Julius vermeinte, in einem etwa vier mal fünf mal drei Meter großen Raum zu stehen, dessen Wände, Boden und Decke aus einem merkwürdig grünlich-blauen Material bestanden. Hier hatte ihn der in goldener Tannenzapfenrüstung gepanzerte Torwächter abgesetzt und war dann verschwunden. Julius ärgerte sich, daß er nicht daran gedacht hatte, in eine solche Falle zu tappen. Dann überlegte er. Dieses Tor auf Gregorians Bild war seinetwegen aufgetaucht. Diese Wächter hatten auf ihn gewartet. Er hatte das richtige Losungswort gerufen und war in die merkwürdige Stadt gelangt. Wenn diese Wächter den Auftrag hatten, ihn an einen bestimmten Ort zu bringen, dann durfte er sich jetzt weder ärgern noch ängstigen. Denn dann galt es, alles konzentriert wahrzunehmen und richtig zu reagieren.
Die Abgrenzung zwischen Bilderwelt und seiner Wirklichkeit, die er immer als Weltenfenster bezeichnet hatte, lag wie eine Wand aus Panzerglas vor ihm. Er trat heran und blickte hinaus, weil das Bild selbst nichts untersuchenswertes mehr enthielt. Vor und unter ihm lag ein Raum wie ein Kellergewölbe mit schlanken, weißen Säulen, die in einer merkwürdigen Anordnung aufgebaut waren. Julius vermeinte, magische Symbole in der Aufstellung der Säulen zu erkennen. Die Säulen selbst trugen um sie herumlaufende Schriftzüge einer Sprache, die Julius nicht lesen konnte. Er erkannte mit dem, was er aus dem Unterricht über alte Runen wußte, daß die durch Striche und Bögen miteinander verbundenen Zeichen nicht zufällig etwas über oder unter den vorangehenden oder folgenden Symbolen angeordnet waren. Jede Säule wurde in der Hälfte von einem silbernen Ring umfaßt, an dem große Lampenhalter angebracht waren, in denen große, messingfarbene Öllampen steckten, die den Raum in ein dezentes, goldenes Licht tauchten. Auf dem Boden lagen vereinzelte, sehr edel aussehende Teppiche herum, die Julius an orientalische Knüpfkunstwerke erinnerten. Er fragte sich, ob der Raum hinter dem Weltenfenster ein Empfangsraum oder ein geheimer Versammlungsraum sein mochte. Dann blickte er auf seine magische Armbanduhr, die sich ganz von selbst auf die am gerade eingenommenen Standort gültige Zeit einstellte. Da sie zudem noch einen Heimatortstundenzeiger besaß, konnte Julius an ihr ablesenwie weit die Zeitzone, in der er war von der in England gültigen entfernt war, die in den Wintermonaten der Weltzeit auf dem Längengrad von Greenwich entsprach. Er sah, das der rote Standortstundenzeiger um drei Stunden vorausgerückt war. So holte er seine Centinimus-Bibliothek aus dem Practicus-Brustbeutel, entnahm dem auf ein Hundertstel verkleinerten Bücherschrank den von den Porters geschenkten Weltatlas und klappte die darin enthaltene Weltkarte auseinander. Er tippte mit dem Zauberstab die große, schwarz-weiße Uhr am unteren Rand der Karte an und zauberte damit ein Gitter aus schwarzen Strichen auf die Karte, die am oberen Ende jeweils eine schwarze Uhr mit weißen Zeigern besaßen. Die über dem Zeitzonenstrich von Großbritannien stand auf zwölf Uhr, die östlich davon auf ein Uhr, die westlich davon auf elf Uhr. Dann konnte Julius noch die rote, gestrichelte Datumsgrenze sehen, die den 180. Längengrad durchzog, wenngleich sie wegen der besseren Verwendbarkeit für die davon berührten Länder nicht wirklich senkrecht verlief, wie Julius mal gehört hatte. Immerhin konnte er nun erkennen, daß er in der Zeitzone war, die Länder wie den Irak umfaßten. Das paßte auch zu dem Raum außerhalb des Bildes.
"Bin ich jetzt bei Saddam Hussein gelandet?" Fragte sich Julius. Dann erinnerte er sich daran, daß im heutigen Irak ja auch die alte Stadt Babylon gelegen hatte, die als eine der wichtigsten Städte des Altertums galt. Dort waren viele magische Erfindungen gemacht worden, die im Morgenland bis heute noch benutzt wurden, die nützlichen, wie die schädlichen. Konnte es sein, daß er nun in der Nähe des Ortes war, an dem Babylon gelegen hatte? Dieser Gedanke erzeugte einen Schauer gespannter Erwartung in dem Jungen, der nun, wo er zumindest wußte, wo das Bild des golden gepanzerten Wächters liegen konnte, nicht mehr so sehr an eine Falle dachte. Doch was nun? Er war hier gestrandet wie ein Schiffbrüchiger auf einem kahlen Felsen mitten im Ozean und weit von den Schiffahrtsrouten entfernt. Er konnte nun verhungern, verdursten oder von einer unvorhersehbaren Flutwelle fortgespült werden. Er legte den Atlas wieder in die Bibliothek und diese zurück in seinen Brustbeutel. Dann sah er noch einmal durch das Weltenfenster. Sollte er rufen, um zu sehen, ob jemand ihn hören konnte? Nein, da war es wohl besser, wenn er zunächst aus der gemalten Welt heraustrat. Ja, das war das einzige, was er noch tun konnte, wollte er nicht für alle Zeiten in diesem Bild hängenbleiben. Außerdem lief seine Zeit. Er hatte nur noch fünfzig Minuten, bevor Claire ihn vermissen und Professeur Faucon unangenehme Fragen stellen würde. So nahm er das Intrakulum, legte es an das stahlharte Weltenfenster und tippte es mit dem Zauberstab genau im Mittelpunkt an.
"Per Intraculum excedo!" Rief er. Darauf entstand aus dem mächtigen Zaubergegenstand eine neue Lichtspirale, die ihn einfing und wie von einem Tornado einsaugte und durch einen Wirbel aus Licht schleuderte. Als er am anderen Ende dieses Wirbels aus knapp einem Meter Höhe über dem Boden herauspurzelte erkannte er, daß der Raum etwas kleiner war als aus der Bilderwelt heraus betrachtet. Dann fühlte er, wie seine gerade noch sehr weit sitzende Kleidung wieder eng am Körper anlag. Offenbar besaß er nun wieder den Zustand, den er bei seiner Flucht vor Hallitti angenommen hatte. Außerdem war es hier sehr kühl, wie in einer Tropfsteinhöhle. Unvermittelt leuchteten alle Symbole an den Säulen auf und erstrahlten in einem himmelblauen Licht, das flackerfrei den Raum erfüllte. Die Öllampen erloschen, so daß der Raum nur noch in diesem himmelblauen Schein zu erkennen war. Julius presste wütend die Lippen aufeinander. Damit hätte er doch wirklich rechnen müssen, daß ein Zauber diesen Raum erfüllte, der jeden Eindringling sofort aufspürte und eine Reaktion auslöste. Dabei war es völlig unwichtig, ob der Eindringling apparierte, durch eine aufgebrochene Wand oder eben aus einem Bild hereinkam. Nun konnte es passieren, daß irgendwer oder irgendwas ihn hier angriff oder er gleich von einem anderen Zauber überwältigt wurde. Er wandte sich dem Bild zu, aus dem er herausgekommen war. Aus der wirklichen Welt heraus war es nur so groß wie eine Postkarte. Julius wollte gerade das Intrakulum auflegen und die Flucht in die gemalte Welt antreten, als das Bild wie durch eine schnelle Drehtür herumschwingend in der Wand verschwand.
"Gehe ich jetzt davon aus, daß ich hier auch nicht mehr wegkomme?" Fragte sich Julius, den doch nun eine gewisse Angst ergriff.
"Was mich stört verschwinde! Mein Geist herrscht über meinen Körper. Mein Geist herrscht über meine Gedanken. Mein Geist herrscht über meine Gefühle", dachte er verbissen und immer stärker, bis er die aufgekommene Angst nicht mehr empfand. Dann schaltete sich sein logischer Verstand wieder ein. Es war genau richtig, daß er das Bild verlassen hatte. Genau das wollten die, die es hier aufgehangen hatten. Konnte es sein, daß Gregorian mit Zauberern aus Nahost zusammen diese Brücke von Beauxbatons hierher errichtet hatte? Julius war sich nun sicher, daß sein Weg wohl noch lange nicht vorbei war. Alles was er brauchte war genug Mut, nicht an einem Ort zu warten, sondern weiterzugehen. Vielleicht gab es irgendwo eine Tür, die jetzt, wo er hier hereingekommen war, für ihn aufgehen würde und sonst unverrückbar zu blieb. Mit einem Anflug von Galgenhumor mußte er an Ali Baba und die vierzig Räuber denken. Kannte er vielleicht die Entsprechung zu "Sesam öffne dich", wie ja bei dem großen Stadttor auch?
"Bloß nicht zwischen die Säulen treten", dachte er. Er wollte es nicht darauf anlegen, von einem durch sie aufrechterhaltenen Zauber zu laufen, der ihn versteinerte oder anders erledigte. Doch vielleicht ging es nur, wenn er die richtige Anordnung fand, eine Art Teleportal wie das von Beauxbatons, das ihn zum nächsten Raum, der nächsten Station dieser merkwürdigen Reise bringen würde. Doch zuerst wollte er nachsehen, ob es einen gewöhnlichen Ausgang aus dem kleinen Raum mit den Säulen gab. So schlängelte er sich an der Wand um die aufgebauten Deckenträger herum und begutachtete dabei die Wände und den Boden. Irre wäre es ja, wenn er nur durch die Decke entkommen konnte. Dann dachte er daran, den zauberfinder zu gebrauchen, um zu sehen, ob er nicht zwischen einzelnen Säulen hindurchgehen konnte. Doch wie er befürchtet hatte war der ganze Raum von Magie durchsetzt, und die Säulen erstrahlten viermal so breit wie sie waren im goldenen Licht. Er löschte den Zauberfinder und dachte daran, wie man Geheimtüren finden konnte. Gab es da nicht einen Zauber, der das möglich machte? Im Zauberspruchband der fünften Klasse, den er vor zwei Wochen durchstöbert hatte, um für Professeur Bellart einen Selbstspiegelungszauber nachschlagen wollte stand auch was von Auffindezaubern für verschiedene Sachen wie Lebewesen, Metalle, Wasseradern oder versteckte Ausgänge. Doch die Schularbeiten waren zu aufwändig gewesen, um sich so nebenbei mit solchen Zaubern zu befassen. Das ärgerte ihn. So versuchte er es mit "Alohomora!", wobei er jedesmal wenn er das Zauberwort rief den Stab etwas versetzt ausrichtete, bis er einen vollen Kreis beschrieben hatte. Doch nirgendwo öffnete sich eine Tür.
"Wäre auch zu schön gewesen", knurrte er, als er es aufgab, Türen zu öffnen, auf die er nicht genau zielen konnte. So probierte er etwas anderes.
"Candidofumus!" Aus seinem Zauberstab quoll weißer Rauch heraus, der gerade so schwer war, nicht zu sinken oder aufzusteigen. Feine Schwaden des beschworenen, geruchlosen Qualmes durchzogen den Raum. Vielleicht gab es ja irgendwo einen Luftzug, der auf eine Türritze oder einen anderen Ausgang hinwies. Tatsächlich! Als ein Schwaden des weißen Rauches zwischen im Fünfeck aufgestellte Säulen geriet, wurde er kerzengerade angehoben, wie von einem Entlüfter angesaugt. Ein anderer Schwaden, der ebenfalls in ein Säulenfünfeck mit einer ganz anderen Anordnung hineingeriet, sackte unvermittelt durch, als sei im Boden eine Absaugvorrichtung vorhanden.
"Antigravitation", dachte Julius. Er kannte es aus Thorntails, daß in einem Raum die Schwerkraft in einem engen Bereich abgeschwächt oder umgekehrt werden konnte, was einen Aufstieg ohne Treppe und Aufzug ermöglichte. Da der weiße Rauch nicht weiter abgelenkt wurde, beendete Julius das Ausströmen mit "Finifumus!" und gab sich einen Ruck, auf das nach oben hebende Säulenfünfeck zuzugehen. Falls er dann an der Decke hängenbleiben würde, wollte er sich selbst mit dem Beschwerungszauber belegen, mit dem selbst kleinste Gegenstände wie Zentnerlasten beschwert werden konnten. Der Gravipluris-Zauber war ein Abfallprodukt aller Gewichtserleichterungszauber, die in den letzten Jahrhunderten erfunden worden waren. So trat der in diesem Raum gelandete Zauberschüler zwischen die Säulen und unterdrückte den Schrecken, als er den Boden unter seinen Füßen verlor und nach oben stieg wie ein Wasserstoffballon. Er fürchtete schon, an die harte Decke zu prallen, als genau über seinem Kopf eine runde, schwarze Öffnung entstand, wie ein steinerner Mund, durch den er den Raum verließ und in einen Bereich tiefster Dunkelheit eindrang. Dann ließ das Gefühl nach oben zu gleiten nach. Er fühlte sein Gewicht wieder und sackte nach unten, wo er nach einem Fall von nur einem Meter auf festem Boden aufkam.
"Lumos!" Murmelte Julius, nachdem er erkannt hatte, daß die ihn umschließende Finsternis absolut war. Sein Zauberstab leuchtete auf und warf einen hellen Lichtstrahl auf eine graue Wand, die knapp zwei Meter vor ihm lag. Vorsichtig ließ Julius den Strahl einmal herumkreisen, tastete damit die Wände und den Boden ab und erkannte, daß er in einem rundbogenförmigen Tunnel stand, der gerade hoch genug war, daß ein reinrassiger Zauberer ohne Spitzhut ohne sich zu bücken hindurchlaufen konnte. Er stand auf einem schwarzen, kreisförmigen Stein, nicht größer als einer seiner Füße. Das war wohl der Einstieg oder Ausstieg zu dem Säulenraum unter ihm. Aber wie war er durch diese winzige Luke -? In der Zauberei ging doch alles, besonders wenn man die mächtigen Zauber des Morgenlandes meinte, fiel es ihm ein. So untersuchte er den Tunnel weiter, der sich kilometerlang zu erstrecken schien. Doch das mochte eine Täuschung sein, eine bewußte Irreführung für ungeladene Gäste, die es schafften, hier einzudringen. Da konnte er stundenlang laufen, ohne den Ausgang zu finden. Julius überlegte, ob er nun endgültig in einer Sackgasse war. Von hier aus mochte es nun nicht mehr weitergehen. Diese Vermutung ließ eine immer stärkere Aussichtslosigkeit in ihm aufsteigen. Ja, hier würde er nicht mehr herauskommen. Das hier war die endgültige Falle, sein Grab, in dem er lebendig verrotten und schließlich zu einem blitzblanken Knochenhaufen mit einem silbernen Armband und einer gleichfalls silbernen Armbanduhr zerfallen würde. Ohne große Hoffnung, von jemandem gehört zu werden rief er:
"Hallo, ist da jemand, der mich hören kann!" Er stutzte, weil sein Ruf nicht wie in einem unendlich langen Tunnel nachhallte, sondern wie im Inneren eines kleinen Kellerraumes widerhallte. Er trat vorwärts, ging zwei Schritte, drei Schritte, vier Schritte, bis er schließlich dreißig Schritte getan hatte, ohne auf eine Wand oder ein anderes Hindernis zu stoßen. Also war dieser Tunnel entweder echt und der Schall in ihm wurde verfälscht, oder der Schall wurde wie sonst zurückgeworfen, aber feste Körper konnten ungehindert durch unsichtbare Abgrenzungen hindurchtreten. Julius blieb stehen und rief noch einmal, ob ihn jemand hören könne. Wieder hallte seine Stimme laut wie von eng um ihn herumstehenden Kellerwänden wider. Also wirkte was auch immer noch in dieser Entfernung vom Startpunkt. Hatte er den überhaupt verlassen? Mochte es nicht sein, daß er jedesmal, wenn er einen Schritt vorankam, von einer unspürbaren Macht wieder zurückgeschoben wurde, wie auf einem Laufband, auf dem man seine Ausdauer und Schnelligkeit im Laufen trainieren konnte, ohne einen Meter vorwärts zu kommen, ja eher zurückgeschoben wurde, wenn man aus dem Tritt kam. Doch das hätte er spüren müssen, wenn ihn etwas zurückgezogen hätte. Dennoch benahm sich der Schall nicht so wie in einem langen Tunnel, durch den er gerade lief.
"Nox! Monstrato Incantatem!" Murmelte Julius. Erst ging das Zauberstablicht aus. Dann leuchtete für einen Sekundenbruchteil ein rot-blaues Flackern auf, das sofort wieder verschwand und Julius in undurchdringlicher Dunkelheit zurückließ.
"Hups, das ist mir noch nie passiert", stieß Julius verdutzt aus. Sein Auffindezauber für Magie und bezauberte Gegenstände war mißlungen, das erste Mal seitdem er ihn gelernt hatte. Dann erkannte er, daß hier wohl solche Zauber nicht geduldet wurden. Eine Gegenmagie herrschte hier vor, die gerade diesen Zauber wieder auslöschte, sobald er aufgerufen wurde. Er erinnerte sich an die Passage aus Professeur Faucons Buch über Spür- und Meldezauber, daß der Zauberfinder keine Garantie war, bezauberte Gegenstände zu finden, sofern es gelang, einen ihm entgegenwirkenden Verhüllungszauber zu wirken, der auf ein Objekt oder einen Raum gelegt werden konnte.
"Hallo!" Rief Julius. Wieder hallte seine Stimme wie von ganz in seiner Nähe aufragenden Wänden und einer niedrigen Decke wider. "Eins, zwei drei!" Zählte Julius laut und drehte sich dabei einmal um sich selbst. Der Widerhall seiner Stimme veränderte sich nicht. Dann durchzuckte ihn ein Gedanke wie ein Stromstoß: Konnte er nun, in völliger Finsternis, eine dieser Wände ertasten? Kurz machte er Licht und trat an die linke Tunnelwand. Er streckte die Hand nach ihr aus und fühlte kalten Stein, womöglich Granit. Das gleiche fühlte er an der rechten Wand. Dann trat er wieder drei schritte vor und zählte laut. Doch der Widerhall seiner Stimme veränderte sich nicht. Auch als er fünf Schritte in die Gegenrichtung tat passierte nichts. Er blickte noch einmal auf seine Uhr. Er hatte nun noch vierundvierzig Minuten. Doch im Grunde konnte er die Zeit vergessen, wenn er eh nicht mehr hier herauskam", dachte er, wieder mit einem immer stärkeren Gefühl der Verzweiflung. Dann besann er sich auf das, was ihm gerade so heftig durch Kopf und Körper gegangen war. Er löschte das Zauberstablicht wieder und rief: "Hallo!" Dabei machte er einen Schritt nach vorne, rief erneut und hörte seine Stimme von ganz nahe vor ihm zurückschallen. Er tat einen mutigen Schritt nach vorne ... und prallte mit dem rechten Fuß gegen ein hartes Hindernis. Vorsichtig streckte er seine rechte Hand aus und berührte eine glatte Steinwand, die sich so anfühlte wie die Tunnelwände. Tunnelwände? Jetzt glaubte er nicht mehr, in einem Tunnel zu stehen. Dieser Raum, der nun, wo er keine Lichtquelle mehr benutzte, unverkennbar klein fühlbar war, war der eigentliche, echte Ort, an dem er sich gerade befand. Vorsichtig tastete er sich an der Wand entlang, die sich jedoch immer gleich hart, kalt und glatt anfühlte. Er beklopfte sie auf der Suche nach hohl klingenden Stellen, wie er es aus Abenteuergeschichten und Krimis kannte. Doch sie klang wie massiver Fels, eine Wand, die vielleicht nur die Begrenzung massiver Felsen war. Dann erreichte er eine der Tunnelwände, die sich nun nicht gewölbt anfühlte wie eben noch, sondern glatt und gerade. Auch diese Wand beklopfte er, um einen Hohlraum zu finden. Doch er konnte auch an dieser Wand keinen entdecken. Dann erreichte er die nächste, die dritte Wand und betastete sie. Dabei glitten seine Hände über etwas fremdes, etwas darin eingelassenes. Er fühlte glattes Material, das bei seinen Berührungen leicht vibrierte, als sei es nicht so fest wie die Wand. Er klopfte dagegen und hörte jedesmal ein vernehmliches Pong-Pong, wie von einer Holzwand. Dann stieß seine linke Hand gegen etwas kaltes, metallisches. Er befingerte es aufgeregt und fand heraus, das es zuerst rund und breit war, sich dann etwas verschmälerte und dann in einer leichten Krümmung nach unten verlief, zu einem runden Stück, das in die Wand trat. Nein, nicht die Wand! Das hier vor ihm war eine Türklinke! Er hatte eine ganz hundsordinäre Tür gefunden! Doch der Schauer der Erkenntnis hielt nicht lange vor. Türen wurden für gewöhnlich verschlossen, vor allem wenn hinter ihnen Räume lagen, in die nicht jeder rein durfte. Er tastete unter die Türklinke, fand aber kein Schlüsselloch.
"Lumos!" Murmelte er. Mit nach vorne deutendem Zauberstab erwartete er das aufflammen des Lichtes. Doch genau in dem Moment, wo das Zauberstablicht erstrahlte, löste sich die Türklinke unter seinen Fingern in Luft auf, und vor ihm lag der unendlich erscheinende Tunnel.
"Verflixt genial!" Knurrte Julius mit einer Mischung aus Enttäuschung und Bewunderung. Sofort löschte er das Zauberstablicht wieder und griff vorsichtig nach vorne. Ja, da war die Tür wieder. Er ertastete die Klinke, ruckelte etwas daran und drückte sie hinunter. Leise quietschend drehte sich die Klinke. Dann klackte es laut, und die Klinke wich nach Vorne vor Julius Hand zurück, nur einen Zentimeter, begleitet von einem leisen Knarren. Er hatte tatsächlich diese Tür aufgemacht!
"Das ist doch wohl nicht wahr", stieß er aus, als er die Tür immer weiter von sich fortdrückte und sich zwischen ihr und dem steinernen Türrahmen hindurchschob. Doch was immer hinter der Tür lag, es war genauso in Dunkelheit getaucht wie der Raum, den er gerade verließ. Dennoch trat er aus der Türöffnung nach vorne und ließ die Klinke los. Er tastete sich am Türblatt vorbei in den dunklen Raum hinein. Als er es passiert hatte knarrte es hinter ihm, und er hörte wie die Tür wieder zufiel. In dem Moment glomm ein Licht wie aus weiter Ferne, verstärkte sich langsam und wurde zum Leuchten einer großen Kristallsphäre, die unter einer hohen Decke schwebte und nun den großen Raum mit warmem, goldgelbem Licht erleuchtete. Im Raum selbst gab es nichts. Keine Einrichtungsgegenstände standen hier herum, keineSäulen wie im Raum des Bildes und auch keine Teppiche verzierten ihn. Nur eine weitere Tür am anderen Ende des Raumes bot eine Abwechslung zu den Steinwänden, der Granitdecke und dem Boden wie aus schwarzem Marmor. Julius überlegte schon, ob er einfach durch die nächste Tür hindurchgehen sollte, als er ein lautes Stampfen vernahm, das von der anderen Seite der Tür her erklang. Er kannte dieses Geräusch, das sich ihm näherte. In der gemalten Welt in Hogwarts war er Geschöpfen begegnet, die solche Schritte machten: Golems!
"Hoffentlich geht nicht gleich das Licht aus", dachte Julius, als er die stampfenden Schritte hörte, nicht nur von einem übergroßen Zweibeiner, sondern von mehreren. Er hob den Zauberstab. Konnte er die Golem-Vernichtungsformel noch? Vielleicht sollte er die Golems besser bannen, von sich fortscheuchen. Da flog die Tür auf, und massig und stumpfgrau polterte der erste Golem in den Raum. Er mochte seine zweieinhalb Meter messen. Julius rief die Golem-Vernichtungsformel, weil das aus belebter Erde und Gestein bestehende Ungeheuer so ungestüm auf ihn losging, daß er es lieber zerstören wollte. Der Golem verharrte, als Julius den letzten Teil der Vernichtungsformel gerufen hatte. Dann explodierte er in einem silbernen Lichtblitz und einer Entladung aus weißem Dampf und Ruß, der Julius wie eine heftige Windböe umwehte. Dann verschwamm die Welt vor Julius' Augen, und er fühlte seine Beine zu Pudding werden. Aus seinen Gliedern schwand die Kraft und er keuchte wie unter einer Zentnerlast. Die Vernichtung des Golems hatte ihm, auch wenn er ein Ruster-Simonowsky-Zauberer war, beinahe alle Körperkraft geraubt. Wie durch wabernde Dampfschleier sah er einen zweiten Golem herankommen. Doch er schaffte es nicht mehr, den zauberstab hoch genug zu heben, um auch nur einen Golem-Verscheuchezauber zu wirken. Da fühlte er die steinharten Pranken des Golems um seine Taille langen und ihn wie in einer großen Zange festhalten und aufheben, als sei er ein Insekt, das ein Tierforscher mit einer Pincette ergreift und hochhebt. Er wollte schon rufen, diesem künstlichen Monster befehlen, ihn loszulassen, da stampfte es bereits davon. Unterwegs sah Julius, daß zwei weitere Golems in den Raum gekommen waren. Er erinnerte sich an Professeur Faucons Ferienunterricht, wo sie ihm und seinen Mitschülern erklärt hatte, daß es drei Sorten Golems gab: Wächtergolems, Sklavengolems und die gefürchteten Mördergolems. Doch wenn ihn gerade ein Mördergolem erwischt hatte, wäre er jetzt schon längst tot, erkannte er. Ja, und die zwei anderen Golems waren wohl auch keine Mördergolems, weil sie weit genug von ihm fortblieben und keine Anstalten machten, ihm was zu tun. Doch welche Sorte Golems waren die nun, die ihn aus dem Raum herausbrachten und durch zwei von Öllampen beleuchtete Gänge brachten, bis sie vor sich eine Wand mit einem Mosaik aus roten, weißen, blauen und grünen Steinen erreichten. Einer der Golems legte seinen linken kleinen Finger an einen weißen Stein, und die Wand glitt laut knirschend zur Seite. Dann betraten sie einen Raum, der von flackernden Fackeln erhellt wurde und neben einigen Dutzend niedrigen Polstermöbeln, die antiquierten Sofas glichen, einen hochlehnigen Stuhl mit einer Kopfstütze beinhaltete. Der Golem, der Julius wie eine Strohpuppe in seinen Händen trug stampfte auf den schwarzen Stuhl zu und drückte den Jungen auf die Sitzfläche. Dann presste er ihn unnachgiebig mit dem Rücken an die Rückenlehne und drückte seinen Kopf an die Kopfstütze. Julius' Blick klärte sich langsam wieder. Die heftige Erschöpfung wich allmählich von ihm. Doch als er versuchte, von dem Stuhl aufzustehen, schnellten aus den Armlehnen, den massiven Beinen und der Rückenlehne schlanke, goldene Ketten heraus und banden Julius an Armen, Beinen und Körper fest. Sogar um seine Stirn schlang sich eine goldene Kette, die klickend in einem Schloß oder einer anderen Sperrvorrichtung einrastete. Nun war er gefangen, nicht mehr ein herumirrender Eindringling. Der Golem, der ihn hergeschleppt hatte entwand ihm mühelos den Zauberstab und legte ihn auf einen niedrigen Steintisch, der zwei Gruppen dieser alten Sofas voneinander abgrenzte.
Die Golems zogen sich zurück und verließen den Raum. Mit lautem Knirschen wurde die steinerne Wand wieder an ihren Platz geschoben. Doch das war Julius nun völlig egal, ob der Fluchtweg frei war oder nicht. Zum einen würden die Golems hinter der Wand warten, und zum anderen war er an diesen Stuhl gefesselt. Das hieß, er würde gleich verhört werden. Er hatte davon gehört, daß es Stühle gab, die denen, die darauf saßen, große Schmerzen zufügen konnten. War dieser hier einer von der Sorte?
Wie viel Zeit vergangen war konnte Julius nicht sagen, weil er nicht auf seine Uhr sehen konnte. So mochten mehrere Minuten oder mehrere Stunden vergangen sein, bis er Schritte vor sich hörte, die Schritte von mehreren Menschen, keinen Golems. Sie kamen, um ihn zu verhören. Mit einem Anflug von Belustigung dachte er daran, daß er überhaupt kein Arabisch konnte. Sollte er sich jetzt dumm stellen, wenn sie ihn befragten?
Ein Rascheln wie von einem schweren Vorhang oder bei Seite gerückten Teppich war zu hören. Mit an den Stuhl fixiertem Kopf zum Geradeaussehen gezwungen konnte Julius zuerst niemanden sehen. Sie waren von rechts hereingetreten, wenn er seinen Ohren trauen durfte.
Eine tiefe Männerstimme sagte etwas in einer Sprache, von der Julius vermutete, daß es tatsächlich die Sprache des Propheten Muhammad oder auch Mohammed war. Eine andere Stimme antwortete halblaut. Dann hörte er noch einen Dritten sprechen, dessen Laute etwas anders klangen als bei den ersten beiden. Das konnte ein Dialekt oder Akzent sein, vermutete Julius. Die ersten beiden kamen aus derselben Gegend, der dritte von woanders her.
Die drei Männer traten in Julius' Blickfeld. Sie trugen wasserblaue Gewänder und ebenso blaue Turbane mit blauen Steinen daran, die die Form fünfstrahliger Sterne besaßen: Echte Pentagramme. Der größte von ihnen besaß ein langes Gesicht, das überwiegend von einem nachtschwarzen Bart verhüllt war. Dennoch konnte Julius an den davon unbedeckten Stellen braune Haut erkennen, wie sie für viele Bewohner des nahen Ostens normal war. Dunkelbraune Augen blickten ihn forschend und etwas mißtrauisch an. Der Fremde hegte jedoch keinen Argwohn, weil Julius sowieso gefesselt war.
Der zweite Mann war rund wie eine Regentonne und besaß ein großes Mondgesicht, das ebenfalls von einem dichten, schwarzen Bart verdeckt war. Seine Augen waren hellgrau und blickten Julius eher neugierig als mißtrauisch an. Dann wandte er sich um und sah den Zauberstab auf dem Tisch liegen. Julius wollte schon rufen, daß er den nicht anfassen sollte. Doch das hätte überhaupt nichts gebracht, stellte er völlig hilflos fest.
Der dritte Mann war kein Araber, sondern ein weißer, der auch keinen Vollbart sondern einen schmalen, schwarzen Schnurrbart trug und mit himmelblauen Augen den Gefangenen betrachtete. Julius fühlte instinktiv, daß er sich mit Occlumentie gegen diesen Fremden abschotten mußte und wendete den mühsam erlernten Geisteszauber an. Tatsächlich konzentrierte sich der Dritte wohl sehr heftig auf irgendwas, verharrte eine halbe Minute in einer angespannten Starre und wandte sich dann seinen beiden Begleitern zu. Er war es, der den Dialekt einer anderen Gegend sprach, hörte Julius sofort, als er den beiden Arabern etwas sagte. Der rundliche Mann ergriff den Zauberstab des Gefangenen und betastete ihn. Er schien davon elektrisiert zu werden, weil er ein paarmal zusammenzuckte. Er ließ den Stab auf den Tisch zurückklappern und sah seine Gefährten an. Julius konnte trotz der fremden Sprache heraushören, daß der untersetzte Mann sichtlich irritiert, ja regelrecht aufgeregt war. Denn der Klang seiner Worte und seine Gesten verrieten die Überraschung und Verwirrung des Mannes.
Der erste der hereingetretenen Männer blickte Julius nun genau an. Dieser verschloß seinen Geist so gut er es gelernt hatte. Er fühlte zwar einen starken Drang sich an irgendwas zu erinnern, doch konnte noch gut dagegenhalten. Das von außen unbemerkbare mentalmagische Kräftemessen dauerte wohl dreißig Sekunden, bis der Mann sich wieder abwandte und den Schnurrbartträger ansprach, der ihm zunickte. Dann sagte er was, das Julius eindeutig als Frage erkannte. Er fühlte den unwiderstehlichen Drang, darauf zu antworten. Doch weil er die Frage nicht verstehen konnte, konnte er auch keine Antwort darauf geben. Er erkannte, daß dieser Stuhl wohl damit zu tun hatte und war sich sicher, daß das Verhör nun begonnen hatte.
Nun stellte der Mann mit dem Schnurrbart eine Frage, in einer ganz anderen Sprache, wie Julius nun genau hörte, diese aber auch nicht verstand. Auch diesmal fühlte der Junge sich dazu gedrängt, eine Antwort zu geben. Doch weil er auch diese Frage nicht verstanden hatte, verflog dieses Gefühl sofort wieder. Er fragte sich selbst mit gemischten Gefühlen, ob das die beiden einzigen Sprachen waren, in denen sie ihn ansprechen konnten und ob er deshalb gleich aus dem Verhör entlassen und in eine reguläre Gefängniszelle gebracht oder gleich umgebracht werden würde. Da sprach der Schnurrbartträger wieder, dieses Mal in astreinem Französisch ohne jeden Akzent:
"Wie heißt du, Jüngling?" Diesmal war der Drang zu antworten ungleich größer, und noch ehe Julius sich besinnen konnte sprudelte es aus ihm heraus:
"Ich heiße Julius Andrews."
Die Männer tuschelten auf Arabisch miteinander. Dann wandte sich der rundliche Mann an den Gefangenen und befahl ihm: "Sage, wo kommst du her!"
Dieser Befehl hallte so heftig in Julius' Verstand nach, daß er fast nicht hörte, wie er antwortete: "Ich komme aus Beauxbatons in Frankreich."
"Wie alt bist du?" Wollte der Mann mit dem Schnurrbart nun wissen. Julius gab wahrheitsgemäß Auskunft. Ihm wurde klar, daß dieser Stuhl wie ein Lügendetektor war, ja eher ein Lügenunterdrücker und Erwiderungserzwinger. Somit wirkte er wie Veritaserum.
"Bist du der Junge, der fast von einer der neun Unheilstöchter geknechtet wurde?" Fragte der regentonnenrunde Araber.
"Ja, ich habe Hallitti getroffen. Sie hatte meinen Vater versklavt und wollte mich auch versklaven", antwortete er wie ein Sprechautomat. Er konnte nichts dagegen tun. Jeder Versuch zu schweigen wurde sofort von einer Woge unbedingter Antwortbereitschaft fortgespült.
"Wie bist du ihr entkommen?" Fragte der Weiße mit dem Schnurrbart sehr ernst klingend. Julius erzählte es, und zwar alles, wie er Hallitti entgehen konnte. Ihm kam gar nicht die Idee, seinerseits nach den drei Fremden zu fragen, wer sie waren und was sie mit ihm vorhatten. Dann gab ihm der rundliche Araber einen Befehl, den er bestimmt nicht ausführen wollte:
"Erzähl, wie konntest du zu uns vordringen! Sage die volle Wahrheit, Jüngling!"
"Ich bin in ein Bild eingetreten", hörte Julius sich antworten, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. "Ich habe ein Intrakulum benutzt, mit dem man aus der Wirklichkeit in die gemalten Welten hinübergehen kann. In diesem Bild war vorher ein Mann, der von einem Dämon namens Iaxathan gesprochen hat. Dann kam ein Stadttor. Ich konnte mit dem Intrakulum in dieses Bild. Weil ich geträumt habe, ich würde durch eine merkwürdige Stadt laufen und andauernd Wörter aus einer Sprache hören, die ich nicht kenne, hatte ich irgendwie das Gefühl, das Losungswort zu kennen, um durch das Tor gelassen zu werden." Die drei Männer sahen sich nun sehr aufgeregt an, während Julius weiterberichtete, wie einer der Torwächter ihn in einem Bild abgeladen hatte, aus dem er hier in diese geheimen Räume gekommen sei.
"Wo ist das Intrakulum jetzt?" Fragte der Weiße.
"In meiner rechten Umhangtasche", sprudelte es aus Julius heraus. Er erkannte, daß er sich gerade ausgeliefert hatte. Doch der Stuhl hielt ihn am Körper und Geist fest, so daß er absolut nichts dagegen tun konnte, daß der Mann mit dem Schnurrbart auf ihn zukam und ohne Hast das wertvolle Artefakt aus der Umhangtasche herauszog und damit zu seinen Kameraden, Kollegen oder Mitbrüdern zurückkehrte. Der größte der drei besah sich das Intrakulum genau, holte eine Art Vergrößerungsglas aus seinem Gewand und untersuchte die Metallscheibe damit noch genauer. Dann legte er es neben Julius' Zauberstab auf den Tisch und sprach mit seinen zwei Begleitern. Als das für Julius unverständliche Palaver vorbei war wurde er gefragt, woher er das Intrakulum habe. Wieder zwang ihn eine unwiderstehliche Macht, die Frage wahrheitsgemäß zu beantworten.
"Vor etwa fünf Monaten hat jemand in meiner früheren Schule Hogwarts eine bezauberte Bildergalerie von Salazar Slytherin frei ausgehängt und damit alle Bilder mit grünen Würmern verseucht, die Menschen versklaven konnten. Weil der französische Zaubereiminister und Professor Dumbledore erkannt haben, daß man diese Bilder nicht zerstören könne, wenn keiner wüßte, wo die Würmer genau herkämen, wurde ich gefragt, ob ich mit einem Intrakulum in die Bilderwelt wechseln und mich von einem bei mir hängenden Portrait von Aurora Dawn nach Hogwarts bringen ließe und dort das Bild mit der Urmutter dieser Würmer suchen sollte. Von dem Zaubereiminister bekam ich das Intrakulum, mit dem ich dann in Hogwarts die Galerie Slytherins gefunden und die grünen Würmer vernichtet habe."
""Hat dir dieser Zaubereiminister außer diesem Ding noch etwas anvertraut, Jüngling?" Fragte der rundliche Araber. Julius erwiderte so vollautomatisch wie bisher:
"Ja, er gab mir einen bezauberten Drachenhautpanzer gegen körperliche Angriffe und die Kettenhaube von Darxandria mit, um mich gegen Geisteszauber zu schützen. Deshalb konnte ich auch nur fünf Stunden in der Bilderwelt bleiben."
"Allah!" entfuhr es allen dreien fast gleichzeitig.
Jemand räusperte sich von rechts, den Julius nicht sehen konnte. doch er hörte überdeutlich, daß es eine Frau sein mußte. Dann hörte er die Fremde auf Arabisch sprechen, leise und verhalten. Die drei Männer blickten in ihre Richtung. Sie schienen nicht sonderlich begeistert zu sein, wenngleich die Aufregung, die sie eben noch ergriffen hatte, noch nicht verflogen war. Dann trat jemand in den Raum ein, in weite, wasserblaue Gewänder mit einem Kopftuch aus dunkelblauer Seide mit dem fünfzackigen Stern daran. Der ebenfalls blaue Schleier, der das Gesicht der vierten Person verhüllte, bestätigte Julius, daß er sich nicht verhört hatte. Ja, und er erkannte auch, welche Frau da gerade verschleiert wie eine streng gläubige Muslima hereingetreten war.
"hallo, Julius", sagte sie und nickte den anderen zu, die sich abwandten, bis auf den Mann mit dem Schnurrbart. Dann hob sie den Schleier von ihrem Gesicht. Ja, das war wirklich Aurélie Odin, Claires Großmutter mütterlicherseits, deren brauner Hautton einer im Orient geborenen Frau in nichts nachstand. Die beiden Araber sahen sie nicht an, nur der Mann mit dem Schnurrbart konnte ihren Anblick wohl aushalten, vermeinte Julius zu sehen. "Mehdi, bitte löse die Ketten von dem Jungen. Der hat euch wohl genug Geheimnisse ausgeplaudert", wisperte Aurélie auf Englisch, offenbar damit die anderen sie nicht verstehen sollten, denn der rundliche Mann konnte ja Französisch.
"Das kann ich nicht machen, Aurélie. Der Stuhl gehorcht nur Yassin, genauso wie die Wächtergolems", sagte der Mann. Julius fragte sich nun, aus welchem Land dieser Mann kommen mochte. Mehdi klang nicht arabisch, genauso wenig wie dieser Mann arabisch aussah. Dann konnte es ein Perser sein, ein iranischer Staatsbürger.
"Dann sage Yassin von dir aus, er möchte den Stuhl dazu bringen, den Jungen freizulassen!" Zischte Aurélie Odin. "Der hat euch doch jetzt wirklich genug ausgeplaudert."
"Dann geh, damit die nicht denken, ich würde mich von dir zu irgendwas anhalten lassen", gab Mehdi auf englisch zurück. Aurélie Odin sah ihn sehr genau an und meinte:
"Einmal werden auch die ehrwürdigen Brüder sich daran gewöhnen müssen, daß sie nicht die Alleinherrscher in der Zaubererwelt sind, so gut ihre Absichten und Taten auch sind", sagte sie, verhüllte ihr Gesicht wieder und zog sich so leise zurück, daß Julius meinte, sie würde in dicken Filzpantoffeln herumlaufen. Mehdi wandte sich seinen Begleitern zu und wechselte mit ihnen einige Worte auf Arabisch. Sie diskutierten einige Sekunden, dann fragte der regentonnenrunde Araber den Gefangenen:
"Sind deine Eltern erfüllt von der Magie?"
"Nein, meine Eltern konnten nicht zaubern. Mein Vater wurde ja deshalb von Hallitti ausgesucht, weil er zwar irgendwie mit Magie aufgeladen war, die aber nicht benutzen konnte."
"Hast du in deinem Leben mehr als eine Gestalt angenommen? Welche davon aus eigenem Willen, und welche davon ohne eigenen Willen?" Wollte sein Verhörer noch wissen.
"Ich habe mich einmal von Professeur Faucon in einen Weidenkorb verwandeln lassen, weil ich wissen wollte, ob in tote Gegenstände verwandelte Menschen noch was fühlen können. Dann habe ich mich freiwillig von ihr in einen Neugeborenen zurückverwandeln lassen, weil ich helfen wollte, die Wirkung heftiger Körperveränderungsflüche zu zeigen. Danach hat mir Maya Unittamo, eine Hexe aus Amerika, gezeigt, in welches Tier ich mich mit leichtigkeit verwandeln könnte, einen weißen Elefanten. Dann hat mich ein gemeiner Mitschüler durch einen Fluch für vier Tage in die Zwillingsschwester einer Mitschülerin verwandelt, ohne daß ich das wollte, und im August erst habe ich mit einer Heilerin die Körper getauscht, um einen alten Fluch auszulöschen", sprach Julius wie bisher ohne eigenen Willen und Gedanken an Widerstand.
"Allah!" Riefen die drei Männer erneut. Julius hatte schon davon gehört, daß viele orientalische Magier auch gläubige Muslime waren und genauso die Lehren und Gebote des Korans befolgten wie die Nichtmagier. Deshalb hatten sie sich wohl auch abgewandt, als Madame Odin ihr Gesicht enthüllt hatte. Aber warum ausgerechnet der Iraner sie dann angesehen hatte, wo in dessen Land alle Frauen in der Öffentlichkeit verschleiert zu sein hatten, konnte Julius nicht begreifen. "So sind denn alle Bedingungen erfüllt, die unsere Vorbrüder und die Weisen der Wahrsagung aus dem Abendland ergründeten. Es ist also wahrhaftig die Zeit der Erinnerung gekommen, und die Gefahr der Rückkehr des Urvaters aller bösen Magier steht bevor", seufzte der Mann, der außer Mehdi mit Julius hatte sprechen können. Dann deutete er mit der rechten Hand auf Julius auf dem Verhörstuhl und gab einen Befehl. Der Stuhl ruckte, und mit lautem Rasseln lösten sich die goldenen Ketten von dem Gefangenen und schnarrten in versteckte Lagerungen zurück. Julius war nun wieder frei.
"Steh auf, Jüngling!" Befahl der Mann, der offenbar dem Stuhl Befehle geben konnte. Wie sollte der noch mal heißen? Julius erinnerte sich, daß ein Yassin diesen Stuhl beherrschte. Also hieß der Mann vor ihm bis auf weiteres Yassin. Julius stand auf und fühlte, wie die Durchblutung seiner Arme und Beine Pulsschlag für Pulsschlag wieder besser wurde. Dann hob er den Arm mit der Weltzeituhr und stellte fest, daß er noch knapp eine halbe Stunde Zeit hatte, um unbemerkt von allen anderen nach Beauxbatons zurückzukehren. Doch noch hatten die sein Intrakulum und den Zauberstab.
Mehdi trat an den Steintisch und holte die beiden Gegenstände, die sie Julius abgenommen hatten und gab ihm den Zauberstab zurück. Er blickte auf das Intrakulum und fragte, ob er das auch wiederbekommen könne.
"Du hast mehrere Vorbedingungen erfüllt, Julius Andrews. Doch eine endgültige Entscheidung steht noch an. Ist diese vorüber, werden wir weitersehen. Zunächst möchten wir dir sagen, daß dieser Ort, an dem du bist, die Festung des überlieferten Wissens ist, ein Hort ganz alter Weisheiten und Vermächtnisse", sagte Yassin. "Wir, die Brüder des blauen Morgensterns, sind die Bewacher dieses alten Erbes, bereits seit der Zeit der ersten Kalifen, die das Erbe Babylons übernahmen und unsere Bruderschaft als Hüter allen magischen Wissens einsetzten, welches aus den Zeiten vor den ägyptischen Pharaonen stammt. Wir haben nicht gewagt, daran zu denken, daß eines Tages die alte Weissagung, die nicht nur Domingo Gregorian, sondern viele unserer Weisen gemacht haben, eintreten würde."
Julius seufzte. Schon wieder eine Prophezeiung? Doch sowas ähnliches hatte Marie Laveaus Geist ihm ja auch schon erzählt, in ihm stecke der Funke eines vergessenen Feuers. Aber noch wollte er nicht so recht daran glauben, daß hier irgendwelche magischen Brüder über Jahrtausende ausgerechnet auf ihn gewartet haben sollten. So fragte er: "Was für eine Prophezeiung soll das sein?"
"Es steht geschrieben und wird in alten Liedern gesungen, das lange nach der letzten Schlacht, die das Angesicht der Erde veränderte, wenn alles Wissen um die Helden und die Opfer dieser Schlacht im Dunkel des Vergessens zu entschwinden droht, die alten Zierden der Macht, die vor Zeiten über die Welt verstreut wurden, wieder auftauchen werden, beginnend mit dem Kopfschmuck der Herrscherin des Lichtvolkes und endend mit der Wiederkehr des schwarzen Seelenfensters ihres Erzfeindes, des dunklen Herrschers, dessen Name in Vergessenheit geraten möge. In dieser Zeit, die mehr als ein Menschenleben umfassen wird, wird einer aus einem alten Geblüt des Abendlandes geboren, der die Kraft und das Wissen der Magie erfahren und deren Gebrauch erlernen wird, stärker und schneller als die meisten, die zu seiner Zeit leben werden. Er wird durch drei welten gehen, in sechs Gestalten, von denen eine ihm angeboren wird, vier von ihm gewünscht und eine ihm aufgezwungen sein wird. Er wird das Zeugnis alter Bosheit zu Staub werden lassen, einer Feindin entrinnen, geboren aus dem unberührten Leibe der machthungrigen Schwester der Nacht, Tochter des alten Wissens und durchdrungen von den Worten der alten Herrscherin an den Ort gelangen, an dem sein wahres Erbe wartet, dessen er sich würdig erweisen muß", sagte Yassin. Mehdi fügte noch hinzu:
"Es war uns klar, daß nur jemand, auf den diese Prophezeiung zutreffen konnte, hierherkommen und zu uns finden würde. Allerdings haben wir selbst nicht so recht an diese Vorhersage geglaubt, weil sie schon vor etlichen Jahrhunderten gemacht wurde. Deshalb mußten wir dich befragen, um sicher zu sein, daß du diese Bedingungen wirklich erfüllst."
"Der, dessen Name in Vergessenheit geraten möge? Wen meint ihr denn damit. Voldemort oder diesen Iaxathan?" Wollte Julius wissen. Beim ersten Namen sahen die Brüder ihn verärgert an, beim zweiten Namen schraken sie heftig zusammen. Dann sagte Mehdi:
"Der zweite ist gemeint, Julius. Es geht um Iaxathan, Allah sei mir gnädig. Der erste, der sich Lord Voldemort nennt, bereitete uns vor zwei Jahrzehnten Schwierigkeiten, weil er in unsere Lande eindringen wollte. Wir konnten seine Anhänger zurücktreiben. Weil wir gelobt haben, nicht in den Ländern der Ungläubigen zu wirken, überließen wir es denen, ihn zu bändigen."
"Aha, nach dem Motto: Was im Haus nebenan passiert geht mich nichts mehr an", grummelte Julius. Mehdi sah ihn etwas ungehalten an, widersprach ihm aber nicht.
"Ich habe vor einigen Monaten nicht geglaubt, daß solche Zukunftsvorhersagen wirklich eintreten können. Das was mit meinem Vater passiert ist hat mich zumindest davon abgebracht, alles in der Richtung für dumm zu halten", erwiderte Julius. Dann fragte er, ob die Brüder des blauen Morgensterns nur aufpassen sollten, was in der Richtung passierte. Yassin sah ihn ernst an und meinte:
"Wir von der altehrwürdigen Bruderschaft des blauen Morgensterns bewahren die Welt der gläubigen Diener Allahs vor bösem Zauberwerk und kämpfen gegen die Mächte, die in unseren Landen dem Bösen zur Macht verhelfen wollen. Ich bin Yassin Iben Sina, Meister aus dem Rat der sechs und oberster Hüter dieser Festung des alten Wissens."
"Ich habe Madame Aurélie Odin gerade gesehen. Was macht sie hier?" Fragte Julius.
"Das wird sie dir selbst erzählen", sagte der schnurrbärtige Mann. "Mein Name ist Mehdi Isfahani, Meister aus dem alten Persien, das heute Iran genannt wird."
"Er hat dieses Weib zu uns gebracht", schnarrte Yassin unvermittelt ungehalten auf Französisch und sagte dann noch was auf arabisch, was Mehdi mit einer raschen, leicht abbittenden Antwort bedachte. Julius war sich sicher, mehdi war mächtig genug, sich so etwas wie eine Frau in die geheiligten Hallen dieser Bruderschaft zu bringen herausnehmen durfte, aber dafür nicht unbedingt gemocht werden mußte. Das bestätigte sich auch, als Mehdi zu Julius sagte:
"Hexen sind in unserem Weltbild leicht zu eigennützigen Taten verführbare Wesen, weil es ihnen an der von Gott gegebenen Vernunft fehle. Die Nichtmagier meiner Heimat bilden sich das auch im Bezug auf ihre Frauen ein, die ohne männliche Strenge verloren seien. Aber ich gehöre zu denen, die erkannt haben, daß die Weisheit oft in Frauengestalt einherschreitet, so wie das Böse beiden Geschlechtern innewohnen und sie sich zu Nutze machen kann. Die Bruderschaft besteht seit beinahe zwanzig Jahrhunderten. Manche Dinge lassen sich daher nicht so schnell ändern wie die Zeiten außerhalb es fordern."
"Er muß beweisen, daß er der ist, auf den wir hier alle gewartet haben", knurrte Yassin und sagte seinem arabischen Begleiter, er könne sich nun zurückziehen. Das tat er dann auch.
"Gehen wir!" Befahl Yassin. Julius deutete auf das Intrakulum, das Mehdi immer noch in der Hand hielt.
"Erst einmal geben Sie mir bitte das Intrakulum zurück!" Sagte er unvermutet entschlossen. Mehdi sah den Jungen leicht grinsend an, während Yassin ihn empört anfunkelte. Sein Mondgesicht wurde purpurrot.
"Hier in diesen Räumen gebiete nur ich, wer was bekommt oder herausgibt", sagte er. "Erst wirst du uns beweisen, daß all die Vorhersagen wirklich eingetreten sind. Erst dann werden wir dir die Rückkehr in deine Heimat gestatten."
"Wie soll ich das denn beweisen?" Fragte Julius zornig.
"In der Halle der Offenbarung", erwiderte Yassin und winkte ihm zu, ihm zu folgen. Mehdi wandte sich der rechten Wand zu und deutete auf den wasserblauen Samtvorhang, der einen weiteren Zugang zu diesem Raum verdecken sollte. Aurélie Odin tauchte wieder auf, hielt sich aber zurück, als Yassin die dem Verhörstuhl gegenüberliegende Tür öffnete und Mehdi und Julius hindurchwinkte. Madame Odin folgte ihnen in gebührendem Abstand. Hinter ihr schloß sich die schwere Tür wieder.
Durch ein Labyrinth von Gängen und Kammern ging es vor eine schmale Wandöffnung, vor der ein bläulicher Lichtvorhang herabhing.
"Nur jene, die der angeborenen Vernunft mächtig, können durch die Türe des erhabenen Lichtes hindurch", sagte Yassin erhaben. Dann schickte er Mehdi voraus, der problemlos durch den flirrenden Lichtvorhang trat und in gebückter Haltung durch die halbrunde Wandöffnung schlüpfte. Dann sollte Julius durch die Wandöffnung. Er nickte und sah sich noch einmal um. Aurélie Odin war verschwunden. Wollte sie nicht in diese geheimnisvolle Halle mitkommen?
"Trete durch die Tür des erhabenen Lichtes!" Befahl Yassin und trieb Julius mit sanfter Gewalt voran, kurz vor den Lichtvorhang. Dann überließ er es ihm, durch das Licht zu schlüpfen.
Es fühlte sich an wie tausende von Ameisen auf der Haut, als Julius das blaue Leuchten berührte. Irgendwie pulsierte es in seiner linken Hand wie eine immer stärker schmerzende Wunde. Das Licht flackerte ein wenig. Doch dann war Julius hindurch. Yassin folgte ihm nach, wobei er seinen Bauch einzog, um durch den türlosen Eingang zu kommen.
"Was trägst du am Leib, was dir fast den Zutritt verwährt hat?" Fragte er sichtlich entrüstet und zog an Julius linkem Arm. Der Junge ließ es sich aber nicht gefallen und machte sich frei. Doch Yassin hatte bereits die schwarze Haarsträhne gesehen, die fest mit Julius' Haut verbunden war, Claires Haar, das durch den Corpores-Dedicata-Zauber solange an ihm haften würde, bis sie beide sich zum ersten Mal körperlich lieben würden. Der Meister der Morgensternbruderschaft knurrte verächtlich:
"Haar einer vorwitzigen Jungfrau an deinem Körper festgeheftet wie ein Brandmal."
"Könnte es sein, daß ihr guten Brüder alle echte Frauenhasser seid?" Schoss Julius eine sehr gehässige Frage auf den regentonnenrunden Meister ab. "Was ich am Leib habe, von wem auch immer und warum auch immer hat euch hier im Moment nicht zu kümmern. Und wenn euer Lichttor darauf ausgelegt ist, nur Männer durchzulassen, weil die angeblich die Vernunft in Person sind, nicht nur bei den Muslimen, sondern auch bei den Juden und auch den Leuten aus der Papst-Clique, dann frage ich mich, wieso ich durchkommen konnte. Mal abgesehen davon können Sie wohl nur sehen, daß das Haar hier", wobei er die linke Hand etwas hob, "von einer Frau stammt. Ob sie noch Jungfrau ist kriegt man darüber nicht raus."
"Bei Allah, wage nie wieder, so mit mir zu reden", schnaubte Yassin, wurde aber von einem amüsierten Lachen unterbrochen. Mehdi hatte es wohl spaßig gefunden, daß Julius diesem althergebrachten Chauvie die Meinung gesagt hatte.
"Wie gesagt, Efendi, oder wie man in Ihrem Land jemanden höflich anspricht, das mit dem Haar ist eine Sache, die für Sie nicht wichtig ist", beendete Julius seine Erwiderung zu Yassins verächtlichem Kommentar.
Mehdi sagte was zu dem Hüter dieser Wissensfestung, was ihn einstweilen beruhigte. Doch Julius konnte den Eindruck nicht ganz loswerden, daß die beiden Morgensternbrüder noch einmal heftig aneinanderrasseln würden, sobald sie alleine waren. Doch das sollte ihn dann nicht mehr betreffen. Entweder würde er gleich wissen, ob an dieser Prophezeiung was dran war, obwohl sie schon sehr genau auf ihn deutete, oder ob er nur zufällig in dieses Versteck geraten war.
Vor ihnen tat sich eine gewaltige Halle auf. Die kuppelförmige Decke wölbte sich mindestens zwanzig Meter über dem Boden, in den aus blauem und weißem Marmor geheimnisvolle Zeichen und Abbildungen eingearbeitet waren. Wie in dem Raum, wo er angekommen war trugen hier weiße Säulen die Decke. Doch in diesen Säulen war nichts eingraviert. Tausende frei schwebender Lampen erhellten die Halle, als Yassin mit einem Zauberstab aus Sandelholz eine schnelle Geste vollführte. Julius erkannte Dutzende von mannshohen Vasen, Schränken und Kupferflaschen. Unwillkürlich mußte er an die Geschichte vom Flaschengeist aus Tausendundeiner Nacht denken. Mochte es sein, daß es sich dabei um kein Märchen handelte? Dann sah er noch alte Tonkrüge, die er einmal in einer Ägyptenausstellung als Amphoren vorgestellt bekommen hatte. In solchen Behältern konnten Sachen wie Getreide, Gewürze, Wasser, Wein oder auch Schriftrollen verstaut werden. Die sagenhafte Bibliothek von Alexandria, die vor mehr als zweitausend Jahren die wichtigste Sammelstelle für Wissenschaft und Kunst aus der damals bekannten Welt gewesen war, hatte wohl auch tausende von solchen Amphoren beherbergt, fiel es Julius Andrews ein. Überall glitzerte es vor Gold und Silber. Doch auch ein rosiggoldenes Glitzern fiel ihm auf, das er kannte. Das war Orichalk, das Erz aus Atlantis, von dem er bis zu seinem Ausflug in die Bilderwelt von Hogwarts geglaubt hatte, es sei nur ein uraltes märchen. Besonders viel von diesem Erz glänzte an einer langen, schwarzen Truhe, die Julius gerade bis zum Bauchnabel reichen mochte und in einem Dreifachring aus tönernen, hölzernen, kupfernen, silbernen und goldenen Amphoren stand. Eine dumpfe Ahnung, daß es genau um diese Truhe gehen würde, überkam ihn. Oder war es keine Ahnung, sondern ein ähnliches Déjà Vu, wie er es in Gregorians Bild von der Stadt aus seinen Träumen empfunden hatte. Dabei fragte er sich, ob die Morgensternbrüder wußten, wie unlogisch sie handelten, besser wie inkonsequent, wenn sie alle Frauen für unvernünftig und böse ansahen, aber hier irgendwas von einer Herrscherin des Lichtvolkes aufbewahrten, die wohl in Atlantis regiert haben mochte.
"Der dreifache Ring der Berechtigung", sagte Yassin und deutete auf den Trippelring aus Amphoren. "Nur zu ihm kannst du gehen, nur durch ihn kannst du an das Ziel gelangen, um zu beweisen, daß du der Erbe der vergessenen Herrscherin bist. Trete zu den Amphoren hin, wähle die der Bescheidenheit und öffne sie. Gelingt dir das, und ihr Inhalt tut dir kein Leid an, folge dem Weg von Sonne und Mond am Himmel, bis du in die Mitte des dreifachen Ringes gelangst. Dort sollst du dann die große Truhe öffnen, in der das Vermächtnis der alten Herrscherhäuser aufbewahrt wird. So geh nun los!"
"Und was ist, wenn ich nicht will?" Fragte Julius. "Ich fühle mich nicht wie ein Auserwählter oder sowas."
"Du hast keine Wahl mehr", sagte Yassin. "Wer diese Halle betritt, muß tun, weswegen er hineinging."
"Und wenn ich jetzt einfach durch diesen blauen Lichtvorhang zurückgehe?" Fragte Julius herausfordernd.
"Wirst du alles verlieren, was die großen Gaben Allahs in und an dir bewirkt haben. Du wirst der Magie ledig, allen Dingen, die sie enthalten verlustig und alle außerhalb dieser Festung, die von dir als Magier wußten werden dich vergessen, so wirkt der Schutz vor Verrat an dem alten Wissen", sagte Yassin. Mehdi sagte dann noch:
"Julius, ich habe schon Leute durch den Vorhang zurückgehen sehen, die eingelassen wurden, weil sie eine alte Schrift entziffern sollten und sich geweigert hatten, ihren Weg zu gehen, weil dieser sehr gefährlich war. Sie fielen ohnmächtig auf der anderen Seite des Vorhangs um und konnten danach nicht mehr zaubern. Schlimmer, ihre eigenen Familien hatten sie völlig vergessen, von ihren Müttern und Vätern, Geschwistern und eigenen Gemahlinnen und Kindern bis zu ihren Freunden. Sie waren für sie völlig unbekannte, und sie selbst wußten nur noch ihre Namen und Muttersprache, aber nichts mehr von der Magie oder welche Magierinnen und Magier sie kannten.Willst du das auf dich nehmen?"
Das konnte ein Bluff sein, überlegte Julius. Immerhin wollten sie ihn auf diesen Weg schicken, weil sie glaubten, er müsse sein Schicksal erfüllen. Er hatte nie an Vorherbestimmungen geglaubt und seine Zukunft als nur von ihm zu bestimmen angesehen. Doch Marie Laveaus Geist hatte ihm gezeigt, daß dem nicht immer so war. Er dachte daran, ob es wirklich einen so mächtigen Zauber geben konnte, der ihn aller Zauberkräfte und -sachen berauben und gleichzeitig alle die ihn kannten vergessen ließ, daß es ihn gab, von seiner Mutter über Catherine, Joe und Babette, bis hin zu allen Freunden aus Hogwarts, den Lehrern dort und seinen neuen Mitschülern in Beauxbatons ... und Claire Dusoleil. Zu gerne würde er den dicken Araber und den Herrn aus Persien auf diesen Befragestuhl setzen und nachprüfen, ob sie ihn verschaukeln wollten. Doch dieser Stuhl stand irgendwo auf der anderen Seite des Vorhangs.
"Was ist mit Ihnen, wenn Sie jetzt durch den Vorhang zurückgehen?" Fragte er Yassin. "Fallen Sie dann auch um, weil Sie mich nicht auf den Weg geschickt haben, den ich für Sie ablaufen soll?"
"Nein, denn meine Bestimmung ist, dich in diese Halle zu führen und dir zu sagen, was du tun sollst, Julius", sagte Yassin. "So können wir unbehelligt durch das Licht der Vernunft treten, ohne von ihm und dem Allmächtigen all unserer höheren Gaben beraubt zu werden."
"Verdammt!" Fluchte Julius auf Englisch. Sollte er es jetzt darauf anlegen, daß es ein Bluff war? Wurde hier sein Wille getestet, ob er sich gegen jede eingejagte Angst behaupten konnte? Oder war es die Wahrheit, und er würde mit der vorzeitigen Rückkehr aus dieser Halle alles verlieren, was ihn zu dem Menschen gemacht hatte, der er nun war? Eine volle Minute stand er da und wog die Möglichkeiten ab. Ihm fiel ein, daß es einen Zauber gab, der jemanden in eine Aura der Nichtbeachtung einhüllen konnte, ohne ihn unsichtbar zu machen, zu dem Zweck, daß er offen irgendwo hingehen konnte. Ja, das Sabberhexenhaar, mit dem er und Professeur Faucon sich versehen hatten, um unbeachtet an verschiedenen Wachen zu seiner im Koma liegenden Mutter vorzudringen war so ein Zauber. Auch gab es, wie er wußte, wirksame Vergessenszauber. Was lag da näher als eine Kombination aus Nichtbeachtungsaura und Vergessenszauber, nach dem Motto: "Sobald man dich sieht, wirst du vergessen sein, egal wem." Außerdem wußte er von gefährlichen Fernflüchen, die wirkten, wenn man etwas von einer Person oder ein für einen Ort wichtiges Objekt benutzen konnte. Insofern wäre dieser Strafzauber nichts anderes als ein solcher Fluch, der sich erfüllen würde, wenn die Aufgabe nicht bewältigt wurde, ähnlich wie ein Geas in seinen Rollenspielwelten aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt. Ja, er konnte sich vorstellen, daß es etwas gab, das die magische Begabung eines einzelnen Menschen auslöschen konnte und das dies eine sehr sinnvolle und schlagkräftige Schutzmaßnahme gegen Verrat war. Er stampfte mit dem Fuß auf und knurrte: "Ich mache es."
"Nun gut, dann beschreite nun den Weg, den wir dir gewiesen haben!" Trieb Yassin ihn leicht ungehalten an.
Julius schritt in die Halle hinein. Konnte er wirklich nur in Richtung des Dreierrings? Er probierte es aus, vom Weg abzuweichen. Doch kaum daß er sich einem der mannshohen Schränke näherte, stieß er gegen eine unsichtbare Wand, die ihn wie eine Sprungfeder zurückwarf.
"Du sollst dem vorbestimmten Weg folgen!" Schnarrte Yassin. Seine Stimme hallte lange in der weiten und hohen Kuppelhalle nach. Das sollte ein Zauberer sein, der nur gutes im Herzen hatte? Mit dieser Frage im Kopf kehrte Julius auf den angesagten Weg zurück und erreichte den Außenring nach etwa dreißig Schritten. Die Bescheidenste Amphore sollte er auswählen. Das hieß wohl, er sollte die nehmen, die am wenigsten wertvoll aussah. Irgendwie erinnerte ihn das an den dritten Indiana-Jones-Film. Doch hier war mit echter Magie zu rechnen, und deshalb sollte er sich besser gleich für den richtigen Behälter entscheiden, weil anders als in Hollywood bei einem Patzer nicht noch einmal neu gedreht werden konnte. Was war denn am unauffälligsten, Erde oder Holz? Denn hier in diesem Ring standen alle möglichen Materialien zur Auswahl. Er schritt einmal um den ganzen Außenring herum und betrachtete die Amphoren. Unvermittelt hörte er aus der Weite der Halle ein Flüstern in einer ihm unbekannten Sprache. Er stutzte und sah sich um. Es kam aus der Richtung einer zehn Meter entfernt stehenden Kupferflasche.
"Also doch ein Flaschengeist", knurrte Julius ganz leise. Denn er mochte sich vorstellen, daß es hier solche Wesen gab, wie sie in der morgenländischen Märchenwelt vorkamen. Immerhin hatte er ja auch schon auf einem fliegenden Teppich gesessen und den berühmten Vogel Roch im freien Flug bewundern dürfen. Da konnte es also noch mehr geben. Vielleicht stand hier auch noch Aladins Wunderlampe herum oder schwebte zusammen mit den anderen Öllampen frei in der Luft. Vielleicht waren die ja alle mit mehr oder weniger hilfreichen Geistern besetzt. Nein, an sowas durfte er jetzt nicht denken. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Er suchte weiter nach der am wenigsten hermachenden Amphore und fand eine komplett unglasierte, aus ungebranntem Lehm geformte ohne Verzierungen. Ein grobgeschnitzter Holzdeckel verschloß den Behälter. Julius überlegte schon, was da wohl drin sein mochte, was ihm etwas tun konnte. Für Flüssigkeiten mochte dieses Gefäß nicht geeignet sein, weil die bestimmt im Lehm versickert oder im Laufe der zeit verdunstet wären. Doch wenn er das wissen wollte, was darin war, mußte er sie öffnen. Vorsichtig trat er an den Behälter aus Lehm heran, berührte den Holzdeckel und lüftete ihn. ein heftiger Schwall aus heißer Luft entfuhr dem Behälter und hüllte Julius ein wie der Luftstrom aus zwanzig Turboföns gleichzeitig. Doch mehr passierte ihm nicht. Dann ebbte die Heißluftattacke auf ihn ab und ließ ihn mit einem ordentlich zerknitterten Umhang und zerzaustem Haar zurück.
"Der Atem der alten Macht hat dich nicht in alle Winde zerblasen, Jüngling", erklang Yassin Iben Sinas Stimme aus der Ferne. "So folge nun den Pfaden von Sonne und Mond und öffne die Amphoren auf ihrem Weg, bis du durch alle drei Ringe gelangt bist. Sollte dir bis dahin kein Leid widerfahren oder du nicht aus dem dreifachen Kreis hinausgeworfen werden, so wirst du vor deiner Bestimmung stehen. Denn nur noch dieser Weg ist dir eröffnet."
Julius legte den Deckel auf die Amphore zurück. Konnte er wirklich nicht mehr zurück? Er versuchte, sich weiter als einen Schritt von dem Außenring zu entfernen. Doch dieselbe unsichtbare Kraft, gegen die er schon auf seinem Hinweg geprallt war, schupste ihn in die Nähe der gerade untersuchten Amphore zurück. Julius atmete tief durch und verdrängte das Gefühl, nun hilflos einem unbekannten Schicksal entgegenzugehen. Dann dachte er daran, wie er den Pfaden von Sonne und Mond folgen konnte. Ihm fiel ein, daß alle Uhren ja rechts herum liefen, und das das mit dem Schattenlauf einer Sonnenuhr zu tun hatte, weil die Sonne ja auch im Uhrzeigersinn über den Himmel wanderte, Vom Osten aus über den Süden in den Westen. Also mußte er auch hier im Uhrzeigersinn laufen, oder galt hier der Sonnenlauf der Südhalbkugel? Dort stand sie mittags im Norden. Er verwünschte den Umstand, daß er sein Naviskop nicht mitgenommen hatte. Doch andererseits war er sich ja sicher, im Irak oder zumindest einem Land derselben Zeitzone zu sein. Er hatte es ja eben noch sehen können, daß der Irak über der doppelt gezeichneten Äquatorlinie lag, wohl so dreißig Grad nördlich davon. Also galt hier die Nordhalbkugelsonnenbahn. War er aber am richtigen Startpunkt? Er nahm den Zauberstab, legte ihn auf seine flache Hand und murmelte: "Weise mir die Richtung!" Unverzüglich drehte sich der Zauberstab und pendelte sich so ein, daß er genau quer zur Amphore lag, die Spitze nach rechts weisend. Da lag also der Norden, und die Amphore stand von Julius aus im Westen, vom Zentrum des Dreifachrings aus also genau im Osten. Er nickte und steckte den Zauberstab wieder fort.
"Dein Stab wird dir nicht viel helfen!" Rief Yassin.
"Schlaumerker, den habe ich gerade wunderbar benutzen können", grummelte Julius für sich. Doch das mochte die einzige Möglichkeit gewesen sein, ihn anzuwenden. Er ging nun zur nächsten Amphore. Er sollte die Amphoren öffnen, die auf dem Weg von Sonne und Mond lagen. Im Grunde tat das hier jede, die im Norden mal ausgenommen, wo keine Sonne hinkam. Er betrachtete die Amphore aus Ton, in die Szenen einer Töpferei eingearbeitet waren. Er griff nach dem Deckel, und versuchte, ihn abzunehmen. Doch der Deckel rührte sich nicht. Statt dessen glitten seine Finger vom Deckel ab wie von einer eisglatten Oberfläche. Er ging zur nächsten, einer weiteren Tonamphore. Er betrachtete sie genau und konnte eine Waldlandschaftsszene erkennen. Nichts deutete auf irgendwas mit Sonne und Mond hin. Dann trieb ihn etwas an, zur übernächsten Amphore zu gehen, die aus Silber bestand und eine kunstvoll herausgearbeitete Gravur einer Frau mit einem Kind in den Armen unter einem ganz fein zu erkennenden Ring über ihr stand. Mechanisch ging seine rechte Hand an den Griff des Deckels und pflückte ihn von der Amphore. Es ploppte laut wie ein faustgroßer Sektkorken aus einer entsprechenden Flasche. In der Amphore glitzerte eine Flüssigkeit, die Julius zuerst für Quecksilber hielt und sofort den Deckel wieder auflegen wollte, um keine giftigen Schwaden einzuatmen. Doch die Flüssigkeit wurde kristallklar und gab den Blick auf den Boden der Amphore frei, wo er eine Anordnung von miteinander verbundenen Schriftzeichen erkennen konnte, die er im Uhrzeigersinn las und merkwürdigerweise dabei dachte:
"Dies ist die Schale des neuen, des neu entstehenden Mondes und des gerade geborenen Lebens."
"Wieso kann ich diese Schrift lesen?" Fragte sich Julius leise, als er den Deckel wieder auflegte und die Amphoren weiter abschritt, bis er eine goldene Amphore fand, die ein Sonnensymbol rechts von einem stilisierten Baum zeigte. Er hob den schweren Deckel an und sah auf eine sprudelnde Flüssigkeit wie Zitronenlimonade. Auch sie wurde sofort völlig durchsichtig und hörte zu sprudeln auf. Auf dem glitzernden Boden war ebenfalls eine rund herum laufende Zeichenfolge angebracht, die Julius im Uhrzeigersinn las und dabei zu verstehen meinte:
"Dies ist die Kraft des erwachenden Tages, der Wiederkehr der lebensspendenden Sonne."
"Also irgendwie stimmt das schon, daß mir dieses atlantische Mädel was von seinem Wissen ins Hirn gepfropft hat", dachte Julius und legte den Deckel wieder auf. Um zu sehen, ob er nicht von hier aus zum Eingang zurückkehren konnte versuchte er, einen Schritt vom Außenring fortzugehen. Doch diesmal kam er keinen Zentimeter weit. So mußte er weitergehen, bis er eine weitere Silberamphore fand, auf der tanzende Männchen unter einem zunehmenden Mond eingraviert waren. Er öffnete die Amphore und sah eine bläuliche Flüssigkeit, die sich wie die anderen vorher in eine vollkommen durchsichtige Substanz verwandelte, so daß Julius die auch hier eingravierte Schrift auf dem Boden sehen und entziffern konnte:
"Dies ist die Kraft des Wachstums, der aufkeimende Lebensfunke."
Julius folgte dem Ring weiter bis zu einer Kupferamphore mit einer lange Strahlen ausrichtenden Sonne. Er hob den Deckel ab und sah eine rubinrote Flüssigkeit, die wie alle anderen vorher durchsichtig wurde. Die Bodenschrift hier sagte ihm:
"Dies ist die Wärme der Sonne, die das Leben zeugt und hegt."
Eine weitere Mondsymbolamphore, diesmal aus Porzellan, daß wohl aus China hierhergeschafft worden war, enthielt eine milchfarbene Flüssigkeit. Als auch diese durchsichtig geworden war las Julius:
"Hier ruht die Kraft des wachsenden Mondes, die den Schritt zur Vollendung ermöglicht."
Danach folgte genau auf dem südlichsten Punkt des Ringes eine Sonnenamphore aus rotgoldenem Metall. Er nahm den Deckel ab und sah erst Dampfschwaden herausquellen, die jedoch nicht nach allen Seiten waberten, sondern in einer kerzengeraden Spirale emporstiegen, bis nach etwa fünf Sekunden eine völlig durchsichtige Flüssigkeit zu erkennen war. Auch auf dem Boden dieses Behälters stand etwas:
"Die unbändige Hitze der Sonne, die Mutter allen Feuers, Licht und doch zerstörende Kraft, die mittags ihre Opfer sucht."
"Haben die echt kochendes Wasser oder sowas da drin gehabt", dachte Julius, der sich im Moment nicht mehr wunderte, daß er die fremden Zeichen lesen konnte. Er schloß den Deckel wieder und folgte den Pfaden von Sonne und Mond, bis er eine silberweiße Amphore fand, auf der eine jubelnde Personengruppe unter einer Silbernen Scheibe eingearbeitet war, die nur vier lange Strahlen nach unten richtete und von vielen winzig kleinen Punkten umlagert wurde. Die darin gelagerte Flüssigkeit war wieder wie Quecksilber, bis Julius durch sie hindurchsehen und den eingravierten Text im Boden lesen konnte:
"Die Macht des vollen Mondes, Licht in der Dunkelheit, Spiegel der Sonne, Zeuge von Frieden, Stille oder Wonne."
Am westlichsten Punkt des Außenringes stand eine weitere Goldamphore, die eine Sonnenscheibe links von einem Baum zeigte und eine honigfarbene Flüssigkeit enthielt. Julius las nach dem üblichen Durchsichtigwerden des Inhalts:
"Die Gewißheit des Tages, das ihm ein neuer folgen mag und die warme Kraft der schwindenden Sonne."
Julius folgte dem Ring weiter und fand am nördlichsten Punkt eine weitere Mondamphore, die einen nicht mehr ganz vollen, abnehmenden Mond über einer Waldlandschaft darstellte. In dieser Amphore ruhte eine bunt schillernde, immer die Farben durcheinandermischende Flüssigkeit. Als diese auch Kristallklar geworden war konnte er lesen, was da am Boden stand:
"Die Wandlung des Mondes und die Wandlung allen Lebens auf dieser Welt."
Schließlich kam er wieder am Anfang an. Mutig trat er zwischen der letzten und der ersten Amphore des Außenringes hindurch und öffnete die genau im Osten des Zentrums stehende Amphore des mittleren Ringes. Doch hier stand kein Text auf dem Boden. Ähnlich verhielten sich die weiteren Amphoren, die Julius aufsuchte und öffnete. Offenbar ging es nun nicht mehr darum, ihm irgendwelche Weisheiten und Tatsachen zu erklären, sondern einfach nur darum, daß er die Gefäße öffnen und unbeschadet wieder schließen konnte. Als er dann in den inneren Ring eintrat änderte sich das wieder. Die Erste Amphore war aus purem Gold und zeigte vier im Kreis angeordnete Sonnen, deren Strahlen sich im Mittelpunkt kreuzten. Als er die Amphore öffnete, glaubte er, flüssiges Gold zu sehen. Es schimmerte von innen her, als sei eine Lichtquelle im Boden eingelassen. Als diese Flüssigkeit ebenfalls durchsichtig wurde las er:
"Die Allumfassenheit der Sonne, jeden Tag, jedes Jahr erneut begonnen vor ewigen Zeiten hinein in ewige Zeiten."
"Jetzt wird's langsam interessant", dachte Julius. Er fragte sich immer wenn er eine Amphore öffnete, was darauf hinweisen sollte, daß er der Auserwählte war, wenngleich das Wort all zu häufig benutzt wurde, im Moment gerade bei Harry Potter, wie er von Gloria wußte.
Im inneren Ring standen nur noch zwölf Amphoren, jede mit einem Sonnen- oder Mondsymbol, einen vollen Mondzyklus, die vier Jahreszeiten und die vier Elemente aus der Perspektive von Sonne und Mond betrachtet. Dann hatte er es geschafft, die letzte Amphore zu öffnen. Darin war klares Wasser, und auf dem Boden stand der Text:
"Wer dieses Wasser des Lebens ergründet, der sicher den Weg zum Erbe Ergründet."
Kam es Julius nur so vor, oder erstrahlten die im Raum verteilten, frei schwebenden Lampen eine Spur heller? Jedenfalls fühlte er sich an der gerade wieder geschlossenen Amphore vorbei auf das gemeinsame Zentrum der Drei Ringe zugeschoben, bis er einen Meter vor der Truhe mit den Orichalkbeschlägen ankam. Er tat einen vorsichtigen Schritt nach vorne auf die Truhe zu. Da fühlte er etwas, das wie Wellen aus Elektrizität und Wind über ihn kam, immer stärker. Er trat an die Truhe heran, wußte nicht, was er machen sollte.
"Du bist fast am Ziel, Jüngling. Wähle das, was du für das mächtigste hältst, von dem keine Gefahr für das Leben ausgeht!" Rief Yassin.
"Habe ich dem nicht auf diesem blöden Stuhl gesagt, ich heiße Julius Andrews?" Knurrte Julius. Dann gab er sich einen Ruck. Er mußte das ihm am mächtigsten, aber gleichzeitig ungefährlichste für das Leben auswählen. Er griff an die Truhe. Die magischen Wellen waren nun zu einer schnellen Abfolge starker Kraftstöße geworden. Julius fühlte fast seinen Körper nicht mehr, so sehr überlagerte diese Kraft seine Empfindungen. Doch gerade so konnte er noch wahrnehmen, wie er einen sich warm anfühlenden Riegel aus Orichalk ergriff, ihn zur Seite schob und den Deckel aufklappte.
"Ich bin das Schwert Excalibur", begann Julius eine der berühmtesten Inschriften der britischen Sagenwelt zu zitieren. "Und wer mich löset aus meinem Amboss soll der König Britanniens werden."
Tatsächlich schien das Licht immer heller zu werden, als er die Truhe ganz geöffnet hatte. Er blickte hinein. Vier Gegenstände, völlig frei von Staub, lagen darin: Ein in dunkles, nicht zu bestimmendes Leder gebundenes Buch, ein goldener Ring mit einer winzigen, blauen Kristallkugel daran, ein Kristall mit zwölf Oberflächen, an dem eine goldene Öse festgemacht war und in dem er goldene Staubkörner zu sehen meinte, sowie eine männerfaustgroße Kugel aus einer Art Felsgestein, in die silberne Linien wie Längen- und Breitengrade eingearbeitet waren. An den Kreuzungspunkten der Linien standen winzige Symbole, die er nicht zuordnen konnte. Mochte es sein, daß ihn Darxandrias Schriftkenntnis hier verließ, oder waren diese Symbole keine Schriftzeichen, sondern Zahlen, wie auf einem Globus, der in Längen- und Breitengrade gerastert war? Er überlegte, was davon wohl mächtig und sehr bis gar nicht gefährlich sein mochte. Mächtig waren die vier Gegenstände wohl alle. Aber was war daran das ungefährlichste?
"Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden ...", stieg ein anderer Spruch in sein Bewußtsein auf. Ein harmlos aussehender Ring konnte in der Zaubererwelt ein äußerst gefährliches Ding sein, wie der Meisterring aus Tolkiens "Herrn der Ringe". Den wollte er also besser nicht nehmen, wie mächtig der auch immer sein mochte.
Winnies wilde Welt, sowie Orions Buch "De Amore calidissimo" hatten ihm deutlich gezeigt, daß harmlos aussehende Bücher genau das Gegenteil von harmlos sein konnten. Auch erinnerte er sich zu gut an Arcadias Bericht über die Kammer des Schreckens, wo auch ein harmlos aussehendes, aber sehr bösartig behextes Tagebuch eine Rolle gespielt haben sollte. Bücher mit eigener Seele, die ihre Leser in Bann schlugen oder von ihnen Besitz ergriffen galten wohl nicht als ungefährlich.
Der Kristall mit den eingeschlossenen Goldkörnchen ließ Julius an seinen Schwermacher denken, den er zum Körpertraining benutzte. Der Schwermacher erhöhte die körperliche Belastung für jeden, der ihn trug. Konnte dieser Kristall dort in der Truhe etwas ähnliches sein, vielleicht etwas, daß nicht den Körper, sondern den Willen oder den Verstand beeinflußte? Die Öse daran stand wohl dafür, daß er an einer Kette getragen werden konnte. Das mochte ihn zum magischen Schutzgegenstand oder zu einer gefährlichen Waffe gegen andere machen oder den Träger mit einer Macht versehen, die ihn immer mehr von diesem Gegenstand abhängig machte, wie der Rausch einer Droge, der immer wieder ausgekostet wurde, bis man nicht mehr ohne die Droge sein konnte.
Zwar konnte er sich vieles vorstellen, was die Steinkugel mit den silbernen Verzierungen anstellen konnte, kam aber nicht darauf, was sie für einen selbst und andere gefährlicher machte als die anderen drei Gegenstände. Interessant war nur, daß die Kugel wohl nicht an einer Kette zu tragen sein sollte. Vielleicht war sie nur ein Vorläufer der heutigen Globen, eben nicht mit Kontinenten und Meeren, sondern mit Symbolen versehen. Manche dieser Linien, so konnte Julius nun sehen, schienen auch von der Kugel selbst fortzudeuten, eine Verbindung mit der Luft um sie herum oder gar dem Weltraum aufzunehmen.
Mächtig waren diese Sachen in der Truhe wohl alle, das war dem Zauberschüler und Schicksalssucher klar. Doch Welches Ding war das ungefährlichste? Dann wußte er die Antwort. Es ging darum, welcher Gegenstand am allgemeinsten aussah. Das Buch mochte Wissen und daran gekoppelte Zauber und Flüche enthalten. Ein Ring war immer ein Zeichen für etwas, die familiäre oder gesellschaftliche Stellung, bloßer Schmuck oder eine Anerkennung. Der Kristall durfte wohl eine ähnliche Bedeutung haben. Da die Kugel keine Trageöse besaß konnte sie wohl von Jedermann genommen und benutzt werden ... der die Symbole entziffern konnte. Vielleicht war es ja eine Form von Wissensspeicher, womöglich eine uralte, dann in Vergessenheit geratene Frühform des Naviskops, das Julius besaß. Dann mochte sie einem von Magie erfüllten Menschen, der sie in die Hand nahm, den genauen Standort verraten. Dafür sprachen auch die wenigen silbernen Punkte, die wie nach außen gerichtete Linien zu verlaufen schienen. Sie stellten wohl die magische Verbindung zwischen Erdkugel und Sternenhimmel her, um eine punktgenaue Standortsbestimmung zu ermöglichen. Wenn das stimmte, dann war die Kugel mit Abstand das ungefährlichste Artefakt in der Truhe, obwohl ein präzises Navigationsgerät seinem Benutzer schon eine große Macht verlieh, wie der in der einstigen Seemacht England geborene und jetzt in einer anderen Kolonialmacht lebende Junge wohl wußte. So griff er nach einem letzten, absichernden Gedanken in die Truhe und ertastete die Kugel, die sich für ihn handwarm anfühlte und vibrierte, wie ein kleiner Transformator. Dennoch zog er die Kugel aus der Truhe ... und stand mitten in einem goldenen Funkenregen, der von allen Seiten auf ihn einprasselte und sich zu einer großen Wolke rechts von ihm verdichtete. Gleichzeitig erscholl ein großer Gong mit langem, glasklaren Nachhall, erst einmal, dann noch einmal. Schließlich, als sich alle herangeschwirrten Funken rechts von Julius zu einer scharf umrissenen Gestalt aus goldenem Licht verdichtet hatten, ertönte der Gong ein drittes Mal. Julius sah, wie die Schwingungen des Gongs die entstandene Leuchterscheinung erzittern ließen, sie langsam immer dichter zusammendrückten und die Leuchtkraft dabei schwand. Dann, als der lange Ton des großen Gonges verklungen war, stand eine Frau in sonnengelbem Gewand da. Ihr hochwangiges Gesicht und ihre Hände waren goldbraun getönt, und die mondlichtfarbenen Augen sahen Julius sehr zufrieden an. Das war Darxandria, die Frau aus seinen Träumen von der alten Stadt. Sie verbeugte sich vor ihm und sprach mit der Stimme, die er im Traum immer wieder gehört hatte, doch nun wie seine Muttersprache Englisch verstand:
"Julius, Sohn des Richard und der Martha, Spross einer alten Linie die große Kraft durchdringender und erspürender Frauen und Männer, du hast recht gewählt. Du hast den Glanz des Ringes des Aravothan widerstanden, der Form des Zwölf-Kräfte-Körpers Irisators keine Zuneigung geschenkt und das Buch der dunklen Verführung von Iaxathan sehr gewissenhaft zurückgewiesen. So hältst du nun das Erbe aller unseres Reiches in Händen, den Führer der alten Straßen, die mein Volk vor mehreren tausend Sonnenkreisen errichteten, um die Gefilde des Planeten in großer Schnelle zu erreichen. Denn wahrlich, die Macht, sich zu bewegen, den Körper wie den Geist, ist die größte, aber am wenigsten festlegende Befähigung. Halte und behalte ihn! Gib ihn nur jenen in die Hand, die ihn dir aus freien Stücken zurückgeben werden! Nutze ihn weise, wenn die Zeit dafür gekommen ist! Träger meines Siegels, ich wünsche dir die Freude am Leben, immer guten Mut und die Weisheit, in allen Lagen dem guten und förderlichen den Vorzug zu geben. Möge das Licht und die Wärme der Liebe dich erfüllen! Dann werde ich immer bei dir sein."
Ihre lezten Worte hallten lange nach. Dabei verschwamm ihre Gestalt immer mehr und verschwand mit dem letzten Nachhall ihrer Stimme.
Julius stand da, sichtlich berührt von dieser Erscheinung. Da bemerkte er eine schwache, goldene Aura, die seinen Körper umgab. Langsam klappte die Truhe zu und versank wie in Morast, Dann war sie fort, und der Boden lag leer und eben vor Julius. Er wandte sich um, den warmen, sachte vibrierenden Stein in der rechten hand. Die drei Ringe aus Amphoren waren fort, wie die Truhe.
"Du bist wahrlich der, auf den wir hier alle gewartet haben", hörte er Yassin Iben Sinas beeindruckte Stimme. Der Meister der Morgensternbruderschaft stand am blau leuchtenden Eingang in die Halle und winkte dem Jungen zu. Dieser griff unter seinen umhang und öffnete den Practicus-Brustbeutel. Zu seiner großen Erleichterung paßte der Stein aus der Truhe genau hinein und verhielt sich auch wie jeder andere Gegenstand, den er dort hineinlegen konnte. So fiel es nicht weiter auf, daß er nun ein uraltes Erbstück bei sich trug, als er zu Yassin Iben Sina zurückkehrte.
"Willkommen in unserem erlauchten Kreis, Julius Andrews", sagte Yassin ruhig und lächelte Julius an. Doch irgendwie gefiel dem Jungen dieses Lächeln nicht. Es wirkte so, als müsse der arabische Zauberer einen ungebetenen aber wichtigen Besucher begrüßen, sich nicht anmerken lassen, daß der Gast ihn störte und besser sofort wieder gehen sollte.
"Ich habe nichts gemacht außer durch diese Ringe zu gehen", sagte Julius. Yassin Iben Sina sah ihn sehr genau an. Der Jungzauberer setzte sofort an, sich geistig vor dem Herrn dieser Festung zu verschließen. Doch Yassin sagte nur:
"Allah hat es in seiner unermeßlichen Weisheit gefügt, daß du hier und heute durch die Offenbarung deines Schicksals ein Mitglied unserer großartigen Bruderschaft wirst. Denn warhlich, da du gefunden, was über Jahrhunderte geweissagt wurde, müssen wir von der Bruderschaft des Morgensternes dir nun auf dem weiteren Weg helfen. Doch hierzu mußt du alles ablegen, was dich an die Verlockungen und Launen der fleischlichen Welt und der wechselhaften Natur der Frauen kettet." In Julius Kopf schrillten unvermittelt Alarmglocken los. Yassin hielt auf einmal seinen zauberstab in der rechten Hand und deutete auf den Jungen. Dieser reagierte trotz des Schreckens noch schnell genug, um der Zauberstabspitze auszuweichen und seinen eigenen Zauberstab zu zücken.
"Eh, was wird das?" Schnaubte er überaus gereizt. Da ertönte ein merkwürdiger Singsang von überall her, der ihn in eine merkwürdige entrückte Stimmung zu versetzen begann.
"Wir können es nicht zulassen, daß der wahre Träger des Siegels einer Vorbotin der Endzeit die Schrecken wiedererweckt, die einst den Untergang des alten Reiches bewirkt haben", sagte Yassin, während Julius merkte, wie er immer schläfriger wurde. Doch die Worte des Magiers rüttelten den letzten Rest Willenskraft wach. Sie wollten ihn hierbehalten, ihn womöglich töten, wenn er nicht spurte. Denn das begriff Julius mit dem Rest verbliebener Denkfähigkeit: Yassin und womöglich seine anderen Mitbrüder wollten ihn nicht mehr zurückkehren lassen, aus Angst, er könne die ganze Welt in die Luft jagen.
"Nein", stieß Julius aus und dachte an den Schockzauber. Doch Yassin schien damit gerechnet zu haben. Denn er hob den Zauberstab und beschwor einen silbrigen Schild daraus. "Stupor!" Rief Julius. Der Schockzauber sirrte los und traf auf den Schild, prallte davon ab und fegte keinen halben Meter an ihm vorbei in die weite Halle zurück.
"Wehre dich nicht gegen dein Kismet! Es wird zu deinem und unser aller Besten sein, wenn du dich fügst!" Rief Yassin, nun sehr gebieterisch. Dann stieß er noch etwas aus, das wie ein Befehl klang. Unvermittelt polterten die Schritte von Golems heran, diesmal sehr rasch. Ja, und da standen sie schon vor dem Lichtvorhang. Gleichzeitig hasteten fünf weitere Zauberer in der Tracht der Morgensternbruderschaft herbei, durchquerten den Lichtvorhang und umringten Julius, dessen Bewegungen durch die magische Musik immer langsamer wurden. Der letzte Rest von Widerstand drohte im Spiel der fremdartigen Melodie zu versickern, die den Brüdern hier offenbar nichts ausmachte. Er hörte Yassin etwas sagen und dann auf die schlaff herunterhängende linke Hand des Jungen deuten. Einer der herbeigeeilten Ordensbrüder griff in sein Gewand und zog einen bedrohlichen Gegenstand hervor: Einen silbernen Dolch!
"Julius, wehre dich. Sie wollen dir den Finger abschneiden, an dem Claires Haar sitzt!" Drang eine wie aus weiter Ferne kommende Stimme in Julius' eingelullten Geist ein. Wem gehörte diese Stimme? Der Mann mit dem Dolch griff nach der linken Hand des Jungen und spreizte den Ringfinger davon ab. Er hob den Dolch an ... da blitzte es um Julius herum golden auf. Die schwache Aura, die ihn seit dem Besuch bei der Truhe umgeben hatte wurde zu einer grellen Lichtentladung, die drei Dinge gleichzeitig bewirkte: Zum einen entriss sie Julius' Hand dem Griff des Magiers. Zum zweiten prällte sie die ihn umstehenden wie mit gigantischen Fäusten zuschlagend zurück. Zum dritten brachte sie die immer noch auf Julius eindringende Melodie zum verstummen und durchpulste seinen gelähmten Geist, der ruckartig wieder freikam und erkannte, was gerade passierte.
"Allah, sie wehrt sich", hörte er einen anderen Morgensternbruder sagen und sah vier Zauberstäbe, die gleichzeitig auf ihn ausgerichtet wurden. Dann fühlte er eine Kraft, die ihn packte und anhob. Da erklang der entschlossene Ruf "Stupor!" durch die Halle, und einer der fünf Ordensbrüder ging unter einem roten Blitz zu Boden. Die anderen fuhren herum und blickten auf die Hexe, die gerade den Schockzauber gewirkt hatte. Aurélie Odin stand da, diesseits des Lichtvorhangs und nahm bereits den nächsten Zauberer aufs Korn. Yassin bellte etwas auf Arabisch und schnellte dann zu Julius herum, seinen Zauberstab auf ihn deutend. Der Junge, der gerade wieder auf die Füße kam, dachte konzentriert den Zauber für den unsichtbaren Schild. Wieder erstrahlte um ihn die goldene Aura, und ein Gewitter aus bunten Blitzen zersprühte laut knisternd in dieser nichtstofflichen Umhüllung. Doch dabei merkte Julius, wie ihm die Sinne zu schwinden drohten. In seinem Kopf rumorte es, als wolle jemand mit einem Schlagbohrer von innen nach außen dringen. Seine linke Hand schien abwechselnd in Feuer und Eis eingetaucht zu werden. Wieder krachte ein Schockzauber und warf einen der Brüder um. Dann sah Julius noch, wie Aurélie unter einem Hagel von Zaubern dastand. Die Blitze und Lichtstrahlen prallten jedoch von einer unsichtbaren Barriere zurück. Womöglich hatte Claires Großmutter einen besonders starken Zauberschild errichtet. Yassin stieß noch ein Zauberwort aus, um Julius zu treffen. Doch dieser ließ sich hinten überfallen, so daß der ihm geltende Angriff über ihn hinwegfuhr. Dann sah er, wie der blaue Lichtvorhang zu einer Walze aus Licht wurde, die in die Halle hineinrollte. Ihr folgten die Golems mit schnellen Schritten. Julius riss starr vor Entsetzen und beinahe ohnmächtig die Augen auf und sah wie die Walze breiter und höher wurde und auf die Morgensternbrüder traf, ihnen nichts anhatte und dann gegen Aurélie Odin und ihn stieß.
Julius meinte schon, von der Wucht der magischen Lichtwalze zu Mus zerquetscht zu werden, als die blaue Leuchterscheinung über ihn hinwegfuhr. Doch dann ließ der mächtige Druck nach. Julius fühlte seinen Körper wieder und konnte nur staunend zusehen, wie das blaue Licht sich zusammenzog, von einer Walze zu einer Kugel wurde, die sich um Madame Odin zusammenballte, einige Sekunden flackerte und dann mit einem Geräusch wie eine hundert Meter lange Peitsche in den Raum hinein explodierte und die Morgensternbrüder wie Strohpuppen im Sturm umstieß. Julius bekam von dieser magischen Entladung jedoch nur die Leuchterscheinung und den scharfen Knall mit. Die Wucht fühlte er nicht. Statt dessen meinte er, aus seiner linken Hand heraus würde sich etwas warmes, weiches um ihn legen und für eine volle Sekunde einhüllen. Mit seinem leicht verschwommenen Blick konnte er gerade noch die Golems sehen, die von der Explosion umgeworfen wurden. Dann eilte noch ein Morgensternbruder heran, dem die freigesetzte Kraft auch nichts hatte anhaben können. Es war Mehdi.
"Los, bevor sie wieder zur Besinnung kommen!" Rief Aurélie Odin energisch und winkte Julius. Mehdi eilte auf ihn zu und zerrte ihn vom Boden hoch.
"Wir müssen die Festung verlassen, solange Yassin und die anderen noch bewußtlos sind. Komm", sagte der Perser.
"Mein Intrakulum. Sie haben es noch", stieß Julius aus und deutete auf Mehdi.Dann schaffte er es, seinen Zauberstab anzuheben und rief: "Accio Intrakulum!" Da sprang die magische Metallscheibe aus dem Gewand Mehdis heraus und schwirrte in Julius' linke Hand. Mit einer oft geübten Schnelligkeit beförderte er es in seinen Brustbeutel. Da konnte es niemand herauszaubern wußte er.
"Das brauchst du jetzt eh nicht mehr, Junge", sagte Aurélie Odin, die sich ebenfalls genähert hatte. "Wir gehen zu mir und klären, was noch zu klären ist und ..."
"Der Junge bleibt hier!" Brüllte einer der Golems. "Der Meister hat befohlen, ihn nicht mehr fortzulassen!" Die magisch belebten Kunstgeschöpfe stemmten sich hoch und polterten auf die drei zu. Julius überlegte, ob er wieder einen davon vernichten sollte, als Aurélie und Mehdi bereits die Forme zur Vernichtung von Golems sangen. Der Zauberschüler mußte erkennen, daß sie darin doch wesentlich geübter waren. Als dann zwei der Golems in silbernen Lichtblitzen zerplatzten und der dritte Golem nicht wußte, wen er nun eigentlich zu erst angreifen sollte, rang sich Julius dazu durch, den Golembann zu wirken, der ein solches Wesen nicht vernichtete, sondern für einen vollen Tag aus der Gegenwart des Zauberers fernhielt. Er wollte gerade ansetzen, da deutete Madame Odin mit ihrem Zauberstab auf den Jungen und machte eine schnelle Abwärtsbewegung. Unvermittelt blähte sich alles um ihn herum auf, als sei die Welt ein Ballon, in dem er gerade saß und würde mit Pressluft aufgeblasen. Die Luft um ihn herum wurde beinahe flüssig, so meinte er. Das war der Centinimus-Schrumpfzauber, fiel es ihm ein. Dann hob ihn etwas vom Boden auf und trug ihn rasch durch die beinahe trinkbare Luft in eine riesige, von faustgroßen Poren übersähte Hand hinüber. Dann hörte er noch einen lauten Schrei wie von einem kleinen Kind in weiter Ferne und konnte Mehdi Isfahani erblicken, der wie er durch die immer unerträglicher werdende Luft zu ihm herüberflog. Dann erfolgten heftige Erdstöße, während Mehdi und Julius auf der große Wärme ausstrahlenden, halb geschlossenen Hand liegend aufeinander zurutschten.
"Warum habe ich sie in unseren Orden geholt", quängelte der Zauberer wie ein verängstigtes Kind. Offenbar war ihm das noch nie passiert, daß ihn jemand so heftig eingeschrumpft hatte und nun in einer metergroß wirkenden Hand festhielt und davonlief.
"Was wird das denn jetzt?" Fragte Julius. Er versuchte, Madame Odin mentiloquistisch zu erreichen. Doch er schaffte es nicht, sich auf sie zu konzentrieren. Das Unbehagen, in einer riesengroßen Hand zu liegen und nicht mehr richtig atmen zu können hielten ihn davon ab, sich auf Claires Großmutter einzustellen.
"Wo will die mit uns hin?" Fragte Julius den Morgensternbruder, der neben ihm lag und zitterte.
"Wohl in ihre Gemächer und dann zu sich", stieß er aus und verfiel in eine rasche Folge für Julius fremd klingender Rufe, in denen mehrmals der Name Allah vorkam. Offenbar schickte er ein Stoßgebet nach dem anderen an seinen Gott, Vielleicht auch um Vergebung für seine Sünden zu erbitten, vermutete Julius. Dann ebbten die Beben ab. Ein donnergleiches Knarren ertönte, als würde ein hundert Meter hohes Holztor geöffnet. Julius konnte sich vorstellen, daß genau das passierte, auch wenn das Tor in Wirklichkeit nur eine einfache Tür sein mochte.
Wie aus unendlicher Ferne hörte Julius die dröhnende Stimme eines Golems und fühlte erneute Erschütterungen. Dann meinte er, in einen sehr tiefen Abgrund zu stürzen, als sich die Hand, die ihn und Mehdi umschlossen hielt senkte. Dann purzelten die beiden auf grobkörnigen Grund, der wie der Boden einer Felswüste aussah. Dann fühlte Julius, wie er von innen her aufgeblasen wurde. Die Welt um ihn herum stürzte in sich zusammen. Er schloß die Augen, weil ihm schwindelig wurde. Die vorhin noch so zähe Luft wurde wieder leicht und flüchtig, und er bekam fast einen Lungenkrampf, weil er heftiger einatmete als nötig war.
"Da hinein, ihr beiden!" Hörte er Madame Odin zu ihm und Mehdi sagen, der ebenfalls wieder normalgroß war. Julius blickte der ausgestreckten Hand Madame Odins nach, die auf einen weit geöffneten schwarzen Schrank mit goldenen Beschlägen wies. Mehdi verstand und sprang hinein, zog Julius dabei am Arm mit sich.
"Retardo incendio!" Hörte Julius Madame Odin noch rufen, bevor sie sich mit für ihr Alter großer Gewandtheit zu ihnen in den Schrank schwang und die Tür von innen zuzog. Kaum war das passiert meinte Julius, schwerelos durch das dunkle All zu treiben, keine Geräusche um sich herum. Dann gab es einen Ruck, und er fand sich im Inneren dieses Schrankes wieder. Madame Odin stieß die Tür auf und schwang sich hinaus. Dabei ergriff sie Julius und zog ihn hinter sich her. Mehdi taumelte eher daß er kletterte aus dem Schrank.
"In fünf Sekunden wird der in der Festung in Flammen aufgehen", sagte Claires Großmutter. Dann warf sie die Tür zu und stupste mit dem Zauberstab die goldenen Beschläge an. Der Schrank erzitterte heftig. "Ich habe nur den Verbindungszauber gelöst, damit wir nicht gleich mitgeröstet werden", sagte sie. Dann hörte Julius einen dumpfen Schlag aus dem inneren des Schrankes. Mehr geschah aber nicht.
"Manchmal frage ich mich, ob die Brüder nicht doch recht haben und ihr Hexen nicht vom Schaitan besessen seid", keuchte Mehdi. "Du hast gerade dein von den Brüdern zugestandenes Gemach unbenutzbar gemacht."
"Ich weiß, Mehdi. Aber ich mußte was gegen den bei deinen Mitbrüdern aufgekommenen Irrsinn unternehmen", erwiderte Claires Großmutter. "Mit dem Feuer in meinem Privatgemach werden sie erst einmal beschäftigt sein, da Golems das Feuer fliehen und die Brüder wohl noch nicht wach geworden sind. Aber ich wollte und durfte nicht zulassen, wie ihr den Jungen hier um alles bringt, was er sich im Leben aufgebaut hat, nur weil das, was ihr Kismet nennt, ihn in eure geheiligte Festung geführt hat", sagte sie. Sie benutzte die französische Sprache, so daß Julius sie gut verstehen konnte.
"Du hast mich gerade zum Geächteten gemacht und dich selbst zur Feindin der Bruderschaft", sagte Mehdi sehr beklommen zu Aurélie Odin.
"Wie gesagt, Mehdi, ich mußte diesem Irrsinn entgegenwirken. Meine Enkelin und dieser Junge hier sind mir das wert. Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, Mehdi, dann hast du schon vor vierzig Jahren, als du mich in die Bruderschaft hineingebracht hast, gegen die Prinzipien deines Ordens verstoßen. Sicher mußte ich mich geehrt fühlen, die einzige Hexe in eurem erlauchten Kreis zu sein. Aber du wirst wohl zugeben, daß ich bei denen nie richtig angesehen war."
"Ja, aber gerade dann diese heftige Undankbarkeit", erwiderte Mehdi. Dann schien etwas in ihm von wimmerndem Kind auf erwachsenen Mann umzuschalten. Sein Gesicht wurde nun entschlossen und er straffte sich. "Andererseits verstehe ich, daß du so und nicht anders handeln mußtest. Yassin wollte den Jungen verstümmeln und dann einkerkern. Ich wollte es auch nicht glauben. Aber offenbar ist das eingetreten, was wir von der Bruderschaft immer befürchtet haben: Die Angst hat uns ereilt, welche ist die Mutter des Hasses und Ursache von Leid und Zerstörung."
"Angst der Weg zur dunklen Seite der Macht sie ist", bemerkte Julius mit einer leicht gebrechlich klingenden Stimmlage. Aurélie und Mehdi sahen ihn verdutzt an. So fügte er mit seiner normalen Stimme hinzu: "Das ist aus einer langen Geschichte über einen Ritterorden von den Sternen, der sich möglichst von partnerschaftlicher Zuneigung, Angst und Ärger freihalten wollte, um nicht die Macht, eine Form durch den Geist ausnutzbarer Magie, zu mißbrauchen, sich der dunklen Seite dieser Macht hinzugeben."
"Gutes meinen und böses tun", erwiderte Madame Odin. "Offenbar hat Yassin befunden, du seist zu gefährlich um noch allein und unkontrolliert herumzulaufen. Immerhin bist du ja zu ihm gebracht worden, in seinen Verantwortungsbereich."
"Ja, aber er wird uns wohl gleich ... Öhm, wo sind wir jetzt eigentlich?" Julius blickte auf seine Uhr und stellte überrascht fest, daß der Standortstundenzeiger wieder eine Stunde vor dem Heimatortzeiger über das Zifferblatt wanderte. Sie waren also wieder in der mitteleuropäischen Zeitzone.
"Ihr seid in Tiberius' und meinem Haus etwa fünfzig Kilometer von Cannes entfernt", sagte Madame Odin.
"Dann haben wir gerade sowas wie ein Teleportal durchquert?" Fragte Julius, obwohl er sich denken konnte, daß genau das passiert war.
"Soetwas in der Richtung", sagte Claires Großmutter.
"Die Brüder werden dich und den Jungen suchen", sagte Mehdi, jetzt aber nicht wimmernd sondern todernst.
"Sie werden nicht wissen, wie wir ihnen entkommen sind. Du hast doch selbst erzählt, daß dieses sogenannte Licht der Vernunft alle feindseligen Vorhaben niederwirft, sobald jemand es als Hilfe im Kampf beschwört."
"Ja, aber wieso hat es dich und den Jungen verschont und statt euch meine Mitbrüder niedergestreckt?" Fragte Mehdi irritiert.
"Du weißt warum, Mehdi", erwiderte Madame Odin kalt lächelnd. Dann holte sie unter ihren blauen Gewändern etwas hervor, das sie an einer Kette um den Hals trug. Julius blickte mit immer größer werdenden Augen auf das silberne Amulett, das aussah wie eine Rosenblüte mit verlängerten Blättern mit abgerundeten Enden. Vielleicht war es aber auch ein etwas verkürztes und an den Enden rundgearbeitetes Pentagramm, ähnlich dem Symbol auf den Kopfbedeckungen der Morgensternbruderschaft. Mehdi sah das silberne Schmuckstück an und machte eine Geste, die Julius nicht deuten konnte.
"Was ist das für ein Gegenstand, bitte?" Fragte er nun neugierig, was dieses Schmuckstück mit ihrer gelungenen Flucht aus der Festung des alten Wissens zu tun haben sollte.
"Genaueres weiß ich darüber nicht, nur das es wohl schon Jahrhunderte alt ist, durch eingelagerte Zauber unangreifbar für natürliche Gewalten ist und mächtige Schutz- und Heilzauber beherbergt, die nur in der unmittelbaren Nähe meines Körpers wirken. Aber wie ich gemerkt habe, Julius, scheint dich die Magie, die meinem Heilsstern innewohnt auch zu schützen", sagte sie laut und in Julius' Kopf allein hörbar: "Nimm das Amulett mal in die linke Hand!" Er befolgte diese unhörbare Aufforderung und griff vorsichtig nach dem Kleinod, das sich warm anfühlte. Da meinte er, etwas wie sanfter elektrischer Strom durchpulse ihn und stärke seinen beinahe erschöpften Körper. "Also doch", sagte Madame Odin und nahm Julius das Amulett vorsichtig wieder aus der Hand. "Durch deine Verbindung mit meiner Enkeltochter gehörst du auch zu denen, die den Schutz dieses Gegenstandes erfahren können."
"Von diesen Gegenständen, so heißt es, seien einst in Babylon sechs Stück geschaffen worden und später in Byzanz noch einer", sagte Mehdi. "Sie gelten als Erbstücke einer Zeit, wo sich die streitbaren Schwestern um den rechten Weg der Nachkommenschaft überworfen hatten."
"Klingt interessant", sagte Julius. "Welche streitbaren Schwestern?"
"Öhm, ich sage besser nichts mehr, weil ich nicht will, daß die wichtigsten Geheimnisse der Bruderschaft ...", versuchte Mehdi, Julius' Neugier zurückzuweisen. Doch Madame Odin schüttelte den Kopf.
"Ein Huhn, so heißt es bei uns, Mehdi, soll nicht gackern, wenn es keine Eier legen will. Aber am besten besprechen wir das und noch einiges mehr in meinem Salon. Ich muß der guten Blanche ja eh mitteilen, daß ihr Musterschüler gerade bei mir ist."
"Ach du meine Güte, die Stunde ist ja bald um", erschrak Julius. Doch Madame Odin machte eine beruhigende Geste und lächelte ihn an.
"Was wichtig ist sollte nicht in zu kurzer Zeit besprochen werden. Denn es könnte sein, daß unsere Flucht wirklich einige Leute verärgert hat, und dann sollten wir wissen, wie wir uns vor eventuellen Nachstellungen schützen können."
"Sie werden uns suchen und dann, wenn sie uns haben, werden sie uns in den Kerker des ewigen Lichtes sperren, wo wir zeitlos verharren, wenn sie uns nicht wie überwundene Dschinnen in flüchtiger Form in magische Gefäße einkerkern", sagte Mehdi Isfahani nun wieder sehr ängstlich.
"Das wird sich zeigen, Mehdi. Benimm dich doch endlich wie ein erwachsener Mann! Du gibst dem Jungen hier ja ein schlechtes Beispiel für die Männer deines Volkes", wies ihn Madame Odin mit einer von ihr ungewohnten Strenge zurecht. Offenbar nervte sie es heftig, wie Mehdi um sein weiteres Leben bangte, vermutete Julius.
"Außerdem will ich das jetzt wissen, was es mit der ganzen Kiste auf sich hat, die mir passiert ist und was mir außer ein paar aus dem Tritt gekommener Magier aus dem Morgenland noch so passieren kann, bevor ich auf Flaschengeist umschule", preschte Julius sehr direkt vor.
"Wie gesagt, im Salon, Julius", erinnerte Madame Odin ihn und ihren persischen Begleiter daran, nicht in diesem Raum mit dem merkwürdigen Schrank über solche Dinge reden zu wollen. So folgten die beiden Zauberer der Hexe in einen gemütlichen Salon mit hellem Teppichboden, fliederfarbenen Vorhängen und breiten Flügelfenstern, durch die das leicht angegraute Tageslicht hereinfiel. Sie beschwor Teegeschirr und einen großen Goldrandteller mit Keksen auf einen rechteckigen Tisch mit zwei Blumenvasen, in denen je ein Strauß frischer Herbstblumen steckte. Dann deutete sie mit ihrer Hand auf freie Stühle, so daß Julius und Mehdi sich ihr gegenüber hinsetzen konnten. Danach wandte sie sich dem Marmorkamin zu, der die eine tür- und fensterlose Wand beherrschte. Sie holte eine kleine glänzende Pulverdose unter dem Kamin hervor, beschwor ein Feuer in den Kamin und schüttete etwas Pulver aus der Dose in die Flammen, die sogleich laut tosend zu einer smaragdgrünen Feuerwand aufloderten. Madame Odin steckte ihren Kopf in die Flammen und rief: "Beauxbatons, Sprechzimmer Professeur Faucon!" Dann verschwand ihr Kopf in den wirbelnden Flammen. Einige Zeit später konnten Mehdi und Julius mithören, wie Madame Odin sich mit Professeur Faucon unterhielt.
"Blanche, ich bin verpflichtet Ihnen mitzuteilen, daß der Junge Julius Andrews, nachdem er eine haarsträubende Reise hinter sich gebracht hat, im Moment mein Gast in meinem Haus ist. Er sagte was, er habe von Ihnen eine Stunde für seine Eskapade zugebilligt bekommen. Können Sie es einrichten, daß er bis auf weiteres nicht vermißt wird?"
"Wie bitte, Aurélie. Der Junge ist bei Ihnen, wie kommen Sie darauf?"
"Professeur Faucon, ich bitte Sie, verschwenden Sie nicht unsere Zeit damit, daß sie etwas leugnen, was ich schon weiß, seitdem der junge Mann vor knapp einer Stunde aus einem Wandgemälde an einem geheimen Treffpunkt der Ihnen nicht unbekannten Bruderschaft des blauen Morgensterns heraustrat. Offenbar geschah dies, weil er einer Spur folgte und ein sehr selten benutztes Artefakt gebrauchte, ein Intrakulum. Jedenfalls hat er einiges erlebt und muß von mir noch über die näheren Umstände aufgeklärt werden, bevor ich Ihn Ihnen zurückschicken kann."
"Aurélie, kommen Sie mit dem Jungen unverzüglich zu mir! Ich hebe für zwei Minuten die Zutrittssperre auf. Allerdings darf Madame Maxime nichts davon erfahren, da sie sonst ihren Rücktritt einreichen und dabei auch mich und den jungen Mann, der gerade bei Ihnen sein soll der Akademie verweisen müßte."
"Dann wäre es eher besser, Sie kommen zu mir, weil ich weiß, daß Madame Maxime nicht gut auf unangemeldete Besucher zu sprechen ist", entgegnete Madame Odin. Ihre Stimme klang wie die Professeur Faucons wie aus einem tiefen Brunnenschacht.
"Gut, da ich an der Angelegenheit sehr vitales Interesse habe stelle ich mich bei Ihnen ein", schnaufte Professeur Faucon. "Ich muß nur einige Vorkehrungen treffen, um nicht in der nächsten Zeit von allen möglichen Stellen gesucht zu werden. Bitte besprechen Sie mit dem Jungen nichts, bevor ich nicht bei Ihnen bin. Ich werde Ihren Kamin benutzen."
"Wie Sie meinen, Professeur Faucon", erwiderte Madame Odin. Dann ploppte es, und Claires Großmutter hatte ihren Kopf wieder ordentlich auf ihren Schultern und stemmte sich hoch.
"Ist das nicht gefährlich, die Kaminsperre freizugeben?" Fragte Julius, als die Hausherrin mit ihrem Zauberstab hantierte.
"Die Morgensternbrüder benutzen dieses Verbindungsmittel nicht. Außerdem muß jemand schon wissen, wo er hinreisen will, um zu mir zu gelangen. Andere unerwünschte Zeitgenossen sind gerade anderweitig beschäftigt, soviel ich weiß.
"Wo ist denn Ihr Mann eigentlich?" Fragte Julius, dem jetzt erst einfiel, daß Madame Odins Ehemann ja auch noch irgendwo herumlaufen konnte.
"In der Delourdes-Klinik, Extraschicht", informierte Madame Odin ihre Gäste. Monsieur Tiberius Odin arbeitete als Zaubertrankexperte in der Delourdes-Klinik für magische Krankheiten und Verletzungen.
"Was soll diese Professeur Faucon hier, Aurélie? Der Junge wird ihr doch eh berichten, was er erlebt hat", warf Mehdi ein.
"Dann kann er es gleich tun, wenn sie herkommt und wir können sie und ihn mit den noch ausstehenden Informationen versorgen", sagte Madame Odin.
Mehdi wollte gerade etwas erwidern, als es im Kamin rauschte. Ein Wirbel aus grünem Feuer erschien, aus dem sich eine Gestalt herausschälte. Es war aber nicht Professeur Faucon, wie Julius mit einer Mischung aus Überraschung, Ertapptheit und Freude erkannte, sondern Claire Dusoleil. Sie turnte nach der erfolgreichen Ankunft aus dem Kamin und fiel ihrer Großmutter um den Hals, bevor diese fragen konnte, was sie hier zu suchen hatte. Es wirkte so, als sei es ein ganz gewöhnlicher Besuch der Enkeltochter bei ihrer Oma. Mehdi sah das junge Mädchen, das wie Aurélie in sehr jungen Jahren aussah kritisch an. Sie blickte ihn an, erkannte ihn und erwiderte seinen kritischen Blick. Dann sah sie Julius an, und in ihren dunkelbraunen Augen stand eine einzige tadelnde Frage: "Was hast du angestellt?" Deshalb setzte Julius schon an, Claire zu sagen, er wolle es ihr gerne erklären, wenn er dürfe, als das Mädchen auf ihn zueilte und ihn ansatzlos in eine sehr innige Umarmung schloß. Er fühlte auf jeder Wange ihre warmen, feuchten Lippen aufdrücken, bevor sie ihm zuflüsterte:
"Ich habe es mir gedacht, daß Professeur Faucon dich für irgendwas einspannt, Juju. Dann hatte ich auf einmal tierische Angst und wäre fast vom Stuhl gefallen. Irgendwie mußte ich dabei an dich denken. Deshalb bin ich zu Professeur Faucon. Die hatte gerade Oma Aurélies Kopf im Kamin. Sie hat mich erst gesehen, als sie sagte, daß sie wegen dir zu ihr hinwollte. Sie meinte dann, es wäre vielleicht doch besser, wenn ich mir anhöre, was du gemacht hast, auch wenn ich dabei was mitbekäme, was jemand dir zu verschweigen befohlen hat."
"Öhm, durchaus, Claire", sagte Julius. Da rauschte es erneut im Kamin. Doch es war immer noch nicht Professeur Faucon, sondern Madame Rossignol, die kaum aus dem Kamin Madame Odin sehr mißtrauisch beäugte und dann das Knäuel aus Julius und Claire anblickte.
"Professeur Faucon kommt gleich. Auch wenn ihr euch beide einander versprochen habt würde sie es wohl nicht gerne sehen, wie ihr euch umarmt", sagte die Heilerin von Beauxbatons. Julius löste sich vorsichtig aus Claires Umarmung und fragte leicht eingeschüchtert, ob Madame Rossignol nicht in Beauxbatons gebraucht würde.
"Ich habe den Besuchermeldezauber bemüht, falls mich jemand aufsuchen muß, Julius. Im Zweifelsfall appariere ich von hier vor die Einfriedung der Schule", sagte die Heilerin. Claire bugsierte derweil Julius so, daß er links von ihr saß. Dann fauchte Professeur Faucon aus einem grünen Funkenwirbel in Madame Odins Kamin hinein.
"Sie können die Sperre einstweilen wieder errichten, Aurélie", begrüßte die Lehrerin die Hausherrin. Dann betrachtete sie die bereits anwesenden Hexen und Zauberer und meinte zu Mehdi:
"Ach, Monsieur Isfahani gibt sich ebenfalls die Ehre."
"Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Madame Faucon", erwiderte Mehdi ruhig.
Madame Odin brachte noch mehr Teegeschirr auf den Tisch und setzte sich zwischen professeur Faucon und Madame Rossignol, die irgendwie nicht sonderlich gut auf Madame Odin zu sprechen schien, so argwöhnisch wie sie sie musterte.
"Berichte deiner Verlobten bitte, was du an und für sich keinem außer dem Zaubereiminister, Madame Maxime und deinem ehemaligen Schulleiter Professeur Dumbledore erzählen durftest, Julius! Immerhin hat Minister Grandchapeau dich nicht auf einen Eidesstein schwören lassen", forderte Professeur Faucon den Viertklässler auf. Claire stubste Julius an und flüsterte ihm zu:
"Mach das, damit das endlich hinter uns liegt!" Das wurde von ihrer Großmutter und Professeur Faucon mit einem mißbilligenden Räuspern bedacht. Julius atmete tief ein und wieder aus, wobei Claires Wiesenkräuterparfüm wohlig in seine Nasenflügel stieg. Dann begann er von seinem Intrakulum und dem ersten Ausflug damit zu berichten. Er holte das magische Artefakt hervor und zeigte es Claire. Sie schien unter einer immer größeren Spannung zu stehen, kämpfte wohl mit sich selbst, nicht empört oder neugierig dazwischenzufragen und schaffte es, bis zu Julius' letzten Sätzen durchzuhalten.
"Deshalb konnte ich gezielt an dieses Tor heran und durch es hindurch in eine gemalte Stadt, von wo aus ich von einem dieser Torwächter in eine andere Galerie verschleppt wurde, wo ich gesagt bekam, ich hätte das nur machen können, weil ich der Erbe dieser Darxandria sei. Dann mußte ich durch drei Ringe aus Amphoren, die um eine Truhe standen und mir aus der Truhe was holen, das ich für ungefährlich genug hielt. Danach wollten mich die blauen Morgensternbrüder nicht mehr weglassen, ja einer hat sogar angesetzt, mit einem Silberdolch den Finger abzuschneiden, an dem dein Haar ist. Deine Oma und Mehdi haben mich dann da rausgepaukt. Jetzt wollte ich noch von denen wissen, was genau da gelaufen ist und wie ich mit dieser Kiste umgehen soll."
"Ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst dich nicht auf so abgedrehte Sachen einlassen, Julius", knurrte Claire, in deren rechter Hand es verdächtig gezuckt hatte, ihrem Verlobten eine runterzuhauen, wie damals nach dem Infanticorpore-Experiment. Professeur Faucon sprang ihm jedoch bei.
"Junge Dame, das mit Slytherins Galerie mußte so schnell wie möglich erledigt werden, und Julius brachte als einziger das Wissen und die körperlich-zauberkundlichen Voraussetzungen mit, um diese gefährliche Aufgabe zu bewältigen. Das Ihr Verlobter nicht aus krankhaftem Leichtsinn sowohl damals wie heute das Intrakulum benutzte zeigt sich daran, daß er seine Unternehmungen mit mir und auch anderen vorher abgestimmt hat."
"Hört hört", warf Madame Rossignol ein. Sie durfte sich sowas herausnehmen, war sie in Beauxbatons vom Rang her den Lehrern ja gleichgestellt.
"Nun, Sie nicht gleich mit allem zu behelligen erfolgte aus der Rücksicht auf Ihre Verantwortung für alle Schüler der Akademie", wandte Professeur Faucon sehr ungehalten klingend ein. Dann wandte sie sich an Madame Odin und bat sie darum, zu berichten, was sich in der geheimen Festung, von der sie über mehrere Kanäle schon gehört hatte, zugetragen hatte. Als Madame Odin und Julius abwechselnd ihre Erlebnisse geschildert hatten präsentierte Claires Oma noch einmal ihren sogenannten Heilsstern aus Silber.
"Faszinierend", sagte die Lehrerin, als sie kurz mit ihrem Zauberstab überprüft hatte, wie mächtig das Schmuckstück war. Tatsächlich war es gegen die gängigen Aufspürzauber abgeschirmt und konnte wohl noch einiges, was Julius noch nicht kannte. "Es müssen mindestens sechs Magier bei der Erschaffung beteiligt gewesen sein, darunter mindestens eine Hexe, um einen Ausgleich der männlichen und weiblichen Energien zu bewirken."
"Es schützt den dafür bestimmten Träger oder die Trägerin vor vielen Flüchen, Aufspür- und Geisterkundungszaubern. Selbst Imperius kann damit abgewehrt werden, Blanche", erwähnte Madame Odin und fügte rasch hinzu: "Aber eben nur von dem, für den dieser Gegenstand bestimmt ist. Julius scheint durch die Verbindung zu Claire ebenfalls die schützenden Kräfte meines Artefaktes erwecken zu können."
"Sie wollten mir noch sagen, was es mit diesen Gegenständen auf sich hat und mit diesen streitbaren Schwestern", erinnerte Julius Mehdi Isfahani an etwas, was sie noch in dem Raum mit dem schwarzen Schrank besprochen hatten.
"Nun, eigentlich darf ich darüber nicht reden", druckste Mehdi herum. Professeur Faucon sah ihn an:
"Offenbar haben Sie es dem Jungen gegenüber erwähnt. Insofern zwingt Sie nichts, darüber zu schweigen", wandte sie ein und fügte hinzu: "Aber wenn dies Ihr Gewissen beruhigt, Monsieur, kann und werde ich meinen Schülern hier gerne erzählen, was mir über die streitbaren Schwestern bekannt ist",
"Das können Sie nicht wissen", widersprach Mehdi Isfahani. Doch Professeur Faucon sah ihn nur entschlossen an, wandte sich dann Julius zu und sprach in einer Tonlage, als wolle sie eine Unterrichtsstunde abhalten:
"Von einer der beiden streitbaren Zwillingsschwestern hast du ja leider schon mehr gehört als für Jungen deines Alters verträglich ist, Julius. Es war Lahilliota, die Mutter der neun Töchter des Abgrunds. Ihre Schwester Ashtaria, die bei den Babyloniern auch Ishtar und bei anderen Völkern Astarte genannt wurde, war die ältere und wußte, daß sie auf Grund ihrer Herkunft besonders mächtig und vor allem langlebig sein würde. Deshalb wollte Ashtaria möglichst viele Kinder haben, während Lahilliota die Männer für zu primitiv hielt, um sich von ihnen berühren zu lassen. Ashtaria hatte mit verschiedenen Magiern und Nichtmagiern zusammen sieben Kinder, vier Söhne und drei Töchter. Sie und ihre Nachkommen begründeten die Gemeinschaft des Morgensterns, aus dem sich die heute in Nahost und Indien bestehende Bruderschaft des blauen Morgensterns ableitet. Das stimmt doch soweit, Monsieur Isfahani." Mehdi bejahte leicht verhalten. "Was diesen Gegenstand angeht, den Madame Odin in Besitz zu haben sich hoch anrechnen kann, so haben die sieben Kinder sich über den Großteil Europas und Asiens verbreitet. Um ihre Nachkommen mit ihren magischen Kräften zu beschützen, heißt es, daß die sechs asiatischen Kinder sich zusammengetan haben, um sechs solcher Artefakte zu schaffen. Wer davon welche bekommen hat ist im Strom der Ereignisse untergegangen, zumal die Ashtaria-Kinder von ihren Cousinen, den Töchtern des Abgrundes, gnadenlos verfolgt wurden. Immerhin konnten die Artefakte einen gewissen Schutz vor diesen Kreaturen bieten, hat mir Professeur Tourrecandide mal berichtet. Irgendwann nach der Zeitenwende, als die Menschen anfingen, sich auf Eingottreligionen festzulegen, soll noch ein siebter Gegenstand erschaffen worden sein, von den Nachfahren der Ashtaria-Linie. Es heißt, er sei im byzantinischen Reich, also dem Gebiet Griechenlands und einem Teil der heutigen Türkei gewesen. Von wem für wen und was genau dieser Gegenstand war oder ist weiß ich nicht."
"Wir wissen es auch nicht", sagte Mehdi. "Feststeht nur, daß sie nicht zerstört werden können und nur durch ehrliche Liebe ihre Kraft gewinnen und erhalten. Die Zauber, die in sie eingewirkt wurden, wurden in der babylonischen Abwandlung der Hochsprache des alten Reiches, die auch die Sprache der schlafenden Mächte genannt wird, gewirkt. Feststeht auch, daß sie keine zerstörerischen Kräfte und Absichten dulden oder ausüben. In dieser Eigenschaft stehen sie den Lebensauffanggefäßen der neun Unheilstöchter entgegen oder einigen der mysteriösen Insignien der alten Macht."
"Von denen wohl niemand mehr weiß, ob es sie wirklich gegeben hat oder noch gibt", warf Professeur Faucon ein. Dann stutzte sie. Sie sah Julius an und fragte: "Hast du nicht erzählt, du seist jetzt auf das Bild Gregorians gestoßen worden, weil von diesen Insignien wohl zwei gefunden und benutzt worden sind?" Julius nickte. "Dann steht zu befürchten, das die Legende von Iaxathans Fluch keine Legende ist, sondern lediglich gut verdrängtes altes Wissen, das wohl nur sehr wenige Zaubereigeschichtler und Archäoartefaktkundler kennen. Die Haube Darxandrias soll eines dieser Insignien sein."
"Ja, und Iaxathan setzte ihr sein schwarzes Seelenfenster entgegen", fügte Mehdi hinzu, der nun, wo das Gespräch auf dieses Thema gebracht wurde, etwas ungezwungener sprach. "Außerdem soll es noch Insignien für die vier starken Naturkräfte und wohl eines für die Gestirne oder die Zeit geben. Aber welche wahrhaftig existieren und wo sie zu finden sind wissen auch meine Mitbrüder nicht."
"Will sagen, wenn einer dieser Gegenstände gefunden und benutzt wird erfüllt sich Iaxathans Fluch?" Fragte Claire besorgt.
"Nein, wenn mindestens zwei gefunden und benutzt werden", berichtigte Julius seine Verlobte. "Die Haube ist doch wohl schon seit Jahrzehnten im Gebrauch."
"Seitdem sie im neunzehnten Jahrhundert in der algerischen Wüste gefunden wurde", sagte Aurélie Odin.
"Außerdem heißt es, Iaxathan habe diese Insignien von unterworfenen Seelen über die Welt verstreuen lassen, um die damaligen Machthaber des alten Reiches zu schwächen, damit er die Macht übernehmen konnte. Damit wurde ein Jahrtausende langer Frieden zwischen den damaligen Magiern und Nichtmagiern gebrochen, und unwiderstehliche Gewalten freigesetzt, die den großen Kontinent im Meer haben versinken lassen, den Griechen und Ägypter Atlantis nannten", sagte Mehdi. "Doch wie genau diese uralte Schlacht um die Macht begann darf ich nicht sagen, wenn ich nicht eines qualvollen Todes sterben will."
"Klingt für mich wie eine Gruselgeschichte oder wie eine deiner Weltraumstories von fremden Planeten", sagte Claire Julius zugewandt. "Aber wenn du wirklich durch die Bilder in diese Festung gelangt bist, weil du von Darxandrias Stadt geträumt hast, muß ich wohl denken, daß da was dran ist. Aber Julius, ich bitte dich, hör mit dieser Art von Abenteuern auf! Klar, daß ich von sowas Alpträume kriegen kann."
"Zumal es durchaus Leute gibt, die dieses Wissen als ihre persönliche Macht ansehen und es nicht teilen wollen", warf Professeur Faucon ein. "Die Welt soll vergessen, was mit dem alten Reich war, bestenfalls an eine uralte Legende denken, die erzählt wird, um eine friedliche Welt zu beschreiben, die Gefahren von Machtgier und übermäßig benutzter Magie auszumalen oder Leuten den tristen Alltag zu verzieren, indem sie darüber nachdenken, ob und wie das alles existiert hat."
"Was meinen Sie, warum Yassin den Jungen nicht mehr fortlassen wollte?" Entfuhr es Mehdi. "Auch als treuer Verehrer Allahs will er nicht einfach darauf vertrauen, das der Allmächtige die Welt in friedliche Bahnen lenkt. Die Verführungskünste Schaitans sind zu groß, um sich immer in Sicherheit zu fühlen."
"Obwohl das gegen den Glauben verstößt, nicht auf die Weisheit und Vorbestimmung des Allmächtigen zu vertrauen", warf Professeur Faucon herausfordernd ein. Madame Rossignol sagte dazu was:
"Gläubige vertrauen zwar darauf, daß ihr Gott weiß, was er tut, wissen aber nicht, was er will und was sie tun müssen, um zu tun, was er oder sie will. Allein schon daß die meisten Eingottreligionen eine männliche Gottheit voraussetzen zeigt doch schon, daß hier bereits ein Ungleichgewicht entstanden ist. So frage ich jetzt doch mal, wo ich diese Geschichte zum ersten Mal und damit unbeeinflußt von vorherigen Erwähnungen höre: Warum ist der Orden des blauen Morgensterns eine reine Männertruppe? Wenn es früher aus der Linie dieser sagenhaften Ashtaria hervorging, wo also auch Frauen mitreden konnten, muß doch irgendwas passiert sein, was den Wandel zum reinen Männerbund bewirkt hat."
"Die Tatsache, daß Magier mit den nichtmagischen Herrschern des Morgenlands immer wieder zusammengearbeitet haben und sich daher den neuen Religionen genauso wenig enthalten konnten wie die nichtmagischen Menschen", sagte Madame Odin ruhig. "Außerdem galten die neun Abgrundstöchter als Inbegriff der Verführung und Unterwerfung, was dann durch die neuen Religionen erfolgreich ausgenutzt wurde, welche die weibliche Macht und Stärke als sündhaft und gefährlich betrachten."
"Ja, Oma, wenn du diesen Gegenstand hast, der einer der sechs im Osten gemachten ist, wie hast du den gekriegt und warum wirkt der nur bei dir oder bei Julius?" Fragte Claire.
"Ich habe den Heilsstern von meiner Mutter, deiner Urgroßmutter, deren Vornamen du hast, Claire. Die hatte ihn von ihrer Großmutter, nicht von ihrem Vater. Wann und wo der Heilsstern zum ersten mal in meiner Ahnenlinie aufgetaucht ist weiß ich nicht, weil wohl niemand darüber was geschrieben hat. Er wurde wohl als geheimnisvolles Erbstück von einer Generation zur anderen weitergereicht oder hat eine Generation übersprungen", berichtete Madame Odin. Julius fiel dabei was auf und so fragte er, warum dieser Gegenstand nicht direkt von einer Generation zur Anderen weitergegeben wurde und ob das was mit dem Geschlecht der Nachkommen zu tun habe.
"Ich sehe das so, Julius. Die älteste Tochter bekam den Stern, in dem Fall meine Mutter, beziehungsweise, wenn die nächste Generation nur Söhne geboren wurden, die älteste Enkeltochter. Ich vermute, wenn das wirklich einer der sechs ersten Gegenstände der Ashtaria-Sippe ist, daß die von den Söhnen in ihre Familie eingebrachten Gegenstände nur an die männlichen Nachkommen weitergegeben wurden. Es sei denn, es bestand die Verpflichtung der Matrilinearität."
"Die was?" Fragte Claire.
"Das ist das Wort für eine direkte Abfolge der Ahnenlinie, basierend auf die Mütter, nicht auf die Väter", belehrte Professeur Faucon ihre Schülerin.
"Ach, was Sardonia durchsetzen wollte und es bei den Latierres ja auch so geht?" Fragte Claire.
"Exakt", erwiderte Professeur Faucon. "Nur daß es bei den Latierres egal ist, ob ein Zauberer oder eine Hexe in diese Familie einheiratet, weil der Nachname in jedem Fall Latierre sein soll."
"Habe schon immer gesagt, daß das überdreht ist", knurrte Claire die an Martine oder Millie dachte. Immerhin hatte sie letzterer durch die frühzeitige Bindung an Julius die Tour vermasselt, zumindest war sie sich dessen sehr sicher.
"Nun, was auf jeden Fall wichtig ist, Julius: Mach dich nicht nervös wegen dieses Gegenstands, den du aus der Truhe geholt hast!" Sagte Madame Odin. "Wenn das wirklich einer der alten Schlüssel zum uralten Wegesystem des Alten Reiches sein soll, dann ist der für niemanden sonst zu gebrauchen. Denn selbst wir, die wir uns mit dem alten Reich befassen, haben nur Bruchstückhaft was von diesem Wegesystem gehört."
Julius fragte noch, was denn über dieses Wegesystem bekannt sei und erfuhr, daß es wohl so ähnlich war wie ein Netz aus Teleportalen oder ähnlichen Verbindungszaubern wie das Wandschlüpfsystem in Beauxbatons, eben nur in wesentlich größerem Maßstab. Professeur Faucon meinte dann noch:
"Es ist zu befürchten, daß Monsieur Isfahanis Ordensbrüder nicht ruhen werden, bis sie dich haben, Julius. Wenn sie wirkklich von der Angst vor der Erfüllung der ganzen Prophezeiung getrieben werden, das Schicksal vorbestimmen oder umändern zu müssen, werden Sie dich bald suchen."
"Es sei denn, Blanche, es ergibt sich eine Möglichkeit, die Bruderschaft auf den rechten Pfad zurückzulenken. Yassin mag im Überschwang gehandelt haben und die, die er gerufen hat haben nur seine Befehle ausgeführt, weil er der Herr der Festung ist. Sie Wissen ja, daß viele Bewohner des Orients sehr gerne starken Führern folgen. Deshalb werden Mehdi und ich uns mit anderen Brüdern beraten, ob und wie Iaxathans mögliche Wiederkehr auch ohne Julius festzusetzen verhindert werden kann."
"Aurélie, sie werden dir nicht mehr zuhören, wenn erst heraus ist, daß wir uns gegen Yassins Wunsch aufgelehnt haben", widersprach Mehdi. Doch Madame Odin blieb beharrlich dabei, daß längst nicht alle Morgensternbrüder meinen könnten, Julius müsse in ihrer Obhut leben und dürfe keinen Schritt mehr ohne ihre Anleitung tun. Dann fragte Madame Rossignol etwas, das Claire aufhorchen ließ:
"Wie sollen die beiden Jugendlichen jetzt mit dem umgehen, was sie wissen? Die Gefahr besteht ja, daß jemand dieses Wissen aus ihnen herausholen kann."
"Dagegen kann ich was machen", sagte Madame Odin und fügte hinzu: "Nicht nur in den Staaten kennen sie die Bergesteine." professeur Faucon rümpfte die Nase. Immerhin hatte Julius mit einem solchen Bergestein vor ihr verheimlichen können, daß Mrs. Jane Porter ihm die Zweiwegspiegel gegeben hatte. Doch sie war einverstanden, daß Madame Odin ihrer Enkelin einen Bergestein gab, den sie damit bezauberte, daß alles, was sie über das alte Reich, das Intrakulum ihres Verlobten, die damit erlebten Abenteur, Julius' Erbe von Darxandria, den Morgensternbrüdern und die magischen Gegenstände aus diesem Reich gehört hatte in ihrem Gedächtnis verbergen konnte, ohne daß es aus ihr herauslegilimentiert werden konnte. Abschließend sagte Professeur Faucon noch:
"Es versteht sich von selbst, daß die, die jetzt von Beauxbatons hergekommen sind niemanden in Beauxbatons oder nicht ausdrücklich mit der ganzen Angelegenheit verbundenen Familienangehörigen etwas erzählt. Ansonsten würde Madame Maxime wirklich alle Ämter und Würden einbüßen und uns in ihrem Sog mit sich nehmen. Ich werde die Direktrice persönlich und ohne euch beiden, Claire und Julius, informieren. Ich hoffe, ihr in Ruhe erläutern zu können, weshalb ich dieses Mal ohne ihr Wissen handelte."
"Versteht sich von selbst, daß ich keinem das auf die Nase binde, daß ich gerade eine alte Kugel aus Atlantis geerbt habe und nicht weiß, wofür die gut sein soll", sagte Julius. Claire wandte sich ihm zu und sagte:
"Nun, wo ich doch einiges mehr von dir mitbekommen habe als du oder andere mir gönnen wolltet, möchte ich natürlich nicht, daß du deshalb ärger kriegst, Julius. Aber falls das geht möchte ich haben, daß du mir sowas von dir aus erzählst, wenn dir wieder sowas total abgedrehtes passiert."
"Das hinge dann von denen ab, die in eine solche Angelegenheit verwickelt sind", kam Professeur Faucon Julius zuvor. Dieser sagte dann noch:
"Claire, du weißt, ich wollte nie, daß du mir mißtraust oder den Eindruck hast, ich würde dir nicht trauen. Aber jetzt weißt du es ja selbst, welche heftigen Sachen einem passieren können und daß das nicht jeder wissen sollte."
"Ja, Juju, und nachdem wir beide uns doch wieder ein wenig besser kennengelernt haben möchte ich jetzt wieder zurück nach Beauxbatons", sagte Claire. Professeur Faucon nickte und entzündete ein neues Feuer, nachdem Madame Odin die Kaminsperre wieder aufgehoben hatte. Julius sah, wie Madame Rossignol zuerst verschwand. Dann folgte Claire, die sich herzlich von ihrer Großmutter verabschiedete. Dann ging er durch den Kamin und floh-pulverte nach Beauxbatons zurück. Dann folgte Professeur Faucon.
"Hoffentlich kriegen die beiden keinen Ärger mit den anderen netten Brüdern", sagte Julius zu der Lehrerin.
"Das müssen die herausfinden. Für dich sind deine Mutter, Catherine und wir Lehrer in Beauxbatons verantwortlich und wollen das auch bleiben, sofern du uns keinen Anlaß gibst, diese Verantwortung als Verschwendung anzusehen", sagte die Vorsteherin des grünen Saales. Claire fragte Professeur Faucon noch:
"Können Sie mir auch diese Kunst beibringen, in Gedanken zu jemandem zu sprechen, Professeur? Nach der ganzen Sache denke ich, das wäre gut, wenn ich das auch könnte."
"Das darf ich so nicht einfach verfügen, wenn Sie noch nicht in den UTZ-Klassen sind", sagte die Lehrerin. "Allerdings haben Ihre Eltern mir ja die ausdrückliche Anweisung erteilt, Ihnen die Occlumentie beizubringen. Das Problem mit dem Mentiloquismus ist, daß er hier in Beauxbatons nicht funktioniert. Das liegt daran, daß der vierte Schulleiter der Akademie befunden hat, daß Schüler sich damit unerlaubt helfen können und entsprechende Gegenzauber hat aufrufen und verstärken lassen. Insofern wäre es dann besser, falls Ihre Eltern dies auch wirklich erlauben, wenn Sie diese Kunst von einem darin gut ausgebildeten Verwandten erlernen, beispielsweise Ihrer Mutter oder Ihrer Großmutter. Monsieur Andrews hat diese Kunst ja deshalb erlernt, weil meine mehr oder weniger schätzenswerte Kollegin Madame Porter befand, mit ihm unsichtbar durch eine Stadt voller Muggel zu laufen und deshalb kein hörbares Wort sprechen wollte. Apropos", sagte sie und machte ein Gesicht, als sei ihr gerade was ganz dringendes eingefallen. Sie wandte ihren Blick Julius zu, der ahnte, was sie sagen wollte. "Es versteht sich von selbst, Monsieur Andrews, daß Sie meiner amerikanischen Kollegin oder ihren Ihnen bekannten Anverwandten genauso wenig darüber berichten, was Sie heute erlebt haben wie Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern!"
"Verstehe ich", sagte Julius. Dann holte er den runden Stein aus dem Brustbeutel. "Ich denke, ich lasse den besser erst einmal bei Ihnen, Professeur. In meinem Practicus-Brustbeutel ist bald kein Platz mehr. Außerdem weiß ich nicht, ob das Ding nicht andere Zauber abbaut, je länger es mit denen in Berührung ist."
"Will sagen, Sie möchten dieses Artefakt nicht auf Dauer mit sich herumtragen, Monsieur Andrews", erwiderte Professeur Faucon. Er nickte. Claire sah den runden Stein mit den silbernen Linien mit einem Ausdruck großen Mißtrauens an. Diesem Ding verdankte sie zwar jetzt, daß sie über Julius' Ausflug in die Bilderwelt was wußte, aber auch, daß ihr Verlobter nun von einer aufgebrachten Magierbruderschaft gesucht wurde, als wenn die Sache mit seinem Vater und Hallitti nicht schon schlimm genug gewesen wäre.
Professeur Faucon nahm den Gegenstand sowie das Intrakulum an sich und sagte zu Julius: "Ich werde Ihnen dieses Artefakt wieder aushändigen, sollte sich herausstellen, daß Sie es nicht nur des Besitzes wegen erhalten haben. Ich vermute, das alte Wissen Darxandrias, welches Sie von dieser Stadt und dem Zugang zu der alten Festung hat träumen lassen, wird Ihnen irgendwann offenbaren, ob damit mehr als nur ein Erbstück verbunden ist." Claire meinte dazu noch:
"Warum bist du dann überhaupt durch die Bilder gegangen, Julius? Du hättest doch dieses Tor Tor sein lassen können."
"Tja, Claire, wenn ich das vorher gewußt hätte hätte ich das Tor wohl echt Tor sein lassen", erwiderte Julius betrübt.
"Ich fürchte, diese Erinnerungsfragmente Darxandrias hätten Ihnen keine Wahl gelassen. Einige der Leute, die diese Haube getragen haben klagten über Alpträume, die sie nicht mehr richtig hatten schlafen lassen. Insofern denke ich, daß Sie keine andere Wahl hatten", erwiderte Professeur Faucon. Claire sah sie etwas verstimmt an, nickte dann aber. Nachdem sie nun auch mehr über ihre Oma Aurélie erfahren hatte, konnte sie sich denken, daß es in der Zaubererwelt Dinge gab, denen man sich nicht so einfach entziehen konnte.
"Es ist nun besser, wenn Sie beide den restlichen Nachmittag so üblich wie sonst verbringen", schickte die Lehrerin die beiden frühzeitig verlobten aus ihrem Büro. Julius nickte und verließ mit Claire und Madame Rossignol das Sprechzimmer der Lehrerin. Die Heilerin meinte noch zu Julius:
"Mach nichts, was dich heute noch zu sehr anstrengt, Julius! Es würde sonst auffallen, daß du dir etwas heftiges zugemutet hast."
Zusammen mit Claire ging Julius an den Strand. Noch war das Wetter warm genug, um zumindest gemütliche Spaziergänge am schuleigenen Meeresabschnitt zu machen. Virginie Delamontagne hatte gerade Strandaufsicht und beobachtete mehrere Drittklässler der Blauen und Roten, die sich mutig in den Fluten tummelten. Sie achtete nicht weiter auf Claire und Julius, die sie kurz begrüßten und dann weitergingen. Sie vermieden es, über die Sache mit den Morgensternbrüdern zu sprechen oder Julius' teils rätselhafte, teils gefährliche Erlebnisse zu besprechen. Doch Julius wußte, daß seine junge Verlobte nun nicht mehr so unbekümmert mit ihm zusammensein würde wie vor den Sommerferien. Zwar hatte sie durch den Corpores-Dedicata-Zauber vollendete Tatsachen geschaffen, was die weitere Beziehung anging, und er war in seinem tiefsten Inneren auch froh, daß sie diesen Schritt getan hatte. Doch nun, wo sie einen Teil seiner Geheimnisse kannte und noch mehr Sorgen haben mußte, daß ihm was geschah, war ihm auch klar, daß sie beide nicht mehr so sorglos miteinander zusammenleben würden, ob hier in Beauxbatons oder wo auch immer. Aus dieser leicht trübseligen Stimmung heraus fiel ihm etwas ein. Dieser Strand gehörte zwar zur Schule und war durch einen Unortbarkeitszauber von Muggeln nicht zu finden. Aber die Sperre gegen Gedankenbotschaften mochte hier nicht wirken. So sagte er nach einigen Minuten, in denen sie schweigend nebeneinander hergegangen waren:
"Claire, ich versuche mal, ob ich dich hier in Gedanken erreichen kann. Ich sehe nicht ein, warum du das nicht auch lernen sollst." Claire sah Julius an und fragte:
"Meinst du, am Strand geht das?"
"Will ich mal ausprobieren", erwiderte Julius. Dann stimmte er sich mit den fünf geistigen Vorstufen, die er gelernt hatte auf Claire ein und fragte in Gedanken, wobei er sich vorstellte, sie sprechen zu hören:
"Hallo, Claire, wenn du das hörst, antworte mit der Zahl, die du hörst: Zweiunddreißig!" Er fühlte einen gewissen Druck auf dem Kopf, aber dann, als durchstoße er eine gummiartige Wand, wurde sein Kopf wieder frei, und seine Gedankenbotschaft hallte lautstark in ihm nach. Da wußte er, er hatte sie erreicht.
"Zweiunddreißig, Juju", erwiderte Claire, der die ungewohnte Art, angesprochen zu werden erst ein leichtes Zucken durch den Körper gejagt hatte. Dann mußte sie lächeln und umarmte Julius. "Kannst du mir das auch beibringen?" Fragte sie.
"Ich fürchte, Professeur Faucon meint das ernst, daß dir das nur wer beibringen soll, der dir das erlaubt. Aber zumindest wissen wir jetzt, daß es am Strand geht."
"Juju, wenn du damit anfängst, dann solltest du dir das auch zutrauen, das mit mir richtig zu üben", knurrte Claire leicht verärgert. "Wenn wir das in der Schule nicht machen können, gut. Aber wenn es anderswo geht ..."
"Aus Millemerveilles raus oder da rein geht's auch nicht, habe ich gehört", erwiderte Julius, dem es jetzt leid tat, das ausprobiert zu haben.
"Wer sagt das?" Knurrte Claire zurück.
"Catherine, Professeur Faucon und Madame Hippolyte Latierre", erwiderte Julius entschieden. Claire blickte ihn dann ziemlich verbittert an und antwortete ihm:
"Dann bringt es das doch überhaupt nicht, solange wir beide nicht in Millemerveilles zusammensind." Julius nickte schwerfällig. "Ja, und da brauchen wir es dann auch nicht anzuwenden", fügte sie dann noch hinzu.
"Sagen wir es mal so, praktisch ist es schon, das zu können. Das habe ich bei Mrs. Porter, Catherine und Mademoiselle Béatrice Latierre rrausgekriegt."
"Du meinst, um sich ganz geheime Sachen mitzuteilen, die sonst niemand mitkriegen soll?" Fragte Claire. Julius nickte bestätigend.
"Aber beibringen darf ich dir das echt nicht, weil Professeur Faucon dann total ausflippt oder ich von deinen Eltern Ärger kriege, weil wir ja dann auch ohne daß die das mitkriegen Sachen weitergeben können."
"Dafür haben wir ja die Freundschaftspfeifen", erinnerte Claire sich und Julius an die beiden wie Trillerpfeifen aussehenden Gegenstände, die sie bei sich trugen.
"Ja, mit denen kommen wir beide auch so zurecht. Ich wollte halt nur austesten, ob Melo hier am Strand nicht vielleicht doch geht."
"Melo? Ach so nennen die Amerikaner das", erwiderte Claire und mußte trotz ihrer leichten Verärgerung lächeln. Julius nickte und erwiderte, daß er den Begriff zuerst von Alexis Ross gehört hatte, der Hexe, die in den Staaten zur Liga gegen die dunklen Künste gehörte und später auch von Glorias Verwandten und Brittany Forester. Claire schien diese Auskunft nicht sonderlich zu schmecken. Sie sah ihren Verlobten an und fragte, ob "diese Brittany" nicht vielleicht doch mehr von ihm gewollt habe als einen guten Quodpot-Partner. Julius mußte erst schlucken, dann lachen. Dann ritt ihn sein früheres Frechheitsteufelchen und gab ihm ein zu antworten:
"Claire, Brit ist Veganerin. Die nimmt nicht das kleinste Bißchen Fleisch zu sich. Was hätte die dann also von mir wollen können?"
"Ach, du meinst, an einem bestimmten Punkt hätte es dann nicht mehr weitergehen können, Juju? Wie weit hätte sie denn dann mit dir gehen dürfen?" Unvermittelt umarmte sie ihn und drückte sich an ihn. "So weit vielleicht?" Säuselte sie. Dann suchten ihre Lippen seinen Mund und berührten ihn erst sanft, dann leidenschaftlich. "Oder soweit?" hauchte sie dann. Julius fühlte, wie die in den letzten Wochen etwas abgeebbte Begierde nach körperlicher Nähe wieder stärker wurde. Claire schien ebenfalls davon ergriffen zu werden. Sollte er das jetzt abbrechen? Sie ergriff seine rechte Hand und führte sie gezielt an ihre linke Brust, die er unvermittelt umfasste und gerade so stark hielt, daß er ihr nicht weh tat. "Vielleicht auch noch das?" Fragte Claire, bevor sie ihn an seiner privatesten Stelle anfaßte und fühlte, wie er darauf reagierte. "Oder soweit", hauchte sie immer wollüstiger dreinschauend, bevor sie ihn erneut küßte, was er ohne weiteres erwiderte, bevor er seinerseits daranging, sie mit seinen Händen zu erforschen, ohne daß er sie dafür entkleidete. Der Strand war im Moment menschenleer. Doch in diesem anschwellenden Wohlgefühl wäre es ihnen wohl egal gewesen, wenn sie beobachtet würden oder sofort heftig viele Strafpunkte wegen unsittlichen Betragens kassierten. Sie beide erkannten, daß sie einander wollten, hier und jetzt. Julius griff sacht unter Claires Rock um zu erfahren, wie sie sich darunter anfühlte, als sein Pflegehelferschlüssel vibrierte, und zwar so heftig, daß es die immer leidenschaftlicher werdende Zweisamkeit durchbrach. Julius zog seine Hand zurück und machte ein enttäuschtes und verärgertes Gesicht, während Claire fragte, was denn los sei. Als er das Armband entblößte, knurrte sie nur, daß Madame Rossignol ihn wohl überwachte und ließ von ihm ab, als sei er ihr zu wider geworden.
"Ja, bitte", meldete sich Julius, als er sein Gesicht und seine Stimme in einen gefühlsfreien Zustand versetzen konnte und den weißen Zierstein am Armband berührte:
"Julius, komm bitte zu mir! Am besten bringst du Claire mit."
"Dann muß ich die erst einmal suchen", sagte Julius. Madame Rossignols räumliches Abbild stand so, daß es Claire nicht direkt entgegenblickte, also die Heilerin sie wohl nicht sah.
"Vorsicht, Jungchen. Mach mich nicht böse! Sie steht bestimmt ganz in deiner Nähe, weil du sonst bestimmt nicht gerade so heftig erotisiert reagiert hättest."
"Okay, ich werde sie bitten, mit mir zu Ihnen zu gehen. Worum geht es denn?"
"Das erzähle ich dir und ihr, wenn ihr bei mir seid. Am besten wandschlüpfst du mit ihr zu mir."
"Mache ich", sagte Julius und verabschiedete sich von der Heilerin.
"Erotosiert, Juju? Was heißt das verdammt noch mal?" Knurrte Claire.
"Das Madame Rossignol mitkriegt, wie ich gerade drauf bin. Erotisiert heißt, ich war gerade rollig oder scharf oder wie auch immer, und die hat das gemerkt, so'n Mist."
"Irgendwie war mir auch danach, jetzt doch mehr zu kriegen. Aber wie weit hätte das mit dieser Brittany dann gehen können?"
"Wahrscheinlich hätte ich sie auch nur da anfassen können, wo bei einer erwachsenen Frau die kleinen Kinder rauskommen und hätte dann wohl von ihr gehört, daß ich bloß nicht richtig bei ihr ... Ähm, du weißt schon was."
"Ich fürchte, das hätte nicht gegen ihre Lebensart verstoßen, dich auf diese Weise zu sich zu nehmen, weil sie dich ja nicht hätte essen oder dir das Fell abziehen wollen", erwiderte Claire, der die Unterbrechung ihrer immer heftiger ausufernden Zweisamkeit genauso wenig gefiel wie Julius, bei dem immer noch eine starke Erregung zu erkennen war.
"Weiß ich nicht, ob die das dürfen", erwiderte Julius verächtlich. "Vielleicht dürfen Veganerinnen aber auch nur Gurken, Möhren und Bananen .. Öhm, das ist unverschämt, okay. - Tja, dann müssen wir wohl."
"Wir dürfen dein Wandschlüpfsystem benutzen", sagte Claire und hakte sich rechts von Julius ein. Sie durchquerten das Teleportal, den Torbogen, der wie aus Glas und Licht aussah und suchten die nächstgelegene Verbindungsstelle zum Wandschlüpfsystem auf. Als sie in Madame Rossignols Sprechzimmer ankamen, sah Julius, daß neben Serena Delourdes auch Viviane Eauvive in dem großen Bild stand, das eigentlich die Gründungsmutter des gelben Saales und allererste Heilerin der Beauxbatons-Akademie beherbergte.
"Setzt euch bitte hin!" Sagte Madame Rossignol sehr ernst. Sie nahmen beide Platz und erwarteten eine Strafpredigt. Die Heilerin setzte sich ihnen gegenüber hin und sah sie nacheinander an.
"Ich habe euch beide nicht zu mir zitiert, weil ich mitbekommen habe, daß ihr euch gerade sehr hart an der Grenze der hier geltenden Sittlichkeitsregeln entlangbewegt habt", begann sie, "sondern weil Viviane Eauvive mich aufgesucht hat, um euch beiden eine Warnung zukommen zu lassen. Professeur Faucon wurde von ihr bereits orientiert."
"Was für eine Warnung?" Fragte Julius irritiert und sah Vivianes Bild-Ich an.
"Aurélies Haus ist überfallen worden, Julius und Claire. Golems haben sie angegriffen. Offenbar haben die Morgensternbrüder sehr ungehalten und vor allem sehr schnell reagiert und wohl eine Abteilung ihrer künstlichen Wächter in die Nähe des Hauses gebracht", sagte Viviane sehr betrübt. "Zwar konnte sich Aurélie mit ihrem Schutzartefakt der Ergreifung durch die Golems selbst widersetzen, wurde jedoch von einem betäubenden Dunst bewußtlos gemacht. Ich befürchte, die Bruderschaft wird sie in diesem Zustand gefangennehmen können."
"Verdammt", erwiderte Julius. Madame Rossignol räusperte sich heftig. Dann fragte Claire:
"Wie können die in ihr haus rein, wenn sie gute Schließzauber und einen Apparitionswall errichtet hat?"
"Die Golems haben die Türen eingeschlagen, Claire. Sie konnten Aurélie nicht direkt ergreifen, aber an der Flucht hindern, weil ihr Apparitionswall auch das Disapparieren verhinderte. Ich denke, welche von der Bruderschaft stehen vor der Tür und warten darauf, daß sie hineinkönnen."
"Wenn sie ihr das Artefakt wegnehmen können können die mit ihr alles machen", knurrte Julius. Viviane nickte.
"Das ist zu befürchten, Julius", erwiderte sie. "Wenn sie sie durchsuchen und erkennen, was ihnen deine Festnahme vereitelt hat ..."
"Moment, Madame Odin sagte, sie hätten durch den auf sie zurückgeprallten Angriffszauber die Besinnung verloren", erwiderte Julius.
"Offenbar hat sie sich geirrt", erwiderte Magistra Eauvive. Claire sah die gemalte Version ihrer Urmutter ängstlich an und fragte, ob sie allen Verwandten, die ein Bild von ihr hatten Bescheid gesagt habe. Viviane Eauvive nickte.
"Ich fürchte nur, sie werden zu spät dort eintreffen. Der Apparitionswall, den sie um ihr Haus errichtet hat, verhindert ein rasches Eintreffen. Eben dieser hat ja auch eine erfolgreiche Flucht vereitelt, weil die Angreifer alle Ausgänge besetzt haben, bevor sie stürmten."
"Wie konnten die so schnell genug Golems da hinbringen?" Wunderte sich Julius.
"Das weiß ich nicht", sagte Vivianes Bild-Ich. "Ich weiß nur, daß ihr beide in Gefahr seid. Denn der Überfall gilt euch."
"Die wollen doch nur mich haben", knurrte Julius. Viviane schüttelte den Kopf und entgegnete:
"Sie wissen, daß du mit Claire zusammen bist, daß ihr beiden euch durch einen Zauber einander verbunden habt. Deshalb konntest du ihnen zunächst entkommen. Sie werden also darauf ausgehen, euch beide zu ergreifen, um diese Bindung gewaltsam zu trennen. Haben sie einen von euch, kriegen Sie auch den anderen."
"Sie könnten Madame Odin dazu zwingen, etwas wie den Sanguivocatus-Zauber anzuwenden, wenn die nicht wissen, wo Beauxbatons ist", sagte Julius. Claire sah ihn erschrocken an und dann wieder Vivianes Bild, mit einem Ausdruck, als durchleide sie gerade einen Alptraum, dessen schrecklichste Szene unmittelbar bevorstand.
"Beauxbatons ist gegen Sanguivocatus abgeschirmt", sagte Madame Eauvive beruhigend. "Seit bekannt wurde, daß es ihn gibt und wie er gewirkt wird wurden umfassende Abwehrzauber dagegen aufgerufen. Aber ich fürchte etwas anderes."
"Was denn?" Fragte Julius, während Claire immer noch angsterfüllt auf Vivianes Bild blickte.
"Sie könnten sie einem Zauber unterwerfen, der alle von ihr abstammenden Verwandten betreffen kann. Wer die dunklen Künste bekämpfen will, muß sich auch mit ihnen auskennen, will sagen ..."
"Wer sich wehren will muß auch die Angriffe können", vollendete Julius den Satz mit tiefster Verbitterung. "Das ist ja das, was meine Mutter befürchtet hat, als Professeur Faucon ihr erzählt hat, daß sie mir Nachhilfestunden in Verteidigung gegen die dunklen Künste gibt."
"Dann sind auch meine Mutter und meine Schwestern in Gefahr", erkannte Claire.
"Ja, wohl sehr wahrscheinlich", erwiderte Viviane mit tiefstem Bedauern in Stimme und Gesichtsausdruck. "Dein Verlobter hat ohne es zu wollen in ein uraltes Hornissennest gestochen."
"Toller Vergleich", knurrte Julius, dem diese Erwähnung sofort die Erinnerung an den Angriff der Wespen im Sanderson-Haus ins Bewußtsein hochspülte. Ja, er war wieder irgendwo hineingegangen, hatte sich eine verbotene Treppe hinabbegeben und wußte, daß er gleich angegriffen würde. Das wütende Gebrumm seiner Angreifer wurde immer lauter, und der auf ihn zufliegende Schwarm war bereits überdeutlich zu sehen.
"Wenn die so einen Fluch wirken, dann vergehen die sich gegen ihre Grundprinzipien", warf Serena Delourdes Bild-Ich ein. "Andererseits gelten die Morgensternbrüder als Fanatiker, die zur Bekämpfung ihrer Feinde vor fast nichts zurückschrecken."
"Woher kennen Sie die denn?" Wunderte sich Julius, der einen Moment lang nicht mehr an den wütenden Wespenschwarm dachte, der gerade auf ihn losgehen wollte.
"Die Eauvives sind nicht die einzigen, die Kontakte ins Morgenland besitzen. Meine anderen Versionen bekamen genug Einblick in Art und Vorgehensweise dieser sonst als ehrenwerte Brüder bezeichneten Gemeinschaft."
"Aber was machen wir jetzt?" Fragte Julius, während Claire nun zu weinen begann, was ihm selbst ein Gefühl immer größerer Traurigkeit einflößte, als schütte jemand Quecksilber in sein Herz, Tropfen für Tropfen, das zu einer immer größeren und schwereren Kugel wurde.
"Ich sehe nach, ob Aurélie bereits geholfen wird", sagte Viviane und verschwand nach rechts durch den Bilderrahmen.
"Wenn ich das gewußt hätte hätte ich dieses blöde Tor wirklich Tor sein lassen", knurrte Julius nun von der ihn übermannenden Angst und Verzweiflung sehr aggressiv.
"Es gibt manche Dinge, die dürfen nicht angerührt werden", erwiderte Serena Delourdes Bild-Ich. Madame Rossignol sagte dazu nur:
"Hinterher ist man immer schlauer. Doch nun müssen wir der Sache begegnen, es ein für allemal aus der Welt schaffen."
"So würde Professeur Faucon ...", setzte Julius an, als die von ihm erwähnte in das Sprechzimmer hereinstürmte, gefolgt von Madame Maxime, die sichtlich aufgebracht auf die hier versammelten herabblickte.
"Wieso meinen hier alle, hinter meinem Rücken derartige Aktionen durchzuführen?" Herrschte sie sehr ungehalten Madame Rossignol, Claire und Julius an. Madame Rossignol sprang den beiden sofort bei und sagte, daß bis vor wenigen Minuten alles unter Kontrolle gewesen sei und Julius sich nicht in all zu großer Gefahr befunden habe.
"Nicht in all zu großer Gefahr?!" Schrillte Madame Maxime, bevor sie erkannte, daß das bestimmt durch den ganzen Palast zu hören sein mochte. So zwang sie sich zu einer wesentlich geringeren Lautstärke und verlangte die Errichtung eines Klangkerkers im Sprechzimmer. Als das passierte tauchte Viviane Eauvive keuchend auf.
"Sie haben sie gerade aus dem Haus geholt und tragen sie auf ihrem Flugteppich weg. Mehr konnte ich nicht ergründen."
"Wohin werden sie sie bringen?" Wollte Julius wissen und fing sich dafür von Madame Maxime einen sehr tadelnden Blick ein.
"Wenn sie den Zauber machen wollen, den ich befürchte in ihre geheime Festung. Denn anderswo würden die Überwacher der Zauberei darauf aufmerksam", sagte Serena Delourdes.
"Welcher Zauber soll das sein?" Fauchte die Schulleiterin. Professeur Faucon wurde leichenblaß und seufzte:
"Der Blutrachefluch, Madame Maxime, einer der heimtückischsten und verwerflichsten Flüche, die im Morgenland bekannt sind. Damit können alle gleichgeschlechtlichen Verwandten dessen, der davon getroffen wird innerhalb einer Stunde sterben."
"Scheiße!!" Entfuhr es Julius, ehe ihm klar wurde, daß Madame Maxime das hörte.
"Monsieur Andrews, in meiner Anwesenheit verbitte ich mir sehr entschieden solche und ähnliche Kraftausdrücke. Fünfzig Strafpunkte dafür!" Stieß die an die drei Meter große Direktorin aus. Julius wollte schon ansetzen, daß ihm Strafpunkte jetzt sowas von egal waren, doch Professeur Faucon sah ihn sehr durchdringend an und griff dann in eine Tasche ihres Umhangs. Sie holte das Intrakulum heraus. Julius bekam beinahe Stielaugen, als er die glitzernde Metallscheibe ansah, die mehr oder weniger direkt die Ereignisse dieses Tages ermöglicht hatte.
"Nein, Blanche", sagte Madame Maxime und entriss ihrer Mitarbeiterin das Intrakulum. "Ich verbiete Ihnen und Monsieur Andrews die neuerliche Verwendung dieses Artefaktes. Ich werde es dem Minister zurückgeben, auf daß er es vernichten soll, um eine weitere Gefährdung des Jungen zu verhindern."
"Viviane, ist dieses Tor noch da?" Fragte Julius. Viviane nickte bestätigend.
"Wie schnell ist so'n Flugteppich?" Fragte Julius, während Claire auf ihn den Eindruck machte, als fände das alles hier ohne sie statt. So ähnlich hatte damals Sandrine Dumas geguckt, als Belle und Julius vom Intercorpores-Fluch getroffen worden waren, der eigentlich ihr und Julius gegolten hatte. Er wußte, seine Verlobte hatte Angst um ihre Großmutter, um ihre Mutter und um alle anderen weiblichen Verwandten, von ihren Großtanten mütterlicherseits bis zu ihrer kleinen Schwester Denise. Ja, und um sich selbst mochte sie auch sehr viel Angst haben. Genau das machte Julius so wütend. Er hatte sie und die Dusoleils, die ihm immer nur gutes getan hatten in diese Gefahr hineingezogen, weil er diese wahnwitzige Idee gehabt hatte, gegen Slytherins Galerie anzutreten, weshalb er das Intrakulum bekommen hatte. Jetzt hatte es sich als Zeitbombe entpuppt, die hier und heute explodierte und alle in den Tod reißen würde, die ihm, Julius, soviel Liebe und Zuwendung gegeben hatten. Ihm war danach, wild aufzustampfen und seine ohnmächtige Wut hinauszuschreien. Da fühlte er, wie sein linker Arm nach oben schwang, sachte und behutsam und sich auf Claires herabhängenden linken Arm zubewegte. Ohne es zu wollen legte er seine linke Hand in die Claires und meinte, einen anregenden Schauer durch den Körper jagen zu fülen. Dann spürte er, daß er nicht mehr alleine war. Er und Claire waren irgendwie miteinander verbunden, flüsterten beinahe unhörbar miteinander. Ja, und da war noch jemand, jemand, der warme und beruhigende Worte wisperte, eine andere Frau, deren Stimme Julius von irgendwoher kannte. Er fühlte seine Wut abebben und sich in eine wohlige Geborgenheit wandeln. Dabei wurde Claires körperlose Stimme immer lauter. Auch sie schien von diesem merkwürdigen Stimmungsumschwung ergriffen zu werden und flüsterte:
"Juju, das ist nicht deine Schuld. Du mußt tun, was richtig ist, auch wenn es gefährlich ist", hörte er Claires Worte und empfand eine große Erleichterung. "Geh durch das Bild mit dem Tor und helfe meiner Oma! Ich bin bei dir." Diese Worte wurden immer lauter, immer wirkungsvoller. Er fühlte, daß es seine Pflicht war, hier und jetzt einzugreifen, auch wenn danach nichts mehr sein würde wie es war. Er wollte Claire und ihrer Familie beistehen. Er mußte Claire und ihrer Familie beistehen, weil sie ihn liebte und er dadurch die Kraft hatte, gegen die aus Angst gegen ihn aufgebrachten Magier zu kämpfen, wie auch immer das gehen sollte.
Madame Maxime und Professeur Faucon waren in ein wildes Wortgefecht eingetreten, daß es noch eine Chance gab, den Fluch abzuwehren, wenn Julius in die Festung eindrang. Denn nur er könne sie in so kurzer Zeit finden und betreten. Madame Maxime hielt das Intrakulum in der rechten Hand und redete auf Professeur Faucon ein, daß diese gleich ihren Schreibtisch räumen und den grünen Saal an Professeur Laplace abgeben solle und innerhalb der nächsten Stunde auf Nimmerwiedersehen die Schule verlassen solle. Madame Rossignol sah derweil auf Julius und Claire, die sich an der linken Hand hielten und merkwürdig entrückt anblickten, als träumten sie zusammen einen schönen, wohltuenden Traum. Dann auf einmal löste Julius seine Hand aus der Claires. Mit einer nie gekannten Geschwindigkeit hielt er seinen Zauberstab in der rechten Hand und deutete auf Madame Maxime. Das Intrakulum sprang der Halbriesin aus der Hand und sauste Julius wie von einem Supermagneten angezogen in die freie Hand. Kaum hatte er es sicher, wirbelte er zu Serenas Bild herum, klatschte das Artefakt mit seiner Bildseite auf die Leinwand und stieß es mit dem Zauberstab an. "Per Intraculum transcedo!" Rief er.
"Nein, Sie bleiben hier!" Schrillte Madame Maxime und stieß vor, um den Jungen am Kragen zurückzureißen. Doch da erstrahlte bereits die Lichtspirale aus dem Intrakulum, wuchs um Julius herum, warf Madame Maxime wie von einer elektrisch geladenen Eisenfaust getroffen zurück und stürzte ihn einschrumpfend zusammen, wurde zu einem Leuchtfleck auf der Leinwand, aus dem Julius wie er vor den Sommerferien ausgesehen hatte wiedererstand, jedoch nun so, als sei es nur ein Zaubererbild von ihm, ohne die üblichen räumlichen Formen.
"Bringen sie mich zu dem Tor!" Rief Julius für alle hörbar aus dem Bild heraus. Serena Delourdes machte schon anstalten, ihn zu tadeln. Doch Viviane ergriff Julius und zog ihn wortlos hinter sich her.
"Kommen Sie sofort zurück, Monsieur Andrews! Ich befehle es Ihnen!" Kreischte Madame Maxime in höchster Empörung. Doch Julius hörte nicht darauf. Er verschwand mit Viviane aus dem Bild.
"Er wird Oma Aurélie helfen und uns retten", sagte Claire unerwartet. Sie klang ruhig, ja sehr zuversichtlich.
"So ein renitenter ...", schnaubte Madame Maxime, bevor ihr klar wurde, das alles wütende Gezeter nichts mehr nützte. "Er hat mich glatt ausgetrickst. Mich", stieß sie nun eher verdutzt als verärgert heraus.
"Ich bin mir nicht sicher, Madame, ob wirklich er Sie ausgetrickst hat", sagte Madame Rossignol. Die Schulleiterin sah die Heilerin an und fragte barsch:
"Wie kommen sie darauf, Florence?"
"Claire, was hast du in den letzten Sekunden empfunden, bevor er uns so überschnell verlassen hat?" Fragte die Heilerin das junge Mädchen. Dieses sah sie an und sagte ruhig:
"Da war was wie eine ganz starke Ruhe, etwas, das ich vorher nicht erlebt habe. Er hat mir die Hand gegeben, und da waren wir irgendwie miteinander verbunden, durch die beiden Haarsträhnen, glaube ich. Aber da war noch jemand, die uns sehr beruhigende Worte vorgesprochen hat. Deshalb weiß ich nur, daß Julius keine Angst haben muß und ich auch nicht."
"eine Sie?" Fauchte Madame Maxime. "Wollen Sie jetzt etwa behaupten, eine Göttin oder ähnliches habe zu Ihnen beiden gesprochen?"
"Keine Göttin, Madame, sondern die Kraft Darxandrias", erwiderte Professeur Faucon. Stille trat ein, in der sich alle sehr lange anblickten. Claire schien alle Angst und Anspannung verloren zu haben, Madame Rossignol grübelte darüber nach, ob das wahr sein konnte, was Professeur Faucon vermutete. Madame Maxime wirkte sichtlich irritiert, weil ihr die Lage sprichwörtlich aus den Händen gerissen worden war, und Professeur Faucon erkannte wohl jetzt erst, was sie da gesagt hatte. Sie war es auch, die die Stille wieder beendete und sagte: "Das wollte ich Ihnen gerade genauer erläutern, Madame Maxime, als die Abbildung von Magistra Eauvive uns aufsuchte und über die Wendung der Ereignisse aufklärte. Julius hat durch das Tragen der Kettenhaube Darxandrias Fragmente ihres Wissens, womöglich sogar Charaktereindrücke von ihr erhalten, weil er bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllte, über die wir uns alle nicht im Klaren waren, bis er heute das Geheimnis von Gregorians Bild aufdeckte und mit meinem Segen nachforschte, was sich dahinter verbergen mochte. Ja, ich werde die daraus folgenden Konsequenzen ziehen und meine Anstellung hier aufgeben, wenn Sie dies wirklich wollen, Madame Maxime. Doch vorher möchte ich Ihnen gerne erläutern, was genau mit Julius passiert ist und warum die Familie Dusoleil und alle die zu Madame Odins Familie gehören nun in akuter Gefahr schweben und ich daher die erneute Benutzung des Intrakulums veranlassen wollte ..." Madame Maxime schnaubte zwar sehr ungehalten. Doch dann setzte sie sich auf drei der Besucherstühle, während Claire und Madame Rossignol sich in den hinteren Teil des Sprechzimmers zurückzogen und auf einer von der Heilerin heraufbeschworenen Couch platznahmen. Die unterhaltung der Schulleiterin mit ihrer wohl bald entlassenen Mitarbeiterin verlief unterschiedlich laut. Während Professeur Faucon sich um einen gesitteten Tonfall bemühte, erging sich Madame Maxime immer wieder in laute Ausrufe, wie unverantwortlich sie gehandelt habe und daß sie froh sein könne, wenn sie nur aus den Diensten der Akademie entlassen würde und nicht nach Tourresulatant käme. Claire schwieg derweil. Sie schien in sich hineinzuhorchen, als könne sie hören, was mit ihrem so geliebten Verlobten passierte.
__________
Julius eilte hinter Viviane durch die Bilder der Korridore, die nicht oder sehr selten von Schülern und Lehrern betreten wurden. Sie gelangten vor Gregorians Bild, das immer noch das gigantische Portal zeigte. Hier ließ sie ihn zurück, weil bereits die Torwachen auf den Spitzen der zwölf Meter hoch erscheinenden Säulen Aufstellung genommen hatten und jene merkwürdigen Waffen auf sie richteten, die gleißende Strahlen aus Licht und Hitze verschießen konnten. Julius rief den Torwächtern "Jaxallahhiri!" zu, worauf der ganz in Gold gepanzerte Wächter erstaunt auf ihn herabblickte und dann herunterkam. Wieder öffnete sich eines der sieben Tore und ließ Julius hindurchtreten. Er machte sich keine Gedanken darum, sich gerade auszuliefern. Der Wunsch zu helfen, sowie eine von ihm selten empfundene Entschlossenheit überdeckten jeden Eindruck, erneut in eine Falle zu treten. Auch als der Wächter ihn sehr unsanft packte und von den Beinen riss, fühlte er sich weder hilflos noch in unmittelbarer Gefahr. Im Sturmschritt jagte der hünenhafte Wächter mit klirrender Rüstung durch die Straßen der so fremdartigen Stadt, von der Julius sich sicher war, daß sie nicht nur in der Bilderwelt existierte und sich nicht ganz sicher war, ob er wirklich nicht wußte, wie sie hieß. Wieder bei dem meilenhohen Turm, der bestimmt mehr zu bedeuten hatte als nur sehr hoch zu sein trat der Wächter erneut in den Verbindungstunnel zwischen zwei weit entfernten Bildern. Ruppig warf er ihn ohne Worte auf den grünlich-blauen Boden und sprang sofort in den Tunnel zurück.
"Dem hat es wohl nicht gepaßt, daß ich irgendwie an ihm vorbei nach Beauxbatons zurückgekommen bin", dachte Julius. Er wollte gerade ansetzen, aus der gemalten in die wirkliche Welt zurückzutreten, als eine Stimme in seinem Kopf laut: "Warte noch!" Rief. Das war Darxandrias Stimme. Er hatte also wirklich ihre Seele oder einen beträchtlichen Anteil davon in sich, erkannte er, und diese Erkenntnis ängstigte ihn nicht. Im Gegenteil: Er empfand eine unglaubliche Zuversicht, mit ihrer Hilfe gegen die von Angst zu bösen Taten getriebenen Magier bestehen zu können. Er war besessen, jedoch nicht von einem Dämon aus der Hölle, sondern eher sowas wie der Seele eines Engels, einer Königin des Himmelreiches, die weder Angst noch Wut in ihm aufkommen ließ, sondern ihn in einer Empfindung der Geborgenheit hielt wie eine Mutter ihr Kind in den Armen oder es sicher und in Vorfreude in ihrem Schoß trug, ihm zeigend, daß er in der Welt, in die er hinausmußte, nicht allein sein würde. Doch warum verstand er Darxandrias Worte nun?
"Claire und du haben durch euren Pakt der Liebe die Mauern niedergerissen, die die Zeit zwischen meiner und deiner Sprache errichtet hat", kam ihm ein Gedanke, der ganz und gar nicht seiner war.
"Du bist Darxandria. Bist du jetzt ganz in mir drin oder was?" Fragte Julius in Gedanken zurück.
"Ich bin ihr Bild aus Gedanken und Empfindungen, das Spiegelbild ihres wahren Seins, und ich wohne dir inne, solange du mich brauchst, um als Träger meines Siegels gegen Feinde bestehen zu müssen, die dich und alle, die dich lieben vernichten wollen, weil sie für meinen Erzfeind Iaxathan eintreten oder meinen, dein Tod würde ihn Ihnen vom Leibe halten. Ich werde dich leiten, in dieser alten Festung zu bestehen, um der Muttermutter deiner Gefährtin beizustehen, sie zu erretten und den einst erleuchteten das erloschene Licht zurückzugeben, damit sie erkennen, daß du nicht ihr Feind bist und sie nicht deine Feinde sind. Ich werde dich nicht behelligen oder in dein Denken oder Fühlen hineinwirken, solange keine Dinge geschehen, gegen die ich einst ankämpfen mußte. Dies sei dir jetzt schon versprochen", antwortete Darxandrias Gedankenstimme. Er fühlte, daß er dieser Persönlichkeit unbedingt vertrauen konnte. Denn jede Schwingung ihrer Gedanken trug Wärme und Aufrichtigkeit und verstärkte seine Zuversicht, nicht allein und hilflos zu sein.
"Wann soll ich diese Welt verlassen und in die Festung gehen?" Fragte Julius.
"Wenn du ferne Schritte und Stimmen vernimmst. Ich helfe dir, dein Gehör zu erweitern, auf daß du sofort erfahren kannst, wenn die von ihrer Angst vergifteten mit ihrer Gefangenen eintreffen."
Unvermittelt meinte Julius, ein fernes Wispern und Windrauschen zu hören. Das Wispern wurde lauter und erschien Julius nun wie ein vielstimmiges und von allen Seiten zu ihm dringendes Gewirr aus arabischen Wörtern. Er dachte eine Frage an Darxandria, ob sie machen könne, daß er die Sprache verstehe. Doch sie bedauerte, daß er nur ihre Sprache erlernen konnte, weil er ihr Erbe angenommen habe und die Liebe zwischen ihm und Claire ihn für sie empfänglich gemacht habe. Julius dachte daran, wie kurz er und Claire davorgestanden hatten, sich nicht nur seelisch zu lieben. Darxandria bekam das natürlich mit und erwiderte:
"Es ist nichts verwerfliches oder schmutziges dabei, sich durch die Vereinigung der Körper einander zu offenbaren. Mein wahres Selbst hatte nie Schwierigkeiten damit, mit jenen Männern und Frauen auch körperlich zu verschmelzen, deren Liebe sie mit ihr verband. Das was ihr Sexualität oder kurz Sex nennt ist nichts böses, solange es zwischen denen stattfindet, die einander wollen und annehmen und es nicht als Mittel der Unterdrückung und Gewalt benutzen. Das Leben an sich ist das größte aller Wunder, Urquell des Geistes, dessen Sein die Kraft erhält, die ihr heute Magie nennt und die alles durchdringt und allem entströmt und doch für so wenige Auserwählte zu spüren und zu nutzen ist. Somit ist alles, was das Leben zeugt und erhält ein Teil der Urkraft des guten, auch wenn es Wesen gibt, die sie in verwerflicher Art vergiften und damit andere vergiften, wie es meine unrechtmäßig entstandene Nachfahrin Hallitti als Lebensquelle benutzt hat. Das du und Claire euch nicht nur mit der Seele sondern auch mit dem Leib lieben wolltet, ist nichts, wofür du dich schämen oder um Vergebung bitten mußt, auch wenn andere dir das einzureden versuchen."
"Dann hättest du es zugelassen, wenn ich mit Claire ..."
"Wenn du von ihr in ihren Schoß eingelassen worden wärest? Ja, hätte ich, weil es zum Wesen der lebendigen Dinge gehört, die zu bewahren mein wahres Selbst einst angetreten ist."
"Hallitti war deine Nachfahrin?" Fragte Julius nun sehr verunsichert.
"Mehr als hundert Generationen nach mir und meinen Kindern, Julius. Ich fürchte, Lahilliota hat doch etwas von Iaxathans verderblichen Gedanken übernommen, während ihre Schwester Ashtaria meinem Pfad folgte und ihr Fortbestehen aus wahrer Liebe und wahrer Wonne sicherte."
Moment, da höre ich Mehdi", dachte Julius, als er eine ängstliche Stimme hörte, die arabisch mit Akzent sprach. Das war Mehdi Isfahani.
"Wenn sie ihn haben, dann ist Madame Odin nicht weit weg", dachte Julius. Doch es vergingen mehr als dreißig Minuten, bis er ihre Stimme hörte. Sie sprach Arabisch. Er brauchte Darxandiras Gedankenstimme nicht zu hören, um zu wissen, daß er jetzt aus der Bilderwelt hinaustreten mußte. Schlagartig ließ das erweiterte Hörvermögen nach. Offenbar wollte die in Julius wohnende Seele oder deren Abbild haben, daß er sich nicht von zu vielen Stimmen verwirren ließ. Er rief den Austrittszauber auf, landete federnd auf dem Boden und lief direkt in das Säulenfünfeck hinein, das ihn nach oben trug. Ihm war klar, daß sein Eintreffen weitergemeldet wurde. Deshalb war Geschwindigkeit nun das allerwichtigste.
Als er im totaler Finsternis landete konzentrierte er sich darauf, wo die nur im Dunkeln zu öffnende Tür zu finden war und machte drei Schritte in die Richtung. Ja, da war sie. Er ertastete die Klinke und stieß sie nach unten. Laut quietschend ging die Tür auf. Julius schlüpfte hinaus. Da hörte er schon aus der Ferne die näherkommenden Golems. Ja, die Jagd auf ihn war im vollen Gange.
"Wie finde ich Aurélie Odin?" Fragte er sich oder Darxandria. Zur Antwort hob er seinen linken Arm und berührte mit dem zauberstab die Haarsträhne Claires. Dann dachte er so stark, daß er es unwillkürlich aussprach:
"Gaschargalio Alshiadui Marhitumarhi!" Sein Zauberstab erzitterte, löste sich aus seiner Hand und drehte sich sowohl um eine waagerechte und eine senkrechte Achse. Gleichzeitig fühlte er, wie Claires Haarsträhne sich erwärmte. Ohne es genau zu erfahren wußte er, daß er der Zauberstabausrichtung folgen mußte, um Madame Odin zu finden. Als er sah, wie der Stab nach links schräg oben deutete, ergriff er ihn wieder und lief los. Hinter sich hörte er bereits die Schritte der ihn ansteuernden Golems.
"Feuerwand!" Schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, als er unmittelbar hinter sich die lauten Schritte zweier Golems hörte. Er wirbelte herum und rief: "Flammurus Altus!" Laut fauchend baute sich zwischen ihm und den heranstampfenden Golems eine mehr als drei Meter hohe Wand aus Zauberfeuer auf. Er wartete nicht ab, wie sie die Verfolger beeindruckte, sondern eilte weiter in die Richtung, die er für die richtige hielt. Hinter sich hörte er wütendes Gebrüll und lautes Zischen und Prasseln. Offenbar versuchten die Golems durch die Feuerwand zu brechen. Innerlich aufatmend hörte er, daß sie es wohl nicht schafften. Dann hörte er einen lauten Schrei, der seine Entschlossenheit und seinen Mut erschütterte. Es war der Schmerzensschrei von Aurélie Odin. Im selben Moment fühlte er etwas wie tausend Nadelstiche durch seinen linken Ringfinger gehen. Das was er eigentlich verhindern wollte geschah nun doch.
__________
Camille Dusoleil unterhielt sich mit Jeanne, die auf eine Kaffeestunde herübergekommen war. Denise war gerade mit Florymont und Uranie in Lyon bei ihrem Bruder Emil. Das war möglich, weil Cassiopeia für einen Tag nach Übersee gereist war. Anfangs hatte sie zwar gemeint, sie wollten mit der Familie nichts zu tun haben. Doch Emil war und blieb ihr Bruder, auch wenn er eine total verrückte und eingebildete Hexe geheiratet hatte, und Argon und Melanie konnten ja nichts dafür, von dieser dummen Schnäpfe ausgebrütet worden zu sein.
"Und du bist nicht in diesen Club der Sommerwonne eingetreten, Maman?" Fragte Jeanne belustigt.
"Um zusammen mit Hippolyte, Barbara und Raphaelle ein gemeinsames Entbindungsheim aufzumachen?" Erwiderte Ihre Mutter belustigt. "Nicht daß du denkst, dein Vater und ich hätten die Lust aufeinander verloren. Aber was immer uns erwischt hat, ich war gerade zwei Tage nach der Blutung. Ist wohl möglich, daß die Latierres und Montferres alle gleichgetaktet waren und deshalb so viele neue Kinder unterwegs sind."
"Ja, Madame Brickston hat's auch erwischt, hat Claire geschrieben."
"Stimmt, sie gehört wohl auch zu den glücklichen Frauen, die noch einmal wen neues zur Welt bringen dürfen", erwiderte Camille Dusoleil lächelnd. "Aber keine Sorge, Jeanne. Wenn dein Vater und ich das wollen, kriegst du auch noch ein ganz kleines Geschwisterchen."
"Nicht bevor dein erstes Enkelkind da ist", erwiderte Jeanne und strich sich tiefgründig lächelnd über den Bauch. Camille sah ihre älteste Tochter an und strahlte dann.
"Oh, seit wann, Jeanne?"
"Madame Matine sagte was von der fünften Woche. Na ja, Bruno und ich haben ja auch hart dran gearbeitet", erwiderte Jeanne nun ebenfalls strahlend.
"Weiß er das schon?" Fragte Jeannes Mutter.
"Erzähle ich ihm morgen beim Frühstück. Wird ihn freuen, wenn er dann Urlaub von den ehelichen Pflichten nehmen kann."
"Na, Jeanne, dein Vater und ich haben uns aber noch sehr häufig zusammengefügt, als du bereits in mir herumgeturnt hast. Andererseits hat Madame Matine mich dafür auch immer angefaucht, ich sollte jetzt erst einmal aufpassen, daß du anständig zur Welt kommst."
"Ich weiß, ich habe das gehört", sagte Jeanne verschmitzt grinsend. "Deshalb werden Bruno und ich uns wohl zurücknehmen, bevor unser Kleines anfängt, mich zu treten. Ein bißchen Angst habe ich schon, obwohl oder weil ich jja weiß, wie das abläuft."
"Die hat jede junge Mutter, Jeanne. Ich hatte auch Angst, als Denise unterwegs war. Das ist immer wieder anders. Aber ich bin ja da, wenn du was hast und habe immer noch genug Heilkräuter, um dir irgendwelche Unannehmlichkeiten zu ersparen."
"So wie sich das in Claires letztem Brief las könnte die auch auf die Idee kommen, bald was Kleines haben zu wollen. Habe mich echt gewundert, daß Julius sich von ihr hat verpflichten lassen."
"Na, Jeanne, das war doch wohl ein Ding auf Gegenseitigkeit. Er wollte es halt noch nicht wahrhaben, daß Claire und er ..."
"Camille, Florymont!" Rief etwas aus dem Haus. Doch da war im Moment niemand. Jeanne und ihre Mutter sahen sich erschrocken und dann verwirrt an. Dann meinte Madame Camille Dusoleil:
"Das ist Viviane Eauvive. Die spielt wohl Botin für jemanden. Mal sehen was sie will." Sie stand vom Tisch im Garten auf. Die goldene Oktobersonne schien warm vom Himmel und gönnte den Bewohnern Millemerveilles noch schöne Nachmittage im Freien.
Jeanne folgte ihrer Mutter ins Haus, der immer aufgeregter rufenden Stimme folgend. Sie kam aus dem Schlafzimmer der Dusoleils, wo ein Bild der Beauxbatons-Gründungsmutter an der Wand hing.
"Camille, ah, Jeanne, du auch! Gut. Wo sind Florymont und Denise?"
"Bei Emil und Melanie", sagte Camille Dusoleil. Ihr machte es Angst, wie aufgeregt Viviane Eauvive wirkte.
"Ihr seid alle in großer Gefahr, die direkt von Aurèlie und ihrem Familienzweig abstammt. Sie wurde von arabischen Magiern angegriffen, die sie wohl des Verrats an ihrer Sache beschuldigen. Es könnte sein, daß sie an ihr den Fluch der Blutrache wirken wollen."
"Den was?" Stieß Camille kreidebleich aus. Sie war sehr hart im Nehmen, konnte vieles durch ihre fröhliche, einfühlsame Art abfedern. Doch diese Neuigkeit schockierte sie.
"Ein uralter Fluch, der alle in direkter Linie mit jemandem verwandten des gleichen Geschlechtes innerhalb einer Stunde tötet. Ich fürchte, sie wird gerade an einen Ort gebracht, wo sie nicht gefunden werden kann."
"Erzähl, was los ist und warum die Oma Aurélie entführt haben!" Verlangte Jeanne, die nun, wo ihre Mutter sichtlich erschüttert war das Wort ergriff. So erfuhren sie beide, was an diesem Tag passiert war, auch daß Julius wegen einer anderen Gefahr im Mai in allergeheimstem Auftrag des Zaubereiministers ein Intrakulum bekommen hatte und damit wohl den Brüdern des blauen Morgensterns einen Besuch abstatten konnte.
"Der macht echt Sachen", knurte Jeanne. "Da hätte Professeur Faucon den besser ein Baby bleiben lassen."
"Jeanne", stieß Camille aus und fühlte Tränen über ihre Wangen rinnen.
"Noch könnt ihr was dagegen machen. Ich alarmiere alle meine Nachfahren, sie möchten ihr helfen. Es müssen schon die dorthin, die sich in der Abwehr dunkler Zauber gut auskennen. Ihr geht sofort zu Madame Matine und stellt euch unter deren Obhut!"
"Moment, ich soll mir von einem Bild einen Befehl geben lassen?" Fragte Jeanne in einem Anflug von Entrüstung. Dann nickte sie. Vivianes Bild stand gleichbedeutend für den Zusammenhalt der Eauvive-Familie. Wer es hatte, gehörte dazu und hatte sich dem zu fügen, was die ganze Familie betraf, sobald sie alle einander vorgestellt worden waren. So nickte sie ihrer Mutter zu und rüttelte sie, weil sie immer noch sehr geschockt dastand.
"Maman, wir müssen zu Hera Matine, für den Fall, daß uns dieser Fluch treffen wird. Ich will nicht sterben. Ich will auch nicht, daß du stirbst oder Claire oder Denise." Sie zog ihre Mutter hinter sich her, hinaus aus dem Haus, wo sie mit ihr disapparierte, um zu Madame Matine überzuwechseln.
Die Heilerin hörte sich Jeannes Bericht an. Die jüngere Madame Dusoleil vermied es jedoch, Julius und was er mit der Sache zu tun hatte zu erwähnen. Hera Matine nickte.
"Das war zu befürchten, daß einige chauvinistische Magier ihr einmal Ärger machen. Aber daß es gleich euch anderen auch noch treffen soll", sagte die Heilerin sehr mißmutig. "Ich kenne diesen Fluch nicht. Aber ich werde jemanden herzitieren, der ihn kennt. Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät."
"Danke, Madame und ..."
Madame Antoinette Eauvive apparierte zusammen mit einem älteren Kollegen aus dem Delourdes-Krankenhaus.
"Es ist bedauerlich, daß wir nicht sofort bei euch apparieren können, aber so ging es auch", sagte Madame Eauvive.
"Denise und Melanie sind in Gefahr", sagte Camille Dusoleil.
"Ja, ich weiß und noch einige Hexen mehr", erwiderte Antoinette Eauvive. "Mein Kollege hier wird euch jetzt in den Schlaf der Todesnähe versenken. Er sagte mir, daß sei die einzige Möglichkeit, euch vor den Auswirkungen des Fluches zu schützen, bis diejenige, gegen die er primär ausgesprochen wird gerettet wird ... oder jede Hilfe zu spät kommt. Dieser Schlaf muß einen vollen Tag andauern, um jede Nachwirkung zu verhüten."
"Dann machen Sie das auch mit Claire, Denise und den anderen?" Fragte Camille Dusoleil.
"Ich werde mich beeilen. Aber der Zauber an sich dauert zwei Minuten pro Person und ist sehr anstrengend. Außer zwei Kollegen von mir kann nur ich den bei uns. Ich hoffe, wir können dem Fluch noch entgegenwirken."
"Dann fangen Sie an, Lazarus!" Befahl Madame Eauvive.
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Claire fühlte, wie Julius irgendwo da draußen war. Die Verbindung, die zwischen ihm und ihr verstärkt worden war, durch diese unbekannte, diese fremde Seele in ihm, wohl diese Darxandria, hatte sie beide noch enger zusammengeführt als es körperlich je möglich wäre. Sie fühlte diese Sicherheit, diese Zuversicht und die Geborgenheit, in der Julius und sie nun verbunden waren. Sie saß ruhig auf der Couch und berichtete Madame Rossignol, was sie vor Julius Abreise empfunden hatte. Madame Maxime hatte sich derweil etwas beruhigt. Offenbar war sie zu der Überzeugung gekommen, im Moment nicht mehr ausrichten zu können. Sie sagte nur:
"Sie kehren in Ihr büro zurück, Professeur Faucon. Die Entlassung ist bis auf weiteres aufgeschoben, bis wir wissen, ob die gegenwärtige Krise ein gutes oder schlechtes Ende genommen hat. Bei einem guten Ende können wir gerne darüber diskutieren, inwieweit Sie im Punkte Subordination oder Insubordination als Vorbild unserer Schüler dienen. Bei einem schlechten Ausgang erwarte ich von Ihnen einen freiwilligen Rücktritt innerhalb einer Stunde nach Eintreten eines solchen Endergebnisses. Mademoiselle Dusoleil bleibt hier, für den Fall, daß dieser verheerende Fluch tatsächlich aufgerufen wird! Ich hoffe, dieser Bursche, der mit Ihnen verlobt ist, Mademoiselle kann sich und Sie vor schlimmerem bewahren." Dann verließ die Schulleiterin das Sprechzimmer der Heilerin, wodurch der Klangkerker aufgehoben wurde.
"Ich werde Claire am besten mit dem Conservacorpus-Zauber belegen", sagte Madame Rossignol zu Professeur Faucon. "Womöglich wehrt der den Fluch ab."
"Ich fürchte, das wird nicht klappen, weil dieser Zauber, soweit ich weiß, nur gegen die Auswirkung schwerer Vergiftungen und Verletzungen schützt", erwiderte die Lehrerin. "Sie müßten schon den Bann des todesnahen Schlafes wirken. Aber der ist sehr schwierig und riskant. Dabei könnte Claire wirklich sterben."
"Ja, und können Sie diesen Bann?" Fragte Madame Rossignol.
"Ja, kann ich", sagte Professeur Faucon. Sie holte ihren Zauberstab hervor. Dann stutzte sie. Claire wirkte so ruhig, als sei die Situation alles andere als gefährlich. Sie sah die Lehrerin an und sagte ganz ruhig:
"Nein, bitte belegen Sie mich nicht mit einem Schlafzauber oder sowas! Julius und ich sind durch Darxandria miteinander verbunden. Wenn ich einschlafe oder in tiefe Bewußtlosigkeit versetzt werde, bricht die Verbindung ab und er kann meiner Oma nicht helfen."
"Claire, ich möchte nicht, daß dir was passiert", sagte die Lehrerin, nun auf die übliche Anrede zwischen Lehrerin und Schülerin verzichtend.
"Aber er braucht mich, Professeur Faucon. Ich helfe ihm dadurch, daß ich bei ihm bin, auch wenn ich gerade hier bei Ihnen bin. Wahrscheinlich wird er noch warten, bis sie Oma Aurélie in seine Nähe gebracht haben."
"Woher will er das wissen, wenn er in dieser Festung ist und womöglich gegen Golems oder die Magier dort kämpfen muß?" Fragte Professeur Faucon.
"Ich weiß es, daß er im Moment nicht kämpft", sagte Claire.
"Blanche, am besten gehen Sie in Ihr Sprechzimmer", sagte Madame Rossignol entschlossen. "Was immer Claire in dieser Weise berührt hat könnte durch einen Eingriff von außen fatale Folgen haben. Ich lernte in der Ausbildung, daß sympathetische oder vollempathische Verbindungen eine Stärkung der beiden damit vereinten Hexen oder Zauberer bewirken kann. Ich rufe sie über Serena oder Viviane, sofern ich Sie hier bei mir benötige."
"Ich trage die Verantwortung für das Leben von Julius Andrews und Claire Dusoleil, Madame Rossignol", wies Professeur Faucon die Bitte zurück. Doch Madame Rossignol stand kerzengerade und zu allem entschlossen vor ihr und sagte:
"Für die Gesundheit, also im extremsten Fall auch das Leben aller Schüler bin ich hier verantwortlich, Professeur Faucon. Die Kompetenzen sind klar definiert. Sie sind für Bildung und Werteordnung zuständig, ich für Leib und Leben, ja und für alles, was an Verhaltensrichtlinien zum Schutze dieser Sachen nötig ist. Also bitte!"
"Sollte ich in den nächsten drei Stunden nicht aus dem einen oder anderen Grund gehalten sein, meine Anstellung hier aufzugeben, werde ich mich mit Ihnen noch einmal sehr gründlich über Kompetenzen und Kompetenzanmaßungen unterhalten", schnaubte Professeur Faucon und verließ den Krankenflügel.
"Sie hat mehr Angst um Julius und mich als um die Arbeit hier", sagte Claire leise. Madame Rossignol nickte.
"Sie hat Julius adoptiert, das steht für mich jetzt fest. Sie gibt sich die größte Schuld daran, daß ihr beide in diese Lage geraten seid. Andererseits hätte niemand diese grünen Würmer aufgehalten, wären wir heute wohl alle schon von diesem Wahnsinnigen unterjocht worden, der diese Bilder hat aufhängen lassen. Egal was passiert, Claire, dein Verlobter war niemals lebensmüde oder geltungssüchtig."
"Das weiß ich, Madame Rossignol. Deshalb liebe ich ihn ja auch, weil er sich nicht von seinen besonderen Kräften hat verdrehen lassen. Aber sollte mir was passieren, und Julius kommt zurück, sagen Sie ihm bitte, ich möchte nicht, daß er meinetwegen traurig bleibt. Ich warte hier auf ihn. Geht das nicht, möchte er bitte nicht wegen mir auf alles verzichten."
"Mädchen, du redest, als hättest du Gift geschluckt und wartest darauf, daß es wirkt", knurrte die Heilerin. "Keiner von uns beiden weiß, was ihm gerade passiert. Ich hoffe, wir alle können uns bald wiedersehen. Also rede bitte nicht übers Sterben oder nicht mehr hier sein!"
"Macht Ihnen das Angst, Madame Rossignol? Das wollte ich nicht, tut mir leid", erwiderte Claire reumütig. Die Heilerin nickte ihr zu und sagte dann ganz ruhig:
"Wenn du sagst, du bist bei ihm, dann spürt er das genauso wie du ihn. Das hilft ihm, egal wo er ist."
Sie schwiegen mehr als zwanzig Minuten. Plötzlich krümmte sich Claire vor Schmerzen zusammen und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ihr Atem ging immer schneller. Sie zuckte unter immer wiederkehrenden Krämpfen, wie die Heilerin sie nur von Cruciatus-Opfern oder niederkommenden Frauen kannte. Sie hob schon den Zauberstab, um Claire mit einem Schlafzauber zu belegen. Doch Claire sah sie mit wild flatternden Augen an und keuchte:
"Nein, Madame. Nicht Schlafzaubern oder sowas. Juju ist auf dem Weg und .... Aaaaaah!!" Der Rest des Satzes ging in einem weiteren schrillen Schrei verloren. Die Heilerin stand da, bereit, den Zauberstab zu gebrauchen, sobald Claire eine erneute Schmerzattacke erlitt. Da vermeinte sie, über Claires schmerzvollem Gesicht wie aus Nebel andere Gesichtszüge zu sehen, die von Julius Andrews. Es stimmte also, irgendwie, auf eine selbst für die langjährig erfahrene Heilerin unverständliche Weise, waren die beiden miteinander verbunden. Wenn sie jetzt eingriff, würde sie Julius genauso schaden, wie sie Claire helfen wollte. Und dann, so erkannte sie, würde sie Claire Dusoleil den schlechtesten Dienst leisten, den ein magischer Heiler einem Patienten leisten konnte, fahrlässige Tötung. Resignierend steckte sie ihren Zauberstab wieder fort. Da sprach Claire frei von Schmerzen. Doch Madame Rossignol hatte solche Worte noch nie zuvor gehört.
"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan miri!"