunterricht nicht bei den anderen Fächern Probleme bekommen hätte und erfuhr, daß Claire außer in Zaubertränken und Astronomie keine Probleme habe.
"Zaubertränke haben mich auch nie so sonderlich begeistert. Sicher, ich habe die wichtigsten Heil- und Giftschutztränke gelernt und die Rezepte noch in alten Schulmappen. Aber ich war immer eher für die direkte Zauberei zu haben. Bei euch in Beauxbatons gibt es Freizeitkurse. Machst du da was besonderes?"
"Tanzen, Musik und Malen, Madame", gab Claire unnatürlich schüchtern zur Antwort.
"Malerei? Dann wundert es mich nicht, daß du meine Zauberstabtechniken so gut verinnerlicht hast. Phantasie und räumliches Denken sind ja nicht unwichtig für beides. Welches Musikinstrument spielst du denn?"
"Block- und Querflöte, Madame", erwiderte Claire immer noch verschüchtert. Madame Unittamo lächelte sie an und sagte:
"Du brauchst nicht soviel Angst oder Verlegenheit vor mir zu haben. Ich komme mir ja sonst vor, wie ein Kanadischer Knochenschädel."
"Was ist das?" Fragte Claire nun etwas neugieriger. Maya Unittamo lächelte. Offenbar hatte sie ein Ziel erreicht, Claires Verlegenheit aufzulockern. Sie setzte an, etwas zu sagen, hielt aber inne und wandte sich Julius Andrews zu:
"Weißt du das vielleicht? Immerhin habe ich bis heute keinen Jungzauberer getroffen, der sich nicht mit diesen Tieren beschäftigt hat."
"Öhm, ohne jetzt streberhaft rüberzukommen, Claire, Madame Unittamo", setzte Julius leicht verlegen an, während der Blick der goldbraunen Augen durch die zehneckigen Brillengläser seinen Blick sorgsam festhielt. "Der kanadische Knochenschädel ist ein um die zehn Meter langer Drache mit einem Schuppenkleid, das am Rücken scharlachrot und an der Unterseite schwarzglänzend ist. Sein Kopf besitzt überstehende Wangenknochen, und er hat drei je zwei Meter lange Hörner, eins über jedem Auge und eins auf der Nasenspitze, weshalb er als magischer Verwandter des Dreihornschädels Triceratops bezeichnet wird, einem pflanzenfressenden Dinosaurier, den es nicht mehr gibt. Möchte wer noch mehr darüber wissen?"
"Ja, wieviele Eier legt das Weibchen? Wielange brütet es und was frißt der Knochenschädel?" Griff Madame Unittamo diese Frage von Julius auf. Dieser holte Atem und erzählte, daß das Weibchen pro Gelege zehn Eier haben konnte, die es vier Wochen lang mit eigenem Feuer und Sonnenwärme ausbrütete, daß die Männchen Hirsche und anderes Rotwild und die Weibchen, vor allem die fruchtbaren und brütenden, Schlangen, Vögel und zeitweilig auch unvorsichtige Menschen fraßen.
"Nun, eine Legende will wissen, daß Menschen, die von einem Knochenschädelweibchen gefressen wurden, als deren Junge wiedergeboren werden, sofern sie vor der Eiablage gefressen wurden. Dabei soll es zu einem Geschlechtertausch kommen. Wer vorher männlich war, wird ein Weibchen und umgekehrt."
"Diese Behauptung ist doch schon geprüft worden. Irgendso'n Depp hat das tatsächlich ausprobiert, ob das geht und sich von so einer Knochenschädeldame fressen lassen. Offenbar konnte er aber danach nicht mehr mitteilen, ob die Wiedergeburt geklappt hat", warf Julius schnell ein, der diese Geschichte für ein Märchen unter Zauberern hielt.
"Es sei denn, man kann sich selbst in einen Knochenschädel verwandeln und solche lebensmüden Kandidaten befragen. - Was ich jedoch nicht kann, um dies sogleich klarzustellen", entgegnete Madame Unittamo lächelnd. Dann sagte sie noch zu Claire:
"Auf jeden Fall freue ich mich für Madame Faucon, daß jemand, die ihre Bemühungen versteht, keine Probleme in den anderen Fächern hat." Dann wandte sie sich wieder Julius zu.
"Ich freue mich, einen Gast aus England hier anzutreffen, der es geschafft hat, gegen die in Hogwarts gängigen Lehrmethoden von Emerik Wendel gute Verwandlungszauber zu erlernen und das so gut, daß er sie erfolgreich weitergeben konnte. Du hast im letzten Jahr eine hochstufige Endprüfung ablegen müssen, wie ich auch erfuhr", sagte sie in mit amerikanischem Akzent durchsetztem Englisch. Julius errötete. Also hatte Professor McGonagall doch mehr über ihn erzählt. Dann faßte er sich wieder. Es war doch logisch, daß die gestrenge Lehrerin in Hogwarts das erwähnen würde, wenn sie die Urheberin der von ihm erlernten Zauberstabtechniken sprechen konnte.
"Ich las, daß Sie am 28. Juli in Paris mit Professor McGonagall zusammentreffen würden", erwiderte Julius auf Englisch und wechselte dann mit der Begründung, die hiesige Landessprache sprechen zu wollen, weil das höflicher sei, ins Französische zurück. Er sagte: "Ich wußte nicht, daß Sie diese Zauberstabtechniken, die Kinetologos-Verknüpfungen erfunden haben. Ich dachte, die seien schon wesentlich länger im Gebrauch, und Wendel hätte brauchbarere Techniken erfunden."
"Junger Mann, Wendel hat nichts erfunden. Der krebst nur mit angeblich sichereren Methoden aus dem Mittelalter herum, die er in seinen Büchern didaktisch korrekt sortiert hat. Aber wie du ja selbst festgestellt hast, kann ein Jungzauberer deines Alters schon fortgeschrittenere Verwandlungsübungen hinkriegen, wenn er so talentiert meine Methoden benutzt. Ich weiß, daß du lange bei Professeur Faucon gewohnt hast, wenngleich mir über Art und Umstände keine Einzelheiten berichtet wurden. Da ich sie gut genug kenne, um einzuschätzen, wem sie freiwillig was beibringt und wem nicht, bin ich überzeugt, daß sie genau überlegt hat, ob es sich bei dir lohnt", sagte Maya Unittamo. Dann fragte sie Julius, ob Verwandlung sein Lieblingsfach sei. Er sagte:
"Es ist schon sehr faszinierend und auch anstrengend, Sachen und Tiere zu verwandeln. Aber eigentlich bin ich eher für Kräuterkunde und Zaubertränke zu haben."
"Zaubertränke in Hogwarts? Bei Snape? Das erstaunt mich."
"Sie kennen Professor Snape?" Fragte Julius verdutzt, nun jede selbstauferlegte Gezwungenheit vergessend.
"Ein merkwürdiger Zeitgenosse, humorlos und ehrgeizig. Der paßt zu dem Haus von Hogwarts, das er leitet. Ich hörte über viele unabhängige Kanäle auch, daß er nicht gerade versessen ist, Leuten, die nicht in Slytherin unterkamen, mehr als das notwendige beizubringen."
"Selbst ist der Mann, pflegte mein Vater immer zu sagen. Wer sich für was interessiert, lernt eben auch ohne Lehrer", sagte Julius und nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, daß Jacques ihm zunickte. Madame Unittamo fragte:
"Wenn du gut zaubern kannst, sind deine Eltern bestimmt sehr begabt. Möchtest du mir sagen, was sie beruflich machen."
"Warum nicht", erwiderte Julius und setzte ein schelmisches Grinsen auf. "Mein Vater zaubert aus brodelnden giftigen Brühen weiche und harte Einzelteile für Möbel, Fahrzeuge und Häuser zusammen, und meine Mutter zaubert Methoden, um in großen Firmen und Bibliotheken Unterlagen zu erfassen, zu sortieren und zu vergleichen."
"Wie denn das?" Fragte Madame Unittamo. Julius, der sich noch gut daran erinnerte, nicht unbedingt jedem auf die Nase binden zu sollen, daß er Muggelstämmiger war, umschrieb die Tätigkeit seiner Mutter so, daß sie wichtige Prozeduren für mechanische Nachrichtenverteiler und -bewahrer schuf, erwähnte aber das Wort "Computer" in keinem Satz.
"Ach, sie ist Computerprogrammiererin. Dann ist dein Vater wohl Kunststofffabrikant, womöglich nichtmagischer Alchemist, beziehungsweise Chemiker, wie es bei den Muggeln heißt", Schloß die Verwandlungskünstlerin, wobei sie sich kurz der englischen Sprache bediente und leise sprach, wohl wissend, daß nicht unbedingt jeder wissen wollte, daß Julius Muggelstämmig sei. Dann machte sie ein sehr zufriedenes Gesicht und fügte hinzu: "Aber wahrscheinlich hatte jeder deiner Eltern einen Zauberer oder eine Hexe in der Ahnenlinie. Das erklärt natürlich, weshalb du so gut mit meinen Techniken zaubern kannst. Kann mir vorstellen, daß das alles andere als leicht für dich war, dich in unserer Welt einzuleben. Eltern, die von ihren Berufen her keinen Sinn für Magie haben, sie wohl grundweg ablehnen und du dann mit einem besonders hohen Zaubertalent. Aber da bist du nicht der erste und wirst nicht der letzte sein, dem das passiert."
"Sie wissen, was ein Computer ist?" Fragte Julius leise auf Englisch. Er wußte zwar, daß Barbara, Jeanne und Claire ihn verstanden, aber Jacques und die Lagranges mußten das nicht unbedingt mitbekommen.
"Klar! Ich habe mir gerade vor einem Monat welche angesehen, von außen und innen. Nützlich, schnell und platzsparend, wenn ich bedenke, wie die vor fünfzig Jahren aussahen, wo Menschen noch ohne Selbstverwandlung darin herumspazieren konnten. Mich faszinieren die Muggelsachen, wenngleich ich immer wieder feststellen muß, daß die Muggel nichts besseres zu tun haben, als daraus Waffen zu machen. Was dein Vater macht, wurde am Anfang zu Giftgas, und was deine Mutter macht, geht nur, weil man kleine und schnelle Recheneinheiten für weit fliegende Lenkgeschosse brauchte. Allerdings war es schön auf dem Mond."
"Auf dem Mond? Sie wollen mir doch jetzt nicht erzählen, daß Sie schon auf dem Mond waren", wunderte sich Julius, der glaubte, einem Scherz aufgesessen zu sein. Maya Unittamo nickte und sagte mit ernster Stimme:
"Ich bin damals mit der Apollo XIV dort hingeflogen und habe mich im Schutz eines Unsichtbarkeitszaubers und einer Amniosphäre, einem sehr wirksamen Rundumschutz gegen äußere Angriffe dort umgesehen. Ja, es hat schon was für sich, dort zu forschen. Schade, daß dies nur gelang, weil die Amerikaner sich mit den Sowjetrussen einen Wettlauf um politische Stärke lieferten und nicht friedlich miteinander dort landen wollten."
"Moment mal! Bei jedem Raketenstart wird vorher gecheckt, wie schwer die Rakete ist. Da können Sie unmöglich mitgeflogen sein", wandte Julius ein. Seine Gesprächspartnerin grinste, nicht belustigt, weil sie einen gelungenen Scherz feierte, sondern amüsiert, weil Julius sich so engagiert gegen ihre Behauptungen stellte.
"Eine Fruchtfliege im Proviantraum fällt bei den Computern unter die zu vernachlässigbaren Mindestgrenzen, zumal ja durch den Treibstoff eine Vereisung und damit Zusatzgewicht an der äußeren Hülle berücksichtigt werden müssen. Ich kenne mich schon gut aus, junger Freund. Die gute alte Maya hat in den letzten 80 Jahren eine Menge angestellt, wo viele meinen, es sei Unsinn gewesen. Muggelforschung gehört auch dazu. Aber das mit der Mondreise erzähle ich nur denen, die mich verstehen können und nicht fragen, wie geistesgestört ich wohl wäre."
"Amniosphäre?" Griff Julius ein Wort aus dem kurzen Bericht auf, den seine berühmte Gesprächspartnerin abgeliefert hatte.
"Ein wirksamer Schutzschild aus blasenförmig umschließender Magie, der gegen alle äußeren Schädigungen schützt. Jungfräuliche Hexen und mehrfache Hexenmütter können ihn am besten. Aber Zauberer können ihn auch. Allerdings zehrt ein erfolgreich aufgerufener Zauber pro Sekunde die Kraft für eine Minute auf. Bei besagten Hexen ist es nur eine Viertelminute Kraftverlust pro Sekunde. Damit bin ich für wenige Minuten durch das Vakuum über der Mondoberfläche geschwebt, bevor ich mich in die Landefähre zurückgezogen und mich winzigklein an den Sauerstofftanks mit Atemluft versorgt habe. Kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre bin ich dann disappariert. Die Astronauten haben damals nichts mitbekommen, und die Zaubereiüberwachung hat auch nichts beanstandet, sofern ich das nicht aufschreibe oder sonstwie veröffentliche."
"Ich wäre auch lieber Astronaut geworden", gestand Julius seinen alten Jungentraum ein. "Als ich vor kurzem durch ein sehr gutes Fernrohr sehen konnte, habe ich die russische Raumstation gesehen. Da habe ich mich schon gefragt, ob das alles so richtig war mit der Zauberei."
"Sicher ist das richtig. Wenn du die Begabung hast, mußt du damit umgehen lernen. Egal was andere sagen, die das nicht verstehen. Wenn du die Begabung hast, mußt du es lernen, oder dir rutscht einmal ein Zauber aus."
"Sie sagten vorhin was von vier Möglichkeiten, mit dem Zauberstab zu hantieren", wechselte Julius Thema und Sprache und ging zum Französischen über.
"Richtig. Wendels und meine Technik sind zwei davon. Die anderen beiden kommen aus China und Persien. Allerdings sind sie nur im jahrzehnte langem Unterricht zu erlernen."
"Achso", erwiderte Julius. Dann fragte er neugierig:
"Wielange haben Sie gebraucht, um sich selbst so schnell verwandeln zu können?"
"So um die fünfzehn Jahre. Dann muß ich das natürlich immer wieder üben, um nicht einzurosten", erwiderte Madame Unittamo und wechselte ohne Vorwarnung über einen farbigen Luftwirbel in die Gestalt einer jungen Frau mit blondem Lockenhaar und goldbraunen Augen.
"So sah ich Mitte dreißig einmal aus", sagte Madame Unittamo in der neuen Gestalt. Julius fragte:
"Dann müssen Sie sich an bestimmte Grenzen halten. Sonst könnten Sie sich ja ewig jung halten."
"Stimmt", erwiderte Maya Unittamo, löste sich wieder in einen farbigen Wirbel auf und entstand in ihrer Stammform neu. Darauf sagte sie: "Verjüngung durch Selbstverwandlung zehrt nicht nur Körperkräfte aus, sondern kostet pro Jahrzehnt unter dem eigentlichen Alter Erinnerungen an die Ereignisse nach der Zeit des Alters, in das man sich zurückversetzt hat. Durch die Anzahl der Jahrzehnte teilt man einen Tag und verliert in diesem errechneten Zeitraum die Hälfte aller Erinnerungswerte. Ich habe das glücklicherweise früh genug herausgefunden, weil es mich mal gereizt hat, mich in ein kleines Mädchen zurückzuverwandeln. Merkwürdigerweise geht dieser Verlust aber nur mit einer Selbstverjüngung einher. Werde ich wer oder was anderes, so behalte ich die vollen Erinnerungen bei."
"Sehr interessant", sagte Julius leise. Jeanne meinte schnell:
"Bringen Sie ihn bitte nicht so früh auf solche Gedanken! Ihn faszinieren Verwandlungen genauso wie meine Schwester."
"Ja aber die Vivo-ad-Invivo-Selbstverwandlung oder auch die Animagus-Verwandlung bedürfen eine Menge Zauberkraft und Konzentration", wandte Madame Unittamo ein. Dann nutzte sie die Gelegenheit, sich mit Jeanne zu unterhalten und wechselte mit Julius den Platz.
"Komm nicht auf krumme Ideen, Julius!" Zischte Claire ihm zu. "Deine Versuche bei uns im Ferienunterricht haben mir schon gereicht."
"Wer fragt dich?" Gab Julius frech zurück und fing sich einen sehr bösen Blick der mittleren Dusoleil-Tochter ein.
"Ich", fauchte sie wie eine gereizte Katze. "Ich frage mich das, ob es Sinn macht, mit einem leichtsinnigen Jungen wie dir noch was zu tun haben zu wollen."
"In ungefähr drei Wochen muß ich sowieso wieder fort. Ich darf ja nur diese Sommerferien bei euch wohnen, wegen des Unterrichts und alles", versetzte Julius und erkannte sogleich, daß er hier wohl etwas zu weit gegangen war. Denn Claire sah ihn nicht nur verärgert, sondern auch gekränkt an. Deshalb rang er nach Worten, die einerseits nicht so rüberkamen, als sei er ein Schwächling, der sich von den Blicken eines Mädchens von seinem Weg abbringen ließ, aber auch versöhnlich klangen.
"Heh, Claire, ich habe mir das nicht ausgesucht", war das einzige, was ihm einfiel. Claire zog ihn kurz an sich und flüsterte:
"Ich fand es bisher schön, wie wir beide uns verstanden. Mach das bitte nicht kaputt!"
"Ich wollte dir nicht weh tun, Claire. Wenn das passiert sein sollte, hoffe ich, daß du mir das verzeihen kannst", flüsterte Julius, der gegen einen dicken Kloß in seinem Hals ankämpfen mußte. Er hörte Monsieur Dusoleils mahnenden Worte in seinem Bewußtsein:
"... Sollte sie wirklich was richtiges mit dir anfangen wollen, und du ihr ernsthaft signalisiert haben, daß du dem nicht abgeneigt bist, tu ihr bloß nicht weh! Dies nur als väterliche Mahnung, falls sich etwas zwischen dir und ihr entwickeln sollte ..."
"Ich verzeihe dir das noch mal, Julius. Ich weiß, daß Jungen gerne Stärke beweisen wollen, weil sie anerkannt werden wollen. Solange du dich mit mir verstehen willst, werde ich dir schon helfen, keinen Streit mit mir zu kriegen, solange du Rücksicht auf mich nimmst."
Julius fragte sich, ob das eine Andeutung Claires war, daß sie wahrhaftig mehr für ihn empfand, als er sich eingestehen konnte. Doch im Moment wollte er nicht weiter darüber nachdenken. Die Besucherin unterhielt sich mit Jeanne über das trimagische Turnier und erfuhr durch Andeutungen Jeannes, daß der dunkle Lord wiedergekehrt war. Darauf sagte sie:
"Ein Paradebeispiel dafür, wie leicht man sich in falsche Sicherheiten wiegen kann. Allerdings haben wir in den Staaten eine wirksame Kontrolle über seine Leute. Immerhin leben bei uns viele Afroamerikanische Magier, die mehr können, als wir von der hermetischen Zauberkunst. Die stehen sich nicht gut mit einem, der einem Rassenwahn verfallen ist. Außerdem haben wir die vom Laveau-Institut."
"Kannten Sie Marie Laveau, die alte Voodoo-Königin eigentlich?" Fragte Jeanne. Julius hörte sehr aufmerksam zu.
"Nicht persönlich. Aber ich hörte von ihrem Treiben. Mit den Muggeln spielte sie gerne herum. Sie beherrschte viele dunkle Zauber. Aber sie war nicht grundsätzlich böse, sondern nur auf Respekt aus."
"Ich habe vor etwas mehr als anderthalb Wochen eine Mitarbeiterin dieses Institutes getroffen. Die hat mir kurz berichtet, daß sie noch Kontakt zu Maries Geist haben sollen und ihr magisches Vermächtnis, dunkle Machthaber in die Schranken zu weisen, erfüllen müßten. Die haben sehr harte Aufnahmebedingungen im Institut, letztendlich, weil Marie Laveaus Geist prüft, wer geeignet ist und wer nicht. Dann gibt es ja noch etliche Nachfahren von ihr."
"Ja, das ist richtig", erwiderte Maya Unittamo. Dann fragte sie Jeanne:
"Was hat die gute Jane denn noch so erzählt?"
"Woher wissen Sie?" Wunderte sich Jeanne.
"Das Mädchen hat mich vor einer halben Woche, kurz vor meiner Abreise besucht. Wir wohnen ja nebeneinander, wenn wir nicht gerade in der Weltgeschichte herumreisen. Sie hat mir erzählt, daß sie auf dem Kontinent war, um mit ihrer Enkelin und deren Klassenkameradin, einem hübschen blondgezopftem Mädchen, derer beiden Klassenkameraden zu besuchen. Insofern habe ich nur zwei und zwei zusammengezählt."
"Die ist gut", dachte Julius anerkennend. Er fragte sich, ob seine Großeltern und -onkels und -tanten nicht auch so geistig fit bleiben konnten, wenn sie es richtig angestellt hätten oder so alt geworden wären, wie Maya Unittamo. Dann fiel ihm wieder ein, daß Zauberer und Hexen an die hundertundfünfzig Jahre alt werden konnten. Über neunzig war da wohl gerade so gut, wie über Vierzig bei einem Muggel.
Irgendwann ging Maya Unittamo, nachdem sie sich mit Jeanne über fortgeschrittene Verwandlungen ausgetauscht hatte, zu den Dusoleils. Jeanne wandte sich an Claire und Julius, als sie ihre Eltern mit der Verwandlungslehrerin sprechen hörte.
"Die Welt ist kleiner als man glaubt. Wußtest du das, daß Glorias Oma und Maya Unittamo zusammen in New Orleans wohnen, Julius?"
"Die ehrwürdige Hexe hat mir nur von ihrer Bekanntschaft mit "Bläänch" erzählt", erwiderte Julius frech und fing sich einen tadelnden Blick und ein vernehmliches Räuspern der Beauxbatons-Lehrerin ein, die wohl mal wieder was hatte hören können, was sie eigentlich nicht hören sollte.
"Da steht mir aber noch was bevor, wenn ich das eben richtig mitbekommen habe", sagte Julius, um keine Verlegenheit aufkommen zu lassen. Jeanne lächelte und erwiderte:
"Das kriegst du hin, Julius. Auch mit den Wendel-Techniken müßtest du das gut schaffen können, falls Madame Faucon dir nicht irgendwann unsere Verwandlungstechniken weiter beibringt, ob hier oder in Beauxbatons."
"Ua, bloß nicht in Beauxbatons", gab Julius sehr leise zurück. "Der eine Nachmittag war schon genug."
"Wieso? Barbara hat dich doch gut unterhalten", gab Jeanne keck zur Antwort und zeigte ein schalkhaftes Schulmädchengrinsen.
"Was sie ja nur getan hat, weil man es ihr befohlen hat, Jeanne. Immerhin wollte man mich ja nicht wie im Regen herumstehen lassen", wandte Julius ein.
"Weil es eben so verzwickt mit den Korridoren und Treppen ist. Ich habe ja auch lange gebraucht, bis ich in Hogwarts mit den ganzen Zeitversetztgängen und Tricktreppen zu Rande kam. Das hättest du an einem Nachmittag nicht geschafft, rechtzeitig in den Speisesaal zu gelangen."
"Ist was dran", gestand Julius ein. Claire meinte:
"Keiner wird dort hängengelassen, der es nicht darauf anlegt, Julius. Unsere Schulordnung ist zwar hart, aber gut zu verkraften, wenn man es nicht darauf anlegt, sich mit anderen anzulegen. Bisher habe ich nicht den Eindruck, daß du zu unbeholfen bist, dich mit neuen Regeln zu arrangieren."
"Kommt darauf an, was davon abhängt oder hinten rauskommt", schränkte Julius ein. Claire sagte dazu nur:
"Eine richtig gute Zaubereiausbildung, gute Freunde, eine sichere Zukunft, ein sorgenarmes Leben."
"Stimmt das oder ist das nur der Leitspruch, den alle andauernd wiederholen müssen?" Fragte Julius Jeanne, während Claire ihm einen leichten Klaps auf den Rücken versetzte.
"Doch, das stimmt schon, Julius. Kuck mal! Hier in Millemerveilles leben alle in einer erweiterten Familiengemeinschaft, weil jeder gelernt hat, sich zu benehmen, mit anderen gut auszukommen und trotzdem den Spaß am Leben nicht zu verlieren. Beste Beispiele sind meine Mutter und meine mittlere Schwester, sowie Seraphine, Barbara und Bruno. Du wärest hier bestimmt nicht beachtet worden, wenn du nicht gezeigt hättest, daß du dich benehmen und auf deine Umwelt einstellen kannst und das tust, was von dir erwartet wird. Wir sind zwar nur zu acht im Ferienkurs bei Madame Faucon, aber alle anderen wissen, daß wir nicht ohne Grund dort lernen und das auch richtig lernen. Das schafft Anerkennung."
"Ich hörte aber oft von Fällen, daß Leute, die in ihrer Kinderzeit in einer strengen Schule waren, gewisse Verhaltensschäden abgekriegt haben und später im Leben immer versuchen, andere unterzubuttern, um die eigene Schwäche zu verstecken. Ich bin meinen Eltern für sehr vieles dankbar. Aber bei meinem Vater merke ich oft, daß er in Eton, einer Oberschule für Muggel, ziemlich heftig drangsaliert wurde. Ich möchte nicht so werden wie er, der alles ablehnt, was sein bisheriges Denken in Frage stellt."
"Das passiert dir nicht, wenn du immer weißt, was du bist und was du tust und dich nicht nur auf das einläßt, was andere für dich geplant haben oder für wichtig halten. Es ist bedauerlich, daß dein Vater nicht so vernünftig ist, wie deine Mutter. Meine Eltern, bestimmt auch Madame Porter und Mademoiselle Dawn, hätten sich gerne mit ihm unterhalten. Aber wer nicht will der hat schon", sagte Jeanne nun sehr ernst, ja fast altklug klingend.
"Wir hätten auf jeden Fall keine Probleme mit dir, wenn du zu uns kämst", mußte Claire dem noch hinzufügen. Dann fragte sie leise:
"Glaubst du uns nicht?"
"Ich denke eher, das geht um Vertrauen und Mißtrauen. Wenn du mich so fragst, so möchte ich euch gerne trauen. Mir gefiel nur die kalte Atmosphäre in Beauxbatons nicht. Das kam mir vor, wie in einem Militärcamp. Kann sein, daß Eton nicht anders ist. Aber das werde ich ja nun nicht mehr herausfinden."
Madame Faucon, die zusammen mit Madame Delamontagne zugehört hatte, was die Jugendlichen ihnen gegenüber besprachen, winkte Julius, zu ihnen zu kommen. Der Hogwarts-Schüler befürchtete schon, nun einen Höllenanpfiff zu kassieren, weil er sich so unbedacht abwertend über Beauxbatons geäußert hatte. Seiner Auffassung nach wurden dort alle darauf eingeschworen, nichts auf ihre Schule kommen zu lassen und sahen es wohl als persönliche Beleidigung an, wenn jemand fremdes sich abschätzig darüber ausließ. Julius zögerte jedoch nicht, sein Schicksal anzunehmen und ging hinüber zu den beiden älteren Hexen.
"Setz dich zwischen uns!" Forderte Madame Faucon Julius ruhig und ohne unheilverkündenden Unterton in der Stimme auf. Julius gehorchte und nahm auf einem freigeräumten Stuhl zwischen Madame Faucon und Madame Delamontagne platz, sodaß er schräg gegenüber von sich Maya Unittamo mit den Eheleuten Dusoleil sprechen sehen konnte.
"Die Tatsache, daß du dir gedanken über deine weitere Zukunft machst", begann Madame Faucon, "beweist mehr als irgendwelche Reden aus zweiter Hand, daß du überall zurechtkommen wirst, wenn du lernst, dich an Vorgaben zu halten. Ich fürchte, du hast einen etwas zu negativen Eindruck von Beauxbatons bekommen, als du bei uns warst. Offenbar mißfällt dir die Gruppenkontrolle, die wir ausüben müssen. Jetzt frage ich dich ganz ruhig und nicht als Lehrerin, sondern als an dir interessierte Hexe: Ist das in Hogwarts wirklich viel anders?"
"Muß ich darauf antworten?" Fragte Julius vorsichtig.
"Mich würde es vielleicht dazu anregen, übersehene Faktoren zu würdigen", erwiderte Madame Faucon.
"Ich hatte den Eindruck, wobei ich gerne zugebe, daß ein Nachmittag nicht ausreicht, daß in Beauxbatons keiner eine eigene Freiheit hat. Alles ist dort vorbestimmt: Wo man hinkommt, was man lernt, was man in der Freizeit tut und daß eine von oben beschlossene Grundordnung zwischen den Schülern gilt. In Hogwarts wird man zwar auch gewissen Gruppen zugeteilt, was wohl auch funktioniert, und dort ist man auch streng, wenn es um Disziplin geht. Aber wir müssen nicht immer in geordneten Reihen in den großen Saal einmarschieren, vor dem Schulleiter strammstehen oder vorgeschriebene Tischrituale einhalten. Das kenne ich nur aus Berichten über Lager für Soldaten. Da geht es darum, jeden erst einmal kleinzukriegen, damit er brav und ordentlich tut, was von ihm verlangt wird. Irgendwie ging mir dieses Bild in Beauxbatons nicht aus dem Kopf."
"Zum Teil stimmt es auch. Wer zu uns kommt, muß erst lernen, sich unterzuordnen. Du selbst hast oft bewiesen, wie ungebändigt Zauberei in den Händen von verantwortungslosen Leuten ist, gerade dadurch, daß du immer auf Rücksicht und Mitverantwortung ausgingst. Das beurteile ich nicht nur, weil du bei mir in der Ferienklasse bist, sondern auch aus den Berichten, die meine Kollegin McGonagall auf meine Anfragen verfaßt hat. Immerhin hast du anderen Mitschülern, unter anderem den Hollingsworth-Schwestern, die Unittamo-Techniken beigebracht, um ihnen zu helfen, voranzukommen. Die mußten das nicht lernen oder anwenden. Du mußtest es ihnen nicht beibringen. Du hättest damit gut allein klarkommen können. Aber du hast Kameradschaftsgeist, wie er bei euch die Hufflepuffs auszeichnet, Lernvermögen, weshalb du in Ravenclaw wohnst, aber auch Charakterstärke. Ich hörte von diesem Vorfall mit diesem fehlgeleiteten Schüler aus Slytherin, der meinte, dich mit Gewalt einschüchtern zu können. Nun habe ich mit deiner Mutter lange und sehr umfassend sprechen können und ihr auch eröffnet, daß ich ständig über dich ins Bild gesetzt werde. Sie verstand mein Interesse so, daß ich natürlich wegen Catherine an deinem Werdegang Anteil nehmen möchte. Hinzu kommt noch, daß du dich anders als jener Muggelstämmige, von dem mir die Directrice berichtete, vernünftig mit allem auseinandersetzt, ohne wie einer dieser Muggelautomaten zu funktionieren. Du fragst dich jetzt sicherlich, wieso ich diese unwahrscheinliche Vorstellung, dich in Beauxbatons zu haben äußere, wo doch geregelt ist, daß du weiterhin in Hogwarts lernst."
"Stimmt, ich frage mich wirklich, weshalb viele meinen, ich würde dort hingehen", gab Julius zu.
"Weil ich der Meinung bin, daß du in Hogwarts nicht ausreichend gefördert wirst", versetzte Madame Faucon ansatzlos. Julius, der damit gerechnet hatte, sie würde ihm einen erzählen, daß sie eben wegen Catherine und wegen seinen Eltern Ideen hätte, ihn nach Beauxbatons zu holen, schluckte. Wieso sollte er nicht ausreichend gefördert werden? Niemand außer ihm hatte im letzten Schuljahr Zusatzaufgaben bewältigen, extrahohe Prüfungen bestehen und sich immer in Bestform halten müssen, von Verteidigung gegen die dunklen Künste abgesehen, was sich im Nachhinein als klug erwiesen hatte. Kevin Malone, sein bester Freund in Hogwarts, hatte Punkte wegen ihm verpulvert, weil er das für zu viel hielt, was Julius machen mußte. Gloria, die damals einzige, die wußte, was Julius in den Ferien erlebt hatte, wunderte sich auch, weshalb man ihn härter rannahm. Daß er überhaupt noch frei atmen konnte, lag wohl nur daran, daß er alles so gründlich lernen konnte. Wenn jetzt noch Quidditch gespielt worden wäre, hätte er wohl auch keine Freizeit mehr gehabt. Wieso kam Madame Faucon darauf, er würde nicht ausreichend gefördert? Diese Frage drängte danach, gestellt zu werden, und so traute sich Julius, sie laut auszusprechen. Madame Faucon nickte, weil sie mit dieser Reaktion gerechnet hatte:
"Nun, du wurdest im letzten Jahr sehr viel stärker gefordert, als im Jahr vorher, als deine restlichen Klassenkameraden. Das hat dir einen Lernvorsprung gegeben, den andere wohl erst in einem Jahr erreichen können. Das schafft Verwunderung und auch Neid. Das wird dich auf Dauer bremsen und einschränken. Minerva berichtete mir, daß es ein Jahr gedauert habe, dich davon zu überzeugen, zu zeigen, was du kannst und führte es unter anderem auf meinen Einfluß zurück. Dieser Einfluß besteht ja nach wie vor, wie du über das letzte Jahr gemerkt hast. Allerdings wirst du dich wohl oder übel schwer tun, alles zu rechtfertigen, was man dir aufbürdet, du wirst das Schicksal eines Sonderlings, vielleicht eines übereifrigen Schülers erleiden. Deine Hauskameraden werden zwar verstehen, daß du deinen Begabungen entsprechend gefördert werden mußt, aber die Hufflepuffs, Gryffindors und Slytherins werden großes Ungemach empfinden, wenn ein Muggelstämmiger Sonderaufgaben bekommt, selbst, wenn er sie nicht erbeten hat. Muggelstämmige aus Hufflepuff, GRyffindor und wenn Vorhanden auch Slytherin werden darauf ausgehen, ebenfalls gefördert zu werden, die gesamte Schulordnung umzustrukturieren. Jetzt versteh mich bitte nicht so, daß ich dich als Störfaktor für die Ordnung in Hogwarts ansehe. Im Zweifelsfall wird nämlich eher davon abgesehen, dich weiterhin deinen Begabungen entsprechend auszubilden. Natur und Gesellschaft wählen immer den energieärmsten Weg, eine schwierige Situation zu bewältigen. Da ich weiß, was du kannst, was du bereits unternommen hast und wozu du fähig bist, wenn dir genug Mittel an die Hand gegeben werden, habe ich mir schon vorgestellt, daß du bei uns durchaus besser untergebracht wärest, da wir immer nach den Höchstleistungen der einzelnen Schüler Ausschau halten und Talente individuell, also auf jeden einzelnen bezogen fördern. Jeanne, Claire und Virginie sind sehr gute Beispiele dafür, daß wir derartig vorgehen. Natürlich bedeutet das nicht, daß jeder Schüler nur seine Lieblingsfächer, in denen er einfach und sehr gut mitkommt, mit guten Noten abschließen und alles andere unter den Tisch fallen lassen kann. Aber Begabungen, welcher Art auch immer, werden nicht dem Zwang der Allgemeinheit unterworfen, wenngleich die hierarchische Struktur sehr strickt ist."
"Wie gesagt, ich hätte wohl Probleme, mich ohne wenn und aber unterzuordnen", gestand Julius ein, der diese Ansprache erst einmal verdauen mußte, was bestimmt nicht in wenigen Minuten klappte.
"Das hast du schon getan, als du uns besucht hast", erinnerte ihn die Verwandlungslehrerin daran, wie er von Barbara geführt vor sie hingetreten war und auch, wie er sich ohne Mucken der Ausstiegsrangfolge aus der Beauxbatons-Kutsche eingefügt hatte. Julius sagte nur:
"Das liegt nicht bei mir. Ich komme in Hogwarts gut klar, habe Freunde da und fühle mich dort wie zu Hause, nachdem meine Eltern ja alles versucht haben, mich von dort wegzuhalten. Ich bin nur Schüler. Wenn Sie oder die Ministerien von Frankreich oder England es darauf anlegen, mich umzuschulen, kann ich nichts machen. Ich habe erkannt, daß ich nur in einer Zaubererschule das lernen kann, was mir hilft, mit meinen Grundkräften zurechtzukommen."
"Gut, es ging mir nicht darum, dich zu überreden, sondern ins Bild zu setzen, wie ich deine Zukunft sehe. Selbstverständlich wirst du auch in Hogwarts gut ausgebildet und bestimmt einen vorzüglichen Abschluß schaffen. Ich merkte nur an, daß ich die dortigen Möglichkeiten für unzureichend halte, um eine wirklich wertvolle Ausbildung für dich zu gewährleisten", sagte Madame Faucon. Julius nickte und wollte schon aufstehen. Madame Delamontagne legte ihm die Hand auf den linken Arm und gebot ihm ohne Worte, sitzenzubleiben.
"Bevor du wieder zu deinen Gastschwestern zurückgehst möchte ich dir auch noch etwas mit auf den Weg geben", begann sie halblaut, und Julius' Nackenhaare stellten sich auf, als bestünde der Kampf mit einem gefährlichen Ungeheuer bevor.
"Als ich deine Mutter bei mir beherbergte, habe ich auch mit ihr gesprochen, lang und ausführlich. Sie sagte, daß sie dich sehr liebt und möchte, daß du alles erlernst, was dir angeboten wird, sofern du den verantwortungsvollen Umgang damit lernst. Nun hörte ich vor einer halben Stunde, bevor Madame Unittamo die Runde begann, daß du in Hogwarts Nachstellungen ausgesetzt bist. Nachstellungen provozieren Mißtrauen, Feindschaft und Gewalt. Ich habe dich menschlich erlebt und auch gesehen, wie gut du zaubern kannst. Ich will nicht haben, daß du dich zu dunklen Taten hinreißen läßt, nur weil du es von fehlgesteuerten Mitschülern so lernst. Dafür bist du nicht hier, und wenn die Gefahr besteht, daß du nach deiner Rückkehr auf Grund von reiner Verzweiflung auf die schiefe Bahn geraten kannst, werde ich mir sehr gut überlegen, ob ich dich nach England zurückschicke. Deine Mutter hat von uns nicht erfahren, daß der dunkle Lord wieder da ist. Ihr zu erklären, welche Gräuel und Schrecken er verbreitet hat und wohl wieder verbreitet, hätte sie wohl auch mit ihrer umfangreichen Auffassungsgabe nicht verstanden. Falls jedoch durch die Umtriebe des Unnennbaren böses Blut in diesem Haus Slytherin entfacht wird, müssen wir darauf reagieren. Du bist mir genauso wichtig, wie du es für Blanche bist, eben weil ich vor einem Jahr und in diesem Jahr viel Eigenverantwortung für dich übernommen habe. Die Reaktion von Madame Odin an Claire Dusoleils Geburtstag hat mir auf erschreckende Weise verdeutlicht, wie schnell sich jemand, der bis dato harmlos und umgänglich war, durch Angst zum Haß verführen lassen kann. Wie gesagt: Ich will nicht haben, daß du so wirst, wie diese bedauernswerte Hexe. Jetzt komm mir bloß nicht mit der frechen Bemerkung, daß deine Herkunft das unmöglich macht. Die Existenz des Unnennbaren führt das bereits ad Absurdum."
"Vor denen können Sie mich nicht dauernd schützen, Madame. Ich habe zwar gehört, daß in Beauxbatons keine direkten Anhänger von ihm herumlaufen, aber irgendwie kann ich ja nicht ständig unter einer Käseglocke leben, wie es Madame Odin zugegebenermaßen zu recht gesagt hat. Außerdem können Sie mir nicht verbieten, nach England zurückzukehren, wenn Mrs. Priestley keinen Grund sieht, mich nicht zurückkehren zu lassen", wagte der Hogwarts-Schüler einen Einwand. Madame Delamontagne legte ihm die rechte Hand auf seine Linke und drückte sie kräftig, wenn auch nicht schmerzhaft.
"Du unterschätzt mich. Das wundert mich zwar, aber ich muß es erkennen. Du bist hier in den Ferien nur deshalb untergekommen, weil ich als für Gesellschaftsbelange verantwortliche Rätin von Millemerveilles darauf bestanden habe, dir hier eine Unterbringung zu gewähren. Camille und Blanche boten sich bedingungslos an, dich hier aufzunehmen. Hätten sie dies nicht getan, hätte ich dich persönlich von Hogwarts abgeholt und bis auf weiteres bei mir einquartiert.
Deine Mutter kam nach Millemerveilles, weil Blanche und ich befunden haben, daß wir diesen Schritt tun müssen, um sicherzustellen, daß dein familiäres Umfeld sich wieder bereinigt. Wenn ich Bedenken angemeldet hätte, wäre deine Mutter in Unkenntnis über Catherine und Blanche belassen worden. Immerhin kam Catherine ja zu mir, um mir den Vorschlag zu machen. Ich hätte also genug Zeit gehabt, Einspruch einzulegen. Der Begriff Veto sagt dir hoffentlich schon was." Julius nickte bejahend und harrte der weiteren Worte mit Unbehagen.
"Letztendlich entscheide ich auch, ob und wann du wohin abreist. Wenn ich dich für gefährdet halte, gefährdet, nicht gefährlich, verläßt du Millemerveilles nicht mehr, es sei denn in eine nach meinem Dafürhalten unbedenkliche Umgebung. Ich bin mir sicher, daß Monsieur Pierre, sowie Madame Grandchapeau mir ohne große Bedenken beipflichten und über deine Zukunft so befinden werden, wie ich es vorschlage.
Mit deiner Mutter kämen Blanche und ich, sowie Madame Grandchapeau ohne Schwierigkeiten ins Reine. Es bestünde sogar die Möglichkeit, daß wir ein Pflegschaftsabkommen aushandeln, in dem ich Madame Priestleys Fürsorgeauftrag für dich übernehme und du de Jure, also rechtskräftig, sowie de Facto, also tatsächlich, mein Pflegesohn würdest. Soviel zu meiner Kompetenz."
"Gut, das ist angekommen. Eine akademische Frage zum Schluß noch, Madame: Was passiert, wenn ich ohne Ihre Bedenken nach Hogwarts zurückfahre, dort tatsächlich erst von den Slytherins zum schwarzen Magier umgepolt werde, außerhalb Ihres Einflußbereiches. Was läuft dann?" Wagte sich Julius vor.
"Dann landest du entweder in Askaban oder wieder hier, und du hast gesehen, wie wenig Skrupel ich habe, mit widerspenstigen jungen Burschen zu verfahren, als wir in Paris waren."
Julius verstand dies als eine ernstzunehmende Drohung. Denn er konnte sich zu gut daran erinnern, wie Madame Delamontagne Adrian Colbert mal soeben auf Schachfigurengröße eingeschrumpft hatte, weil er ihre Schachleidenschaft verächtlich geredet hatte. Deshalb sagte er nur:
"Das ist auch angekommen, Madame. War ja auch nur eine akademische Frage."
"Hypothetisch, Julius. Wenn etwas möglich, ja wahrscheinlich ist, ist es eine hypothetische Frage", berichtigte ihn Madame Faucon lehrerinnenhaft. Julius schluckte diese Maßregelung hinunter und wartete, ob man ihn nun an seinen Platz zurückkehren lassen würde.
"Du darfst nun zu deinen Gastschwestern zurück", entließ ihn Madame Delamontagne. Julius stand ohne Hast auf, obwohl es ihn drängte, so schnell wie möglich von den beiden machtbewußten Hexen fortzugelangen. Mit ruhigem Schritt kehrte er zu seinem Stuhl zurück und ließ sich wortlos nieder. Er sah, wie Jacques sich gerade von seiner Mutter maßregeln ließ. Wofür, hatte er nicht mitbekommen. Maya Unittamo saß derweil wieder bei Monsieur Lumière und schrieb Autogramme. Claire sah das wohl auch und stand wortlos auf, um sich ebenfalls eins zu besorgen.
"Jacques hat Seraphines Kleid mit einer Zauberfarbe besudelt, weil Madame Lumière Madame Lagrange gelobt hat, daß ihre Töchter so gut gekleidet seien. Der hat so eine Spritzvorrichtung dabeigehabt, um ... Hey, du Schmierfink!" Julius sah, wie Jacques wie beiläufig eine Art Wasserpistole unter dem Tisch ausgerichtet hatte, während er von seiner Mutter ausgeschimpft wurde und mal soeben auf Claires Umhangsaum schoß. Eine quietschgrüne, schleimig wirkende Lösung sprühte dem Mädchen direkt gegen Saum und linkes Bein. Dann erst hatte Barbara die Sprühpistole zu fassen bekommen und ihrem Bruder entwunden.
"Iii!" Rief Claire, als sie merkte, daß sie besudelt worden war. Ihre Mutter sprang sogleich auf und eilte zu ihr.
"Claire, nicht anfassen. Das ist Geisterglibberfarbe, die dringt in die Haut ein und macht, daß du am ganzen Körper in dieser Farbe leuchtest. Dieser ungehobelte Bengel!" Rief Claires Mutter, während Jacques von Barbara in einer Art Polizeigriff abgeführt wurde. Maya Unittamo sah das und sagte:
"Junge Dame, nicht so grob. Dein Bruder mag wohl keine roten Sachen, wie. Gut, daß er mich nicht angesprüht hat. Das Kleid ist erst gestern fertig geworden. Aber ich sehe ein, daß Strafe sein muß."
Die Verwandlungslehrerin zog ohne Warnung ihren Zauberstab, schwang ihn gegen Jacques und vollführte eine schnelle Abfolge von Bewegungen. Unvermittelt entglitt Jacques dem Zugriff seiner Schwester. Madame Faucon rief noch: "Nicht das, Madame!" Doch da war es auch schon passiert. Jacques Umrisse verschwammen und machten platz für einen großen, hölzernen Waschbottich. Alle starrten auf diesen Waschbottich. Dann ergoß sich wie aus heiterem Himmel Wasser in den Bottich, der dann von Fernlenkzaubern angehoben und zum Terasseneingang getragen wurde. Maya winkte Claire und Seraphine, ihr zu folgen. Madame Faucon sah ihr mit einer Mischung aus Ungemach aber auch uneingestehbarer Zustimmung nach. Alle schwiegen.
"Wahrscheinlich wird sie die Klamotten drinnen waschen, in Jacques, dem Waschbottich", raunte Julius Jeanne zu. Diese nickte.
"Das wird mindestens eine Viertelstunde dauern, wenn sie mit Purifixil-Waschlauge gegen magische Verunreinigungen arbeitet. Bin ja gespannt, wie Jacques danach ausschaut."
"Wie vorher auch, mit allen Wassern gewaschen", spottete Julius, obwohl es ihm etwas unbehaglich zu Mute war, wieder eine Hexe eine Verwandlung an einem Menschen vollführen zu sehen. Jeanne lachte jedoch erheitert, nicht gekünstelt. Dann flüsterte sie ihrem Gastbruder zu:
"Wir beide wissen ja, daß man was fühlt."
"So ist es, werte Gastschwester", flüsterte Julius zurück, dem das unfreiwillige Zwischenspiel Jacques Gelegenheit gegeben hatte, von den bedrückenden Gedanken wegzukommen, die Madame Faucon und Madame Delamontagne in ihm ausgelöst hatten. Doch unvermittelt waren sie wieder da, gerade weil er wieder gesehen hatte, wie leicht eine mächtige Hexe einen frechen Bengel verzaubern konnte. Lag den beiden ehrwürdigen und Machtbewußten Hexen daran, ihn unter ihrer ständigen Obhut zu halten. Mußte er sich bald fragen, ob er hier Gast oder Gefangener in Schutzhaft war? Im Moment wollte er das nicht durchdenken. Aber irgendwann mußte er sich damit beschäftigen. Spätestens in zweieinhalb Wochen, wenn er wieder abreisen sollte. Doch war das dann nicht vielleicht zu spät? Nein! Jetzt wollte er nicht darüber nachdenken.
Eine Viertelstunde später kehrten Madame Unittamo, Seraphine, Claire und Jacques - in seiner menschlichen Ursprungsgestalt - wieder zurück. Jacques wirkte mitgenommen und bedrückt. Offenbar war das Erlebte etwas viel für ihn gewesen.
"Vielen Dank, Jacques, daß du uns beim Waschen geholfen hast", sagte Madame Unittamo. Jacques wagte keine Erwiderung und lief, ja flüchtete in die Nähe seiner Schwester, die er wohl als das kleinere Übel ansah. Barbara nahm ihn beim Arm und führte ihn ins Haus zurück.
"Gut, daß Madame Unittamo einen Trank gegen hautfarbenverändernde Lösungen mithat", sagte Claire und warf sich locker neben Julius auf ihren Stuhl. "Meine Haut hat schon grün geleuchtet, als wir durch die Tür gingen. Grün steht mir nunmal nicht."
"Zum passenden Kleid wäre das doch sicher schick gewesen", sagte Julius. Claire zwickte ihn ungeniert in die Nase, was Madame Faucon zum Räuspern brachte. Dann holte Claire drei Pergamentzettel hervor.
"Obwohl du mir immer so frech kommst, Julius, habe ich von ihr eins für dich mitgeben lassen. Obwohl du gerne die große Schwester raushängen läßt, Jeanne, habe ich dir auch eins mitgeben lassen", sagte die mittlere Dusoleil-Tochter und reichte Julius und Jeanne je einen Zettel. Julius las den in fester, jedoch unverkennbar weiblicher Handschrift mit goldener Glitzertinte verfaßten Namen Maya Unittamo.
Julius schluckte eine Bemerkung wie, ob er dafür vier Pamela Lighthouses oder zehn Victor Krums bekommen würde hinunter und bedankte sich artig bei seiner mittleren Gastschwester. Jeanne bedankte sich auch.
"Das ist das schöne an Geschwistern", sagte sie, "obwohl sie sich oft ärgern, vergessen sie einander nicht."
"Kein Kommentar", sagte Julius. Jeanne lachte. Auch Claire lachte. Dann sagte sie:
"Zurzeit bist du genauso mein Bruder, wie für Jeanne oder Denise. Allerdings habe ich nicht überhören können, daß Madame Delamontagne dich gerne als Bruder Virginies haben möchte."
"Mademoiselle, geben Sie acht auf Ihre Worte!" Warnte Madame Delamontagne Claire. Diese schien jedoch nicht davon beeindruckt zu sein, ja sich wohl eher zu freuen, daß Julius wahrscheinlich in ihrer Nähe bleiben mußte, glaubte der Gast aus England an ihrem Gesicht ablesen zu können.
Der Abend klang noch gemütlich aus. Die erwacsenen tranken Kaffee, die Kinder tranken heiße Schokolade. Kerzen standen auf dem Tisch und gaben der abendlichen Tischgesellschaft eine feierliche Atmosphäre. Maya Unittamo kam noch mal zu Julius herüber und ließ sich von ihm berichten, wie die neuen Computer funktionierten. Im Gegenzug erfuhr er von ihr, daß es eine Abkürzung bei der Tier-zu-Tier-Verwandlung gab, die in ihren Lehrbüchern zwar erwähnt, aber nicht häufig gelehrt wurde. Sie ließ sich von ihm erzählen, was in Hogwarts so los war und hörte sich von Claire und Jeanne an, wie sie Beauxbatons fanden. Julius meinte schließlich:
"Ich hoffe mal, ich komme mit den Wendel-Techniken weiter, wenn ich an dem Punkt bin, wo ich nichts mehr weiß, was Sie in Ihren Büchern schreiben."
"Wie, Professeur Faucon hat dir kein Buch von mir überlassen? Dann mußt du wohl auf die altbackenen Tricks des jungen Wendel zurückgreifen", sagte Madame Unittamo schalkhaft. Dann bot sie an:
"Wenn ihr drei wollt, können wir morgen nachmittag ein paar Verwandlungsübungen machen. Meine Gastgeberin hat eingeräumt, daß ich auf ihren Filius nicht zählen mag. Aber die junge Miss Lagrange hat sich schon sehr interessiert gezeigt."
Claire strahlte mit den Kerzen und allen Sternen am Sommernachthimmel um die Wette. Jeanne überlegte kurz und sagte dann zu. Julius fragte sich, ob er das mitmachen sollte. Er fragte dann:
"Die Zaubereibeschränkung? Können Sie die auch aufheben?"
"Da ich rechtlich immer noch eine Lehrperson mit internationaler Unterrichtserlaubnis bin darf ich das".
Madame Faucon kam herüber und sagte zu Julius:
"Ich gestatte dir das, da ich weiß, daß du nicht aus der Übung kommen darfst und wir wegen der Schwerpunkte im Ferienunterricht keine Übungen in Verwandlung machen können. Aber benimm dich!"
"Mache ich", erwiderte Julius locker.
"Dann sehen wir uns morgen nachmittag im Festhaus. Vielleicht brauchen wir ja Platz", sagte Madame Unittamo und kehrte zu den Lumières zurück.
Irgendwann so gegen halb zwölf verabschiedeten sich die Gäste von den Gastgebern. Julius fand sich unvermittelt in einer Umarmung Barbaras wieder.
"Eigentlich wollte ich ja morgen nachmittag mit dir, Jeanne und César Hütertraining machen. Aber so'ne Gelegenheit, von einer Großmeisterin zu lernen, lasse ich mir nicht durch die Lappen gehen. Sieh zu, daß du morgen früh aus dem Bett findest, damit wir wieder mit dem Schwermacher trainieren können!"
"Befehl, Frau Saalsprecherin!" Bestätigte Julius mit gespielter Unterwürfigkeit.
"Fräulein Saalsprecherin, bitte. Noch hat kein Mann mit mir das Geheimnis seiner Mutter geteilt. Noch nicht", sagte Barbara und drückte Julius fest an sich. Dieser meinte dazu nur:
"Wenn du mich aber so fest andrückst passiert mir das vielleicht ohne Absicht."
"Lümmel!" Meinte Barbara und schmatzte ihm einen Kuß auf die linke Wange und wünschte ihm eine ruhige Nacht.
"Claire, die Konkurrenz packst du nicht", lachte Jeanne ihre jüngere Schwester an. Diese knirschte mit den Zähnen, hakte sich bei Julius unter und ließ nicht von ihm ab, bis sie bei den Besen waren. Sie schwangen sich auf und flogen los. Unterwegs fragte Claire:
"Wie meinte Barbara das, daß ein Mann mit ihr das Geheimnis seiner Mutter teilt?"
"Weiß ich das?" Entgegnete Julius unschuldsvoll.
"Sicher weißt du das, sonst hättest du nicht diese Antwort darauf gegeben", fauchte Claire, die wieder hinter ihm saß.
"Lass dir das von Jeanne erklären! Die ist mit Barbara in einer Klasse."
"Aha, dann hat das was mit körperlicher Zweisamkeit zu tun", flüsterte Claire. Julius bedachte diese Vermutung mit:
"Kein Kommentar."
__________
Am nächsten Morgen schaffte es Julius, um kurz nach fünf aus dem Bett zu kommen. Er wusch sich, zog seine Joggingsachen an und nahm den Schwermacherkristall und das dazugehörige Anleitungsbuch mit. Madame Dusoleil erwartete ihn unten an der Tür.
"Barbara ist manchmal sehr friwohl, wie. Aber offenbar hat sie mitbekommen, daß du mehr weißt, als Jungzauberer deines Alters."
"Sie mußte mir das nicht auf die Nase binden, daß sie noch unverheiratet ist. Das wußte ich so schon", erwiderte Julius.
"Du weißt genau, was ich meine, Bursche. Verausgab dich nicht mit ihr!"
"Mein Respekt und Dank verbietet mir, Sie nun für friwohl zu halten, Madame", erwiderte Julius frech und schlüpfte schnell aus dem Haus. Er wußte zwar, daß seine Gastmutter einiges an Frechheiten vertragen konnte, aber irgendwo war bestimmt die Grenze, und er wußte nicht, wann er sie überschreiten konnte oder nicht.
Nach einigen Runden Laufen um den Teich in der Mitte Millemerveilles' machten Barbara und Julius Gymnastikübungen unter dem Einfluß der Schwermacher. Julius spürte, wie er immer schwerer Arme und Beine bewegen und seinen Körper aufrecht halten konnte. Er versuchte, die im Übungsbuch angegebenen Übungen für schnelle Arm- und Beinbewegungen auszuführen und probierte Karateschläge und -tritte aus, wobei er sich vorkam, wie in einen immer dickeren Brei getaucht. Nach ungefähr einer Viertelstunde beendeten sie die Übungen. Barbara fragte ihn, ob er ihr diese Schlag- und Tritttechniken genauer zeigen könne, was er versprach. Da es noch früh am Morgen war lockerten sie ihre angestrengten Muskeln dadurch, daß sie im leichten Trab um den Teich liefen und sich dabei unterhielten. Julius überlegte sich, ob er der älteren Schülerin auftischen durfte, was Madame Faucon und Madame Delamontagne ihm erklärt hatten und entschied, nur zu erzählen, daß Madame Faucon glaubte, er könne in Hogwarts nicht richtig gefördert werden.
"Sie ist unsere Lehrerin. Sie hat wohl über gute Kanäle ständig mitbekommen, was du so anstellst und befunden, daß man dich nicht richtig auslastet. Sicher, die haben dir Zusatzaufgaben aufgehalst und in Verwandlung und Zauberkunst heftigere Prüfungen abverlangt. Aber mehr können die nicht tun, wenn du nicht gleich eine Klasse überspringen magst. Es stimmt schon, daß du in Beauxbatons mehr Möglichkeiten hast, vorhandene Talente auszuschöpfen, ohne vorher in allen anderen Fächern die höhere Klassenstufe erreichen zu müssen. Madame Faucon betrachtet dich wohl wie einen Enkelsohn, wenn ich das an deinem Geburtstag richtig mitbekommen habe. Da macht sie sich natürlich Gedanken, was man tun kann, damit du noch besser zaubern lernen kannst, ohne zusammenzubrechen. Sonderaufgaben allein bringen es ja nicht. Da muß auch eine gewisse Übung drin sein. Das ist ja der Punkt, den Jeanne, Fleur und ich an Hogwarts bemängelt haben. Du hast Unterrichtsstunden die schon anspruchsvoll sind, von diesem Gespensterlehrer mal abgesehen. Allerdings bieten die nichts an, um vorhandene Fähigkeiten zu verbessern oder unzureichende Fertigkeiten zu stärken. Das ist eben bei uns im Programm enthalten. Unsere Eltern zahlen zwar mehr dafür, haben aber die Gewißheit, daß wir dann auch alles lernen, was in uns hineinpaßt und uns nicht langweilen."
"Langweilen? Hast du dich in Hogwarts gelangweilt?" Fragte Julius erstaunt. Ihm war das bis dahin nie vorgekommen, daß man sich dort langweilen konnte.
"Ja, ich habe mich oft gelangweilt. Jetzt sag mir nicht, daß ich wen brauche, der mich anleitet. Ich habe mich notgedrungen mit irgendwas beschäftigt. Aber ich habe auch Stunden zugebracht, wo ich gerne Schach gespielt hätte, turniermäßig, Verwandlungs- und Zauberkunstübungen gemacht oder wie Jacques an irgendwelchen Zaubertränken herumgebraut hätte. Das ist eben bei euch nicht drin, noch nicht einmal ein Tanzkurs. Mir taten manche Mädchen leid, die absolut unfähige Tanzpartner abbekommen haben und fand es von Jeanne sehr geschickt, sich einen Jungen auszusuchen, der garantierte, daß sie anständig tanzen konnte. Immerhin kannten wir dich ja schon."
"Ach, dann hättest du mich ausgesucht, wenn Jeanne es nicht getan hätte?" Fragte Julius keck.
"Ich nicht, zumal ich ja bei Claires Geburtstag nicht dabei war. Aber Marlene aus dem Gelben Saal, die mitwar, hat eine Tante hier. Die hat ihr das erzählt, daß Claire und du die goldenen Tanzschuhe gewonnen habt. Eine von uns wäre vielleicht auf die Idee gekommen, dich einzuladen. Vielleicht hätte auch deine Hauskameradin Prudence dich eingeladen."
"Die ist mit wem verbandelt, Barbara. Die hatte schon einen Tanzpartner sicher, wie du gesehen hast."
"Natürlich habe ich das gesehen. Aber das ist ja nun über ein halbes Jahr her. Was ich sagen wollte, Julius: In Beauxbatons ist Langeweile unmöglich. Manche, die es sich mit der Schulordnung verscherzen, leisten Strafarbeiten ab oder bekommen Zusatzaufgaben aufgeladen."
"Ich habe schon mitbekommen, daß du dich in Beauxbatons wesentlich freier gefühlt hast. Aber das liegt wohl auch an der gewohnten Umgebung, den Freunden und vertrauten Dingen", erinnerte sich Julius an die Rückreise von Hogwarts.
"Falls ich bestimmen könnte, wo du besser unterkommst, würde ich morgen schon mit dir in die Rue de Camouflage oder in die Zwirnstube und dir drei Beauxbatons-Innen- und zwei -Gartenumhänge anmessen lassen. Aber vielleicht willst du ja nächstes Jahr ein Austauschjahr bei uns verbringen. Das ZAG-Jahr würde ich dir nur empfehlen, wenn du dir sicher bist, alle Fächer gut zu beherrschen, weil ZAGs bei uns hammerhart sind für Leute, die den gewöhnlichen Lernstoff nicht in der gebotenen Zeit aufgenommen haben."
"Ich dachte, die Prüfungen sind international vereinheitlicht", wunderte sich Julius.
"Das schon. Aber da steht nur drin, was unbedingt beherrscht werden muß. Zusatzaufgaben obliegen der Planung der Schule, in der du die ZAG-Prüfungen ablegst."
"Oha!" Bemerkte Julius dazu nur. Dann kehrte er mit Barbara zum Dusoleil-Haus zurück. Madame Dusoleil öffnete die Tür des Wohnhauses und winkte Julius heran. Claire stand neben ihr, korrekt bekleidet und frisiert. Sie rief:
"Na, Barbara. Hast du Julius noch ein paar merkwürdige Sachen erzählt?"
"Ich habe ihm nur von Beauxbatons erzählt, Mädel", erwiderte Barbara grinsend. Dann kehrte sie zu ihrem Haus zurück.
Julius verstaute den Schwermacher wieder, zog sich um und ging zum Frühstück hinunter in die geräumige Wohnküche.
"... Heute werden wir uns noch mal mit den stationären Fallenzaubern befassen, Messieurs und Mesdemoiselles", begann Madame Faucon und ließ ihre Ferienschüler ausführen, was sie über Flüche, die jemanden einkerkern, besinnungslos machen oder in den Wahnsinn treiben konnten wußten. Da das Meiste in dem Buch über Gegenflüche, Banne und Meldezauber stand, konnte Julius gut mithalten. Am Ende der Ferienstunden kündigte Madame Faucon an:
"Morgen werden wir uns mit den unverzeihlichen Flüchen befassen. Da einige von Ihnen erst im nächsten Schuljahr, vielleicht auch erst später von diesen verbotenen Zaubern erfahren werden, mir aber die Zeit für gekommen erscheint, Sie schon damit zu konfrontieren, werden wir die morgigen Unterrichtsstunden darüber sprechen, und ich werde Ihnen die Wirkung dieser Zauber vorführen, um zu zeigen, wie grausam sie sind."
Julius flog Elisa Lagrange zur Dorfmitte. Sie fragte den Hogwarts-Schüler, ob er schon von den Flüchen gehört habe. Julius wollte ihr nicht erzählen, daß ein ehemaliger Mitschüler, Brutus Pane, ihn sogar schon damit anzugreifen gewagt hatte, was jedoch mißlungen war. Er sagte nur:
"Wir hatten es ja schon am Anfang der Ferienstunden davon. Ich habe allerdings vorher schon davon gehört und gelesen. Das ist schon grauenhaft, was die anrichten können. Dabei ist der Todesfluch dadurch, daß er eben direkt tötet, noch der schnellste. Ich möchte nicht wissen, wie das ist, stundenlang gefoltert zu werden oder unter dem Imperius-Fluch meine besten Freunde umzubringen und mich nach Abklingen des Fluches an jede Einzelheit zu erinnern."
"Stimmt, das ist nicht schön", sagte Elisa.
Als Julius sie am Dorfteich abgeladen hatte, wünschte sie ihm noch alles gute bis zum Nachmittag. Julius kehrte mit Jeanne, die Claire hinter sich auf dem Besen sitzen hatte, zum Anwesen der Dusoleils zurück.
Nach dem Mittagessen und einer Lesestunde zum Thema der unverzeihlichen Flüche flogen Jeanne, Claire und Julius zum Festhaus von Millemerveilles, wo im Falle von Regen oder Sturm der Mittsommerball abgehalten worden wäre. Jeanne bestimmte, daß Julius mit ihr auf einem Besen fliegen solte und Claire mal wieder alleine fliegen sollte. So kamen die drei Jugendlichen aus dem Dusoleil-Haus um vier Uhr am Festhaus an. Die Lagrange-Schwestern waren bereits da, wie auch Barbara. Julius, der sich am Morgen gefragt hatte, wieso Dorian oder Caro nicht dabei sein würden, sah ein, daß Madame Faucon wohl Gründe hatte, sie nicht mitzuschicken.
"Hier treffen sich die besten Verwandlungsschüler ihrer Klassen", begrüßte Barbara Jeanne, Claire und Julius. Das war wohl der Grund, erkannte Julius. Die Lagranges konnten wohl sehr gut Verwandlungszauber, von Claire hatte er es gestern ja amtlich gehört und er selbst ...? Er wollte nicht mit seiner Note angeben.
Maya Unittamo kam in Gestalt einer weißen Stute angaloppiert und verwandelte sich erst vor der Festhalle in ihre Menschenform zurück. Dann kam noch Professeur Faucon auf ihrem Einkaufsbesen angeritten und landete auf einer großen Wiese vor dem Eingangsportal.
"Sie konnten es mal wieder nicht lassen, Madame Unittamo", tadelte Madame Faucon die Kollegin aus Amerika. Diese lachte nur.
"Immer in Übung bleiben, Gnädigste. Nun dann! Guten Tag alle zusammen." Begrüßte Madame Unittamo die versammelten Zauberschüler. Julius, der sich wie ein Hahn im Korb voller erfahrener Hennen vorkam, folgte Claire bedächtig in den großen Festsaal, dessen Decke vier Meter über dem Boden angebracht war und welcher fünfzig mal sechzig Meter maß. Säulen an den Seitenwänden, die mächtige Träger miteinander verbanden, stützten die hohe Decke ab. Durch hohe runde Fenster fiel das helle Tageslicht. Der Boden war freigeräumt und nur mit Marmorplatten ausgelegt. Julius vermutete, daß hier im Bedarfsfall mal eben Parkett ausgelegt werden konnte und die Träger unter der Decke mit Stoffen überzogen werden konnten. womöglich waren auch Haken für Kronleuchter anschraubbar. Vielleicht war es mal interessant, diesen Saal geschmückt zu erleben, fand Julius, während er hinter Claire in den Festsaal hineinschritt. Merkwürdigerweise hallte es nicht so in diesem weiten Raum, wie Julius es von ähnlichen Innenräumen kannte. Es schien, als schluckten die Wände so viel Schall, daß man meinte, auf einem freien Platz zu sein. Maya Unittamo holte aus einem blauen Rucksack, den sie ohne Anstrengung auf dem schmächtigen Rücken trug, mehrere Gegenstände, die sie auf den Boden legte. Sie wuchsen zu Holzklötzen, polierten Stahlzylindern, Hutschachteln und ganzen Sitzbänken an. Julius war beeindruckt.
"Verzeihung, daß ich nicht früher kommen konnte", meldete sich Virginie Delamontagne von der Eingangspforte her. Maya Unittamo winkte ihr.
"Wir haben noch nicht angefangen", sagte Madame Unittamo. Als dann alle um sie herumstanden, erklärte sie:
"Da Noten immer nur Kritzeleien auf Papier sind, solange niemand, der sie bekommen hat, zeigt, daß er oder sie sie verdient hat, möchte ich von euch erst einmal einfache Invivo-ad-Invivo-Verwandlungen sehen. Wer kann mir aus diesem Zylinder da einen großen Kochtopf machen? Ich weiß, das ist zu einfach. Aber das Einfache macht stark für das schwerere, das wieder stark für das Schwere macht."
Claire trat vor. Sie hielt ihren Zauberstab, einen etwa sechs Zoll langen Kastanienholzstab, wohl mit Einhornschweifhaarkern, in der rechten Hand und vollführte punktgenaue Bewegungen, bei denen sie leise rhythmisch dazu passende Worte sprach. Plopp! Verwandelte sich der massive Stahlzylinder von gut 80 Zentimetern Höhe in einen etwa vierzig Zentimeter hohen Kochtopf mit zwei angeschmiedeten Henkeln. Eine schnelle Bewegung von Madame Unittamo ließ den Topf wieder zum Stahlzylinder werden.
"Elisa, möchtest du das auch probieren?" Fragte Maya Unittamo. Elisa trat vor, schwang ihren Zauberstab und ließ aus dem Zylinder einen Topf werden, allerdings einen mit zwei Henkeln auf einer Seite.
"Ups! Da habe ich wohl die Gestaltwerdungsformel falsch betont", bemerkte Elisa und wollte den fehlplazierten Henkel auf die andere Seite versetzen. Das gelang jedoch nicht so reibungslos, wie sie das vermutet hatte. Doch irgendwann hatte sie den Henkel so hingezaubert, wie er ursprünglich sitzen sollte. Maya Unittamo verwandelte den Topf zurück und bat Julius nach vorne.
"Professor McGonagall ließ durchblicken, daß wäre vielleicht zu einfach, wo du schon mit Tierverwandlungen herumgezaubert hättest. Aber ich möchte das jetzt sehen, ob das wirklich zu einfach für dich ist", sagte die kleine zerbrechlich erscheinende Hexe und sah Julius mit ihren goldbraunen Augen erwartungsvoll an. Der Hogwarts-Schüler hob seinen Zauberstab aus Eichenholz mit Phönixfederkern und vollführte die das letzte Mal vor etlichen Wochen benutzten Bewegungen, ohne ein Wort zu sprechen. Alle hier wußten ja, daß er Mentalinitiator war. Tatsächlich schaffte er es, ohne ein Wort zu sagen einen wunderschön verzierten Kochtopf mit Deckel zu zaubern.
"Ich wollte an und für sich keinen Deckel zaubern. Aber Madame Faucon hat mal gesagt, ich dürfe mich nicht künstlich zurücknehmen, wenn ich was könne", begründete Julius die Zauberei. Madame Unittamo nickte und befand:
"Wäre wohl das erste Mal gewesen, wo Minerva zu dick aufgetragen hätte. Schönes Hochzeitsgeschenk."
"Häh?" Machten die Mädchen der Übungstruppe.
"Für die Schwiegermutter natürlich, weil sie ja für einen mehr kochen muß", fügte Madame Unittamo gehässig grinsend hinzu und erntete von allen Gelächter, außer von Madame Faucon. Dieser schien der lockere, teilweise kindliche Umgangston ihrer älteren Kollegin nicht statthaft.
Es folgten weitere Übungen, bei denen aus Holz oder Stoff geformte Gegenstände in andere Gegenstände umgewandelt werden sollten. Jeanne, Claire und Julius schafften dabei immer die besten Ergebnisse, Jeanne sogar wie Julius ohne Worte. Als Madame Unittamo aus einem Stahlzylinder ein Kristallglas gezaubert hatte meinte Jeanne:
"Julius hat mal einen Verwandlungstrick erwähnt, bei dem man volle Gläser in leere verwandeln könne."
"Jeanne, nicht dieser Gag!" Bat Julius. Doch Jeanne grinste nur und ließ aus ihrem Zauberstab einen Strahl Rotwein in das Glas sprudeln.
"Oh, wie geht der?" Fragte Madame Unittamo mit echter Neugier. Julius räusperte sich. Er mußte wohl sagen, daß jeder durch Austrinken ein Glas in ein leeres verwandeln konnte, sogar ein Muggel. Dann kam ihm jedoch ein Geistesblitz. Er erinnerte sich daran, daß sie im ersten Jahr bei Professor McGonagall magische Umfärbungen erlernt hatten, wobei es galt, eine gewisse Balance der Zauberkräfte einzuhalten, weil das damit zu bezaubernde Objekt sonst in etwas verwandelt würde, das der Quelle der vorgestellten Farbe entsprach oder ähnelte. Sonnengelb zu färbende Dinge konnten dabei verglühen, himmelblau zu färbende Dinge konnten bei übersteigertem Zauber in einem Schwall kalter Luft vergehen. So trat Julius an das volle Weinglas heran, ließ seinen Zauberstab genau über der goldroten Oberfläche des Weines kreisen und dachte daran, ihn himmelblau einzufärben. Das tat er so heftig, daß er vor lauter Himmel keinen Wein mehr sah. Es zischte kurz, ein Schwall kalter Luft breitete sich vom Glas aus, und vom Wein war nichts mehr übrig.
"Das ist in der Tat ein Trick, junger Mann", befand Maya Unittamo, der nicht entgangen war, daß sich für einen winzigen Sekundenbruchteil der wein himmelblau verfärbt hatte.
"Sieh an, es geht doch", sagte Jeanne belustigt.
"Ich gehe davon aus, daß du Umfärbezauber mittlerweile in der Waage halten kannst", sagte die über neunzig Jahre alte Hexe und ließ aus dem Glas eine Blumenvase werden.
"Die Damen Jeanne, Barbara und Seraphine haben, wenn meine Lehrpensumskenntnisse nicht verrostet sind, Materialisationen schon im Unterricht. Ich hätte gerne ein paar frischer Blumen in dieser Vase."
Barbara zauberte ein paar Chrysanthemen, Jeanne vier rote Rosen, und Seraphine vervollständigte den Strauß Blumen mit Narzissen.
"Dann kommen wir nun zu den etwas schwereren Übungen", sagte Madame Unittamo und verwandelte mit schnellen Bewegungen alle kleineren Gegenstände in Tiere, hauptsächlich Mäuse, Kaninchen und Käfer. Jeder sollte nun aus dem Tier einen unbelebten Gegenstand machen. Dies gelang auch jedem recht zügig, wobei Barbara, Jeanne und Julius offenbar schneller mit den Tieren fertig wurden. Claire sah Julius bewundernd zu, wie der innerhalb von zwei Minuten aus vier Kaninchen vier Blumenvasen machte. Danach galt es, tote Gegenstände in Tiere zu verwandeln, was nach einigen Fehlversuchen Elisas auch jedem gelang. Irgendwann kamen die Tier-zu-Tier-Verwandlungen. Da konnte nur noch Julius mit den ältesten Schülerinnen mithalten, was Madame Faucon sehr lobte.
"Du hast es nicht verlernt. Ich fürchtete schon, die Ferienzeit hier würde dich zurückwerfen. Aber du kannst es noch."
"Erstaunlich. Aber woher das kommt, haben wir ja gestern schon erörtert", befand Maya Unittamo und verwandelte alle Tiere wieder in die Gegenstände zurück, die sie ursprünglich gewesen waren.
"Dein Bruder hat gestern behauptet, Verwandlung sei nicht so wichtig. Dabei sind die Größenveränderungen sehr praktische Zauber", sagte Maya Unittamo und schrumpfte ohne Zauberstabbewegung auf nur zehn Zentimeter ein. Mit winziger Stimme furh sie fort:
"Der Minificus-Zauber ist schon praktisch, allerdings sehr ungenau, wenn es um Richtgrößen geht." Dann wuchs sie wieder auf ihre Ursprungsgröße an. Julius faszinierte das. Gedankengesteuerte Selbstverwandlung schien ihm wie der schwarze Gürtel mit vier Sternen der Verwandlungskunst. "Außerdem", fuhr Madame Unittamo fort, "ist es gerade für das äußere Erscheinungsbild praktisch, einige gute Verwandlungszauber zu können." Sie hüpfte vom Boden hoch, drehte sich wie eine Ballerina und stand unvermittelt in einem schwarzen Abendkleid da. Dann verschwand sie in jenem farbigen Lichtwirbel, den Julius gestern schon zweimal gesehen hatte und tauchte in der Gestalt einer jungen Frau mit langem schwarzen Haar, üppiger Oberweite und geschwungenem Becken wieder auf. Sie ließ sich einige Momente lang betrachten, bevor sie sich wieder in den Farbwirbel auflöste, um als hochgewachsener Mann mit muskulösen Armen und Beinen, gekleidet in einen eng anliegenden Umhang aus dunkelblauem Samt wiederzuerstehen. In dieser Gestalt sprach sie mit raumfüllender Baritonstimme:
"Nun, eine Hexe sollte eine Hexe bleiben und kein Mann werden. Das wird auf die Dauer langweilig." Sprach's und kehrte in ihre Ursprungsgestalt zurück. Julius hob eine Hand. Madame Unittamo sah ihn an.
"Sie sagten, daß sie fünfzehn Jahre brauchten, um so locker die Form wechseln zu können. Ist die Übungszeit nicht sehr gefährlich, weil viele Unfälle passieren können?"
"Deshalb sollte man dies nicht tun, bevor man die Verwandlungen anderer Dinge beherrscht. Manche Verwandlungen waren in der Tat kompliziert und hätten mich fast um mein stattliches Aussehen gebracht. Allerdings, das gilt ja auch für Tauchübungen, wer das lernt, sollte niemals allein üben. Stellt euch einmal vor, jemand probiert aus, sich in einen toten Gegenstand, einen Nachttopf beispielsweise, zu verwandeln, schafft es zwar hin aber nicht mehr zurück. Unangenehme Vorstellung, nicht wahr?"
"Deshalb tun dies nur Größenleichtsinnige oder totale Experten", warf Madame Faucon ein. Julius wandte ein, gehört zu haben, daß man für die Selbstverwandlungen immer genug Magie für eine Rückverwandlung sammeln müsse. Maya Unittamo nickte und sah ihn begeistert an.
"Haben Sie ihm das erklärt, Madame Faucon?" Fragte sie.
"Nein, das wird wohl meine Kollegin in Hogwarts getan haben", wies Madame Faucon die Vermutung zurück.
"Wenn jemand von wem anderen in etwas totes verwandelt wird, spürt er oder sie dann noch was?" Fragte Elisa vorsichtig.
"Das ist ein Geheimnis der Verwandlungslehrer, das sie nur dem preisgeben, der genug Vertrauen in sie setzt, sich von diesen verwandeln zu lassen", erwiderte Madame Unittamo. Julius sprang sofort ein:
"Das liegt daran, daß die Verwandlungslehrer nicht wollen, daß Schüler sich gegenseitig verwandeln. Wenn etwas totes auch wirklich tot ist, schreckt das Leute vom Unsinn ab, sagt Professor McGonagall."
"Nun, ob es mehr abschreckt, sich vorzustellen, jemanden durch Verwandlung zu töten oder ihn zu einem Dasein als Kochtopf, Schemel oder Taschentuch zu verdammen, lasse ich mal dahinstehen. Es gibt manchen sadistisch veranlagten Zauberer oder eine nicht minder peinigungslustige Hexe, welcher oder welche sich einen groben Spaß daraus macht, ohne Grund jemanden in etwas totes zu verwandeln und den Gegenstand dann Freunden oder Bekannten vorzulegen. Eine gewisse Sardonia vom Bitterwald, die gerade hierorts nicht ganz unbekannt war, hat ihre Feinde oft in irgendwelche Gebrauchsgegenstände verhext und diese ihren Bundesschwestern geschenkt. Jetzt kann man noch mal fragen, ob die verwandelten was davon spüren oder nicht, brutal ist es allemal."
"Ob mit Sardonia die letzte skrupellose Hexe gelebt hat, wage ich sehr stark anzuzweifeln", sagte Madame Faucon.
"Ich weiß, daß verwandlungen zu kompliziert sind, um sie als Duellzauber einzusetzen. Ich habe jedoch im letzten Schuljahr gesehen, wie ein etwas ungezügelter Lehrer einen Schüler zur Strafe in ein Frettchen verwandelt hat, was ziemlich schnell ging", setzte Julius an. "Wenn mir wer mit einem Verwandlungszauber kommt, um mich außer Gefecht zu setzen, kann ich mich wehren?"
"Ja ja, das bringt die gute Minerva auch keinem bei, weil Wendel da zu umständlich mit umspringt", erwiderte Maya Unittamo. "Der inhibimorphus Contramutatus ist sehr von der Willensstärke und der Geschicklichkeit eines Zauberkundigen abhängig. Man kann ihn auf sich selber legen, er hält dann eine volle Stunde oder bis ein Verwandlungszauber, ob direkt oder durch einen stationären Fluch ist egal, auf ihn einwirkt und sich mit dem Angriffszauber in unschädlichen Lichtentladungen verflüchtigt. Man kann aber auch Gegenstände damit belegen, ja dauerhaft gegen Verwandlungen sichern, solange sie nicht durch gewöhnliche Handhabung beschädigt werden. Ich zeig euch das mal."
Madame Unittamo richtete ihren Zauberstab auf den Stahlzylinder, sagte im Takt einer schnellen Zauberstabfigur, die wie eine Pyramide, die sich einmal um alle Achsen drehte aussah:
"Inhibio contramutato Inhibitus Contramutatus!" Ein silbern-blauer Lichtkegel brach aus dem Zauberstab und hüllte den Stahlzylinder ein, dann löste sich der Kegel von der Zauberstabspitze und ließ sich vom Metallzylinder einsaugen. Nun stand der Zylinder wieder unbewegt da. Jeanne versuchte, ihn wieder zu verwandeln. Doch der Zylinder blieb unveränderlich stehen. Lediglich ein silbriger Funke sprang von ihm über.
"Ich vergaß zu erwähnen, daß der angreifende Verwandlungszauber genauso stark sein muß, wie der Inhibimorphus Contramutatus, um diesen aufzuheben", ergänzte Maya Unittamo ihre Erläuterungen. Julius fragte:
"Wenn ein Mensch sich damit schützt, tut dies weh?"
"Nur beim Lachen", gab Madame Unittamo zurück. Madame Faucon bat sich doch etwas mehr Sachlichkeit bei ihrer Kollegin aus, dies jedoch in einem ruhigen Ton, beinahe vorsichtig.
"Wir hatten es vorher von den Schrumpfungszaubern. Die meine Bücher der dritten und vierten Stufe schon gelesen haben wissen, daß der Minificus-Zauber nur die Basisfertigkeit ist. Wird sie beherrscht, kann man sehr präzise Größenveränderungen bewirken." Sie richtete den Zauberstab auf die lange Sitzbank und ließ ihn kurz von oben nach unten peitschen, wobei sie "Centinimus" sagte. Unvermittelt schmolz die Sitzbank zusammen, bis sie nur noch wenige zentimeter lang war. Julius schwante, daß es wohl genau ein Hundertstel der Ausgangsgröße war. Er hob seinen Zauberstab, ließ ihn nicht so schnell hinunterpeitschen und rief: "Decinimus!"
Der große Holzklotz, dem der Zauberspruch galt, stürzte in sich zusammen, blähte sich wieder auf, fiel wieder in sich zusammen, immer schneller, als würde ein Gummiball erst hoch aufspringen und dann immer niedrigere Sprünge tun. Irgendwann war der Klotz nur noch etwa ein Zehntel so groß, wie er ursprünglich war.
"Das ist das gute an der Muggelstämmigkeit, daß sie einem vor den Zaubererschulen die Voranstellungen bei Maßeinheiten erläutern", bemerkte Madame Unittamo. "Im Prinzip ist das schon gut gelaufen. Allerdings war in der größenverringernden Abwärtsbewegung noch zu viel Schwung drin, um den Klotz nur auf ein Zehntel der Ausgangsgröße zu schrumpfen. Deine übrige Zauberkraft hat einen Pendeleffekt bewirkt, sodaß es dauerte, bis der Klotz nur noch so groß war, wie du ihn haben wolltest. Umkehren läßt sich das wie gehabt mit dem Remagnus-Zauber."
"Geht es noch kleiner?" Fragte Claire.
"Der Millinimus-Zauber - bloß nicht mit dem Millennius-Zauber verwechseln! -, kann einen Gegenstand oder ein Lebewesen auf ein Tausendstel seiner Ausgangsgröße verkleinern. Allerdings empfielt er sich nicht für Lebewesen, wenn sie länger als eine Minute leben sollen. Die sterben ab, und keiner weiß wieso."
Julius und Virginie sahen sich vielsagend an. Beiden fiel sofort ein, weshalb das so war. Julius fragte noch mal:
"Bei dem Hundertstel-Schrumpfzauber leben eingeschrumpfte Wesen länger?"
"Ungefähr eine Stunde länger", sagte Madame Unittamo. Dann wandte sich Virginie an Julius:
"Wie war das mit der Luft. Wenn etwas kleiner wird, ohne die Umgebungsluft mitzuschrumpfen, wird sie nicht mehr atembar?"
"Stimmt, das habe ich gesagt", bestätigte Julius und erinnerte sich, als wenn es erst vor einem Tag passiert wäre, an jene Panne im Ferienunterricht, bei der sich Virginie und er mit zwei verschiedenen, aber gleichstarken Flüchen zur selben Zeit bezaubert hatten und sich fast auf Mikrobengröße eingeschrumpft unter einer blauen Energiekuppel wiedergefunden hatten, mit handtellergroßen Bakterien mit sehr langen Geißeln um sich herum. Außerhalb der Energiesphäre schwammen noch mehr dieser nun monstergroßen Bakterien in einer durchsichtigen Suppe wie Sirup umher. Julius erklärte, daß reine Luft auf winzige Objekte anders wirkte als auf normalgroße Wesen und Gegenstände. Das erklärte er nun auch Madame Unittamo, nachdem er sich durch Blickkontakt von Madame Faucon die Erlaubnis eingeholt hatte.
"Oh, da hätte man an und für sich drauf kommen können", meinte die ältere Hexe und fischte in ihrem Kleid nach einem Pergamentzettel und einer Feder. Dann schrieb sie sich das auf und sagte:
"Man kann hundert und mehr Jahre alt werden und lernt immer noch was neues. Das ist die Belohnung des Lebens für die ganze Plackerei, die es fordert."
Zum Schluß der Übungen bot Madame Unittamo an, durch einen Sublimimorphus-Zauber anzutesten, ob jemand zum Animagus geeignet sei. Madame Faucon, die zunächst meinte, daß dies wohl zu gefährlich sowie unnötig sei, erklärte sich nach kurzer Beratung etwas abseits der Schüler bereit, zu assistieren, um die sichere Rückverwandlung der Junghexen und des Jungzauberers zu garantieren.
"In jedem magischen Menschen wohnt die Natur eines Tieres, das mit dessen Eigenschaften, körperlich oder seelisch einhergeht. Bei den Schamanen war das schon seit Jahrtausenden bekannt. Die mächtigsten von ihnen waren die ersten Animagi. Sie verwandelten sich in jene Tierwesen, die ihnen seelisch und körperlich artverwandt waren und beherrschten auch diese Tiere, die sie rufen und zu Diensten anhalten konnten. Die hermetische Zauberei, also das, was wir hier tun, hat erst Ende des sechsten Jahrhunderts wiederentdeckt, wie die Tierverwandlungen laufen. Dabei wurde es möglich, sich durch Übung und Erfahrung in jedes beliebige Tier zu verwandeln. Leute wie ich haben dabei gelernt, nicht nur ein Tierwesen zu sein, die Meisten jedoch schaffen es nur, sich in ein Tier zu verwandeln. Dabei gilt: Je näher das Zieltier mit dem innewohnenden Tiernaturell artverwandt ist, desto einfacher der Weg zum Animagus, der sich in ein solches Tier verwandeln kann. Ich weiß zwar bis heute nicht, wieso ausgerechnet ein weißes Pferd mein Idealtier darstellt, nehme das jedoch zur Kenntnis, wenn ich auch mal eine Maus, eine Katze oder ein Elefant werden kann. Wie bei allen Verwandlungen gilt: Wer kleinere in größere Tiere zu verwandeln trachtet, benötigt mehr Zauberkraft. Meine argentinische Kollegin Estrella Blanca Ondario kann sich in einen Pottwal verwandeln. Das hat sie jedoch wieder aufgegeben, da die Muggel die merkwürdige Angewohnheit besitzen, solche Tiere zu jagen.
Der Zauber, dem ich euch nacheinander unterwerfen werde, holt diese innere Tiernatur hervor und gibt ihr die Kraft, ihre Körperform anzunehmen. Hierbei gelten zwei Dinge:
Ein in ein Tier verwandelter Mensch ist grundsätzlich der menschlichen Lautsprache fähig, wenngleich er sie nicht direkt durch einen Mund mit Zähnen und Zunge erzeugt. Zum anderen versteht er die Verständigungsformen der Tiere, zu deren Artgenossen er geworden ist. Verwandeln sich mehrere Animagi in ihre Tiergestalten, können sie untereinander in einer Art Worttelepathie kommunizieren, also im Geiste miteinander sprechen, ohne von Menschen belauscht zu werden. Das hat so manche Gaunerbande von Zauberern hervorgebracht, wo ein Vogel-Animagus einem Waschbär-Animagus gemeldet hat, ob die Luft rein war, um irgendwo einzubrechen. Deshalb wurden die Animagus-Gesetze auch so strickt festgeschrieben, denen nach sich ein Zauberkundiger, der zum Animagus wird peinlich genau registrieren läßt."
"Wenn man nicht Rita Kimmkorn heißt", murmelte Julius nur bei sich und war froh, daß keiner das mitgekriegt hatte.
"Eine kurze Vorwarnung noch: Seid nicht enttäuscht, wenn ihr nicht die edlen Tiere werdet, die ihr euch gewünscht habt. Einer Schülerin, die Animagus werden wollte, gab das auf, als sie sich als ordinäre Bettwanze wiederfand. Ich konnte ihr beweisen, daß dieser Zauber nicht von mir gesteuert, lediglich freigesetzt werden und wieder umgekehrt werden kann. Später stellte sich heraus, daß das Mädchen sehr umtriebig und liebestoll war, was der Natur der Bettwanze sehr nahekommt. Wer möchte den Anfang machen?"
Julius und Barbara hoben am schnellsten die Hände. Claire und Jeanne waren die nächsten. Elisa verzichtete darauf. Sie wollte nicht wissen, was sie werden konnte, wenn sie Animaga werden könnte. Barbara trat mutig vor, entspannte sich und wartete auf den Zauber. Madame Faucon stand bereit, um einen Fehlschlag zu beheben. Barbara dachte an nichts, wie es Madame Unittamo anordnete. Dann schossen aus dem Zauberstab der berühmten Verwandlungskünstlerin grüne, rote und blaue Blitze, hüllten Barbara ein, die leicht aufstöhnte, sich krümmte, wie unter Schmerzen und dann an Körperform verlor, für eine Winzigkeit wie ein Nebelgebilde im Raum schwebte und dann als kräftig gebaute Löwin wiederzuerstehen. Sie tapste auf den vier krallenbewehrten Pranken herum, sah sich um und sog die Luft in ihre großen Nasenlöcher. Selbst verströmte sie jenen scharfen Raubtiergeruch, den Julius aus dem Londoner Zoo kannte. Dann öffnete sie das mit gefährlichen Fangzähnen bewehrte Maul und sprach mit einer tiefen Stimme:
"Huch, etwas gewöhnungsbedürftig. Was stell ich eigentlich nun dar? Was kleines ist es wohl nicht."
"Panthera leo, Barbara. Die gemeine afrikanische Savannenkönigin", warf Julius ein.
"Nicht so laut, Julius. Ich dachte, meine Ohren müßten zerbersten. Außerdem riecht ihr alle irgendwie stark, nach Schweiß und Blut und feuchter Luft."
""Möchtest du nun wieder in deine angeborene Form zurückkehren?" Fragte Maya Unittamo. Barbara drehte sich um und nickte mit dem großen Kopf. Ruhig stand sie da, bis gelbe, violette und silberne Blitze aus Maya Unittamos Zauberstab schlugen, die Löwin einhüllten, sie wie unter Schmerzen zusammenfahren ließen und dann in Nebel auflöste, aus dem Barbara Lumière zusammengefügt wurde.
"Ist schon unheimlich, wie sich die Sinne verändern, wenn man die Gestalt wechselt", bemerkte Barbara, als sie ihre zwei Arme und zwei Beine wieder sortiert hatte.
"Na, Julius, legst du es immer noch darauf an?" Fragte Elisa herausfordernd. Claire warf ihr einen bösen Blick zu. Julius trat todesmutig vor. Jetzt wollte er es wissen!
"Bleib ruhig stehen! Denke an nichts, damit die innere Tiernatur ungestört freiwerden kann!" Sagte Maya Unittamo. Sie richtete den Zauberstab auf Julius und bewegte ihn fast gar nicht. Wie hypnotisiert starrte Julius auf die glitzernde Zauberstabspitze, von der er durch Mademoiselle Dusoleil wußte, daß es ein Sonnenquarzsplitter war. Dann hüllten ihn auch die grünen, blauen und roten Blitze ein, wie Barbara. Er glaubte, eine Horde wilder Wichtel in Gorillagröße würde an ihm zerren, auf ihn einschlagen und ihn mit elektrischen Schlägen piesacken. Er konnte den Schmerzlaut nicht verbeißen. Dann fühlte er sich schwerelos und schwindelig, um gleich darauf auf allen Vieren zu stehen. Der Raum war irgendwie etwas eingeschrumpft, meinte er. Er drehte einen mächtigen Schädel und fühlte, wie sich seine Nase wie ein Arm ausstreckte, dann wieder zusammenfaltete, ja einrollte. Schließlich konnte er das weiße, schlauchartige Riechorgan vor seinen Augen sehen und erkannte auch die kleinen Stoßzähne, die im aus einem breiten Maul wuchsen. Er schlackerte mit großen Ohren umher.
"Das ist ja heftig", röhrte er mit Mund und Nase gleichzeitig. "Ein afrikanischer oder ein indischer?"
"Die großen Ohren zeigen dich als abkömmling eines afrikanischen Elefanten, allerdings mit weißer Färbung und noch nicht völlig ausgewachsen", sagte Madame Faucon sachlich.
"Platz bitte, ich will mal die Bewegungsapparate ausprobieren", gab Julius halb schnaubend, halb trompetend bekannt und trottete langsam los, die zum Rüssel ausgewachsene Nase lang ausgestreckt. Er marschierte kurz durch den Saal, erlaubte sich einen Scherz, indem er Elisa und Claire mit dem Rüssel anstupste und kehrte dann zu Maya Unittamo zurück. Er verharrte ruhig und ohne abschweifende Gedanken. Dann kamen die anderen Blitze aus dem Zauberstab, rüttelten und zwickten ihn, jagten ihm Schocks wie Stromstöße durch den Leib und ließen ihn wieder schwerelos werden. Dann stand er wieder auf zwei Menschenbeinen, mit einer ganz normalen Nase und ebenso normalen Ohren im Gesicht.
"Tolle Aussichten", sagte er, froh, wieder eine ihm vertraute Stimme zu haben.
"Offenbar bist du nicht umsonst so an Pflanzen interessiert", vermutete Jeanne. Barbara fügte dem hinzu:
"Zudem kommt bei dieser Tiergestalt wirklich was rüber von dir. Du bist stark, offenbar ruhig und hast ein gutes Gedächtnis. Das sagt man diesen Tieren zumindest nach, daß sie um ihre Stärke wissen und nur Gewalt anwenden, wenn sie brünftig oder bedroht sind."
"Ja, und eine Löwin ist ein Rudeltier, für Nahrungssuche Verantwortlich, stark und schnell. Paßt alles zu dir", gab Julius an Barbara zurück.
Jeanne trat vor und erwartete die Transformation. Als sie einsetzte, sahen alle sofort, daß sie wohl zu etwas kleinerem werden würde. Denn die Nebelwolke schrumpfte merklich zusammen, bevor sich etwas daraus verdichtete: ein schwarzes Wildkaninchen saß dort, wo Jeanne vorher gestanden hatte. Barbara lachte nur:
"Ach du meine Güte, ein Kaninchen. Was will uns das sagen?"
"Mademoiselle Lumière, es versteht sich von selbst, daß ich mir jede Anzüglichkeit über diese Erlebnisse verbitte", setzte Madame Faucon ihre Rangstellung ein, um Barbara zu mäßigen. Jeanne wackelte mit ihren Kaninchenohren und sprach lispelnd durch die vorstehenden Nagezähne:
"Barbara, du hast recht. Diese Tiergestalt stimmt mich merkwürdig. Aber auch ein Pflanzenfresser, wie die Tiernatur von Julius. Geht mal bitte aus dem Weg, damit auch ich meine Lauffähigkeiten ausprobieren kann!"
Jeanne hüpfte und sprang erst unbeholfen, dann immmer gewandter durch den Saal und richtete ihre Ohren in alle Richtungen aus. Dann hoppelte sie schnell zu Madame Unittamo und ließ sich zurückverwandeln.
"Beängstigend ist, daß mir euer Geruch Angstgefühle bereitet hat. Ist das ein Gefahreninstinkt?" Fragte sie, als sie wieder zur vollen Größe angewachsen war.
"Das klären wir gleich in einem Frage- und Antwortspiel", entschied Maya Unittamo und bat Seraphine nach vorne. Diese, nun neugierig, was sie wohl sein würde, trat vor und wartete, bis sie der Sublimimorphus-Zauber erfaßte. Julius erschrak zwar für einen Sekundenbruchteil, als eine ziemlich große Biene vom Boden aufflog, beruhigte sich jedoch schnell. Seraphine schwirrte summend durch den Saal und landete auf der Schulter ihrer Schwester, die etwas erschrak. Dann kam irgendwie von ihr eine s-betonte schwirrende Stimme:
"Ssehr interesant, wie sich die Farben und die Lichtmuster verändern. Ich kann ja regelrechte Ringmuster durch die Fenster sehen, die irgendwie umgebogen aussehen. Außerdem fehlt alles Rot. Claires Umhang ist schwarz bis auf ein paar weiße Streifen. Aber wieso bin ich eine Bienenkönigin und keine Arbeiterin?"
"Weil du als fruchtbares Weibchen keine unfruchtbare Arbeiterin wirst", erwiderte Madame Unittamo. Madame Faucon schüttelte zwar mißbilligend den Kopf, da ihr jedoch bessere Worte fehlten, schwieg sie.
"Ich komme wieder zu Ihnen", kündigte die sprechende Bienenkönigin an und flog zu der nordamerikanischen Verwandlungsmeisterin. Sie landete keine zwei Schritte vor dieser und wartete, bis der Gegenzauber sie in das Mädchen mit dem langen, kastanienbraunen Haar zurückverwandelt hatte, das die Lagranges als ihre ältere Tochter kannten.
"Jetzt stimmen die Farben wieder. Wie kommt denn sowas? Außerdem habe ich eine Flut von Gerüchen in den Nasenrüssel gekriegt."
"Bienen sehen im ultravioletten Licht, unsichtbaren Anteilen der Sonnenstrahlen", bemerkte Julius, der sich als Naturwissenschaftsexperte berufen fühlte. "Rot geht ihnen dabei völlig ab."
"Ach ja, du hast ja den Sonnenlichtvortrag gehalten, wo Jeanne, Barbara und ich nicht da waren. Unverschämtheit eigentlich. Aber Man konnte ja nur Quidditch-Weltmeisterschaft oder Millemerveilles haben", erwiderte Seraphine.
"Ein Vortrag über Sonnenlicht? Das möchte ich aber noch wissen, wie du das den Leuten hier erklärt hast", hakte Maya Unittamo ein. Julius verwies darauf, daß er ja nur eine Zusammenfassung mit Experimenten aus dem Buch von Meridies und Dias gebracht habe. Madame Faucon sprang ihm bei und sicherte der Fachkollegin zu, ihr eine Kopie des Vortragsplans zu geben, die sie noch besaß.
Claire trat vor und erwartete den Zauber. Als dieser wirkte, verwandelte sie sich in einen großen Marienkäfer mit je drei schwarzen Punkten auf jedem Flügeldeckel. Sie hob ab, flog einige Runden und landete auf Julius Schulter.
"Da muß ich mich erst dran gewöhnen, daß die Umrisse nicht mehr so zu sehen sind, wie mit meinen normalen Augen", surrte sie laut genug, daß alle es hören konnten. Julius sagte nur:
"Das paßt irgendwie zu deiner Liebe zum roten, Claire. Außerdem bist du ja auch auf Pflanzen abgerichtet, wenngleich Marienkäfer Blattläuse fressen, also Fleischfresser, Jäger, sind."
"Dann sei froh, daß du keine Blattlaus als innere Tiernatur hast", brumselte Claire etwas leiser. Dann surrte sie davon und landete vor Madame Unittamo. Diese verwandelte Claire in das Mädchen mit den schwarzen, leicht gewellten Haaren im roten Umhang zurück. Dann war es an Virginie, sich zu stellen. Sie verwandelte sich unter dem Sublimimorphus-Zauber in ein weißes Kaninchen. Jeanne grinste. Virginie sagte mit lispelnder Stimme:
"Hat mich auch ein Kaninchen überkommen? Das sollte ich meiner Maman aber nicht erzählen." Dann hüpfte sie durch die Gegend und gewann genug Gewandtheit, um mehrere Ausweichsprünge hinzubekommen, bevor sie wieder bei Madame Unittamo anlangte und sich erfolgreich zurückverwandeln ließ.
Elisa überwandt sich, auch das Experiment zu wagen und stellte sich dem Zauber. Als dieser wirkte erschien dort, wo Elisa gewesen war, ein großer weißer schöner Schwan. Dieser flog erst unbeholfen, dann federleicht durch den Saal, setzte sich wieder vor Madame Unittamo hin und ließ sich in Seraphines kleine Schwester zurückverwandeln.
"Zumindest keine Enttäuschungen", stellte Maya Unittamo fest und verwandelte sich kurz in die weiße Stute, in deren Gestalt sie zum Festhaus gekommen war. Dann kehrte sie in ihre Ursprungsform zurück und bat alle, sich um sie zum Frage-und-Antwort-Spiel zu versammeln.
"Was das Kaninchen angeht, Virginie, so mach dir keine Sorgen. Dieses Tier spiegelt nur die tiefgründigsten Elemente deiner Selbst wieder, ist aber nicht dein ganzes Wesen. Komisch, daß diese Tiere so ungern genommen werden. Ich habe das mal ein Jahr in Kaninchengestalt ausgehalten. Zugegeben, die ständigen Avancen von männlichen Kaninchen und die mehrmaligen Würfe ... Aber lassen wir das! Kommen wir zu euren Fragen. Was wollt ihr wissen?"
"Wenn man weiß, was das innere Tier ist, wielange dauert dann die Ausbildung zum Animagus?" Fragte Julius.
"So um die zwei bis drei Jahre kann das gewöhnlicherweise dauern. Wenn du gezielt dieses innere Tier als neue Gestalt annehmen willst, dauert es gerade ein halbes Jahr weniger", sagte Maya Unittamo.
"Ist es gefährlich, dauerhaft in Tiergestalt zu bleiben?" Fragte Barbara.
"Bei deiner Tiergestalt wohl eher für die anderen", spottete Elisa. Madame Faucon räusperte sich wieder sehr vernehmlich. Stille kehrte ein.
"Gefährlich im Sinne, daß du irgendwie immer die Herrschaft über den Tierkörper behalten mußt. Kannst du dies nicht oder verlierst du die Kontrolle, übernehmen die Instinkte des Tieres dein Handeln, je länger je heftiger. Jeanne hat also recht, wenn sie erkennt, daß die Angst, die ihr ihr gemacht hat, ein Gefahreninstinkt ist. Von den anderen Sachen, die Kaninchen, Löwen und Elefanten so anstellen können, sind die Beute- Flucht- und Paarungsinstinkte die mächtigsten Triebe. Wenn du nicht weißt, was ein intensiver Geruch mit dir anstellen kann, kannst du dem damit verbundenen Drang verfallen."
"Sie sagten, dieses innere Tier sei nur die Basis aber nicht verbindlich. Wenn ich nun keine Bienenkönigin werden will, wie kann ich das verhindern, während ich mich ausbilde?" Fragte Seraphine.
"Indem du dir gezielt ein Verhaltensmuster ins Bewußtsein rufst, das dem deines inneren Tieres entgegensteht. Sie überlagern sich, und du kannst werden, was du willst", erwiderte Madame Unittamo.
Was passiert, wenn ich in Tiergestalt sterbe?" Fragte Julius.
"Dann verbleibst du in der Tiergestalt. Nur Werwesen verwandeln sich nach dem Tod in ihre menschliche Gestalt zurück. Aber das berührt ein anderes Resort."
"Wenn wir es schon von Fortpflanzung haben, kann ich dem noch entgegenwirken, wenn ich mich schnell zurückverwandele?" Fragte Jeanne.
"Wenn die Fortpflanzung erfolgreich verlief, kannst du dich nicht zurückverwandeln, es sei denn, du besitzt die Gestalt eines Vogels, Insektes oder Reptils. Säugetiere bleiben gebunden, bis eventueller Nachwuchs geboren wurde. Erst dann kann sich eine Hexe in ihre menschliche Gestalt zurückverwandeln."
"Und umgekehrt?" Fragte Virginie.
"Da geht's. Allerdings werden Kaninchenjunge, die deinen Leib verlassen haben, zu Menschenbabies, wenn sie aus dem Einfluß des Zaubers freikommen."
"Kann man an der äußeren Erscheinung was ändern?" Fragte Claire. Jeanne fragte, ob sie vielleicht zwei Punkte mehr haben wolle.
"Das geht nur im Erwerbsprozess, also während du dich zur Animaga ausbildest, Claire. Ist die Endform einmal festgelegt, gibt es nur bei sehr großem Zaubertralent noch Änderungsmöglichkeiten", sagte Maya Unittamo.
"Welche Gefahren bestehen in der Ausbildung?" Fragte Madame Faucon nun.
"Ja, muß auch erwähnt werden, Madame Faucon. Nicht jeder, der auszog, ein Animagus zu werden, hatte Erfolg. Einige vertaten sich und verloren bei der Verwandlung den Verstand, blieben auf Ewig, also bis zum natürlichen Todestag des Tieres unheilbar verwandelt. Andere litten an der Wechselwandelkrankheit, die sie in bestimmten Gemütsverfassungen verwandelte, ähnlich wie der Vollmond auf Werwölfe wirkt."
"Gut, das soll es dann für heute gewesen sein", entschied Madame Faucon. Artig bedankten sich alle bei der ehemaligen Thorntails-Lehrerin für diese außergewöhnliche Stunde und versprachen, nichts zu vergessen, was sie hier und heute gelernt hatten.
Sie flogen oder liefen nach Hause, um das zu erzählen, von dem sie dachten, daß es harmlos genug sei, erwähnt zu werden. Julius, der hinter Jeanne flog, dachte über die Animagus-Erfahrung nach. Er war mit weniger Aufregung an dieses Experiment gegangen, als bei dem Infanticorpore-Fluch. Vielleicht lag es daran, daß er ja wußte, daß Animagi mehr bekannt waren als verpatzte Fluchopfer. Dann dachte er wieder über Madame Faucons Worte nach, er würde in Hogwarts nicht richtig gefördert und entsann sich, daß Barbara sich in Hogwarts gelangweilt haben wollte. So verknüpfte er: "Du wirst in Hogwarts nicht richtig gefördert" mit "Mir war es da oft langweilig" zu "Dir ist es in Hogwarts zu langweilig", was ihn sehr stutzig machte.
"Heh, halt dich gefälligst richtig fest. Ich bin nicht aus Porzellan, aber du könntest mir vom Besen kippen", rief ihn Jeanne in die Gegenwart zurück. Julius entschuldigte sich und gab an, über alles von gestern und heute nachgedacht zu haben.
"Du meinst das, was dir Madame Faucon und Madame Delamontagne vorgehalten haben. Nimm es zwar ernst, aber kümmer dich nicht drum. Darüber kannst du im Moment nicht entscheiden. Aber sollten Madame Grandchapeau und Madame Delamontagne mit deiner englischen Fürsorgerin aushandeln, daß du besser in Frankreich bleibst, helfe ich dir in Beauxbatons über die ersten Monate. Die eine Klasse muß ich ja noch ableisten, bevor ich mein eigenes Leben gestalten kann", sagte Jeanne. Julius empfand diese Zusage als verbindlich, so als wäre sich Jeanne darüber klar, daß er darauf zurückkommen müßte.
Wieder zurück im Wohnhaus der Dusoleils ließen sich die Eltern Jeannes und Claires berichten, was sie alles gelernt hatten. Zwar herrschte eine stille Absprache zwischen Jeanne, Claire und Julius, daß die Animagus-Versuche nicht erwähnt wurden, aber der Rest dessen, was sie zu berichten hatten, war für die Eheleute Dusoleil schon aufregend genug. Monsieur Dusoleil wandte sich an Julius und grinste:
"Da reist die ehrwürdige Maya Unittamo durch beide Welten und wußte noch nicht, das die Luftteilchen beim Einschrumpfen von Lebewesen immer schwerer einzuatmen sind? Dann freut sie sich, daß sie doch noch was nützliches lernt."
"So ähnlich hat sie das auch gesagt", erwiderte Julius grinsend.
"Eleonore hat dir eine Eule geschickt. Sie möchte wohl wieder mit dir Schach spielen", benachrichtigte Madame Dusoleil ihren Feriengast. Dieser nickte schwerfällig und nahm den Brief, den eine von Madame Delamontagnes Eulen bei den Dusoleils abgeliefert hatte. Er öffnete den Umschlag und las:
Hallo, Julius!
Da ich weiß, daß dein Terminplan in den Ferien sehr umfangreich ist, wollte ich lieber zwei tage im Voraus anfragen, ob du mir noch einmal die Ehre erweist, in meinem Schachgarten gegen mich anzutreten. Immerhin hast du mir gezeigt, daß dieses Spiel durchaus noch interessante Überraschungen bereithält.
Nathalie hat mir geschrieben, daß deine Mutter über Catherine einen Brief an sie geschickt hat. Sie betont darin, daß sie keinerlei Bedenken hat, dich weiterhin in den Zaubereifächern auszubilden. Sie erwähnte auch, daß dein Vater und sie wohl am dritten August nach England zurückkehren würden und dies wohl die letzte Gelegenheit sei, ohne sein Wissen mit dir in Kontakt zu treten. Vielleicht bekommst du ja auch noch einen Brief.
Falls du also noch mal gegen mich spielen möchtest, schicke mir deine Eule mit einer Antwort!
Mit freundlichen Grüßen
Eleonore Delamontagne
Julius überlegte, ob er auf diese Anfrage eingehen sollte. Nach dem letzten Gespräch zwischen der gewichtigen Dorfrätin und ihm fühlte er sich etwas unwohl in ihrer Nähe. Er stritt zwar für sich selbst ab, daß er Angst vor ihr hatte, aber zumindest war ihm die Dorfrätin nicht ganz geheuer. Sie hatte ihm mehr oder weniger angedroht, ihn komplett unter ihre Kontrolle zu stellen, auf ihn aufzupassen, wenn etwas mit oder um ihn passierte, was ihr nicht paßte. Sie hatte ihm unmißverständlich klargemacht, daß sie mächtiger war als er, ob mit oder ohne Zauberkraft. Sein Vater, der sich bis vor zwei Jahren für die einzig mächtige Person in seiner Umgebung dargestellt hatte, hatte alle Vormacht über ihn verspielt, in sinnlosen Kämpfen verloren. Doch sollte Julius nun Bammel vor dieser Hexe haben? Solange er ihr nichts tat, würde sie ihm wohl auch nichts tun. Bösartig war sie jedenfalls nicht, soweit er dies mitbekommen hatte. Virginie war mit ihrer Mutter wohl auch nicht zerstritten oder fürchtete sich vor ihr, soweit er das mitbekommen konnte, und das wollte was heißen, wenn er sich daran erinnerte, daß Mütter und Töchter schon frühzeitig gesellschaftliche Grenzstreitigkeiten ausfochten, wer wem wie was sagen oder tun sollte. So entschloß er sich, eine Eule von Madame Dusoleil zu Madame Delamontagne zu schicken und ihrer Bitte um ein Schachspiel zuzusagen. Francis, seine eigene Eule, war ja noch wegen eines Briefes an Kevin Malone unterwegs.
Während des Abendessens wirkte Julius geistig verreist. Er nahm von den Gesprächen um sich herum nicht viel Notiz, aß eher wie ein Vertilgungsautomat als mit Genuß, reagierte auf Fragen eher wie ein Computerprogramm, daß auf bestimmte Stichwörter bestimmte Antwortsätze ausgab und hing zwischen Wirklichkeit und innerer Aufregung fest. Daß dies Madame Dusoleil und Claire nicht entging, störte ihn nicht sonderlich. Nach dem Abendessen besorgte Madame Dusoleil den Abwasch in der Küche zusammen mit Jeanne. Julius war auf sein Zimmer gegangen, angeblich um die Sachen, die er am Nachmittag gelernt hatte niederzuschreiben. Er benutzte nicht die flotte Schreibefeder, da diese gesprochene Sätze brauchte, um eigenständig etwas aufzuschreiben, sondern schrieb von Hand einige Notizen. So um halb neun klopfte es an seine Tür. Er hörte es erst nicht, da er seine Gedanken immer wieder zusammenraffen und richtig ordnen mußte. Als das Klopfen etwas lauter wurde, drang es zu ihm durch.
"Herein!" Rief er. Die Tür schwang auf und Claire Dusoleil trat ein.
"Hallo, Julius. Maman hat mich geschickt. Du möchtest zu ihr ins Musikzimmer kommen."
"Wieso ausgerechnet dahin?" Fragte Julius.
"Hat sie nicht gesagt", erwiderte Claire. Dann sah sie Julius' notizen und fragte:
"Für so wenige Sätze hast du eine Dreiviertelstunde gebraucht? Also ist doch was mit dir los."
"Claire, ein Huhn, das noch nicht weiß, ob es ein Ei legen soll, gackert nicht", gab Julius etwas mißgestimmt zur Antwort.
"Ist was mit deinen Eltern?" Erkundigte sich Claire mit echter Besorgnis in der Stimme. Ihr Gastbruder schüttelte den Kopf und erwiderte:
"Neh, die fahren morgen wieder nach England, habe ich gelesen. Meine Mutter hat's geschafft, meinem Vater nicht mitzuteilen, daß Catherine 'ne Hexe ist."
"Maman hat gesagt, daß sie mit dir was bereden muß. Vielleicht will sie deshalb haben, daß du zu ihr ins Musikzimmer gehst, weil das ein Klangkerker ist."
"Na klar", erwiderte Julius, dem nun klar wurde, daß sie ihm was wichtiges mitteilen oder von ihm erfahren wollte, das niemand mithören sollte. Er packte seine Notizen säuberlich zusammen und folgte Claire, obwohl er ja längst alle für ihn erlaubten Räume des Hauses kannte.
Vor dem Musikzimmer wich Claire ihm aus dem Weg und ließ ihn vorbei. Hinter ihm schloß sie die Tür. Julius wunderte sich erneut, wie fest die Hausherrin ihre Töchter im Griff hatte, wenn Claire so folgsam ihre Anweisungen befolgte.
Die Hausherrin saß vor dem Spinett und ließ ein paar muntere Akorde erklingen. Als Julius mit ihr alleine war, hob sie den Zauberstab und murmelte: "Portaclausa!" Ein leises Klicken verriet, daß das Türschloß sich verriegelt hatte. Er war nun also mit ihr eingesperrt.
"Setz dich bitte hin!" Forderte die Hausherrin ihren Gast auf. Dieser spürte, obwohl die Worte weder streng noch dringlich klangen, daß sie dennoch eine große Kraft besaßen. Er nahm auf einem der gepolsterten Stühle Platz. Madame Dusoleil rückte ihren Lehnstuhl vom Spinett fort und drehte sich so, daß sie ihn direkt ansehen konnte.
"Was haben wir dir getan?" Fragte sie direkt heraus. Julius schluckte. Dann stieß er schnell aus:
"Nichts! Überhaupt nichts, Madame."
"Du bist nun lange genug bei uns zu Gast, daß ich deine Gemütslage erkennen kann. Heute war irgendwas, oder?"
"Vielleicht bin ich nur schon in Gedanken dabei, mich auf Hogwarts einzustimmen. Immerhin wird es dieses Schuljahr doch anders als letztes Jahr", gab der Sohn von Richard und Martha Andrews eine schnell gefundene Antwort auf seine Verfassung.
"Dann beunruhigt dich das, daß du dorthin zurückkehrst?" Fragte sie leicht besorgt klingend.
"Nein, das nicht. Ich muß mir nur eine Art Verhaltensvorgabe machen, wie ich mit denen da umgehe, weil die meisten von denen ja nicht wissen sollen, daß ich hier war. Bei uns laufen manche merkwürdige Typen rum, die sich schon das Maul zerrissen haben, als ich nicht im Zug nach London saß. Da meine Mutter mir beigebracht hat, alles so logisch wie möglich zu machen, muß ich mir was ausdenken, um eine glaubhafte Geschichte zu erzählen und mich vorbereiten, wie ich auf welche Bemerkungen oder Fragen antworten soll. Es hat sowieso schon Gerede gegeben, weil ich im letzten Jahr Sonderaufgaben habe leisten müssen, ob ich nicht 'ne Klasse überspringen wolle und so."
"Na klar, die Ferien hier haben dich gut davon abgelenkt, darüber nachzudenken. Allerdings kaufe ich dir das nicht so recht ab. Das ist nicht nur Hogwarts. Du verbirgst irgendwas, daß dich umtreibt. Du hast wohl gelernt, Gefühle nur dann zu zeigen, wenn dir dadurch nichts passieren kann. Aber das klappt nicht immer. Da du mir nicht direkt sagen möchtest, was genau dich umtreibt, muß ich vermuten, daß Blanche und Eleonore dahinterstecken. Haben sie dir überschwere Aufgaben oder unzumutbare Anweisungen gegeben?"
"Wie kommen Sie auf Madame Faucon und Madame ...?"
"Na, keine Gegenfragen. Das zeigt meistens, daß du in Bedrängnis bist und Zeit schinden willst. Also hat es was mit den beiden zu tun. Ich habe es gestern gesehen, daß sie dich zu sich gebeten haben. Da ich selbst mit Madame Unittamo und Adele Lagrange geschwatzt habe, konnte ich nicht mitbekommen, was da vorging. Jeanne sagte mir das auch nicht. Sie verwies darauf, daß das deine Sache sei und sie sich nicht darüber auslassen sollte. Meine älteste Tochter kommt mir nur dann so geheimnisvoll, wenn es mit ihren Schulkameraden im Zusammenhang mit Lehrern zu tun hat. Aber ich habe schon gestern erkannt, daß du nur deshalb nicht mit Claire vom Weg abgekommen bist, weil dein Verantwortungsgefühl stärker war als andere Gedanken und du dich und sie nicht in Gefahr bringen wolltest. Dann habe ich dich heute Nachmittag mit Jeanne zurückfliegen sehen und bemerkt, daß du irgendwie nicht bei der Sache warst. Sei froh, daß Jeanne so gut im Tandem fliegen kann! Die Krönung des ganzen war deine fast stumpfsinnige Teilnahmslosigkeit beim Abendessen. Oder ist es was körperliches. Soll ich Madame Matine holen, damit sie dich untersucht?"
"Nein, das ist nichts körperliches", wies Julius schnell diese Vermutung zurück. Dann gab er sich einen Ruck und erzählte, was gestern abend gelaufen war und das ihn das seitdem nicht mehr losgelassen hatte.
"Weil du also Jeanne und Claire gesagt hast, daß du in Beauxbatons nicht zurechtkommen würdest, dies zumindest denkst, mußte die gute Blanche dich wieder auf ihre Linie einschwören, wie es in der Politik heißt. Madame Delamontagne hat dann auch noch gemeint, dir klarzumachen, wo du gerade bist und wer das veranlaßt hat. Du hast dich sicherlich gefragt, woran das liegt, daß gerade die beiden so sehr davon überzeugt sind, dich ordentlich zu führen. Was ist dabei herausgekommen?"
"Nun, da die Katze jetzt aus dem Sack ist, denke ich, daß Madame Faucon es wegen Catherine tut. Außerdem glaubt sie, daß ich in Beauxbatons, also bei ihr, mehr oder besser lernen kann, als in Hogwarts. Ihr liegt also was daran, sicherzustellen, daß ich alles richtige lerne. Aber daß Madame Delamontagne meint, mir sagen zu müssen, daß sie mich schnell von Hogwarts wegholt, wenn ich überhaupt dahin zurückfahre, als mir lieb ist, wenn was passiert, was sie nicht abkann, gibt mir nur zwei Lösungsmöglichkeiten zur Auswahl. Entweder hat sie sich in mich verliebt, wie eine Frau in ein Kind, das sie nicht hatte oder sie hat Angst, daß ich irgendwann für alle gefährlich werde. Wer mit Löwen im Zirkus arbeitet, muß sie sehr früh daran gewöhnen, daß eine Peitsche laut knallt, damit sie nicht merken, daß sie den Dompteur töten können."
"Dann hätte Eleonore ja mehr Angst vor dir, als du vor ihr", erwiderte Madame Dusoleil grinsend. Dann sprach sie ernst weiter:
"Als du hier ankamst, haben wir uns drüber unterhalten, wieso wir dich ausgerechnet dann zu uns holen, wo der Unnennbare wieder an die Macht gekommen ist und Zauberer wie dich verfolgt. Wir waren uns drüber klar, daß du nicht so enden sollst wie er, nur weil du dich alleingelassen fühlst. Jeanne hat mir regelmäßig geschrieben, als sie in Hogwarts war. Sie berichtete von den Slytherins und deren merkwürdige Art, mit andershäusigen Mitschülern umzugehen. Wahrscheinlich wird deine Schulkameradin Prudence Eleonore ebenfalls davon erzählt haben, und Eleonore ist nicht umsonst Dorfrätin für gesellschaftliche Angelegenheiten. Sie denkt ihr bekannte Dinge weiter voraus und spielt alle Folgemöglichkeiten durch. Muß wohl mit ihrer Schachleidenschaft zusammenhängen. Vielleicht ist sie darauf verfallen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß du dich von den Slytherins auf Abwege drängen läßt, zu groß ist, um es darauf anzulegen, dich nach Hogwarts zurückzuschicken. Daß sie dir das gestern unter die Nase gerieben hat bedeutet für mich, die ich Eleonore schon lange genug kenne, daß sie dich für fähig hält, ihre Meinung anzuhören und nicht davon aus der Bahn geworfen zu werden. Ich bin selber eine der zwanzig Schulbeiräte von Beauxbatons, genauso wie Eleonore oder Nathalie Grandchapeau. Ich habe genug Zusammenkünfte erlebt, wo es um Schüler ging, über deren Schicksal gesprochen wurde, ohne das die was davon mitbekamen. Wenn Eleonore dir unmißverständlich klarmacht, daß sie nicht will, daß du was tust, das sie nicht gutheißt, gibt sie dir damit die Möglichkeit, so zu handeln, daß es für dich keine Probleme geben wird. Obwohl du sie nicht häufig getroffen hast, wird sie schon wissen, wie sie dich einschätzen kann. Das ist also kein Grund für dich, verunsichert zu sein."
"Stellen Sie sich mal bitte vor, Jeanne hätte in Hogwarts jemanden getroffen, der ein hoher Würdenträger im englischen Zaubereiministerium ist! Wenn der ihr erzählt hätte, daß sie in Beauxbatons vor die Hunde geht und verfügt hätte, daß sie dort nicht mehr hindarf, wie würden Sie reagieren?"
"Ich würde natürlich das Gegenteil zu beweisen versuchen und fragen, wer da meint, über meine Familie so urteilen zu können. Das wird deine Mutter in einem solchen Fall natürlich auch tun, wie du ihn mir beschrieben hast."
"Nur mit dem Unterschied, daß meine Mutter keinen Einfluß mehr auf meine Zaubereiausbildung hat. Wenn ich Madame Delamontagnes Brief von heute richtig verstehe, haben sie und Madame Grandchapeau wohl darauf hingearbeitet, daß meine Mutter allem zustimmt, sofern man ihr logische Gründe vorlegt und sie formal fragt, ob sie damit einverstanden ist."
"Wie dem auch sei, Julius. Es ist schon richtig, was Madame Delamontagne gesagt hat. Sie kann verfügen, ob du wieder nach England zurückkehren kannst, wenn sie und Nathalie darüber einkommen, daß du nicht zufällig bei uns gelandet bist, sondern weil es der bessere Weg für dich ist. Allerdings heißt das jetzt noch nicht, daß du übernächste Woche mit Jeanne und Claire nach Beauxbatons gehst. Im Moment sehe ich keine Änderung im Zeitplan. Du bleibst noch die siebzehn Tage bei uns, lernst bei Blanche die Abwehr dunkler Künste und bei Hera die Ersthilfetechniken. Nur für den Fall, daß du wirklich nicht mehr nach England und Hogwarts zurückreisen solltest, besteht für dich kein Grund, dir Sorgen zu machen. Du kennst allein in Millemerveilles genug Jungen und Mädchen, daß du dort keine Anschlußprobleme haben wirst, falls du es nicht absichtlich darauf anlegst, von allen unsympathisch gefunden zu werden, selbst von denen aus dem gelben Saal, die eher leiden, als ihre Meinung zu sagen. Ich zähl dir mal die dir bekannten Saallsprecher und -sprecherinnen auf:
Barbara und Virginie führen den grünen Saal, und Edmond Danton hast du ja beim Schuljahresabschlußfest kennengelernt, zumindest so, daß du weißt, wer und was er ist. Belle, die dieses Jahr die siebte Klasse mitmacht, löst Fleur Delacour als Saalsprecherin ab. Mit ihrem männlichen Gegenstück, Antoine Marat, wirst du vielleicht anfangs Probleme kriegen können, aber der ist nur ängstlich, daß seine Vormachtstellung unter seiner Meinung nach unfähigen Mitschülern leidet.
Seraphine ist amtierende Saalsprecherin der Weißen, zusammen mit Gustav van Heldern, den du ja auch schon in Hogwarts getroffen hast, welcher auch Quidditchkapitän der Weißen ist.
Die Gelben führt bei den Mädchen Francine Delourdes, die Jungen wenn ich richtig informiert bin immer noch Octavian Leblanc.
Die Blauen werden bei den Mädchen von Nicole L'eauvite und bei den Jungen von Adrian Colbert geführt.
Von den Roten kennst du bereits Bruno, der zusammen mit César in der Quidditchmannschaft spielt, dem für die Mädchen Martine Latierre zur Seite steht. Von denen kennst du dann noch Caro, die Montferre-Schwestern und Janine Dupond.
Dies nur für den Fall, daß du wirklich umsatteln solltest. Ich gehe jedoch wie Blanche und Jeanne davon aus, daß du bei den Grünen reinkämst. Für die Roten bist du zu bedächtig, für die gelben zu selbstengagiert und für die Weißen zu vielseitig interessiert, auch wenn Seraphine dir da was anderes erzählt haben könnte."
"Bleiben immer noch die Violetten und die Blauen."
"Für die Violetten bist du nicht selbstherrlich oder übereifrig genug. Eifrig und lernbegierig bist du schon, aber nicht zu ehrgeizig, wie ich wohl weiß. Komm mir auch nicht damit, du würdest dich bei den Blauen wohlfühlen! Willst du wirklich dahin, wo Leute meinen, gegen alles sein zu können und sich untereinander dazu anzutreiben, dummes Zeug zu tun, wie Jacques?"
"Wenn die Damen Faucon und Delamontagne mit mir schon dieses Spiel spielen, ich möge mich darauf einrichten, früher oder später in Beauxbatons einquartiert zu werden, spiele ich das Spiel eben weiter durch und teste aus, wo die mich dann hintun."
"Was die Hauslehrer, die in Beauxbatons Saalvorsteher heißen, angeht, so gehe ich davon aus, daß Seraphine dir mindestens die Ausgabe der Bulletins von 1990 geschenkt hat, wo die zurzeit amtierenden Saalvorstände aufgelistet sind."
"Ich habe schon einige gesehen. Professeur Fixus hat die Roten unter sich, Professeur Pallas die Blauen, Professeur Trifolio die Weißen und Professeur Faucon die Grünen. Wundert mich also nicht, daß die meint, ich könnte bei ihr unterkommen", sagte Julius nun etwas besser gestimmt, nun, wo er sich den Ballast von Geist und Seele geredet hatte.
"Nicht nur sie, ich auch. Ich war mit Florymont auch da und bin froh, daß Jeanne und Claire dort untergekommen sind. Eleonore, die zu ihrer Zeit bei den Violetten war, war zwar etwas enttäuscht, daß Virginie auch im grünen Saal wohnt, hat sich aber damit versöhnt, daß sie dort zumindest sehr gute Leistungen erbringt."
"In Hogwarts habe ich gelernt, daß Geschwister oder sonstige Verwandte nicht unmittelbar im selben Schulhaus landen müssen. Das ist vielleicht auch gut so. Sonst bräuchte man ja kein Auswahlverfahren. Steht im Bezug auf Beauxbatons eigentlich was in der Chronik?"
"Steht im Bezug auf das Auswahlverfahren in Hogwarts was in deren Chronik?"
"Nein", wußte Julius zu antworten. Offenbar war das Absicht, um Schulanfänger nicht auf dieses Auswahlverfahren einzustimmen, damit sie nicht versuchen mochten, es zu beeinflussen.
"Falls du in Beauxbatons landen solltest, und Blanche ihren Willen kriegen sollte, wirst du wie alle Erstklässler kennenlernen, wie die Schulanfänger eingeteilt werden. Wir, die wir da waren, dürfen genauso wenig darüber erzählen, wie die Eltern von Hogwarts-Schülern, sofern sie dort waren."
"Um das jetzt endgültig auf die Reihe zu kriegen: Sie meinen also, ich sollte mich geehrt, ja sicher fühlen, daß Madame Delamontagne mich darauf hingewiesen hat, daß sie mich vielleicht hierbehält."
"Genau. Aber das eine sage ich dir: Die sollte nicht meinen, dich als ihren Zögling behalten zu können. Da werden Catherine, Florymont und ich aber noch was zu sagen wissen. Die wird dich nicht für sich vereinnahmen, damit du außer Schule nur noch Schach im Kopf hast. Nix da!"
Julius grinste, weil sich für ihn bestätigte, was Madame Faucon und Aurora Dawn ihm schon zugetragen hatten. Madame Dusoleil würde, wenn er, Julius, eine neue Pflegefamilie zugeteilt bekommen sollte, Ansprüche anmelden. Im Moment würde er sich sofort für sie entscheiden, wenn er gefragt werden sollte.
"Also bleibt das, was du mir gerade anvertraut hast, erst einmal unter uns. Jeanne und Claire müssen, sofern sie davon nicht schon alles mitbekommen haben, nichts wissen." Beschloß Madame Dusoleil und öffnete das durch Zauberkraft verriegelte Türschloß.
"Wenn du magst, kannst du wieder gehen. Vielleicht hast du aber auch Lust, mit mir noch ein Duett zu spielen." Julius nahm die Einladung an und vertrieb die schweren Gedanken mit Musik.
Als er wieder aus dem nach außen schalldichten Musikzimmer trat, warteten Jeanne und Claire auf ihn. Sie sahen ihn fragend an, doch er schüttelte den Kopf und wünschte nur: "Gute Nacht, Mädels!"
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"Du verträgst die Schwermachermagie sehr gut", befand Barbara am nächsten Morgen, als sie nach Dauerlauf und Gymnastik- und Karatebewegungsübungen mit dem Schwermacher den Auflockerungslauf um den Dorfteich machten. Julius war besser gestimmt als am Tag zuvor. Er dachte sogar daran, sich seelisch auf Beauxbatons einzustellen, nachdem Madame Dusoleil ihm noch mal Mut zugesprochen hatte. So fragte er Barbara:
"Nur eine hypothetische Frage, Barbara. Was würdest du machen, wenn irgendwer von Monsieur Grandchapeau abwärts verfügen würde, daß ich bei euch in Beauxbatons lande?"
"Ach, die Kiste! Jeanne hat's mir geschrieben, weil ich ja Saalsprecherin bin. Für den Fall, daß du wirklich bei uns landest, würde ich verfügen, daß du definitiv in unser Saal-Quidditchmannschaftstraining eingebunden wirst, und zwar ohne Widerspruchsmöglichkeit von deiner Seite. Außerdem würde ich Edmond in Gleichgestellter Pose informieren, was du aus Hogwarts gewohnt bist und wie dir der Übergang so unbeschwert wie möglich bereitet wird, ohne dich zu bevorzugen. Als Mädchen darf ich dich, einen Jungen, ja nur betreuen, wenn du außerhalb des Saales herumläufst. Falls also tatsächlich verfügt wird, daß für dich auch am zwanzigsten August die Sommerferien zu Ende gehen, bist du schon gut untergebracht, bevor du dich an unseren Tisch setzt."
"Moment, Barbara! Wenn eure Auswahl, die ja noch streng geheim ist, mich nicht in den grünen Saal katapultiert, sondern zu den Roten, den Blauen oder den Weißen, ist das ja dann gar nicht möglich, was du sagst."
"Freundchen, Jeanne und ich haben dir schon mal gesagt, daß du keine andere Chance hast als bei uns im grünen Saal zu landen. Falls was anderes rauskommt wäre das noch heftiger, als das Ding mit Harry Potter und dem Feuerkelch."
"Gut, jetzt bin ich mal so gemein und sage, du könntest ja auch bei den Roten gelandet sein, weil die mehr Wert auf Körperkraft und freie Gefühle legen."
"Da hängen aber noch ein paar Sachen mehr dran, Jungchen. Wenn's danach gegangen wäre, wer scheinbar das wichtigste Kriterium für einen Saal erfüllt, würde Jacques bei den Weißen wohnen und deren Hauspunkte vielleicht ruinieren, von den eigenen ganz zu schweigen. Wäre peinlich für Professeur Trifolio", gab Barbara mit gehässigem Unterton zurück. Dann sagte sie noch mal klar und deutlich:
"Wenn du in siebzehn Tagen mit uns im Ausgangskreis der Fährensphäre stehst, einen blaßblauen Umhang anhast und mit uns in Beauxbatons landest, sitzt du keine zwanzig Minuten später wieder neben Edmond, vielleicht wieder neben Claire, falls ich dem nicht einen Riegel vorschiebe und dich flankiere. Falls du übernächste Woche nicht mit uns im Ausgangskreis stehst, bist du dir in Hogwarts wieder selbst überlassen. Vielleicht freuen sich dann die beiden blonden Demoisellen, die zu deiner Geburtstagsparty kamen."
"Will sagen, wenn ich Glorias Locken wiedersehen kann, mir in den Arm kneife und es wehtut, ich also nicht träume, habe ich Glück gehabt", setzte Julius dem eine Freche Bemerkung oben drauf. Barbara umfaßte ihn mit einem Arm, hob ihn locker vom Boden und trug ihn zwei Meter weiter, bevor sie ihn wieder absetzte.
"Jeder ist seines Glückes Schmied, heißt es irgendwo. Solltest du aber in fünf Jahren rausfinden, daß du bei uns besser dein Glück hättest schmieden können, erinnere dich gut an das, was du da gerade von dir gegeben hast!"
Vor dem Frühstück gab ihm Madame Dusoleil noch einen rosa Seidenpapierumschlag und bemerkte dazu:
"Der viel vor zehn Minuten mit einer Posteule aus unserem Kamin. Offenbar hat da wer die Zeitverschiebung gut beachtet und die Nacht zum Tag gemacht."
Julius öffnete den Umschlag und las die sichere und kraftvolle Handschrift von Mrs. Jane Porter, Glorias Großmutter väterlicherseits.
Hallo, Honey!
Ich hörte davon, daß die gute Maya im Moment in Millemerveilles Station macht. Wahrscheinlich wird sie dir erzählt haben, daß wir nebeneinander wohnen. Die hat mir nämlich gestern abend unserer Zeit noch einen Brief per Express-Eule in den Kamin fallen lassen, in dem sie mir schrieb, daß sie sehr beeindruckt von deiner Zauberkraft sei. Sie hofft, das Glo und du gut miteinander klarkommt und schlägt mir vor, dich nächstes Jahr mal zu mir einzuladen, mit oder ohne Glo.
Die Mädchen meinen, ich würde sie zu hart rannehmen. Aber dafür können sie jetzt schon mehr, als sie in den ersten beiden Jahren zusammen gelernt haben. Falls Blanche euch nicht richtig ausbildet, gib ihr diesen Brief mit den besten Empfehlungen, sie möge doch immer darauf achten, nur soviel rüberzubringen, wie angenommen werden kann.
Wir sehen uns dann wohl beim Ball von Plinius und Di! Zumindest hoffe ich, daß das alte Mädchen dich nicht schon auf ihrer Schülerliste hat und dich am zwanzigsten August aufläd und mitnimmt. Falls dem so geschehen sollte, wäre ich dir verbunden, wenn du Di das rechtzeitig schreibst, weil sie für alle Gäste, die nicht am gleichen Abend heimkehren können oder wollen, Gästezimmer vorbereiten muß.
Ich wünsche dir noch schöne Restferien, Honey, bis wir uns wiedersehen.
Jane Porter
Julius schluckte hörbar. Dann steckte er den Brief wieder fort. Claire fragte:
"Welches der beiden Mädchen hat dir geschrieben? Die mit den Locken oder die mit dem Zopf?"
"Die mit dem Strohhut", erwiderte Julius locker. Madame Dusoleil lachte. Claire grinste merkwürdig. Julius legte nach:
"Ja, die Konkurrenz unter den Hexen kennt keine Alterslinie."
"Eh, nicht frech werden!" Fauchte Claire und zeigte drohend mit dem rechten Zeigefinger auf Julius.
"Ua, was für lange Fingernägel du schon wieder hast. Da kriege ich ja noch Angst", versetzte Julius. Jeanne lachte und meinte ihrer Mutter zugewandt:
"Was immer du gestern noch mit ihm angestellt hast, Maman, wenn das das erwünschte Ergebnis ist, möchte ich das auch lernen, wie man das macht."
"Ich bringe dir alles bei, Tochter, was ich für richtig halte", erwiderte Madame Dusoleil. Monsieur Dusoleil, der gerade in die Wohnküche eintrat, lachte erheitert und hieb Julius auf die Schultern.
"Dir geht es auf jeden Fall wieder gut. Meine Mädchen waren ja schon besorgt, sie hätten was falsch gemacht."
"Im Moment bin ich wieder im Lot, Monsieur. Was immer kommt, ich werde es hinnehmen können."
"Was wollte Glorias Großmutter denn?" Fragte Jeanne. Julius sagte kurz, daß sie gehört habe, daß Maya Unittamo gerade in Millemerveilles sei. Außerdem hoffe sie, daß ihre Bekannte "Bläänch" ihn zu dem Ball gehen lassen möge, den Glorias Mutter feiern würde.
"Ich denke nicht, daß Blanche es mag, wie Madame Porter die Ältere ihren schönen Vornamen verunstaltet. Wahrscheinlich wird sie sich aber nur von dieser so anreden lassen. Also lege es nicht darauf an, ihren Zorn heraufzubeschwören!" Gab Madame Dusoleil ihrem Gast und derzeitigem Schützling einen gut gemeinten Rat.
"Ich weiß, Madame. Die Amerikaner haben eine merkwürdige Angewohnheit, nichtenglische Vornamen zu verhunzen. Bei Ihrem Vornamen würde in Nordamerika wohl keiner so leicht den Unterschied zwischen Ihnen und einem Kamel heraushören, eben weil die so merkwürdig mit Vornamen umspringen", sagte Julius.
Nach dem Frühstück und dem Zeitunglesen ging es zu Madame Faucons Haus. Julius flog mit Claire zusammen.
"Dafür, daß wir heute die unverzeihlichen Flüche durchnehmen, bist du aber sehr fröhlich drauf. Hat Barbara was mit dir angestellt?"
"Woran denkst du?" Fragte Julius.
"Vergiss es!" Schnaubte Claire. Offenbar saß der Ärger darüber noch bei ihr, den sie über Julius' Bemerkung über Hexenkonkurrenz verspürt hatte.
Die Ferienschüler setzten sich um den Tisch im gemütlichen Wohnzimmer ihrer Lehrerin. Diese trug eine ernste Miene zur Schau, als sie die Schüler der Reihe nach ansah.
"Wie ich gestern anmerkte", begann sie, "halte ich es für geboten, Sie alle mit den drei unverzeihlichen Flüchen bekannt zu machen. Diejenigen, die dieses leidige, jedoch wichtige Thema bereits bei mir durchgenommen haben, mögen für eine geraume Weile schweigend beisitzen und zuschauen. Ich richte mich in erster Linie an die Mesdemoiselles Claire Dusoleil, Elisa Lagrange und Caro Renard, sowie an die Messieurs Dorian Dimanche und Julius Andrews. Um ein mögliches Mißverständnis gleich zu entkräften: Es geht mir keineswegs darum, Ihnen beizubringen, diese Flüche zu wirken, sondern Ihnen lediglich zu verdeutlichen, wie sie wirken und welche geringfügigen Maßnahmen dagegen getroffen werden können. Dies vorneweg: Wenn Sie einem dunklen Magier oder einer schwarzen Hexe gestatten, mit auf Sie deutendem Zauberstab einen dieser Flüche zu sprechen, haben Sie schon so gut wie verloren. Wissen und Schnelligkeit werden Ihnen helfen, den schlimmsten Flüchen zuvorzukommen, ohne selbst auf diese zurückgreifen zu müssen. Wie dies geht, haben wir in den letzten Wochen oft genug geübt und besprochen. Heute werden Sie erleben, warum Sie bei mir Unterricht haben, obwohl die Ferien doch zur Entspannung dienen.
Doch kommen wir nun auf den Punkt! Mademoiselle Elisa Lagrange, nennen Sie mir einen der unverzeihlichen Flüche!"
"Imperius, der Unterwerfungsfluch", gab Elisa korrekt und mit fester Stimme Antwort.
"Monsieur Dimanche, was wissen Sie über den Imperius-Fluch?"
"Hmm, der macht, daß jemand tun muß, was der, der den Fluch ausspricht, von ihm will."
"Ja, das stimmt. In welcher Weise wirkt die Unterwerfung, Mademoiselle Claire Dusoleil?"
"Das Opfer bleibt bei völligem Bewußtsein, ist aber nicht mehr in der Lage, aus eigenem Willen zu handeln. Der Fluch kann selbst den Selbsterhaltungstrieb und die Sorge um Familienangehörige überlagern, sodaß jemand seine eigenen Verwandten töten und sich selbst quälen oder töten muß, wenn ihn der Fluch dazu zwingt."
"Monsieur Andrews, da Sie aus einer Muggelzivilisation stammen, die hunderte von phantastischen Fiktionen entworfen hat, in denen Versklavungen erwähnt werden, können Sie sich was darunter vorstellen, was Mademoiselle Dusoleil gesagt hat?"
"Was möchten Sie hören?" Setzte Julius an, legte jedoch sofort eine gefälligere Antwort nach, als er dem ungehaltenen Blick der Lehrerin ausgesetzt war.
"In den Muggelgeschichten gibt es sogenannte Psychostrahlen, die Leute beeinflussen können, um sie wie Marionetten herumdirigieren zu können, die bestimmte Gefühle auslösen oder unterdrücken. Dann geht natürlich eine sogenannte Gehirnwäsche mit Imperius zusammen, wenngleich die Methoden länger dauern, um ein Opfer so zu verändern, daß es unterworfen ist. Dabei werden Drogen und Schockmittel, lange Beredung oder Beschallungen verwendet. In jedem Fall handelt jemand nach einer solchen Behandlung bei klarem Bewußtsein, ohne schlechtes Gewissen zu empfinden. In einer Geschichte wurde ein Weltraumfahrer von Wesen, die halbe Maschinen waren, durch eingesetzte Maschinenteile zu einem der ihren umfunktioniert und mußte gegen seine eigenen Kameraden kämpfen, wobei viele getötet wurden. Nachdem er von diesen Maschinen befreit werden konnte, erinnerte er sich an alles, was er erlebt und angerichtet hatte, ohne sich dagegen wehren zu können. So komme ich nun zu der Antwort, die Sie haben wollen: Ich stelle es mir schrecklich vor, wenn mir jemand durch Imperius meinen Willen nimmt und ich gegen meine eigenen Freunde kämpfen oder geliebte Menschen verraten und damit zum Tode verurteilen muß und das alles bei klarem Bewußtsein, als stecke wer anderes in meinem Körper."
"Es ist manchmal erschreckend, wie nahe doch manche Muggelphantasien an die in der Zaubererwelt bestehenden Möglichkeiten heranreichen, ohne dies zu beabsichtigen", schloß Madame Faucon Julius' Vortrag ab. Dann holte sie einen großen Käfig, in dem drei Mäuse herumliefen. Sie öffnete den Käfig und fing mit einer schnellen Handbewegung eine Maus ein. Dann befahl sie den Schülern, etwas vom Tisch zurückzurücken. Als diese das getan hatten, setzte sie die Maus auf den Tisch, die sofort losflitzte, als sei eine hungrige Katze hinter ihr her. Die Lehrerin hob ihren Zauberstab, deutete auf die Maus und murmelte unheilvoll klingend: "Imperio!"
Die Maus, die gerade am anderen Ende des Tisches anlangte, blieb unvermittelt stehen. Dann drehte sie sich um und lief langsam auf Madame Faucon zu, die ihre Bewegung mit dem Zauberstab verfolgte, sie nicht aus dem Bann einer unsichtbaren Macht lassend, die sie aufgerufen hatte. Dann stellte sich die Maus auf die Hinterbeine, drehte sich in wilden Pirouetten, schlug Purzelbäume oder machte eine Art Handstand. Dann begann das Tier, merkwürdige Quieklaute auszustoßen, die keiner hier von einer Maus je gehört hatte. Die Laute wurden zu hohen, regelmäßigen Tönen, die so klangen, als sänge die Maus "Sur le Pont D'Avignon". Julius, der aus Geschichten mit besagten Psychostrahlen wußte, daß da wohl eine direkte Gedankenverbindung zwischen Madame Faucon und der Maus herrschte, schluckte mehrmals hörbar. Claire, die neben ihm saß, erschauderte. Elisa und Dorian kämpften darum, kein belustigtes Gesicht zu machen. Jeanne, Seraphine und Virginie sahen mit maskenhaften Mienen zu, wie die Maus nach dem Quiekgesang mit Höllentempo davonjagte, über das Ende des Tisches hinaus und sich überschlagend auf den Boden fiel, wo sie genau mit dem Kopf zuerst aufschlug. Ein leises, häßliches Knacken verkündete, daß die Maus diesen Fall nicht überlebt hatte.
"Da steht eine Schale, wo Sie die Maus hineinlegen sollen, Mademoiselle Delamontagne!" Wies Madame Faucon mit Kalter Stimme an. Virginie verzog zwar das Gesicht, gehorchte jedoch dann und legte die tote Maus in eine Messingschale. Vielleicht, so dachte Julius, würde das verendete Tier den Eulen der Lehrerin zum Fraß vorgeworfen.
"Sie sehen also, daß dieser Fluch alles andere als ein toller Spaß ist. Das hätte ich mit jedem von Ihnen machen können. Nun, mit den meisten von Ihnen, da einige von Ihnen in späteren Klassen lernen konnten, sich ansatzweise gegen die Kraft des Imperius-Fluches zu stemmen. Aber das machen wir heute nicht. Julius hob die Hand und wartete darauf, daß ihm Sprecherlaubnis erteilt wurde.
"Eine ältere Mitschülerin von mir, die im letzten Jahr diesen Fluch im Unterricht hatte, hat erzählt, daß sie und ihre Klassenkameraden von Moody, dem Lehrer, damit belegt wurden, um zu fühlen, wie es wirkt. Sie berichtete, daß die Wirkung zuerst wie ein befreiender Rausch sei, der alle Gedanken verscheuche, bevor die zwingende Wirkung einsetze, die wie eine innere Stimme mit übermächtigem Zwang sei."
"Warum erzählen Sie uns das?" Fragte Madame Faucon. Julius hörte keinen Vorwurf in der Frage, nur eine strenge Stimmlage. Er erwiderte ruhig:
"Damit Sie oder ein anderer Lehrer das nicht erst an uns ausprobieren müssen und wir wissen, was passiert, um uns zu wehren, falls das geht."
"Dagegen kann man sich wehren, wenn der eigene Wille stark genug ausgebildet ist, wozu vor allem eine hohe Selbstbeherrschung gehört", sagte Madame Faucon und sah Julius genau an. Dieser erblaßte. Das galt ihm, dachte er. Hoffentlich hatte er die Hexe nicht auf merkwürdige Ideen gebracht.
"Mademoiselle Claire Dusoleil, wie heißt der zweite unverzeihliche Fluch?"
"Der Folterfluch Cruciatus, Madame Faucon", erwiderte Claire leicht verschüchtert. Sie bemitleidete die beiden verbliebenen Mäuse, weil sie sich denken konnte, was denen gleich passieren würde. Tatsächlich rannten die beiden Mäuse wie wild in ihrem Käfig herum und schnappten mit ihren nagelfeinen Zähnchen nach Madame Faucons Hand, als diese zu ihnen hineingestreckt wurde. Doch schließlich bekam die Lehrerin eine Maus am Schwanz zu fassen und zog sie heraus, wobei die Maus elendig quiekte. Julius dachte sich, daß sie gleich noch lauter quieken würde und sank in düsterer Vorahnung auf seinem Stuhl zusammen.
"Setzen Sie sich wieder gerade hin, Monsieur Andrews!" Herrschte Madame Faucon den englischen Zauberschüler an. Dieser schnellte sofort in seine aufrechte Haltung zurück.
"Crucio!" Murmelte Madame Faucon, als sie die Maus auf den Tisch gesetzt und ihren Zauberstab auf sie gerichtet hatte. Erst rannte das Tier in blanker Panik los, schrie dann aber in höchsten, beinahe für die Ohren nicht mehr hörbaren Tönen los und warf sich unter heftigsten Schmerzen herum. Der Schwanz peitschte umher, die Füßchen schlugen unkontrolliert aus. Das ganze dauerte keine zehn Sekunden. Dann nahm Madame Faucon den Fluch von der Maus, ließ sie einige dutzend Zentimeter über den Tisch stolpern, bevor sie sie mit einem Bewegungsbann auf der Stelle stehen ließ.
"Dieser ominöse Mr. Moody, den Sie im letzten Jahr im Unterricht erleben durften verwendete Spinnen, soweit ich erfahren konnte, Monsieur Andrews. Sie werden zustimmen, daß ein lautäußerungsfähiges Tier wesentlich eindrucksvoller vermittelt, wie grausam dieser Fluch ist. Dagegen gibt es übrigens bis heute kein wirksames Mittel, weshalb dieser Fluch zu den drei Unverzeihlichen gehört. Man kann die Nachwirkungen der unendlichen Schmerzen, die der Cruciatus-Fluch bereitet lindern, aber die direkte Wirkung selbst nicht abwehren, außer, man ist von vorn herein schmerzunempfänglich, was wiederum bei anderen Gelegenheiten nachteilig ist. Warum ist dies so, Monsieur Dimanche?"
"Das weiß ich nicht, Madame Faucon", antwortete Dorian mit schwacher Stimme und erbleichte, weil er Angst vor einem Tadel oder einer Strafe hatte.
"Wer weiß das, wieso Schmerzunempfänglichkeit kein Segen ist?" Fragte die Lehrerin in die Runde. Julius war der einzige, der langsam die Hand hob und errötete, weil er wieder einmal der einzige war, der das wohl wußte.
"Geben Sie mir erst ihre Antwort, Monsieur Andrews. Ob Sie sich dann schämen müssen entscheide ich", forderte Madame Faucon mit schneidender Stimme. Die anderen zogen eine belustigte Grimasse. Julius war sich sicher, daß in Hogwarts jeder gelacht hätte. Aber hier wußten alle, daß dies kein Witz der Lehrerin war.
"Schmerzen sind für den Körper wichtig, weil sie zeigen, wo kranke oder verletzte Bereiche liegen. Sie veranlassen ein Tier, auch einen Menschen, die betroffenen Körperregionen zu schonen oder zu behandeln, damit die den Schmerz auslösende Schädigung abklingt. In meiner Grundschule gab's einen, der sich unheimlich toll fand, weil er sich mit einem Messer in den linken Arm stechen konnte, ohne die Miene zu verziehen. Als der sich dann aber bei einem Skateboardunfall beide Beine brach und auf den gebrochenen Beinen nach Hause wankte, fühlte er sich nicht mehr so toll, obwohl ihm nichts wehtat."
"Wenn das der Grund war, weshalb sie so verlegen aussahen, gebe ich es Ihnen zum wiederholten Mal mit auf den Weg, daß mir Ihre Abstammung unwichtig ist, Monsieur Andrews. Also gestatte ich Ihnen, sich nicht zu schämen", kommentierte Madame Faucon die Antwort. Dann sagte sie noch: "Ansonsten war die Antwort vollkommen korrekt."
"Es gibt doch Schmerzstillungstränke. Könnte man die nicht trinken, um Cruciatus abzuhalten?" Fragte Elisa Lagrange.
"Nur wenn ein schwarzer Magier Ihnen vorher schriftlich mitteilt, wann und wo er den Cruciatus-Fluch auf Sie legen will, Mademoiselle Elisa Lagrange", gab Madame Faucon mit kalter Stimme Antwort darauf. Wieder dachte Julius, daß an dieser Stelle seine Klassenkameraden in Hogwarts gelacht hätten.
"Mademoiselle Elisa Lagrange, nennen Sie mir mit nur fünf Worten den dritten unverzeihlichen Fluch!"
"Avada Kedavra, der tödliche Fluch", gehorchte Elisa dieser Anweisung korrekt.
"Um einen Mißstand in den modernen Schulbüchern zu beseitigen: Avada Kedavra ist zwar der schnellste aber keineswegs einzige tödliche Fluch in der Zaubererwelt. Andere, vor allem druidische und schamanistische Flüche, die schwer und sogar aus großer Ferne zu wirken sind, können auch zum Tode führen. Dies nur, wenn Ihnen anderswo mitgeteilt wird, daß Avada Kedavra der tödliche Fluch sei. Das verleitet gerne zur Annahme, daß Magier anderer Herangehensweisen keinen töten könnten. Die Grausamkeit dieses einen Fluches liegt in seiner schnelligkeit und endgültigkeit."
Madame Faucon holte die letzte Maus aus dem Käfig und setzte sie auf den Tisch. Sie rannte sofort los, erreichte das Tischende und sprang todesverachtend auf Seraphines Schulter. Sofort versteckte sie sich in den kastanienbraunen Haaren der Junghexe, die ein lautes "I! Nein!" nicht unterdrücken konnte. Madame Faucon zielte unbeeindruckt auf die noch unter Bewegungsbann stehende Maus auf dem Tisch. Julius wußte, das er hier und jetzt sehen würde, was ihn hätte treffen sollen, wenn Brutus Pane es gekonnt hätte. Ein Schauer von verschütteten und nun wieder hochgespülten Ängsten schüttelte ihn durch. Doch er sah genau hin, wo die Maus stand.
"Avada Kedavra!" Rief Madame Faucon. Aus ihrem Zauberstab schoß ein blendend heller grüner Blitz unter einem Geräusch, als sirre ein großes Geschoß durch die Luft, traf die bewegungsgebannte Maus und erlosch. Die Maus fiel einfach nur um und rührte sich nicht mehr.
"Removete!" Sprach Madame Faucon, die den Zauberstab immer noch auf die Maus gerichtet hielt. Doch die Maus zuckte nicht einmal mehr mit dem Schwanz. Sie war tot. Das ganze hatte nicht einmal eine Viertelsekunde gedauert. Julius stöhnte auf. So wollte ihn Pane also aus dem Weg schaffen.
Seraphine zog die Maus unter einem kurzen Schmerzlaut aus ihrem Haar und warf sie wie beiläufig von sich. Sie rannte über den Tisch.
Mit einem Verwandlungszauber machte Madame Faucon aus der Maus einen Untersetzer, klaubte diesen auf und verstaute ihn. Dann räumte sie die getötete Maus zu der, die bereits durch den Imperius-Fluch ihr Leben gelassen hatte.
"Die vom Todesfluch getroffene Maus hat, wie Sie sehen konnten, keine sichtbare Verletzung hingenommen. Sie ist einfach gestorben, innerhalb eines Sekundenbruchteils. Kann sich wer vorstellen, wodurch dies möglich ist?" Fragte sie.
"Leben ist eine Form von Energie. Energie kann sich verflüchtigen oder in andere Energien umgewandelt werden", sagte Julius, der wieder als einziger die Hand gehoben hatte. "Wahrscheinlich entzieht der grüne Blitz einem Lebewesen die Lebensenergie, ohne es körperlich zu verändern. Man könnte den Zauberblitz also als Antileben oder Kontravitalenergiestoß bezeichnen."
"Huhu, der Wissenschaftler, wie?" Bemerkte Dorian, der wohl etwas brauchte, um die trübe Stimmung der Vorführung loszuwerden.
"Taceto!" Rief Madame Faucon, wobei sie den Zauberstab auf Dorian richtete.
"Monsieur Dimanche hat sich wohl entschlossen, den Rest der Stunden nur noch zuzuhören. Wie er meint. Das mit der kontravitalenergie klingt zwar etwas akademisch, eher für Lehrbücher als für einfache Unterrichtsstunden, aber im wesentlichen trifft Ihre Einschätzung zu, Monsieur Andrews. Von der Energiestoßtheorie ausgehend kann mir von den übrigen Anwesenden wer erläutern, ob dann nicht magische Schutzschilde den Fluch abhalten könnten?"
Seraphine, von der Flucht der dritten Maus in ihre Haare noch etwas durcheinander, faßte Mut und zeigte auf. Julius tat dies auch, war aber froh, daß er diesmal nicht antworten sollte.
"Julius hat gesagt, daß Leben Energie sei. Also ist es auch eine Energiequelle. Ein Schutzschild ist also nur eine erweiterung dieser Lebensenergiesphäre und dürfte dem Fluch nicht widerstehen. Die einzige Möglichkeit wäre, die mitgeschleuderte Lichtwirkung umzulenken, um die volle Wirkung abzuhalten. Aber der einzige Zauber, der das hinbekäme, ist der Reflectatus Lucem. Der wirft aber alle auf Leuchterscheinungen getragene Zauber zum Urheber zurück, was dazu führte, daß Versuche mit Avada Kedavra verboten sind, da dabei auf jeden Fall einer sterben müßte."
Julius hob die Hand, diesmal wollte er sprechen.
"Ja bitte, Monsieur Andrews?"
"Es klingt zwar gemein: Aber Wenn jemand ein Lebewesen vor sich hinstellt, das den Fluch auffängt, kann jemand einem Angriff doch ausweichen. Ich denke da an Insekten oder kleine Nagetiere, vielleicht auch einen Sack voll Regenwürmer."
"Dieser Logik sind auch schon früher welche nachgegangen. Die fatale Sache war nur die, daß Avada Kedavra die größte Lebensquelle trifft, also nicht einen vor sich herumgetragenen Regenwurm oder eine lebende Maus. Das hat leider früher einigen berühmten Magiern das Leben gekostet. Wenn Sie jedoch einen Baum genau auf die Flugbahn des Fluches zwischen sich und den Angreifer bekommen, funktioniert das wirklich. Allerdings passiert dann etwas, wo man schnell weglaufen muß", sagte Madame Faucon.
"Der Baum fällt einem entgegen", vermutete Jeanne, als ihr durch Blickkontakt das Wort erteilt wurde. Madame Faucon nickte.
"Vor sechshundert Jahren wurde der Fluch tatsächlich zur Rodung von Wäldern benutzt. Doch als dabei Waldarbeiter starben, wurde auch diese Anwendung verboten. Avada Kedavra ist außer im angemeldeten Unterricht und nur an niederen Lebewesen, ein verbotener Fluch. Für alle drei Flüche: Imperius, Cruciatus und Avada Kedavra gilt: Wer nur einen davon gegen einen Mitmenschen, magisch oder Muggel, versucht, ist zu einer lebenslänglichen Haftstrafe in Askaban zu verurteilen. Deshalb sollten Sie niemals auf die Idee kommen, einen dieser Flüche gegen ein anderes Lebewesen zu richten. Man erwirbt sich keinerlei Sympathie, wenn man zeigt, daß man sie kann, wenn Sie verstehen, was ich meine."
"Noch eine Frage, Madame Faucon", meldete sich Julius noch mal zu Wort und durfte seine Frage stellen.
"Dieser Sprechbann, mit dem Sie Dorian gerade gestraft haben, würde der nicht einen Schutz vor einem dieser Flüche bewirken oder können die auch aus konzentriertem Denken heraus aufgerufen werden?"
"Wenn Sie sich mir für ein ungefährliches Experiment zur Verfügung stellen, Monsieur Andrews, können Sie mir helfen, darzulegen, wie gut Ihr Vorschlag ist. Wollen Sie?"
"Ja, mache ich", sagte Julius. Claire stieß ihm ihren Absatz auf den linken Fuß. Doch Julius blieb ruhig.
"Ich nehme Sie jetzt unter den Sprechbann. Wenn Sie es nicht schaffen, ihn aus eigener Kraft zu lösen, kann dieser Vorschlag als gut angenommen werden. Also: Taceto!"
Julius fühlte etwas heißes, wie ein Hitzestrom, der ihn vom Zauberstab der Lehrerin her traf. Er versuchte, etwas zu sagen, doch es kam kein Wort mehr über seine Lippen. Er zog seinen Zauberstab hervor, richtete ihn auf sich und dachte sehr konzentriert:
"Verbaloqui!"
Ein kalter Luftstrom von seinem Zauberstab traf ihn und ging ihm durch und durch. Er öffnete den Mund und sagte:
"Sprechprobe! Eins - zwei - drei!"
Diesmal mußten alle lachen, verkniffen es sich aber schnell wieder.
"Ein Mentalinitiator braucht also höchstens zwei Sekunden, um sich vom Sprechbann freizumachen. Diese zwei Sekunden entscheiden also im Ernstfall über Leben und Tod." Stellte Madame Faucon fest. Die übrigen Schüler sahen Julius anerkennend an. Die Lehrerin wußte, daß sie ihn wohl für überragend gut halten mußten, wenn er sich über einen Sprechbann von ihr hinwegsetzen konnte. Deshalb sagte sie:
"Nun sind außer Ihnen hier keine Mentalinitiatoren anwesend. Sollte es dazu kommen, daß wir beide uns in Beauxbatons wiedersehen, wann auch immer und ich befinde, daß ich Sie mit einem magischen Sprechverbot belegen muß, hüten Sie sich davor, es zu umgehen! Ich unterrichte schließlich nicht nur Verteidigung gegen die dunklen Künste, wie Sie sehr gut wissen."
"Ist angekommen", bestätigte Julius kleinlaut. Einen Moment lang hatte er sich wirklich toll gefühlt, weil er diesen lästigen Schweigsamkeitszauber abschütteln konnte, wenn er wollte. Aber wie Jacques in einen Waschbottich verwandelt zu werden oder für eine bestimmte Zeit ein ihm unangenehmes Tier zu sein war diese Anwendung nicht wert.
"Was geschieht, wenn einer der Flüche auf unbelebte Körper trifft?" Fragte Claire, die Julius aus der Verlegenheit heraushelfen wollte.
"Das kann ich Ihnen mal vorführen", sagte Madame Faucon und richtete den Zauberstab auf einen freien Stuhl.
"Imperio!" Rief sie. Knisternd sprühten winzige weiße Funken vom Stuhl auf. Sonst geschah nichts. "Crucio!" Rief sie. Mit einem lauten Knacklaut barst aus der Sitzfläche, genau in der Richtung des Zauberstabes, eine Wolke Holzspäne. "Avada Kedavra!" Rief Madame Faucon dann. Der gleißendgrüne Blitz schlug in den Stuhl ein. Rums! Der Stuhl zerplatzte in einer Wolke aus Dampf und Kohlenstaub. Die Ferienschüler hielten sich die Umhänge vor das Gesicht, um den herumwirbelnden Staub nicht ins Gesicht zu bekommen. Julius meinte durch den Stoff seines Umhangs:
"Faszinierend. eine spontane chemische Trennung von Wasser und Kohlenstoffanteilen."
"Wie war das mit der Lebensenergie?" Fragte Madame Faucon.
"Offenbar findet sie in toter Materie keine entsprechende Gegenwirkung und entläd sich sofort", hüstelte Seraphine, die zu nahe an dem explodierten Stuhl gesessen hatte, um sich rechtzeitig das Gesicht zu bedecken.
"Die Worte stammen aus einer alten naöstlichen Sprache, dem Aramäischen. Ursprünglich bedeuteten sie: "Möge dieses Ding zerstört werden!" Dazu war dieser Zauber ursprünglich gedacht, bis herauskam, daß er auf lebende Wesen die fatale Wirkung hat, wegen der er letztendlich geächtet wurde", erklärte Madame Faucon.
Mit Reinigungszaubern säuberten sich die Ferienschüler von dem Kohlenstaub, während Madame Faucon den Raum wie mit einem unsichtbaren Staubsauger reinigte, bis der Kohlenstaub zu einem unförmigen Klumpen schwarzer Kohle zusammengepreßt auf dem Tisch lag.
"Hörte ich eben, daß es Sie faszinierte, wie ein Stuhl einfach so explodiert, Monsieur Andrews?" Griff die Lehrerin auf, was sie wohl unangenehmerweise mitgehört hatte. Julius stand auf und sagte schnell:
"Mich hat es nur fasziniert, daß der Stuhl sich ausgerechnet in Wasserdampf und Kohlenstaub auflöst, weil ich weiß, daß Holz ja im wesentlichen aus diesen beiden Grundsubstanzen besteht. Sehen Sie es mir bitte nach, daß ich von Hause aus Versuche kenne, bei denen zum Schluß das Versuchsobjekt zerstört wird."
"Ich wollte nur sicherstellen, daß Sie nicht herumlaufen und ausprobieren, worin sich irgendwelche Gegenstände auflösen. Hierbei gilt nämlich auch, daß Sie sich keiner Beliebtheit versichern, wenn Sie mit Avada Kedavra so ungeniert hantieren."
Die restlichen Stunden verflogen damit, daß man über die Reichweite, den Ursprung und die Folge der drei unverzeihlichen Flüche sprach und sich notierte, was Madame Faucon erläuterte. Dann beendete sie die Stunden mit der Ankündigung, am nächsten Tag zu den magischen Wesen der Dunkelheit zu kommen und hierzu einen Ausflug in die Schattenhäuser unternehmen würde. Julius kannte diese Häuser von seinen letzten Sommerferien her. Dort wurden lebende oder nachgebildete Ungeheuer ausgestellt, vom kleinen Erddämon bis hin zu einer großen vielköpfigen Schlange, die der altgriechischen Hydra als Vorlage gedient hatte. Auch ein paar Dementoren aus Wachs waren dort zu sehen.
Die meisten Ferienschüler eilten aus dem Haus der Lehrerin. Claire und Julius wollten gerade hinaus, als Madame Faucon Julius noch mal zurückrief. Claire sah Julius an und meinte:
"Lass dich nicht von ihr beunruhigen!"
Julius ging ins Wohnzimmer zurück und trat vor die Lehrerin. Diese sah ihn ruhig an, ja wohlwollend. Dann sagte sie:
"Minerva hat mir das mit diesem Slytherin Brutus Pane geschrieben, schon vor einem Jahr, als ich ihr mitteilte, daß ich dich in meine Obhut genommen hatte. Es gehört viel Mut dazu, sich das anzusehen, was einem selbst zugedacht werden sollte."
"Für Harry Potter muß das noch schlimmer gewesen sein, als Moody seiner Klasse diese Flüche gezeigt hat", sagte Julius und fügte hinzu: "Das war vielleicht Mut, aber auch die Gewißheit, zu sehen, was mir erspart blieb. Mein Vater hat mir vor sieben Jahren erklärt, daß man eine Gefahr nicht immer dadurch bannt, indem man ihr aus dem Weg geht, sondern auch mal sieht, wie sie entsteht."
"Er muß manchmal vernünftige Phasen haben", bemerkte Madame Faucon leicht verächtlich. Julius nickte. Er hatte es längst abgelegt, sich für seine Eltern zu rechtfertigen. Sein Vater hatte ihn fallen gelassen. Sollte er sich da noch über Bemerkungen gegen ihn aufregen?
"Hera hat dich heute wieder bei sich, richtig?"
"Stimmt", sagte Julius ruhig.
"Sie hat mir auf dem Sommerball erzählt, daß du sehr viel Grundwissen mitbringst und keine Probleme mit ihrem Unterricht hättest. Das ist eine einmalige Gelegenheit für dich, etwas wirklich lebensnotwendiges zu lernen. Nutze sie so gut du kannst!"
"Ja, werde ich", erwiderte Julius und durfte dann gehen.
Claire fragte, was Madame Faucon noch gewollt hatte. Julius erklärte ihr nur, daß sie wissen wollte, ob es ihm gut ging, da ja beim trimagischen Turnier ein Schüler wohl durch Avada Kedavra getötet und andere Schüler durch Imperius oder Cruciatus gepeinigt worden wären. Dann wiederholte er wahrheitsgemäß, was sie über Madame Matines Unterricht gesagt hatte.
"Das kann man wohl sagen, daß es lebensnotwendig ist, wenn ein Mann einer Schwangeren in den Schoß schaut. Aber recht hat sie natürlich."
Am Nachmittag holte Madame Matine Julius zum Kurs für magische Ersthilfe ab. Julius nahm diesmal in einer stillen Vorahnung den kleinen Practicus-Brustbeutel mit den wertvollsten Dingen mit, die er bislang hatte: seinen Gringotts-Verliesschlüssel, sowie die Flasche mit dem Breitbandgegengift, dem Antidot 999, welches er von Aurora Dawn zum zwölften Geburtstag bekommen hatte.
"Heute lernst du bei mir, wie man durch Feuer und giftigen Rauch zu einem bewußtlosen Verwundeten gelangt, Brandwunden mit Zauberkraft lindert oder heilt und Vergiftungen an Bewußtlosen zu behandeln, sodaß keine große Lebensgefahr besteht", sagte Madame Matine. Dann legte sie eine große Stoffpuppe in die Mitte eines großen Schuppens und zündete diesen einfach mit "Incendio" an. Dann zeigte sie Julius, nachdem er ihr den Brandlöschzauber wirkungsvoll vorgeführt hatte, wie er sich mit dem Bonairis-Zauber eine Bresche frischer Atemluft durch dichten Rauch schlagen konnte, wie er unter dem Rauch zu der Stoffpuppe gelangen und sie mit Kühlungszaubern behandeln konnte. Dann erklärte sie ihm die Brandwundheilzauber, die nicht einfach waren aber dafür wirksam genug, schwere Verbrennungen zu lindern und leichte Verbrennungen komplett zu heilen.
"Dieser Rauchabwehrzauber geht auch gegen Giftgase?" Fragte Julius.
"Nicht wirklich. Dazu mußt du den Kopfblasenzauber beherrschen, der eine magische Kugelschale um deinen Kopf legt und Spuren von Atemgasen aus der Umgebung alleine durchläßt. Da du beim See der Farben warst, weißt du, daß dieser Zauber auch zur Unterwasseratmung ohne Selbstverwandlung oder Dianthuskraut geeignet ist. Ich weiß nicht, ob du den schon lernen kannst, aber deine bisherigen Versuche waren über 90 Prozent erfolgreich."
Julius konzentrierte sich und hing seiner Ferienlehrerin an Lippen und Zauberstabbewegungen. Irgendwann hüllte sie ihren Kopf in eine bläuliche Lichtkugel ein und sprach durch diese wie aus einem tiefen Brunnenschacht klingend:
"So könnte ich durch nichtätzende Gaswolken gehen. Versuche das jetzt auch!"
Julius folgte punktgenau Worten und Stabgesten und schloß nach einem Fehlversuch seinen Kopf auch in eine bläuliche Blase ein, in der er reine Luft atmete, ohne Rauch oder andere Gerüche in die Nase zu bekommen. Er sagte was und erschrak, als seine Worte wie in Watte oder ein dickes Federkissen hinein verschwanden. Madame Matine schien ihn jedoch zu verstehen.
"Du wolltest Weltraumfahrer werden, hat mir Madame Unittamo heute morgen erzählt?" Fragte sie Julius, nachdem er den Zauber mit "Finis Incantato" wieder aufgehoben hatte. Er nickte.
"Ja, das war noch vor Hogwarts. Aber um im Weltraum zu überleben reicht eine Kopfblase nicht aus."
"Richtig. Ich habe mit einem luftdichten Behälter und einer Pumpe einigemale ein Vakuum erzeugt und damit Versuche gemacht. Lebende Wesen und Früchte sind regelrecht zerplatzt, als der Luftdruck sank. Aber Madame Unittamos Überlebenszauber ist zu zehrend, besonders für männliche Zauberkundige. Sie hat es dir ja erzählt."
"Ich glaubte erst, die erzählt mir eine erfundene Geschichte. War die wirklich auf dem Mond?"
"Sie hat mir vor zehn Jahren echte Mondsteine mitgebracht, nicht die in der Mineralomagie verwendeten Steine, die für Mondkräfte empfänglich sind oder diese zurückgeben, sondern echte Steine vom Mond. Die Forschungen daran sind streng Geheim, daher darf ich dir nur sagen, daß ich sie nicht mehr habe."
"Ich habe mich damit abgefunden, daß ich den Weltraum nur noch durch ein Fernrohr sehen kann, und Mademoiselle Dusoleil hat ein sehr gutes."
"Ich wüßte auch nicht, was wir da wollen. Hier auf der Erde gibt es so viele schöne und unbekannte Dinge, die wir noch begreifen müssen", sagte Madame Matine. Dann fuhr sie mit dem Unterricht fort. Julius lernte, wie man durch einen Zeitverzögerungszauber verhindern konnte, daß sich ein Gift zu schnell in einem Körper ausbreitete, woran man Vergiftungen unterscheiden konnte. Irgendwann ging es auch darum, welche Giftarten es gab, und Julius zeigte, daß er Snape zum Spott schon sehr viel über diese Themen vorgelernt hatte. Irgendwann erzählte er Madame Matine, daß er wohl von einem sehr starken Gegengift gehört habe. Er wollte es der Heilhexe nicht auf die Nase binden, daß er es sogar mithatte. Diese wußte es jedoch wohl schon.
"Ich weiß, daß Nirvana Purplecloud, Schwester Florence in Beauxbatons und Mademoiselle Aurora Dawn in Australien das Antidot 999 anrühren können, wenn sie die Bestandteile erhalten können. Ich würde mich nicht schlecht wundern, wenn Mademoiselle Dawn es dir nicht schon längst hat zukommen lassen."
"Wozu?" Fragte Julius.
"Weil schnelle Heilung in Vergiftungsfällen öfter nötig ist, als die meisten Zeitgenossen wahrhaben wollen. Erst herauszufinden, was für ein Gift jemandes Leben bedroht, kann wertvolle Zeit kosten. Ein Breitbandgegengift ist daher eine Art Lebensversicherung. Nach der Wertschätzung, die Mademoiselle Dawn dir entgegenbringt, zumal sie gerechtfertigt ist, wird sie dir eine ausreichende Menge davon beschafft haben. Zumindest wirst du wissen, wie man es anwendet."
"Entweder eine Dosis auf die Speise oder in das Getränk geben, das man verdächtigt, vergiftet zu sein, oder wenn man sich schon was eingehandelt hat eine Dosis in einem normalgroßen Trinkgefäß mit reinem Wasser oder Tee auflösen und runterschlucken."
"Wenn es nicht gerade Hydrogencyanid oder Cyankali ist, nicht wahr."
"Ich gewöhne mir das wundern ab", sagte Julius, weil er die ältere Hexe wieder falsch eingeschätzt hatte. Sicher kannte die die heimtückischsten Chemikalien beim Namen. Warum auch nicht?
"So schnell kann keiner sein", sagte er dann noch.
"Doch, kann man! Gerade hier erweist sich der Vorsprung der Magie vor der Muggelchemie und -medizin. Du kannst dir zwei Minuten Lebenszeit verschaffen, bevor du endgültig tot umfällst, wenn du die ersten Anzeichen für einen derartigen Giftanschlag spürst, die dir natürlich bekannt sind, weil dein Vater wohl auch mit dergleichem Bescheid weiß. Alle auf den eigenen Körper bezogenen Zauber können nach mehrmaliger Übung ohne Zauberstab gewirkt werden. Hast du ihn Griffbereit, um so besser. Damit kannst du jeden Stoffwechselvorgang im Magen für zwei Minuten unterbrechen, bevor dein Körper Nachschub benötigt und der Prozess wieder einsätzt. In der Zeit kannst du dir ein entsprechendes oder eben das Breitbandgegengift verabreichen. Ich erkläre dir diesen Zauber, den du mit Stab auch auf andere anwenden kannst."
So lernte Julius die Zwei-Minuten-Schutzmagie auswendig, notierte sich die Worte und wie sie zu betonen waren mit der flotten schreibefeder und ließ sich noch etwas erläutern:
"Das Antidot 999 kannst du auch einem Bewußtlosen beibringen, der nicht trinken kann. Du mußt nur die Zunge des Patienten aus dem Mund herausziehen und eine Dosis unverdünnt darauf aufträufeln. Dann wird sie von der Speichelflüssigkeit verteilt, durch die Zunge in den Körper geleitet und wirkt. Wache Personen erleiden dabei Schmerzen, wie sie vielleicht der Cruciatus-Fluch bewirkt. Aber Bewußtlose Personen verarbeiten diese Gabe ohne Komplikationen. Ich gehe davon aus, daß du dich bereits bei Mademoiselle Dawn für ihre Lebensversicherung bedankt hast, auch, wenn du sie hoffentlich nie benötigst."
"Kein Kommentar", erwiderte Julius wie auf die aufdringliche Frage eines Reporters, die er nicht beantworten wollte oder durfte.
"Reicht mir auch", sagte die Heilhexe.
Zum Schluß der Übungen kündigte sie an:
"Lerne fleißig, was wir bisher gemacht haben! In zwei Wochen ist deine Abschlußprüfung. Die ist verbindlich. Egal, ob du in Hogwarts, Beauxbatons, Thorntails oder sonstwo bist, eine Schulkrankenschwester hat das Recht darauf, auf gut vorgebildete Hilfskräfte zurückzugreifen. Nächste Woche beschäftigen wir uns mit der Vorgeburtshilfe, Ersthilfe bei Geburten ohne Heiler und Hebammen und die Grundlagen der Säuglingspflege. Ohne jetzt spitzfindig zu sein hatte ich beim Sommerball den Eindruck, als könntest du sie in fünf Jahren vielleicht schon benötigen."
"Die, die Ihnen den Grund für diese Ansicht liefern, denken das wohl auch schon", ging Julius darauf ein, daß madame Matine wohl dachte, Julius würde sich sehr bald partnerschaftlich, zumindest geschlechtlich betätigen.
Als Hera Matine mit Julius auf der Wiese vor dem Haus der Dusoleils landete, graste dort eine weiße Stute. Madame Dusoleil kam gerade aus dem Wohnhaus und bekam Augen groß wie Autoscheinwerfer.
"Madame Unittamo, ich muß doch sehr bitten. Sie müssen doch nicht Gras essen, wenn Sie zu mir kommen. Außerdem ist das ein besonderes Gras, extra für Landungen und viele Besucher gedacht. Das läßt sich nur schwer wieder ansetzen."
"Ach deshalb prickelt das so beim zerbeißen", gab die weiße Stute mit halbwiehernden Lauten von sich. Dann löste sich das schöne Pferd in einen Wirbel aus Farben auf und verdichtete sich eine Sekunde später in der menschlichen Gestalt von Maya Unittamo, die einen grasgrünen Umhang trug.
"Hallo, Hera! Hast du den Jungen wieder mit deiner Kurpfuscherei behelligt?"
"Madame, auch wenn Sie zwanzig Jahre älter als ich sind, werde ich doch entschieden darauf hinweisen, daß Julius Andrews bei mir korrekte Heilmagie lernt, zumindest im Rahmen der für erste Hilfe erlernbaren Bedingungen. Dabei gilt es, ihn von den Prätentionen der Muggelmedizin zu befreien, die er gegen seinen Willen noch nicht abgelegt haben dürfte."
"Und du glaubst, der Junge lernt das so gut, daß er das auch alles behält?"
"Warum erzähle ich das einer Frau, die vor nicht einmal einer Minute noch ein Pferd war?" Erwiderte Madame Matine etwas ungehalten. Doch dann lachte sie.
"Ich lasse ihn nicht hier weg, wenn der Junge das nicht lernt. Ich vertrödel doch nicht meine Zeit mit Ignoranten. Nein, Maya, wie du ihm deinen transfigurativen Unsinn beibringst, so kann ich ihm die wirklich notwendigen Zauberfertigkeiten beibringen, um sich und anderen das Leben zu verlängern."
"Unsinn?! Mädchen, du gehst vielleicht etwas zu weit. Aber junge Menschen brauchen ihre Freiräume, um ihre Bewegungsmöglichkeiten zu erlernen. Ist aber nett, daß du ihn wieder hergebracht hast. Ich habe da noch was für ihn", sagte Maya Unittamo.
"Hera, Kaffee oder Tee?" Fragte Madame Dusoleil, nachdem sie sich von dem stillen Lachkrampf erholt hatte, den das Geplänkel der älteren Hexen in ihr ausgelöst hatte.
"Ich bin um halb fünf mit Nicolette verabredet. Offenbar hat da jemand angedeutet, früher als vorgesehen anzukommen. Aber ich trinke zumindest eine Tasse Tee mit euch, zumal Maya ja heute abend wieder abreist."
"So um zwölf Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, damit ich zum Abendbrot wieder in New Orleans bin. Zehn meiner Urenkel haben sich mit ihren Eltern zu der UTZ-Abschlußparty meines ältesten Urenkels eingefunden", sagte Madame Unittamo.
"Wieviele Urenkel haben Sie?" Fragte Julius total überwältigt.
"Bei der Letzten Zählung waren es neunundsechzig und einer im Anmarsch, der wohl in zwei Wochen die siebte Nullstellung vollmachen dürfte, wenn Jessica ihn nicht zu früh loswerden will."
"Siebzig Urenkel. Ich möchte nicht indiskret sein, aber ...", setzte Julius an.
"Sechs Kinder, zwanzig Enkel, und besagte Urenkel. Davon acht junge Damen im Heiratsfähigen Alter mitbaldigem UTZ-Abschluß", sagte Maya Unittamo. Jeanne, die gerade aus dem Haus kam, blieb wie vor eine Mauer gerannt stehen und sah wie Julius staunend die Verwandlungslehrerin an.
"Dann können Sie ja bald eine eigene Zaubererschule aufmachen", fand Julius als erster die Worte wieder.
"Soweit kommt's noch! Ich bin froh, daß ich den Absprung von Thorntails gemacht habe. Aber das sind Interna, die keinen außenstehenden berühren", sagte Madame Unittamo.
"Da hättest du Kundschaft, Hera", ging Madame Dusoleil auf diese riesige Familie ein. Die Angesprochene erwiderte:
"Ich bin mit meiner eigenen Verwandtschaft schon gut ausgelastet. Nicolette ist die nächste, dann ist wohl meine Großnichte in Lyon so weit und so weiter und sofort."
"Ja, das ist wie bei einem Quidditch-Profi, Hera. Der muß immer zig Freikarten kriegen, weil die Verwandtschaft billige Plätze verlangen kann", sagte Maya Unittamo.
Um das Haus herum ging es auf dem blankgeschrubbten Plattenweg auf die Terrasse, wo Claire sich mit ihrer Tante über Sternengruppen unterhielt. Offenbar mußte die gute Claire noch Astronomie nachholen.
"Guten Tag, die Damen", wünschte Madame Unittamo. Claire vergaß unverzüglich alles, was ihre Tante wohl gerade gesagt hatte, sprang auf und lief auf die zierliche ältere Hexe zu, die freudig die Arme ausbreitete.
"Man sieht, daß sie mehrfache Oma ist", murmelte Julius bei sich, als er sah, wie Madame Unittamo Claire umarmte.
"Fan-Arbeit", meinte Jeanne, die dicht hinter Julius herging. Julius nickte. Dann setzte er sich auf einen freien Stuhl, nachdem er sich umgesehen hatte, wo Madame Matine sich hinsetzen würde. Sie saß wohl einen Platz rechts von dem Stuhl, wo bei hohen Festen weibliche Ehrengäste sitzen würden. Doch als Maya Unittamo Claire freigegeben hatte, kam sie schnurstracks zu Julius hinüber und warf sich jugendlich locker und schwungvoll neben ihn auf den freien Stuhl. Claire focht mit Jeanne ein zwischenschwesterliches Blickgefecht aus, verlor jedoch wohl und trollte sich zu ihrer Tante hinüber, während Jeanne sich zu Julius hinsetzte.
"Hast du Claire diesmal nicht ihren Willen gelassen?" Flüsterte Julius Jeanne zu.
"Bin ich dir zu alt?" Fragte Jeanne schnippisch.
"So war das nicht gemeint", erwiderte Julius halblaut. Claire, die Jeanne und ihm aufmerksam zusah, grinste in sich hinein.
Während des Kaffeetrinkens - Julius nutzte die Gunst der Stunde, ebenfalls frischen Tee zu trinken, wo er sonst eher heiße Schokolade oder Milchkaffee trank - unterhielten sich die Dusoleils und ihre Gäste über die Zaubererwelt in Frankreich und Nordamerika. Julius ließ sich eine kurze Geschichte von Thorntails erzählen und wurde dann von Madame Unittamo gefragt, was er so bei Madame Matine lernte. Er beschrieb grob, was er alles lernte, berührte jedoch nur am Rande, daß er auch mit den Gegebenheiten von Männern und Frauen zu tun hatte.
"Die gute Hera wird dich wohl in ihre Welten einweisen. Ihre Nichte ist ja gerade in Hoffnung."
"Da ich nicht der Vater des Kindes bin, stört es mich nicht", erwiderte Julius. Madame Matine sagte dazu nur:
"Du selbst bist mit deinen übers ganze Leben verteilten Kindern das Paradebeispiel für eine umfassende Grundbildung in diesen Belangen, Maya. Verdirb mir den Jungen nicht, indem du ihm einredest, mein Unterricht sei unnütz."
"Tja, Hera, Schade, daß der Junge noch etwas zu jung für die Vorlaufübungen ist, nicht wahr?"
"Irgendwie muß an dem Spruch was dran sein", sagte Julius zu Jeanne. Maya Unittamo hörte das und fragte ihn:
"Welcher Spruch, Bursche?"
"Je oller je doller", flüsterte Julius, der Madame Matine nicht mißstimmen wollte, denn zwischen ihr und der wohl zwanzig Jahre älteren Hexe aus den Staaten lagen Welten wie zwischen Regenbogen und hartem Felsboden. Madame Unittamo lachte schallend los. Dann sagte sie:
"Man soll nie den Spaß am Leben verlieren, Julius. Gerade mit zunehmendem Alter und wenn die Welt mal wieder auf das Chaos zutreibt, ist jeder schöne Augenblick wertvoll."
"Ja, aber Professeur Faucon sagt auch, daß Spaß auf anderer Leute Kosten doppelten Schmerz kosten wird, wenn einer die Rechnung einfordert", wandte Jeanne ein.
"Ich sehe ein, daß die gute Blanche ihre Gründe hat, so zu denken und zu sprechen. Als ich noch glaubte, zu lehren sei das höchste und mich von einer doppelten Hundertschaft Ignoranten pro Schuljahr eines besseren habe belehren lassen müssen, habe ich auch so Momente gehabt, wo ich mich über jeden ärgerte, der sich amüsierte. Aber das ist lange her."
"Bei der Stunde gestern haben Sie Madame Faucon doch noch mit Nachnamen angeredet", wunderte sich Julius.
"Dienst ist Dienst und Bernsteinquell-Likör ist Bernsteinquell-Likör", sagte Madame Unittamo.
"Immerhin können Sie ihren Vornamen so aussprechen, wie er gehört", stellte Julius fest.
"Du bist doch auch froh, wenn dein Name richtig ausgesprochen wird, oder?" Fragte die über neunzig Jahre alte Hexe. Julius nickte heftig.
"Es ist nur so, daß wir hier vor einigen Tagen eine amerikanische Hexe zu Besuch hatten, die da keine Probleme sieht, amerikanisch veränderte Vornamensaussprachen zu benutzen", sagte Jeanne.
"Ja, die treffe ich morgen wieder, wenn die Bagage mit feiern fertig ist. Ihre Enkelin hat sich vor anderthalb Wochen mit meinem Enkel Jefferson unterhalten, der in der Geisterbehörde der Staaten arbeitet."
"Wie alt ist Ihr Enkel Jefferson?" Fragte Julius wißbegierig.
"Eloise wird dieses Jahr in die Grundschule für magische Kinder eingeschult, Tabita ist gerade fünfzehn Jahre älter als Gloria."
"Also keine Konkurrenz", trällerte Claire frech über den halben Tisch hinweg.
"Wieso, hast du was mit Gloria?"
"Die selben Klassenkameraden und Freunde", sagte Julius, der schnell eine freche Bemerkung runterschlucken konnte. Eigentlich hatte er sagen wollen: "Wenn's ein Junge wird heißt er Plinius nach ihrem Vater, und wenn's 'n Mädchen wird heißt sie Martha nach meiner Mutter." Doch er wußte genau, daß Claire das mit absoluter Sicherheit in den Falschen Hals kriegen würde, und irgendwie war es ihm merkwürdigerweise wichtig geworden, sich weder mit ihr noch mit Jeanne anzulegen. Vielleicht wirkte da schon die neue Einstellung, möglicherweise in Beauxbatons zu landen.
"Pina ist ja ein schönes Mädchen. Sieht nur etwas püppchenhaft aus mit dem langen Zopf. Wenn sie älter wird, werden die Haare bestimmt offen getragen, da wette ich drauf", sagte Madame Unittamo.
"Im Moment sieht sie irgendwie zierlich aus", sagte Julius so belanglos wie möglich klingend. Claire sah ihn leicht ungehalten an. Julius war sich sicherer denn je, daß sie doch mehr von ihm wollte als einen guten Tanzpartner, wenngleich er noch lange nicht wußte, ob er darauf eingehen wollte.
"Die waren ja beide hier, zusammen mit Glorias Mutter", fügte Madame Dusoleil ein.
"Weiß ich", sagte Maya Unittamo. "Sie haben mir zwar nicht erzählt, wo genau in Millemerveilles sie feiern wollten, aber nachdem ich Ihren jungen Hausgast kennenlernen durfte, war das natürlich keine Frage mehr, Madame Dusoleil."
"Ich freue mich schon drauf, die beiden Mädels wieder zu sehen, wenngleich es hier sehr schön ist", gab Julius zu. Jeanne sagte dazu nur:
"Die sich wahrscheinlich auch." Dafür fing sie sich von Claire einen bitterbösen Blick ein.
"Professor McGonagall hat mich mal als Gastreferentin für die höheren Klassen eingeladen. Sie muß das noch mit Dumbledore abklären, ob ich mal nach Hogwarts kommen kann. Da könnten wir uns ja außerhalb der Stunden ja zufällig über den Weg laufen, Julius."
"Oh da gibt es bestimmt genug Leute, die sich freuen, eine Großmeisterin zu sehen, Madame Unittamo. Ich denke auch nicht, daß Professor Dumbledore was dagegen hat. Aber dann müssen Sie auf Peeves aufpassen."
"Muß ich den kennen?" Fragte Maya Unittamo. Der Hogwarts-Schüler grinste und sagte:
"Das wäre dem völlig egal. Peeves ist der schuleigene Poltergeist. Weiß der Teufel oder sonst ein Dämon aus einer Religion, wieso die den noch nicht rausgeworfen haben."
"Poltergeister? Die halten sich echt einen Poltergeist in Hogwarts? Oh, da muß ich ja doch hoffen, daß Minervas Boss mich tatsächlich einläd. Das gibt einen Heidenspaß, allerdings auf Kosten dieses Peeves. Jeff hat mir da einige Tricks verraten, mit denen man Poltergeister sehr schnell sehr arm aussehen läßt. Manche echten Geister beschweren sich bei ihm, wenn sich so ein Chaotengespenst bei ihnen einnistet und wollen es dann loswerden."
"Ist ja vollherb! Geister engagieren einen Exorzisten!" Brach eine Woge der Erheiterung aus Julius heraus. Er lachte und klopfte mit der rechten Hand auf den Tisch, daß die Löffelchen und Gäbelchen klirrend auf den Tellern und Untertellern hüpften.
"Peeves ist noch harmlos, wenn ich da an diesen Spuk denke, der mich erschreckt und total peinlich berührt hat", sagte Jeanne.
"Was für ein Spuk? Der blutige Baron?" Wollte Julius wissen, in dessen Gesicht noch ein feistes Grinsen wohnte.
"Wahrscheinlich hast du von der auch schon gehört. Immerhin hast du ja mehrere Freundinnen in Hogwarts. Ich mußte einmal, habe nichts ahnend im ersten Stock einen Toilettenraum gefunden, war gerade dabei - Entschuldigung, Maman - zu tun, was eben nötig war, als direkt unter mir eine heulende, wehklagende Stimme losjammerte, was mir denn einfiele, sie derart ... na ja, der Rest kann verschwiegen werden. Jedenfalls tauchte der Geist eines halbwüchsigen, wohl nicht gerade mit Schlankheit gesegneten Mädchens genau da auf, wo ich vor einer Sekunde gerade erst aufgesprungen bin und prustete, ich solle sie doch in Ruhe lassen. Ich habe instinktiv die Spülung betätigt und diesen Geist damit auf eine Reise ohne schnelle Wiederkehr geschickt. Meine Güte! Ich mußte zehn Minuten warten, bis ich mein Gesicht wieder in meiner gewohnten Farbe sehen konnte."
"Du hast tatsächlich recht, ich hörte von diesem Geistermädchen", sagte Julius. "Kann ich mir schon peinlich vorstellen, wenn das einen in so'ner Situation überrascht. Aber ich hörte, die hätte ein schweres Schicksal. Die sei vor fünfzig Jahren oder so gestorben, als was gefährliches durchs Schloß schlich, auf das ich hier nicht näher eingehen möchte, weil ich nicht weiß, wo die Geheimhaltung ansetzt", sagte Julius.
"Da haben wir in Beauxbatons schon zivilisiertere Geister", wandte Claire ein.
"Wenn man von der kopflosen Herzogin und dem einarmigen Henker mal absieht", schränkte Jeanne ein. "Dann findet jedes Jahr am 14. Juli im düsteren Gelas noch der Kongress der Kopflosen statt, wo man dann nachts nicht schlafen kann, weil die ihre Quietschmusik und Heulchöre durch den Palast klingen lassen müssen. Gut, daß wir da meistens schon Ferien haben. So kriegen wir das höchstens alle drei Jahre mit. Aber sonst haben wir tatsächlich umgängliche Geister."
"Die wohl für sich bleiben", meinte Julius. "Immerhin sah ich keinen, als ich in Beauxbatons war."
"Die feiern, wenn wir feiern in ihren Gemächern. Madame Maxime hat ihnen gewisse Privilegien eingeräumt. Aber du begegnest ihnen ständig, wenn sie sich nicht unsichtbar machen. Aber das führte oft dazu, daß jemand durch sie durchlief, was weder für Geist noch Mensch angenehm ist."
"Die kalte Dusche kenne ich", warf Julius ein und schlotterte nachträglich noch, wenn er an das Quidditchendspiel in seinem ersten Hogwarts-Jahr dachte, wo er total verschlafen hatte und in übergroßer Hast durch das Schloß gejagt und dabei kopfüber durch die graue Dame, den Ravenclaw-Hausgeist, gerannt war.
"Wie dem auch sei, Junge Herrschaften, ich würde mich freuen, Hogwarts einmal zu besuchen. Wenn wir uns da treffen, kein Problem. Vielleicht steigt Minerva ja auch auf meine ZauberstabTechniken um."
"Ich fürchte, das hat sie nicht in der Hand", sagte Julius.
"Jeder Lehrer hat in der Hand, aus wessen Büchern er was in den Unterricht einbaut. Ich war selbst mal eine Lehrerin, Julius", gab Maya Unittamo zuversichtlich zur Antwort.
So schwatzten sie noch eine gewisse Zeit, bis Madame Matine aufstand und sich höflich verabschiedete. Sie ging noch mal zu Julius und erinnerte ihn daran, sich schon einmal auf die Endprüfung vorzubereiten. Maya Unittamo fragte noch:
"Was macht ihr nächste Woche?"
"Einführung in die vorgeburtliche und nachgeburtliche Pflege, Maya. Der Junge soll ruhig schon lernen, wieviel Verantwortung neues Leben mit sich bringt."
Kurz vor fünf Uhr sagte Jeanne zu Julius:
"Barbara, César und Bruno warten um Viertel nach fünf auf dem Quidditchfeld. Barbara will mit uns Hütertraining machen."
"Hütertraining? Ich bin doch kein Hüter."
"Das ist richtig. Aber du kannst andere Hüter trainieren. Bevor es nach Beauxbatons zurückgeht will Barbara die Zeit nutzen, um noch besser eingestellt zu sein, falls es gegen die Roten geht, wie vorletztes Jahr, wo Agnes uns gerade noch vor einem Debakel bewahrt hat."
"Soll mir recht sein. Durch die ganze Lernerei habe ich das Quidditch vergessen", sagte Jeannes Gastbruder. Claire sah Jeanne fragend an. Diese schüttelte den Kopf.
"Wenn ich das richtig gehört habe, will Maman mit dir in die grüne Gasse, die Nachmittagsblüher und die anderen Pflanzen noch mal abklappern, die ihr im letzten Jahr hattet."
Claire verzog zwar das Gesicht, nickte jedoch. Julius wurde das Gefühl nicht los, daß zwischen den beiden Schwestern irgendwas in Schieflage geraten war. Keine übliche Zankerei, von denen er einige mitbekommen hatte. Irgendwas ernsteres, das man nicht wegschreien konnte. Doch ging ihn das was an, solange er nicht mit hineingezogen wurde?
"Dann möchte ich, bevor hier die allgemeine Aufbruchsstimmung aufkommt, den Grund meines Hierseins abhandeln", sagte Maya Unittamo und holte aus ihrer Rocktasche ein kleines Schächtelchen, gerade mal vier Zentimeter lang, zwei Zentimeter breit und einen Zentimeter dick. Julius meinte, vier Türflügel in der Oberseite zu sehen. Dann fielen ihm die kleinen eingravierten Symbole auf, ein Gleichheitszeichen und ein großes, oben und unten verschnörkeltes C.
"Der Schlager der Saison, Julius! Die Bibliothek für die Umhangtasche. Ich sehe nicht ein, daß du nach Hogwarts zurückkehrst, wo du die Techniken des jungen Wendel weiterlernen mußt, wenn du dich so hervorragend mit meinen Techniken vertraut gemacht hast. Deshalb habe ich dir alle sieben Bände meines Schulwerks "Wege zur Verwandlung" in diesen Centinimus-Schrank gepackt. Stell ihn auf, wo mindestens vier Meter Breite und zwei Meter Höhe frei belegt werden können und setze den Kasten auf den Boden. Tippe das Gleichheitssymbol an und tritt zwei Schritte zurück. Innerhalb von fünf Sekunden wird sich das Kästchen zum ordentlichen Bücherschrank auswachsen. Ich führe dir das mal eben vor."
Die Verwandlungsexpertin suchte einen geeigneten Platz, stellte das winzige Kästchen auf den Boden, tippte kurz mit dem Zauberstab daran und trat zurück. Geräuschlos schwoll das Schächtelchen zum Kästchen, zur Kiste, zur Kommode und dann zum majestätischen Bücherschrank mit vier großen Türflügeln an. Alle staunten.
"Ach du liebe Zeit! Wie teuer ist denn sowas?" Fragte Julius ungeachtet, daß er diesen Schrank wohl nicht bezahlen sollte.
"Für mich erschwinglich, Julius. Ich trage selbst zwanzig dieser Dinger mit mir herum, wenn ich auf Reisen gehe. Man kann nie wissen, wo man vielleicht mal Nachschlagewerke braucht. Der Schrank wurde vor zwei Jahren von einer Professor Alexandria Agemo erfunden, die es leid war, auf ihren Reisen immer den Spruch zu hören: "IN meiner Bibliothek in Weiß-nicht-wo habe ich die Bücher. Schade, daß wir die Bibliothek jetzt nicht hierhaben!" Das hat sie nun erledigt. Außer den sieben Büchern, die in der mittleren Reihe links eingeordnet sind, kannst du alle Bücher reintun, die du bisher gesammelt hast. Auch wenn es nicht viele sein mögen kannst du die jetzt auf jeden Fall gescheit ordnen. Das Tolle ist auch, daß du Bücher herausnehmen kannst, wenn der Schrank verkleinert ist." Sie tippte mit dem Zauberstab an das große C und ließ den Schrank dadurch wieder über Kommode, Kiste, Kästchen, Schachtel zu einem Schächtelchen schrumpfen. Sie hob ihn wieder auf, ging damit an den Tisch zurück und holte aus einer anderen Tasche ihres Rocks eine Pincette mit aufgesetzter Lupe. Schnell hantierte sie an der linken, nun winzigen Tür, klappte sie vorsichtig auf und griff mit der Lupenpincette etwas kleines heraus. Sie legte es auf die hand und drückte das Türchen wieder zu. Sofort schwoll das kleine rechteckige Dingelchen zu einem dicken Buch an, auf dessen Deckel eine sich bewegende Abbildung von ihr zu erkennen war und der Titel in Goldbuchstaben: "Wege zur Verwandlung I"
"Danke", konnte Julius nur hervorbringen.
Maya Unittamo öffnete die kleine Schranktür wieder, und das buch schrumpfte sofort wieder zu einem winzigen Gegenstand zusammen, den sie mit der Lupenpincette ergriff und in das Schächtelchen zurückgleiten ließ. Sie schloß das Türchen und gab Julius beides, Schächtelchen und Pincette.
"Das tolle daran ist, daß das Kästchen locker in jede Hosen- oder Rocktasche paßt, sogar in an sich schon verkleinernde Practicus-Taschen, ohne weiter zu schrumpfen. Wenn du so eine Tasche diebstahlsicher machen kannst, kannst du die wertvollsten Bücher der Welt mit dir herumschleppen, ohne dich zu überanstrengen. Bezauberte Bücher lassen sich ebenso in diesem Schrank verstauen, wie unbezauberte Bücher. Jetzt, wo ich weiß, wieso eingeschrumpfte Lebewesen schwerer bis gar nicht mehr atmen können, verstehe ich auch, wieso Professor Agemo meint, daß dieser Schrank Bücher über mehrere Jahrhunderte konservieren kann. Sauerstoffteilchen sind dann zu groß, um den schleichenden Zerfall anzurichten, den sie sonst verschulden."
"Ich kann mich nur noch mal bedanken, Madame Unittamo. Ich wüßte sonst nicht, wie ich Ihnen das vergelten kann", sagte Julius, dessen Bücherproblem mit diesem Wandelgrößenschächtelchen auf einen Schlag behoben war. Denn in einen vier meter breiten und zwei Meter hohen Bücherschrank paßte seine bisherige Bibliothek wohl vollständig hinein.
"Durch zwei Dinge: Lerne weiterhin fleißig und würdige deine Gaben damit richtig und bleibe der schwarzen Magie und der dunklen Seite fern!"
"Ich werde mich daran halten, Madame", sagte Julius.
Er verabschiedete sich freudetrunken von der Verwandlungshexe aus den Staaten, wünschte den Dusoleils bis zum Abend einen schönen Nachmittag und brachte seinen Practicus-Brustbeutel, in den er Schächtelchen und Lupenpincette gleiten ließ, als er unbeobachtet war, in sein Zimmer, wo er das Umhängetäschchen mit dem nun noch wertvolleren Inhalt im aus- und fortklappbaren Schreibtisch verstaute. Dann zog er sich schnell seinen blauen Spielerumhang an, schulterte den Sauberwisch 10 und lief wieder hinaus, wo Jeanne ihren Ganymed 8 bereits bereithielt. Julius Winkte Claire zum Abschied zu und startete durch, Jeanne hinterherfliegend.
Es war knapp sechzehn Minuten nach fünf, als Jeanne und Julius auf dem Quidditchfeld ankamen, das zu dieser Tageszeit verwaist war.
"Kommt ein Heilmagier zur Überwachung?" Fragte Julius.
"Monsieur Delourdes, den du beim Sommerball am Tisch von Madame Matine und Schwester Florence Rossignol hast sehen können, kommt um halb sechs."
"Wieso erst um halb sechs?" Wunderte sich Julius, der zwar wußte, daß hier in Südeuropa Pünktlichkeit in der Freizeit nicht so streng befolgt wurde, wie in England, aber dennoch dachte, daß in einer Viertelstunde viel passieren konnte.
"Barbara und die beiden anderen kommen auch kurz vor halb sechs, Julius. Ich habe es mit Barbara abgestimmt, daß wir etwas Zeit haben, wo keiner von der Familie um uns herumläuft. Daß Maman mit Claire in die grüne Gasse wollte, kam mir da gerade recht. Das Madame Unittamo noch bei uns war, als wir losflogen, hat das ganze perfekt gemacht."
"Entschuldigung, Jeanne, aber irgendwie habe ich im Moment ein merkwürdiges Gefühl, du wolltest mich hier allein haben, um mich auf irgendwas hinzuweisen", sagte Julius, der tatsächlich glaubte, in eine Verschwörung zwischen Jeanne, Barbara oder noch wem geraten zu sein. Jeanne nickte. Sie holte Atem und fragte leise:
"Erinnerst du dich an Virginies ZAG-Fest?" Julius nickte bejahend. "Dann fällt dir wohl sofort ein, worüber wir beide am Buffet mal gesprochen haben."
"Das du findest, daß ich schon auf euch Mädchen reagiere und wohl irgendwann mal nachgeben muß, wenn mich etwas überkommt, das keine Wut ist."
"Genau das habe ich gehofft, daß dir das im Gedächtnis geblieben ist. Ich habe damals gedacht, das meine Schwester Claire nur glücklich aussieht, wenn sie mit dir tanzt. Heute weiß ich es besser, und du auch. Wenn dem nämlich nicht so wäre, hätte ich dieses Treffen hier nicht angesetzt."
"Jeanne, ich denke nicht, bei deiner Schwester falsche Hoffnungen geweckt zu haben oder zu weit gegangen zu sein."
"Ich habe dir bei Virginies Fest erzählt, daß es nicht nur an dir liegen wird, wenn dir sowas passiert. Das ist auch gut, daß Madame Matine dich unterrichtet, damit du zumindest auf der körperlichen Ebene vorbereitet bist, und jetzt lach bloß nicht. Denn zuviele Jungen und Mädchen in unserer Welt sind diesbezüglich sowas von naiv, daß sie einen heillosen Schrecken kriegen, wenn sie sich in einer Lage finden, die sie nicht vorhersehen konnten. Das hast du ja auch bei Virginies Fest mitbekommen, daß die meisten Jungs mit sechzehn noch daherreden, wie Jungs, die nicht älter sind als du. Die tun zwar wunders wie groß und männlich sie sind, kriegen aber sofort Probleme, wenn sie das beweisen müssen. Quidditch, Zaubern und Mutproben sind dagegen ein Klacks. Aber worauf ich hinauswill ist, daß Claire sich wohl auf dich eingestimmt hat. Ob du da was für kannst, kann ich nicht entscheiden. Feststeht für mich nur, daß sie dich förmlich erwartet."
"Wie bitte?! Ich fürchte, der Wechselzungentrank von letztem Jahr läßt nach."
"Du hast mich richtig verstanden. Sie erwartet dich. Jeden Morgen, wenn du vom Laufen wiederkommst, steht sie schon bereit, zur Küche hinunterzugehen. Sie freut sich, wenn du mit ihr redest und ärgert sich, wenn du von anderen Mädchen so locker sprichst, als sei das selbstverständlich, daß da andere sind. Sie ist stolz, daß du mit ihr zusammen auf einem Besen fliegen kannst und hält das für selbstverständlich. Wo deine Freundinnen Gloria und Pina da waren, stand sie regelrecht unter Erfolgsdruck. Das konntest du nicht sehen, weil du dich natürlich mit anderen Dingen beschäftigt hast, am meisten mit deiner Mutter natürlich. Aber mir ist das nicht entgangen. Als Pina ihr vorhielt, der Sommerball sei ja nur eine Veranstaltung, um unverheiratete Hexen und Zauberer zusammenzuführen, wurde sie richtig wütend. Warum wohl?"
"Wenn Cinderella der Schuh paßt, zieht sie ihn an", stöhnte Julius, dem Jeannes Darlegungen sonnenklar erschienen.
"Wer immer Cinderella ist, hat wohl recht. Nur passende Schuhe lassen sich problemlos anziehen. Jetzt kann es natürlich sein, daß du der einzige Junge in ihrem Alter bist, der ihren Ansprüchen von Reife und Fertigkeiten entspricht und das ganze wieder vorbeigeht, wenn du wieder in Hogwarts bist. Aber im Moment sehe ich es eher so, daß sie sich wirklich auf dich eingestimmt hat und jedes Mädchen, mit dem du nett umgehst, als Konkurrentin ansieht. Das hatten wir erst heute morgen, nicht wahr?"
"Deshalb nennt sie Pina und Gloria nicht beim Namen", erinnerte sich Julius. Dann sagte er:
"Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn sie nun doch einen festen Freund hat. Aber im Moment käme ich da wohl drüber weg, wie immer die Reaktion ausfiele."
"Eben, und bei Claire glaube ich das im Moment nicht. Wenn Pina nun gesagt hätte, daß sowieso schon alles klar sei, weiß ich nicht, ob sie deiner Schulfreundin nicht das Gesicht zerkratzt hätte. Ich weiß nicht, was deine Maman davon mitbekommen hat und ob sie sich darüber gedanken gemacht hat. Aber ich habe mir gedanken gemacht."
"Und, wohin führen die?" Fragte Julius etwas verstört. Das war eine Situation, die er nicht mochte. Sich mit etwas, das er nicht abschätzen konnte, auseinanderzusetzen, war ihm vom Elternhause aus mitgegeben. Er hatte zwar gelernt, mit seiner Zauberei und allem damit zusammenhängenden klarzukommen, was anfangs auch nicht so leicht war. Aber hier stand er nun vor einem fast erwachsenen Mädchen, das ihm durch einen immer lichteren Blumenstrauß sagte, daß dessen jüngere Schwester sich in ihn ... verliebt haben könnte. Auch er hatte festgestellt, daß Claires Wesen, ihre Art, mit ihm zu reden, ihn auch nur flüchtig zu berühren, ihn bewegte, in eine bestimmte Richtung zog. Aber das hatte er bei Pina auch schon empfunden. Immerhin hatte Pina ihn im Überschwang des Pokalgewinns Gryffindors gegen die bei den anderen drei Häusern unbeliebten Slytherins umarmt. Gut, daß war eben Freude, daß die überheblichen und wohl dem dunklen Lord anhängenden Slytherins nicht gewonnen hatten. Aber was, wenn Pina das als Startsignal für etwas anderes angesehen hatte? In diesem Moment konnte er eigentlich nur hoffen, daß er nach Hogwarts zurückdurfte und sich erst einmal nicht damit befassen mußte. Doch war das nicht wieder feige? Würde er weglaufen, wenn er die Chance hatte, einen großen Schritt zum erwachsenen Zauberer zu tun? Er mußte es darauf anlegen, wo und wann auch immer es ihn fordern sollte.
"Jeanne, dein Vater hat das auch schon gemerkt, daß Claire sich wohl was verspricht, wovon sie vielleicht nicht weiß, was das sein soll. Er hat mein Wort, daß ich nichts tun werde, was ihr wehtut. Falls ich jedoch erkennen muß, daß da doch nichts draus wird, muß ich wohl hingehen und ihr das irgendwie beibringen."
"Dann bin ich beruhigt. Ich habe schon gedacht, du würdest jetzt dumme Sprüche loslassen, daß mich das nichts anginge und es dir egal sei, was Claire oder andere Mädchen für dich empfinden. Seraphine sagte nämlich, daß dir Belisama schöne Augen gemacht hätte."
"Oh, da muß mir wirklich was entgangen sein. Ich dachte nur, sie wollte für Beauxbatons werben."
"Nicht für ein Knutstück kaufe ich dir das ab, Julius. Außerdem macht man ja nur Werbung bei jemandem, dem man es auch dann verkaufen oder den man dann auch dort begrüßen will. Seraphines holde Cousine orientiert sich nämlich auch hauptsächlich bei gerade mal ein Jahr älteren Jungen. Die meisten sind, wenn ich Seraphine das mal glauben mag, durch ihre Prüfung gefallen."
"Komm, Jeanne, die hat mich für einen einzigen Tanz sprechen können, und dann ging's wirklich eher um Beauxbatons und daß ich da gut hinpassen würde."
"Und sie hat dich nicht gefragt, ob du schon eine feste Freundin hast?"
Julius zwang sich, keine verräterische Miene zu zeigen. Woher wußte Jeanne das? Hatte Belisama es Seraphine erzählt, die dann Jeanne mehr oder weniger alles weitergegeben hatte?
"Sie hat mich gefragt, ob ich gute Freunde dort in Hogwarts hätte, und ich erzählte ihr, daß da auch ein paar Mädchen dabei seien."
"Wußte ich's doch. Du hast zwar eine vorzügliche Körper- und Gesichtskontrolle erlernt, aber wir sollten uns mittlerweile schon oft genug in verschiedenen Situationen getroffen haben, daß wir einander besser kennen, nicht wahr? Aber wir hatten es von Claire. Wenn Papa das auch schon mitbekommen hat, was für einen Vater nicht gerade selbstverständlich ist, wenn es nicht so auffällig ist, hat sie keine Scheu mehr, das zu zeigen, selbst gegenüber Papa und Tante Uranie. Maman freut sich ja eher, wenn Claire sich wen ausguckt, der auch ihr genehm ist, und ich mag zwar mehr zu sagen haben als sie, aber bin doch nur so frei, wie meine Eltern mich lassen wollen. Wie gesagt, ich freue mich, daß du zumindest ein gewisses Maß an Verantwortung zeigst und nicht einfach übergehst, was um dich herum passiert."
"Sie ging auch ziemlich heftig darauf ein, daß Barbara andeutete, noch kein Mann habe mit ihr das Geheimnis seiner Mutter geteilt."
"Weil sie ungefähr weiß, was Barbara damit gemeint haben könnte. Du weißt es natürlich, weil Madame Matine das ja herausgefunden und fehlende Wissensgrundlagen ergänzt hat. Aber daran siehst du, daß für Claire jedes Mädchen eine Konkurrentin ist. Das ist ja dann wohl klar, warum."
"Dreizehn Jahre ist insofern kritisch, weil der Körper sich langsam umstellt und ..."
"Bla bla bla! Bei den einen früher bei den anderen erst später. Lass jetzt die Wissenschaft aus dem Spiel, schon gar die der Muggel. Wissen ist wichtig, weil Wissen das Vehikel ist, um Erfahrungen zu machen und zu verstehen. Aber ohne Erfahrungen nützt dir kein Wissen was", belehrte Jeanne Julius, der nur erzählen wollte, daß Halbwüchsige in diesem Alter viele Gefühlsschwankungen erleben konnten. Er hoffte, daß ihm das noch eine Zeit erspart bleiben möge. Doch offenbar war er bereits auf dem Weg, sich damit auseinanderzusetzen, und Claire war das, was in der Chemie Katalysator genannt wurde. Aber nein! Ein Katalysator bedingte eine Reaktion, trat in sie ein, beschleunigte sie und trat davon unverändert wieder aus. Claire war dann bestimmt kein Katalysator, sondern ein Initialzünder, etwas was losging und eine Folge von Reaktionen anregte. Aber war diese Flucht in wissenschaftliche Beispiele nicht auch feige? Da stand Jeanne, die große Schwester, die nun wissen wollte, ob ihrer jüngeren Schwester gute oder schlechte Zeiten bevorstanden, die er, Julius, ohne gefragt worden zu sein in seiner Hand barg.
"Wie gesagt, Jeanne, weiß ich nicht, was ich jetzt tun soll. Ich kann ja nicht zu ihr gehen und sagen, daß ich ihre Gefühle toll finde und hoffe, daß sie in fünf Jahren, wenn Hogwarts für mich erledigt ist, noch auf mich wartet und zwischendurch ja einige Sommerbälle stattfinden. Ich kann sie ja auch nicht einfach anmachen und sagen: "Claire, träum nicht! Mit uns läuft nichts!""
"Dann hättest du eine Feindin sicher, Julius. Wenn wir Dusoleil-Frauen, zumindest die der mütterlichen Linie, was grundsätzliches haben, ist das Leidenschaft. Eine leidenschaftlich verehrende, sagen wir liebende Hexe zur Freundin oder mehr zu haben, ist bestimmt schöner, als eine leidenschaftlich hassende Hexe zur Feindin zu haben. Aber ich kann verstehen, daß das zu neu für dich ist, um das alles komplett richtig zu machen und du Angst hast, was falsches zu machen. Wie gesagt: Wenn du soweit bist, dich verantwortlich zu fühlen, was von deinen Taten abhängt, bist du schon gut vorangekommen. Und jetzt laß uns damit aufhören. Was ich dir sagen wollte, habe ich dir sagen können, sogar ohne Worte. Was ich wissen wollte, weiß ich jetzt auch, daß dir Claires Gefühle nicht gleichgültig sind, wenn du auch nicht weißt, ob du sie erwidern willst, kannst oder darfst. Mehr können wir beiden im Moment nicht abstimmen."
Jeanne nahm Julius in die Arme und hielt ihn für dreißig Sekunden eng umschlungen. Als sie lautes Gelächter, dann Johlen von oben hörten, ließ Jeanne von Julius ab und sah nach oben.
"Das ist ja nett, daß du Jeanne für mich beschäftigt hast!" Rief Bruno von oben. "Muß ich eifersüchtig sein?"
"Auf wen, auf Jeanne oder auf mich?" Rief Julius nun völlig anders gestimmt nach oben. Das Gerede von Jungen wirkte wieder wie ein erfrischender Quell der guten Laune auf den Hogwarts-Schüler.
"Dumme Fragen ziehen immer dumme Antworten nach sich", bemerkte Barbara. Dann landete sie und umarmte Julius, während Jeanne sich von Bruno herzen ließ.
"Jeanne hat uns gesagt, wir sollten bloß nicht vor halb sechs hier anfliegen, weil sie was mit dir besprechen müsse. Ich denke, daß es zu ihrer Zufriedenheit verlaufen ist."
"Ich werde wohl darauf bestehen müssen, nach Hogwarts zurückzukehren. Da werden keine Verschwörungen zwischen Schülern getroffen."
"Unschuldsengel. Gerade da wird getratscht und auch intrigiert, habe ich mitbekommen. Zwar sind die Slytherins aller anderen Häuser Feind, aber das heißt nicht, daß es bei euch in den anderen Häusern unbeschwerter zuginge. So, und wir beiden trainieren jetzt. César läßt sich von Jeanne und Bruno angreifen, du versuchst, mich auszupunkten."
"Ich dachte, das geht immer drei gegen einen, wie in echt", wunderte sich Julius.
"Du bist schnell genug, wie Jeanne und Bruno. Nachher dürft ihr alle zusammen gegen César oder mich antreten. Also los!"
Monsieur Delourdes, der Heilmagier, trat auf das Feld und besah sich die fünf Spielerinnen und Spieler. Dann holte er einen Quaffel, sowie einen gleichgroßen blauen Ball und sagte:
"Ich möchte nur zuschauen. Eingreifen möchte ich nicht."
Julius lieferte sich mit Barbara einen wilden Tanz in einem der beiden Torräume. Er versuchte, aus großen Höhen abzuwerfen, von unten nach oben durchzuziehen oder mehrere Rollwendungen zu bringen, um Barbara von zwei Ringen gleichzeitig fernzuhalten. Er funktionierte nur noch, schöpferisch zwar, aber reflexartig.
So um sieben Uhr kamen Madame Dusoleil und Claire auf dem Cyrano-Besen angeflogen. Julius war wie die anderen auch total verschwitzt. Das besonders intensive Direktangriffstraining hatte alle Spieler geschlaucht. Julius, der in den letzten zehn Minuten mehrere Tore gegen César hinbekommen hatte, schnaufte wie die Lok vom Hogwarts-Express, als er den Besen soeben landete.
"Ich wußte es mal wieder. Ihr könnt den Jungen nicht auf seinem natürlichen Leistungsniveau spielen lassen. Er wird vielleicht mal erwachsen, ihr aber wohl nicht mehr", schimpfte Madame Dusoleil Jeanne, Barbara und Bruno aus. César bediente sich derweilen aus einer mitgebrachten Tüte, in der fertige Baguettestücke mit verschidenen Belägen drin waren. Monsieur Delourdes kam heran, maß Puls und Blutdruck von Julius, tupfte ihm mit einem stark nach Alkohol riechendem Wattebausch die schweißnasse Stirn ab und trocknete seine Kleidung. Dann gab er ihm starken Kräutertee zu trinken, einen ganzen Liter.
"Ich habe euch gesagt, daß ich nur zuschauen wollte. Aber ich hätte erst eingegriffen, wenn du nicht mehr richtig auf dem Besen gesessen hättest, junger Mann."
"Mädels machen einen kaputt, aber auch ziemlich gut gelaunt", sagte Julius.
"Du wirst den großen César doch nicht wie ein Mädchen ansehen?" Lachte Monsieur Delourdes. "Aber das Fräulein Lumière hat wohl endlich den Jungen zum Quidditch, der Jacques nicht sein will. Ich verbiete dir jedoch für heute jeden weiteren Besenflug. Camille möchte dich auf ihrem Besen mitnehmen."
"Und der Sauberwisch?" Fragte Julius noch immer um neue Kräfte ringend.
"Der gehört dir persönlich, nicht wahr. Dann bringe ich den eben bei euch vorbei", bot sich der Heilmagier an. Julius nickte. Im Moment hätte er wohl allem zugestimmt, wenn er nicht groß darüber nachdenken mußte. Der Heilmagier bestieg den Besen und flog los, Richtung Dusoleil-Haus, wie Julius erleichtert sah.
"Monsieur Delourdes hat mir verboten, alleine weiterzufliegen", sagte Julius noch um neuen Atem ringend. Jeanne kam sofort angelaufen, stieg auf ihren Besen und gebot Julius, hinter ihr aufzusitzen.
"Von einem Sauberwisch auf einen behäbigen Cyrano umsteigen ist deiner nicht würdig", sagte Jeanne, wartete, bis Julius sich richtig bei ihr festhielt und startete mit ihm durch. Auf dem Heimflug überholten sie Monsieur Delourdes, der wohl etwas unbeholfen auf dem Sauberwisch ritt.
"Diese englischen Besen sind mir zu sensibel", stöhnte er, weil jede kleine Bewegung von ihm den Besen nach links oder rechts ausbrechen ließ.
"Halten sie die Richtungshand etwas anders, so das der Richtungsarm fast parallel liegt, dann haben Sie eine bessere Lagesicherheit", riet Julius hinter Jeanne sitzend. Der Heiler tat es vorsichtig und bekam den Besen tatsächlich auf eine stabile Flugbahn.
"Festhalten, wir landen!" Meldete Jeanne und ging unvermittelt in einen waagerechten Sturzflug. Der Ganymed sackte durch, wie ein Fahrstuhl, dessen Halteseile gerissen waren. Doch keine fünf Meter vor dem leicht ramponierten Wiesenstück vor dem Haus fing Jeanne den Sturz ab und bekam eine butterweiche Landung hin, wie auf einer Wolke schwebend.
"Monsieur Delourdes hantierte unbeholfen mit dem Sauberwisch, bekam ihn nicht in eine günstige Landelage und sah sich gezwungen, einen Meter vor dem Boden von ihm abzuschwingen und sich auf seine Füße fallen zu lassen. Immerhin blieb der Besen dabei unversehrt.
"Hui, wie du dieses Teufelsding so glänzend beherrschst, Julius, entzieht sich mir völlig. Aber hier hast du deinen Besen wieder", sagte der nun ebenfalls leicht außer Atem befindliche Heiler. Dann nickte er Madame Dusoleil zu, bevor er disapparierte.
"Die fünfhundert Meter hätte der doch zu Fuß laufen können", tönte Jeanne.
"Lorene wartet schon seit einr Viertelstunde mit dem Abendessen auf ihn", wußte Madame Dusoleil. "Und auf die Mademoiselle Jeanne und den Monsieur Julius wartet eine Dusche und frische Kleidung!" setzte sie noch hinzu. Julius gehorchte nur allzu bereitwillig.
Während des Abendessens saß Claire wieder neben Julius. Sie verriet ihm, daß Maya Unittamo ihre Verwandlungsbücher signiert habe, worüber sie ganz glücklich aussah. Julius freute sich für Claire. So hatte sie auch etwas von der manchmal zu groben Scherzen aufgelegten Hexe bekommen, nicht nur er, der hier nur Gast war. Nur Gast?
Abends fiel er um zehn Uhr ins Bett und wünschte vor dem Einschlafen Maya Unittamo eine glückliche Rückkehr nach Amerika. Obwohl er sich denken konnte, daß sie wie Gloria und ihre Großmutter die alte Direktverbindung zwischen Paris und New Orleans nutzen würde, hoffte er, daß nichts dazwischenkam. Denn er hatte die ältere Hexe sehr gerne getroffen. Sie war keine verknöcherte, vielleicht verdörrte alte Krähe, sondern trotz der fast hundert Lebensjahre so fröhlich und frech, wie ein junges Mädchen und hatte ihm viel neues gezeigt, vor allem, daß er mit dem, was er konnte, unbeschwert umgehen sollte. Dann schlief Julius ein, ohne noch über die übrigen Ereignisse des Tages nachzudenken. Die Erschöpfung forderte ihren Tribut und bekam ihn.