Die Schmerzen in seiner linken Hand wurden immer schlimmer. Sie jagten seinen Arm hinauf, stießen durch seine Schulter in seinen Kopf hinein wie mit glühenden Messerklingen. Doch er mußte weiter, dorthin, wo Aurélie Odin gerade laut aufgeschrien hatte. Er mußte zu ihr, ihr helfen.
Ein Golem polterte von rechts heran. Zumindest waren diese Steinmonster nicht in der Lage, sich anzuschleichen, beruhigte sich Julius. Doch wo sollte er nun langlaufen? Von rechts kam der Golem, und nach links gab es keine Abzweigung. Zumindest wollte er das aus magisch belebtem Erdreich und Gestein bestehende Ungetüm nicht an sich heranlassen. So ließ er eine weitere Feuerwand genau vor der Tür auflodern, durch die der Golem ... gerade hereinbrach.
Ein weiterer Schrei Madame Odins ertönte. Julius sprang vor und suchte fieberhaft nach einen Durchgang. Nun schmerzte seine ganze linke Seite. Im Gewitter der Schmerzen meinte er zu halluzinieren. Denn er glaubte, eine weibliche Brust wölbe sich über seinem linken Lungenflügel. Das konnte nicht stimmen. Das mußte eine Sinnestäuschung sein! Vielleicht kam sie daher, daß er vorhin mit Darxandria gesprochen hatte oder daß er wußte, daß Claire und er miteinander verbunden waren. unvermittelt durchpulste ihn ein neuer Gedanke, der die wilden Schmerzen in seiner linken Körperhälfte überlagerte.
"Sie hat ihren Heilsstern nicht mehr bei sich. Finde den zuerst, sonst ist alles andere sinnlos!"
"Wie soll ich den suchen?" Fragte Julius in Gedanken.
"wirke folgendes und wiederhole dann eine Formel, die ich dir sage. Von dieser weiß ich, daß meine Nachfahrin Ashtaria und ihre Kinder und Kindeskinder sie als Quelle ihres guten Wesens, ihrer Liebe und Freude am Leben benutzt haben. Denn es ist meine Botschaft, die ich durch die Zeiten gesandt habe", erwiderte das ihm gerade innewohnende Teil-Ich Darxandrias. Julius horchte, fühlte im Moment weder Schmerz noch Angst. Als er fünfmal die beiden wichtigen Formeln gehört hatte, sprach er die erste: "Ajandahirmas Yoanavari gaharda Amashi!" Er sprach sie mit nach oben weisendem Zauberstab drei Mal. Dann fühlte er, wie er all sein Gewicht verlor. Es war ihm, als werde er durchsichtig wie Glas, dabei immer heller, bis er in einem merkwürdig bläulichen Weiß erstrahlte. Irgendwie kam ihm dieser Zustand bekannt vor. Ja, so hatte es sich angefühlt, als Marie Laveau ihn aus seinem Körper gelöst und als Geist in die Höhle unter ihrem Grab gezogen hatte. Denn nichts anderes hieß die Formel, die Julius gerade ausgesprochen hatte:
"Mein Körper sei befreit, von Schmerz und aller Stofflichkeit."
In der selbst erwählten Geisterform drang er nun per Gedankenkraft durch eine massive Wand vor sich. Dann sprach er mit merkwürdig schwebender Stimme die nächste Formel aus, welche ihn direkt zum Heilsstern Aurélies führen sollte:
"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!" Die uralte Sprache wirkte selbst schon wie eine Zauberformel, fand Julius. Denn ihr Klang hallte weit durch die Halle, in der er gerade schwebte. Er fühlte keine Schmerzen, und je öfter er die fremdartige Formel wiederholte, die Darxandria ihm in Gedanken souflierte, desto sicherer war er, daß sie stimmte. Denn sie lautete Reimgetreu:
"Aus Liebe geboren,
der Liebe und dem Heil verschworen.
Wenn aus Liebe gegeben
erhältst du Schutz und Leben."
Er fühlte etwas wie einen sanften Sog, der ihn ergriff, je öfter er die Formel sprach stärker werdend. Keine Wand, keine verschlossene Tür und auch keine massiven Böden und Decken hielten ihn zurück, als er mit zunehmender Geschwindigkeit durch ein unterirdisches Labyrinth raste. Er? Als Julius sich einen Moment Zeit nahm, seinen freiwillig angenommenen Geisterkörper anzusehen, war es nicht mehr er, sondern die geisterhafte Erscheinung Claire Dusoleils. Zumindest erkannte er das an den ihn umfließenden dunklen Haaren, die leicht gewellt waren, dem Körperbau und der durchsichtigen Erscheinung der Kleidung, die ein jeder Farbe beraubtes Beauxbatons-Schulmädchenkostüm sein mochte. Dennoch irritierte ihn dieser Eindruck nicht. Eher nahm er ihn als etwas erwartetes hin. Je weiter er durch die unterirdischen Gewölbe brauste, desto sicherer war er, daß die von ihm beschworene Kraft der Liebe ihn direkt an den richtigen Ort brachte. Als er so schnell dahinraste, daß er keine Einzelheiten mehr unterscheiden konnte, war ein golden-blauer Lichtstrahl von vorne das einzige, worauf er sich konzentrieren konnte. Ja, dieser Strahl, Leit- und Zugstrahl zugleich, holte ihn an den Ort, wo der Heilsstern aufbewahrt wurde.
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Yassin Iben Sina sah mit großem Bedauern auf den zuckenden Leib seiner Gefangenen, Aurélie Odin. Sie hatten ihr Gesicht wieder verschleiert, weil sie einerseits den Anblick einer Frau nicht erdulden wollten und sich zweitens nicht am Schmerz dieser Frau ergötzen wollten. Doch ihre Schreie waren überlaut.
"Hat der Verräter alles gestanden?" Fragte er seinen Begleiter Ibrahim. Dieser nickte.
"Lasst ihn auf dem Stuhl sitzen, bis die Unwürdige uns den Träger des Siegels herbeigerufen hat. Er wird kommen, um das Weib, an das er sich hat binden lassen zu schützen. Dann werden wir ihm anbieten, auf dieses zu verzichten und, so Allah will, in unserer Obhut zu verbleiben, um das Leben der Unwürdigen zu retten und allem verderblichen zu entsagen", sagte Yassin.
"Du darst sie nicht sterben lassen, Yassin. Sie ist eine Tochter des Stammes Ashtaria. Du würdest dich gegen alles versündigen, was unser Glaube und unsere Bestimmung ist", wandte Ibrahim ein.
"ich will sie nicht töten, Ibrahim. Doch wenn wir wollen, daß alles weitere, was über die Zeit der Rückkehr dessen, dessen Name vergessen werden soll, vorhergesagt wurde, auf ewig ungeschehen bleiben soll, muß der Träger des Siegels sich unserer Führung und Obhut unterwerfen, die Überreste der Heuchelei, die durch Darxandrias Lehre verbreitet wurde vergessen, ihr entsagen und allen anderen, die ihm einen verderblichen Weg vorgeben sollen."
"Du weißt, daß nicht nur dieses Weib sterben wird, Meister", zischte Ibrahim Yassin zu. "Alle ihre Schwestern, Töchter, Enkeltöchter, Nichten und Basen werden mit ihr sterben."
"Das weiß ich, und Allah möge es fügen, daß es nicht so weit kommt. Doch mir blieb keine andere Wahl, um den Jüngling zu uns zurückzubringen. Denn wo er lernt wissen wir nicht, und nachdem, was der Verräter uns über das Dorf erzählte, in dem die Tochter der Unwürdigen wohnt, ist es für die Mächte des Zwanges und der Unterwerfung unerreichbar. Wenn sie ihm dort Zuflucht gaben, so kann nur der Fluch der Blutrache ihn zwingen, zu uns zurückzu..."
"Meister Yassin, der, den du erwartest ist in der Halle der Erwartung eingetroffen!" Rief eine körperlose Stimme durch den Raum. Das war die Botschaft, auf die Yassin sehnlichst gehofft hatte. Allah war eben gnädig und gerecht.
"Schickt die Golems aus, ihn mir zu bringen. Sie sollen ihn ergreifen, aber dabei nicht verletzen. Dem Träger des Siegels darf nichts geschehen!" Rief Yassin in eine bestimmte Richtung. Seine Worte schienen aufgesaugt zu werden, denn für Ibrahim klangen sie wie durch Dutzende dicker Teppiche gefiltert. Aber so funktionierte die magische Fernrufverbindung innerhalb der Festung. Ibrahim atmete auf. Die Frau vor ihnen auf dem Diwan würde nicht mehr lange leiden müssen und sie und ihre weiblichen Verwandten würden vom Fluch der Blutrache befreit, den Yassin, kaum daß sie mit der Gefangenen eingetroffen waren, über sie ausgesprochen hatte. Hoffentlich würde ihn dafür nicht doch der Schaitan holen.
"Der Jüngling beschwört Feuerwände, um unsere Wächter zurückzutreiben!" Rief die körperlose Stimme in den Raum hinein. Eine andere körperlose Stimme rief danach:
"Bei Allah, er hat es gewagt, sich in einen Geist zu verwandeln. Er ruft irgendwas, das ein großer Zauber sein muß, weil ... Meister, er eilt in die Kammer der zu hütenden Dinge!"
"Bei Allah! Er weiß wo Ashtarias Gabe liegt. Bannt ihn! Wenn es sein muß, belegt ihn mit dem Zauber der Dschinnentreue! Aber haltet ihn auf, ohne ihn zu töten!" Rief Yassin wieder in diesen seine Worte schluckenden Zauber hinein, der unsichtbar in einer bestimmten Richtung des Raumes wirkte.
"Wenn du ihn mit dem Bann der Dschinnentreue einkerkerst, Meister Yassin, so könnte das genauso schlimme folgen haben wie sein Tod", drang Ibrahim in seinen Meister ein. "Nimm im Namen des Propheten und unser aller Seelenheil diesen Befehl zurück!"
"Ich darf ihn nicht gewähren lassen, Ibrahim. Wenn er Ashtarias Gabe findet, können wir ihn nicht mehr bändigen. Denn dann schützt ihn die Kraft der Morgensternmutter, weil die, an die er sich hat binden lassen ihre Nachfahrin ist. Das er den Weg zu der Gabe findet verrät es mir."
"Meister Yassin, bedenke doch, daß wir uns nicht von der Angst zu noch mehr bösen Taten treiben lassen", sagte Ibrahim.
"Sein Leben und das der Unwürdigen mögen die Wiedererstehung des urbösen, dessen Name in Vergessenheit geraten soll verhindern, denn dieser würde die ganze Menschheit verderben, weil er der Sohn des Schaitans ist und Erde und Hölle vereinen wird im Meer aus Blut und Tränen aller Menschen. So steht es geschrieben", erwiderte Yassin mit zitternder Stimme. Die reine Angst hatte den Meister ergriffen und ließ ihn nicht mehr los. Ibrahim fühlte, wie Angst und Verzweiflung auch ihn an den Rand der Panik trieben. Dennoch wollte er nicht, daß sein Meister und seine Mitbrüder sich derartig gegen alles versündigten, was ihnen heilig war. So sagte er:
"Es steht auch geschrieben, daß wer den Siegelträger Darxandrias tötet ein Diener dessen ist, dessen Name in Vergessenheit geraten möge."
"Sprecht doch seinen Namen aus, ihr elenden Feiiiiiiii....", keuchte Aurélie Odin, die auf dem Diwan alles mit anhören mußte. Ein weiterer Schmerzensschrei ließ ihren Satz unvollendet im Raum verhallen.
"Das sehe dir ähnlich, uns seinen Namen ohne Abbitte vor Allah aussprechen zu lassen", knurrte Yassin wie ein gereizter Löwe.
"Meister, wir werden ihn gleich bezwungen haben, wenn er ... Arrg!" Erklang die zweite körperlose Stimme wieder. Yassin Iben Sina fragte sich, was der Aufschrei am Ende zu bedeuten hatte.
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Julius flog von diesem goldenen Lichtstrahl angezogen in einen langen Gang hinein. Dort warteten drei Zauberer in blauen Gewändern, die eine mannshohe Kupferflasche mit der Öffnung zu ihm gerichtet warteten.
"Neh, Freunde, die bezaubernde Jeannie gebe ich nicht für euch her", dachte Julius, dem schwante, was das sollte. Da begannen die drei bereits einen Singsang, der ihn Ton für Ton aus der Bahn zog, immer näher auf die Öffnung der großen Flasche zu. Darxandria wisperte in seinem Verstand:
"Das Wort der Stofflichkeit, Julius!" Er sprach es laut aus. Schlagartig und mit grellem Schmerz erhielt er seinen Körper zurück, ja, seinen Körper, nicht den Claire Dusoleils. Der Sog aus der Flasche ebbte ab, besser, er konnte ihm nichts mehr anhaben. Er riss seinen Zauberstab hoch, deutete auf den, der die Flasche bugsierte und rief: "Expelliarmus!" Ein scharlachroter Blitz fegte durch den Raum und prellte dem Morgensternbruder die Hand von der Flasche, die laut scheppernd umfiel und dem zweiten voll auf den rechten großen Zeh. Julius vermeinte, den vorher noch was flüstern gehört zu haben. So schwang er den Zauberstab herum und dachte konzentriert genug "Stupor!" Der Schockzauber fauchte los und warf den zweiten Zauberer um. Der Dritte riss seinerseits einen Zauberstab hoch. Doch Julius warf sich zur Seite und dachte dabei den Schildzauber. Krachend prallte was auch immer ihn treffen sollte gegen die unsichtbare Barriere und schlug mit lautem Kloing in die am boden liegende Flasche ein, die sich an der getroffenen Stelle eindellte. Eher unabsichtlich als beabsichtigt sang er eine Zauberformel her, die irgendwie den Untergang von Atlantis überdauert hatte. Strahlendes Licht flutete durch den Raum. Die drei Zauberer erstarrten und bekamen weltentrückte Gesichter. Julius fühlte neben den wiedergekehrten Schmerzen, die seine linke Seite peinigten, wie er zu ermatten begann. Doch er sprach ruhig:
"Ich bin nicht euer Feind. Wenn das Licht der wahren Liebe in euch leuchtet, werdet ihr erkennen, daß ich nicht euer Feind bin. Lasst mich also bitte meines Weges ziehen!" Die Drei Zauberer schienen wie in Trance versetzt zu sein. Sie sahen ihn an. Dann zogen sie sich schweigend zurück.
"Nimm wieder die stofflose Form an!" Kam Darxandrias Anweisung. Sie souflierte ihm die Formel von eben, die er mehrmals wiederholen mußte, um wieder die geisterhafte Form anzunehmen. Dabei wurde er wieder zu Claire Dusoleil. Er sang die Formel, die ihn zum Heilsstern tragen sollte.
Er durchdrang wieder Wände und Decken. Da hörte er wie aus der Ferne bedrohliche Stimmen zu ihm drangen, immer näher kommend. Als er durch eine weiße Wand gezogen wurde, sah er sie vor sich, konturlose Erscheinungen, die an die vier Meter hoch sein mochten und aus orangeroten Flammenzungen zusammengesetzt schienen. Daneben quoll gerade aus einer dicken Flasche aus Silber blauer Rauch heraus, der sich zu einem durchscheinenden, sehcsarmigen Ungeheuer verdichtete, das mit lautem Gebrüll auf den Eindringling zustürzte.
"Rufe die Formel weiter, Julius!" Hieß ihn Darxandrias innewohnendes Teil-Ich.
Inbrünstig rief Julius die Formel, die ihn vorantrug. Da griff das blaue Ungetüm mit zweien seiner krakengleichen Arme nach ihm und hielt ihn fest. Es konnte also Geisterwesen fangen. Doch als er die Formel erneut rief, gab es einen Ruck, und das Ungeheuer verlor den Griff um ihn, und wie von einem Katapult abgefeuert sauste er zwischen den auf ihn losschwirrenden Feuerwesen hindurch durch die nächste Wand. Sicher würden ihm die losgelassenen Geister- und Feuerwesen folgen können. Doch irgendwie war er sich sicher, ihnen nicht mehr in die Fänge zu geraten. Der goldene Strahl wurde immer breiter und umfing ihn. Er hörte das wütende Heulen und Brüllen der ihm nachsetzenden Geisterwesen, vielleicht den gefürchteten Feuerdschinnen, von denen ihm Madame Odin mal in den Sommerferien erzählt hatte. Einer der Verfolger schien mithalten zu können. Er hörte eine geschnaubte Verwünschung hinter sich und fühlte etwas nach ihm schlagen. Doch es zischte laut, und ein tierhafter Schrei, der sich entfernte verriet Julius, daß wer auch immer ihn zu packen versucht hatte einen heftigen Schlag abbekommen haben mußte. Ja, und dann sah er im ihn umfließenden Licht einen winzigen Punkt größer werden, der zu einem golden leuchtenden Stern mit fünf Zacken wurde. Dann blieb er genau vor einem Tisch in der Luft stehen, auf dem der magische Gegenstand lag, der Madame Odin gehörte. Doch wie konnte er ihn in seiner jetzigen Form ergreifen? Er hörte das wütende Gefauch und Geheule der Geisterwesen hinter sich näherkommen. Schnell rief er das Wort der Stofflichkeit aus, mußte eine Sekunde lang die wilden Schmerzen verdrängen, die die Wiederkehr seines Körpers eintrug und griff dann mit der linken Hand nach dem Gegenstand.
"Es ist nicht deiner!" Rief eine dröhnende Stimme. Dann sah er zwei Golems, die sich ihm näherten. Doch Julius ließ sich nicht beirren. Er ergriff den Heilsstern und rief erneut die Formel, die ihn hierhergetragen hatte. Unvermittelt umflutete ihn eine golden-blaue Aura von solcher Konturschärfe, daß er meinte, in eine dicke Rüstung aus reinem Licht eingehüllt zu werden. Die Golems prallten förmlich zurück. Er wandte sich um und sah in die geisterhaften Fratzen von sechs dieser Feuerwesen und des blauen Rauchmonsters mit den sechs Armen. Sechs Armen? Nein, einer fehlte ihm. Offenbar hatte das Geschöpf ihn irgendwo zwischen der großen Kammer und hier eingebüßt.
"Weichet, ihr verdammten Dämonen!" Rief Julius entschlossen, sich von diesen Ausgeburten welcher Hölle auch immer nicht mehr aufhalten zu lassen. Die Kreaturen knurrten und schnaubten. Einer der Feuergeister blähte sich auf und schnarrte mit einer Stimme, die wie von einem abbrennenden Feuerrad klang:
"Wenn wir dich unserem Meister bringen, wird er uns endlich aus der Sklaverei entlassen. Aber dieses Licht um dich macht mich wütend."
"Dann hau doch ab!" Schnarrte Julius zurück und sang erneut die mächtige Formel her, die ihn mit diesem Gegenstand zusammengebracht hatte. Die Aura um ihn blähte sich auf, wurde zu einer Wolke aus goldenen Funken, die auf die Geisterwesen zuschwirrten und ihnen sichtbar und hörbare Schmerzen zufügten. Sie stoben davon wie vom Wind ausgeblasene Kerzen.
"Wußte doch, daß diese Dämonen das nicht abkönnen", dachte Julius. Hinter ihm polterten die mächtigen Füße der Golems. Offenbar wollten sie ihn wieder angreifen.
"Ey, ihr seid auch friedlich", erboste sich Julius und wirbelte herum, immer noch eingehüllt in die magische Lichtwolke, die sich nun wieder zu einer sehr scharf umrissenen Energieumhüllung verdichtete.
"Unser Meister will dich sehen!" Grollte einer der Golems, der vor dem Licht zitternd zurückwich.
"Da haben wir was gemeinsam, ich ihn auch", knurrte Julius zurück. "Wo ist die Frau, die ihr hier gefangenhaltet?"
"Bei ihm", rumorte es aus dem Maul des Golems, der eben gesprochen hatte.
"Okay, dann finde ich ihn. Oder sollt ihr mich hinführen?"
"Wir sollen dich ihm bringen", grollte der Golem erneut.
"Dann macht mal!" Sagte Julius.
"Lege dieses Ding wieder auf den Tisch. Es gehört dir nicht!" Schnarrte der Golem, der wohl der französischen Sprache mächtig war.
"Da es euch blöden Knetmännchen auf Abstand hält gehört es mir im Moment wohl doch, sonst würde es wohl nicht ... Ach was versuche ich, euch mit Logik zu kommen, wo ihr doch keine echten Roboter seid."
"Lege das Ding fort, oder die Unwürdige stirbt den qualvollen Tod durch den Fluch der Blutrache!" Brüllte der Golem.
"Gut, dann suche ich sie selbst", spie Julius dem Ungetüm entgegen. Er hob seinen Zauberstab und dachte daran, wie denn die Formel ging, um Aurélie Odin zu finden. Als sie ihm vorgewispert wurde, sprach er sie laut aus. Doch dann fiel ihm ein, daß er ihr Artefakt benutzen konnte. Er hängte es sich vor die Brust und berührte es mit der linken Hand. Unvermittelt meinte er, in eine bestimmte Richtung gezogen zu werden. Er lief los, auf eine Tür zu, hinter der einer der Golems stand. Julius stieß den Zauberstab vor und rief die Golem-Vernichtungs-Formel. Diese ging ihm unerwartet schnell über die Lippen und wirkte noch schneller. Mit dumpfem Knall explodierte der Golem. Diesmal fühlte er sich nicht so, als würde er gleich aus den Schuhen kippen. Doch das fiel ihm im Moment nicht weiter auf. Denn er lief, von irgendwo her mit frischer Kraft aufgeladen, durch das Labyrinth der Gänge und Treppenhäuser, fluchte zwischendurch ein paar Wände nieder und atomisierte einen weiteren Golem, schaffte es, an mehreren blaugewandeten Zauberern vorbeizuschlüpfen, die ihn mit Flüchen und Zauberbannen zu überwältigen versuchten. Doch ihm war gerade noch rechtzeitig eingefallen, daß er ja die Phiole mit dem Goldblütenhonig im Brustbeutel hatte und steckte diese in eine Innentasche seines Umhangs. die schützende Kraft des Heilssterns schien dadurch um ein vielfaches verstärkt zu werden. Denn zweimal konnte Julius sehen, wie die ihm geltenden Flüche mehr als drei Meter vor ihm abprallten oder mit lautem Krachen in schillernde Funkenwolken auseinanderplatzten, vor denen ihre Urheber erschrocken in Deckung sprangen.
"Sowas nennt sich weiße Magie, wenn die hier auf mich einfluchen. Dann fühlte er, wie die Kräfte nachließen. Irgendwas sog nun die Kraft aus seinen Beinen, betäubte seine linke Seite fast so stark, daß er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Der Heilsstern hing wie ein bleischwerer Eisklumpen vor ihm und schimmerte immer schwächer. Seine Energie ging zur Neige, weil diejenigen, denen er geweiht war, immer schwächer wurden, erkannte Julius. Sein Erbe aus Atlantis würde mehreren Hexen das Leben kosten, die ihm alle ihre Liebe und Gastfreundschaft geschenkt hatten. Er sah es vor sich, wie er mit Catherine zum ersten Mal in die Rue de Camouflage gereist war und dort Madame Dusoleil und ihren drei Töchtern fast vor die Füße gefallen war. Er sah sich zusammen mit Jeanne über dem Quidditchfeld von Millemerveilles, mit Claire bei einem der Sommerbälle, hinter ihr auf dem Besen bei der Walpurgisnacht und wie er neben Madame Dusoleil auf einem Baum in Madame Faucons Garten hockte. Diese Hexen würden sterben, erkannte er. Die Zuversicht und Selbstsicherheit, die ihn die mehr als eine halbe Stunde angetrieben und behütet hatte, schwand langsam. Darxandrias Einfluß schien in dem Maße zu verschwinden, wie sein Körper und die Kraft des Heilssterns nachließen. Da fühlte er wieder einen stechenden Schmerz, der ihm vom linken Ringfinger durch den Arm bis hinauf in den Kopf jagte. Nein! Claire lebte noch, und sie sollte nicht sterben! Nicht, solange er noch einen Schritt tun konnte, sollte dieses Mädchen sterben. Er rief noch einmal die mächtige Formel aus, die den Heilsstern für ihn brauchbar gemacht hatte. Er glomm auf, wurde angenehm warm und schien ihn vom Boden zu lösen. Julius atmete durch und begann, loszulaufen. Doch das Glimmen des silbernen Sterns ebbte nach einer halben Minute wieder ab. Doch er lief weiter, bis er an eine Tür gelangte, die fest verschlossen war.
"Reducto!" Rief er. Krachend prallte der Fluch von der Tür ab und schlug in die Wand ein. "Alohomora!" Rief er. Doch die Tür sprang nicht auf.
"Berühre die Tür mit dem Stern und der linken Hand!" Kam ihm ein Gedanke. Darxandria war doch noch bei ihm. So ging er an die Tür, legte seine linke Hand an den Türgriff und drückte den silbernen Stern dagegen. Es ruckelte für eine Zehntelsekunde, dann klappte die Tür auf.
"Allah!" Riefen zwei Zauberer, die Julius schon gesehen hatte. Einer von ihnen war Yassin Iben Sina.
"Salemaleikum!" Grüßte Julius sehr verärgert. "Ihr wolltet mich haben? Hier bin ich!"
"Du weißt, weshalb wir dich herbaten?" Fragte Yassin unbeeindruckt von Julius Wut, die ihn nun, wo er den Mistkerl endlich vor sich hatte, voll ergriff.
"Ihr meint, wenn ihr mich hier einsperrt und mich herumschubst und von allem was für mich gesund ist fernhaltet würde Iaxathan nicht zurückkommen. Deshalb habt ihr diese Frau, die euch nichts getan hat entführt und lasst sie gerade elendig krepieren, zusammen mit anderen Frauen und Mädchen, die euch auch überhaupt nichts getan haben. Da sind Kinder von gerade acht Jahren bei. Ist euch das klar, oder gehört ihr zu der Sorte sogenannter Moslems, die sich einbilden, wenn sie "Allah ist groß" rufen sich und alle um sich herum in die Luft jagen zu dürfen?"
"Unser Werk ist heilig, und wenn du dich uns anschließt und allen Verlockungen entsagst, die dich heimgesucht haben, wird diese Frau leben und mit ihr alle, die aus ihrem Schoß geboren oder dieselben Eltern haben", sagte Yassin. "Lege also den Stern Ashtarias auf den Boden! Dann reiche mir deine Hand, an der eine Unwürdige ihr Haar festgebrannt hat, damit du ihr verfallen bleibst. Wir werden dich davon und von ihr befreien und dir den richtigen Weg weisen." Aurélie Odin, die an Händen und Füßen gefesselt auf einem Diwan lag schrie vor Schmerzen auf. Julius fühlte ebenfalls eine ungemein heftige Schmerzwoge durch den linken Arm rasen. Doch wenn die beiden Morgensternbrüder gemeint hatten, er würde dadurch klein beigeben, so irrten sie sich.
"Ihr schimpft euch eine Bruderschaft des Guten, der Liebe und des Friedens? Kuck dich mal an, großer, gewichtiger Meister! Du hast eine Höllenangst, wenn du mich nicht unter deine Kontrolle kriegen kannst würde die ganze Welt zum Teufel gehen, oder wie auch immer ihr zu dem sagt. Deshalb tust du mir und dieser Frau, meiner Verlobten und ihren Verwandten weh, bringst sie um. Hat dir niemand gesagt, daß aus bösen Taten keine guten Sachen werden?" Erwiderte Julius. Da war ihm, als flüstere jemand in seinem Kopf:
"Nicht Wut erschließt die Herzen, sondern Güte."
"Es liegt bei dir, ob die Unwürdige hier in weniger als einer halben Stunde sterben und alle ihre weiblichen Verwandten mit sich nehmen wird oder ob sie leben dürfen und dir und deiner Einsicht danken mögen, daß du vernünftig gehandelt hast. Denn wir trachten nicht nach dem Bösen. Doch sind entschlossen, es nicht in dieser Welt aufwachsen zu lassen", erwiderte Yassin.
"Ihr könnt nicht das Böse bekämpfen, wenn ihr selber böses tut", sagte Julius nun weniger wütend. "Wenn ihr ein Haus vor dem Feuer retten wollt, könnt ihr es doch nicht einfach anzünden."
"Darxandrias Werk spricht aus dir und will, daß du mein Herz erweichst, um dich und dieses Weib aus unserer Festung zu erretten. Zumindest glaubst du, gerettet werden zu müssen. Aber du täuschst dich über den Grund, Jüngling. Nicht vor uns mußt du gerettet werden, sondern vor der Willkühr der sittlich schwachen, die meinen, weil wir aus ihren Schößen geboren werden gegen unsere Vernunft ankämpfen zu dürfen."
"Ich habe dir schon mal gesagt, Meister Fettklops, daß du ein durchgeknallter Frauenhasser bist. Längst nicht alle Frauen sind böse, wie längst nicht alle Männer vernünftig oder edel sind. Du lebst im Hass, und das macht dich selbst verführbar. Im Moment kommt dein Hass von der Angst, daß ich irgendwann und irgendwie diesen Iaxathan aufwecken könnte, wonach mir überhaupt nicht ist. Denn wenn die Guten schon so brutal und hinterhältig sind, muß ich die Bösen nicht kennenlernen", erwiderte Julius. "Also nimm bitte diesen Fluch von Madame Odin und ihren Verwandten und lasse sie und mich in Frieden und Freundschaft ziehen. Ich will nicht euer Feind sein."
"Wir wollen auch nicht deine Feinde sein", sagte Yassin entschlossen. "Aber wer nicht in unserem Sinne lebt und handelt, ist leichte Beute für den, dessen Name in Vergessenheit geraten möge."
"Irrtum. Wer meint, das gute zu tun, aber böses bewirkt, ist eine leichte Beute für diesen Iaxathan. Was immer diese Prophezeiung sagt, ich denke nicht, daß mein Tod oder meine Versklavung daran irgendwas ändert, daß irgendwer diesen Dämon aufweckt. Vielleicht soll ich dann sogar gegen den kämpfen, was euer Allah verhüten möge. Wenn du mich aber nicht mehr sein läßt, was ich bin, dann holt er euch alle und lacht noch darüber, wie leicht ihr euch durch die Angst vor ihm habt vom Weg abbringen lassen. Also, nimm bitte diesen Fluch zurück, mit dem du Madame Odin belegt hast!"
"Du bist nicht in der Lage, mir Bedingungen zu stellen oder Befehle zu erteilen, Jüngling. Auch wenn du das Siegel der alten Herrscherin trägst, deren Wirken ihn, dessen Namen ..."
"Iaxathan heißt der", schnarrte Julius unvermittelt heftig. "Ich bin es von England her schon leid, daß Leute einen echt Bösen nicht beim Namen nennen wollen. Seid ihr so feige? Die Frage erübrigt sich, wenn ich sehe, wie Madame Odin gefesselt ist und ... Aaarg!" Wieder jagte eine Schmerzenswelle durch seinen Körper, genau im gleichen Moment, wo Madame Odin einen neuen Anfall durchlitt.
"Wir sind nicht feige. Um zu tun, was zu tun ist müssen wir sehr viel Mut aufbieten", knurrte Yassin. Julius mußte trotz der ihn überkommenden Schmerzen lächeln. Man konnte diesen feisten Kerl in blauen Tüchern beleidigen. Das machte ihn angreifbar.
"Ganz bestimmt nicht, wenn ihr aus großer Entfernung kleine Mädchen totflucht. Das ist sowas von mutig, das jeder Löwe vor euch salutiert."
"Güte, Julius!"
"Vergiss es, Darxandria", dachte er. Da schwanden ihm unvermittelt die Kräfte. Er sackte nach vorne um. Die Aura um ihn flackerte, und das Metall des Heilssterns wurde klirrendkalt.
"Du merkst, Jüngling, daß deine Kräfte schwinden. Du hast zwei Möglichkeiten. Unterstelle dich uns freiwillig und gewähre uns die Ehre, dich von der Seelenkette zu lösen, die dir eine ungeduldige Jungfrau angelegt hat! Oder sieh zu, wie dieses Weib und die, die dich an sich ketten wollte durch deine Unvernunft den Tod finden!"
"Ich wähle Möglichkeit Nummer drei", dachte Julius. "Ich hau dir und deinem Lakeien eine rein und befreie Madame Odin. Da sprach der zweite Zauberer im Raum.
"Meister, die Dunkelheit umschließt euch immer mehr. Lasst die Frau und den Jüngling gehen." Yassin glubschte ihn an und fauchte etwas. Julius konnte zwar nicht verstehen, was es war, doch das die beiden sich in ein schnelles Wortgefecht stürzten bekam er mit. Er fühlte, wie er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Er ließ sich vorne überfallen und wartete, während eine weitere Schmerzattacke ihn überkam, ob die beiden sich schnell wieder einigen würden. Doch die beiden Araber schienen sich in eine Grundsatzdiskussion zu verstricken, die ihre ganze Aufmerksamkeit forderte. Julius, der gerade nur wie ein Baby krabbelnd vorankommen konnte, schienen sie nicht mehr für beachtenswert oder gefährlich zu halten, zumal der Heilsstern um seinem Hals nicht mehr aus sich heraus leuchtete. Sollte er noch einmal die Formel wirken? Nein, er hatte eine bessere Idee. Er robbte langsam, so daß sie es nicht für bedrohlich halten konnten, auf Madame Odin zu. Er fühlte, wie jeder weitere Schmerzattacke ihn immer mehr auslaugte. Das mochte das Ende sein, kam ihm ein niederschmetternder Gedanke. Ähnlich hatte er sich auch in Hallittis Höhle gefühlt, bevor er fast von ihr ... Welche Ironie. Er war ihr entkommen, die eindeutig der dunklen Seite der Macht entstammte, um einer fanatischen Bruderschaft zum Opfer zu fallen, entweder starb oder ihr Sklave wurde. Dann hätte er mit Hallitti doch das süßere Leben geführt, durchzuckte ihn ein weiterer verderblicher Gedanke. Dann dachte er wieder an Claire. Sie allein war es wert, daß er nicht aufgab. Sie allein war es wert, daß er sich mit allem gegen diese fehlgeleiteten Burschen wandte, was er noch hatte. Jetzt war er bei Madame Odins Diwan und sah die gefesselten Füße. Er brachte vorsichtig den Zauberstab in die richtige Stellung und murmelte "Diffindo!" Mit leisem Ratsch zerriss der Lederriemen um Madame Odins linken Fuß. Da überfiel sie und ihn die nächste Schmerzwelle und beinahe hätte er ihr linkes Bein gegen den Kopf bekommen. Yassin fuhr herum, weil die Gefangene unvermittelt mit einem Bein ausgeschlagen hatte. Als er sah, was los war stürzte er vorwärts und warf sich auf Julius. Der verlor den Zauberstab, aber dafür erwachte in ihm der Kampfgeist aus der Erstarrung. Im Bodenkampf hatten Mr. Tanaka und er immer auf Judogriffe gesetzt, wenn Karateschläge und -tritte nicht mehr gingen. So setzte er bei Yassin einen Würgegriff an, war aber schon zu schwach, um die Blutzufuhr abzuklemmen. Außerdem drückte der Meister dieser Festung ihn mit seinem Gewicht zu boden. Dabei bemerkten sie nicht, wie Julius Zauberstab vom Boden hochsprang und in Madame Odins rechter Hand landete. Ratsch, Ratsch, Raatsch! Die restlichen Fesseln rissen durch.
"Stupor!" Rief die Gefangene. Julius fühlte, wie etwas wuchtiges auf seinen Gegner einschlug und der dann schlaff wie ein nasser Strohsack auf ihm lag.
"Nein, Aurélie, er ist der einzige, der den Fluch von dir nehmen kann!" Rief der zweite Zauberer, als die Hexe Anstalten machte, einen weiteren Zauberspruch zu wirken. Julius rollte sich mühsam frei und blieb vom neuerlichen Schmerz überwältigt am Boden. Aurélie fiel hinten über und verlor den Zauberstab aus der Hand. Julius sah ihn in seine nähe schliddern und dachte konzentriert: "Accio Zauberstab!" So hatte er in Béatrice Latierres Schlafzimmer einen Zauberstab zu fassen bekommen, bevor Orion Lesauvages verfluchtes Buch sie und ihn einsaugen konnte. Ja, auch diesem verdorbenen Ding war er durch einen abgedrehten Trick entkommen, um jetzt hier mitzuerleben, wie die Großmutter des Mädchens, das sich mit ihm verlobt hatte, sein ganzes Leben mit ihm teilen wollte, mit ihm zusammen starb und er dann doch der lebenslange Gefangene dieser Leute hier bleiben würde. Da hätte er sich doch besser von diesem Buch einsaugen und als rastlose Seele im Auftrag Orions von einem Liebesakt zum nächsten schicken lassen. Immerhin bekam er durch seine Zauberformel seinen Stab wieder in die Hand und schaffte es, sich halb aufzurichten.
"Julius, der Stern", hörte er Madame Odins Gedankenstimme in sich. Er warf sich herum. Da sah er, wie Yassin sich ebenfalls vom Boden erhob und putzmunter wieder aufstand.
"Ibrahim", knurrte Madame Odin, als Julius sah, wie der andere Zauberer seinen Palmenholzzauberstab senkte. Julius warf sich Madame Odin entgegen und hielt dabei den Heilsstern ausgestreckt. Mochte es sein, daß dieser sie und damit Claire von dem Fluch befreite, wie es in den Märchen und Geisterjägerstories ging, wenn ein weißmagischer Gegenstand eine verhexte Person berührte? Denn daß dem Heilsstern wahrhaft weißmagische Kräfte innewohnten war Julius sonnenklar. Er traf sie mit dem Stern am Bauch und fühlte, wie das eiskalte Amulett zu pulsieren begann. Er keuchte die ersten Zeilen der alten Zauberformel.
"Ihr entkommt mir nicht noch einmal!" Schrillte Yassin Iben Sina und riss seinen Sandelholz-Zauberstab hoch. Aurélie Odin rollte sich herum und warf sich genau in dem Moment über Julius, wo Yassin "Avada Kedavra!" Rief. Gleichzeitig erglühte der Heilsstern, der sowohl Julius als auch Aurélie Odin berührte. Sein Strahlen war wie ein kleines Stückchen Mittagssonne. Julius erschrak, als er das Unheil verheißende Sirren hörte. Doch Madame Odin schien dem ganz gelassen entgegenzusehen. Sie lächelte ihn an. Auch als der grüne Todesblitz sie traf, lächelte sie noch. Doch dann passierte etwas, was Julius Entsetzen verblies und ihn in unermessliches Erstaunen versetzte. Der Heilsstern blähte sich auf, verband sich mit Madame Odins Körper und ließ diesen aus sich heraus golden erstrahlen. Dann fühlte Julius es warm und wohlig um ihn herum werden. Der Körper der Hexe löste sich auf, wurde zu einer golden leuchtenden Decke, die ihn umfing, und dann zu etwas, in dem er meinte, wie in einer großen, innen gepolsterten Rüstung zu liegen, Kopf, Körper, Arme und Beine umkleidet. Diese Rüstung aus reinem Licht, hervorgebracht von dem Heilsstern, wuchs um ihn herum an. Er fühlte sich langsam in einem immer größeren Hohlraum liegen, dann sanft schweben. Er konnte noch durch die Lichtumkleidung sehen, wie das Lichtgebilde, besser das Lichtwesen, sich erhob und ihn in sich trug.
"Allah!" Drangen die Stimmen der Beiden Zauberer zu ihm durch wie durch Watte gefiltert.
"Wage es nicht", diesen verderblichen Angriff erneut zu führen!" Rief eine Frauenstimme, die Julius von allen Seiten kommen zu hören glaubte. Es war nicht die von Aurélie Odin, sondern eine ganz andere, tiefe, sanftmütige Stimme, einer guten Göttin würdig.
"Auch wenn du deine Seele in seinen Schutz gesteckt hast, Unwürdige, werde ich ihn nicht entkommen lassen!" Rief Yassin. Julius staunte. Der Zauberer sprach Arabisch. Aber er verstand, was er sagte. "Möge es zerstört werden!" Verstand er aus dem gefürchteten Zauberspruch, den Yassin erneut rief. Wieder sirrte es, und mit einem dumpfen Schlag beulte sich die schützende Höhle ein, in der Julius schwebte. Er fühlte einen Ruck und schlug auf den Boden hin. Dabei berührte er mit der linken Hand den unteren Scheitelpunkt der Hohlkugel aus Licht. Er schrie vor Schmerz auf, als etwas ihn wie mit glühenden Zähnen in den Ringfinger zu beißen schien. Gleichzeitig hörte er den Aufschrei Yassins, der langgezogen und immer höher wurde, bis sein Schrei dem eines Babys glich. Ja, das war wirklich ein Baby was da schrie.
"Allah, der Fluch hat ihn zurückverwandelt!" Brüllte der zweite Zauberer. "Gott, vergib uns die Sünden, die wir begangen haben."
"Nimm ihn auf und trage ihn aus diesen Hallen!" Befahl die warme, tiefe Frauenstimme. "Der Siegelträger ist nicht dein Feind."
Julius konnte erst vor Schmerzen nicht recht erfassen, was um ihn geschah. Dann hörte er einen lauten Schrei von etwas, das heraneilte. Dann fühlte er, wie alles um ihn herum leicht wankte. Dann hob ihn eine sanfte Kraft wieder an und ließ ihn in der Mitte der Hohlkugel schweben.
"Ich bringe dich nun zu den deinen zurück, Julius Andrews. Die dich liebten und von dir geliebt wurden, geben mir die Kraft, nach den Äonen zu helfen."
"Was ist passiert?" Fragte Julius. Doch zunächst bekam er keine Antwort. Statt dessen sang die Fremde mit einer Klarheit, die einer Operndiva die Neidesblässe ins Gesicht getrieben hätte. Julius fühlte sich unter diesen Klängen sehr geborgen, atmete reine, frische Luft. Dann hörte er sowas wie Schritte, Die Schritte sehr großer, nackter Füße. Er hörte Mehdi Isfahani rufen: "Die Festung stürzt ein!" Es war ganz in der Nähe. Dann hörte er ein Rasseln, als würden Ketten bei Seite geworfen. Leichtes Grollen erklang.
"Ich habe das Gift ihrer Angst aus ihren Seelen gesungen, Julius Andrews. Nun wirst du von ihnen keine Bosheit mehr erfahren", sagte die Fremde Frauenstimme. Julius schwante, daß er in diesem Lichtgebilde lag, einem menschenähnlichen Wesen aus reiner magischer Energie. Er fragte:
"Was ist passiert? Mir tat die linke Hand weh."
"Juju, du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind bei dir", hörte er Claires Stimme ganz in seiner Nähe. Dann erklang noch Madame Odins Stimme:
"Du hast es geschafft, Julius. Die Macht der reinen Liebe und Güte, die Darxandria und ihre Nachfahren erhielten, hat uns befähigt, dir zu helfen. Ashtaria trägt dich nun beschützt zurück in deine Heimat."
"Sie sind doch vom Todesfluch ...", setzte Julius an, als er seine immer noch leicht schmerzende linke Hand betrachtete. Da wo vorhin noch Claires Haarsträhne gesessen hatte, zog sich eine stark gerötete Verbrennung um seinen Finger. Doch diese verblaßte bereits, wurde von nachwachsender heiler Haut verdrängt. Da begriff er, daß er die Verbindung zu Claire verloren hatte. Doch sie war doch gerade in seiner Nähe gewesen.
"Du konntest die Körper meiner Töchter nicht bewahren, aber du hast mir geholfen, ihre Seelen zu bewahren. Sei also ohne Furcht und Schuldgefühl!"
"Ihr seid tot?!" Rief Julius erschrocken.
"Nein, Juju! Ich bin nur jetzt aus meinem Körper raus, bei Ashtaria, genau wie Oma Aurélie."
"Dann seid ihr Geister", erwiderte Julius, während die Schritte der nackten Füße verklangen und statt dessen Windgeheul um ihn herum erklang. Doch den Wind fühlte er nicht, und das goldene Licht der Kugelschale um sich war undurchsichtig geworden.
"Yassin hat meinen Körper getötet, aber damit meine Seele mächtiger gemacht, so mächtig, daß ich Ashtaria von der Brückenwelt herbeirufen konnte. Der Heilsstern half mir, sie zu uns zu bringen und gab mich ihr hin, um dich aufzunehmen", sagte Madame Odin.
"Irgendwer wollte dich töten, Julius. Ich wollte nicht, daß du stirbst und warf mich dazwischen", sagte Claires Stimme frei von jeder Beklemmung, eher erleichtert, etwas wichtiges geschafft zu haben.
"Verdammt, aber ich wollte doch nicht, daß du stirbst, Claire!" Rief Julius.
"Ich lebe weiter, Juju. Ich fürchte nur, wir können nicht zusammenbleiben, wenn Ashtaria dich wieder freigibt."
"Das kann nicht sein! Ich wollte doch ... wollte dir und deinen Verwandten doch helfen!" Rief Julius und schlug um sich. Doch er traf auf keinen Widerstand. Der Heilsstern auf seinem Körper leuchtete und pulsierte warm.
"Das hast du auch", sagte Madame Odins Stimme. "Indem du mir geholfen hast, mich mit Ashtaria zu vereinen, und indem Claire sich bereitfand, ihren Körper der Liebe zu dir zu opfern und ebenfalls mit Ashtaria verschmolz, hast du uns alle gerettet."
"In meinen Schoß dringt nichts verderbliches ein, Julius. Deshalb kann ich dich tragen, auch wenn du keines meiner körperlich gezeugten Kinder bist. Doch Darxandrias Segen hüllt dich in eine Haut aus Kraft und Wärme, so daß ich dich gesund den Deinen wiedergebären kann, so wie ich dich empfangen habe. Meine von dir geliebten Töchter, die dich auch liebten, werde ich ebenfalls mit einem neuem Leben betrauen. " Diese Worte drangen tief in Julius ein und verdrängten sacht die aufquellende Trauer und die Wut, versagt zu haben. Hatte er denn wirklich versagt? Er hatte die Brüder des Morgensterns gefunden und Aurélie Odin das Artefakt gebracht. Sie hatten weder ihn noch Madame Odin besiegen können. Doch Claire hatte er nicht retten können.
"Du hast mich gerettet, Juju! Du hast mich und meine Schwestern, meine Mutter und meine Cousine von diesem Fluch befreit. Dafür danke ich dir. Jetzt bringen wir dich zurück zu denen, die dir helfen, das du weiterleben kannst."
"Ohne dich will ich aber nicht weiterleben. Dann soll mich diese Ashtaria auch in sich aufgehen lassen", sagte Julius und versuchte, wie ein quirliger Fötus gegen die ihn umschließende Schutzblase zu treten. Doch er erreichte die goldene Hohlkugelschale nicht. Statt dessen sagte Ashtarias Stimme:
"Dazu bist du nicht bestimmt. Ich würde dich sehr gerne in mir ruhen lassen, ja mich mit dir verbinden, wie meine Töchter sich mit mir verbunden haben. Aber dies ist nicht dein Weg."
"Und wenn ich mir hier und jetzt den Zauberstab an die Kehle halte und den Todesfluch bringe?" Fragte Julius.
"Würde er genauso zum Erneuerer des Lebens umschlagen wie jener, mit dem dieser von Angst vergiftete Träger der Kraft mich zu durchdringen versucht hat, um dich in mir zu töten. Nichts das Leben und den Geist verderbende kann in mich hineinwirken oder in mir aufkeimen. Glaube mir, dein Weg ist wesentlich beschwinglicher, wenn du in deine Welt zurückkehren darfst, Julius Andrews."
"Außerdem wirst du jemanden finden, der du genausoviel bedeutest wie mir", sagte Claires Stimme. "Sicher wirst du sagen, daß du nie wieder eine wie mich finden wirst. Das stimmt ja auch. Aber du findest ganz bestimmt eine andere, die dir genug Freude am Leben gibt. Also warte nicht zu lange! Denn das will ich nicht, daß du dich wegen mir wegwirfst wie eine abgepellte Bananenschale. Denn nur solange du leben willst und dich darüber freust, daß du lebst, kann ich nicht sterben, niemals."
"Ich weiß es nicht", sagte Julius.
"Doch, das weißt du, Julius", hörte er Claires Stimme sehr entschlossen, ja aufmunternd sagen. "Sonst könnte Ashtaria dich nicht tragen und wir nicht mit dir sprechen."
"Wenn ich, ähm, wiedergeboren werde, bin ich dann ein Baby ohne alles? Und was ist mit euch?" Fragte Julius.
"So wie ich dich empfing wirst du in deine Welt zurückkehren", versicherte Ashtaria. "Und durch deine Rückkehr in die Welt werden meine Töchter ebenfalls neues Leben erhalten."
Julius schwieg. Er konnte im Moment nichts anderes sagen oder tun. Er hörte das Windheulen und vermutete, daß Ashtaria flog. Wenn sie eine übergeordnete Erscheinung, etwas wie ein Avatar oder noch mächtigeres war, waren die Gesetze der Physik für sie nicht gültig. Doch warum apparierte sie dann nicht einfach da, wo Julius ihrer Meinung nach wiedergeboren werden sollte?
"Weil du dafür bereit sein mußt", sagte Ashtarias Stimme. Offenbar konnte sie seine Gedanken erfassen.
"Was muß ich tun, um bereit zu sein?" Fragte Julius.
"Nimm Abschied von uns, und lege alle in dich dringende Trauer ab, damit du ohne Angst und Schuldgefühl zurückkehren kannst", sagte Ashtaria. Aurélie Odin sagte noch:
"Du mußt leben wollen. Dann wirst du dort zurückkehren, wo du dein Leben fortsetzen kannst."
Julius beschloss, sich nicht dafür bereitzumachen. Doch irgendwie erschien ihm das widersinnig. Er blickte auf seine Uhr. Sie stand still. Im Leib der Ashtaria, der nichts mit der Anatomie einer lebendigen Frau gemein hatte außer daß in ihm ein lebendiges Wesen ruhen konnte, ruhte auch die Zeit, oder er befand sich in einer Zone, in der alle die Zeit angebenden Kräfte der Gestirne und der Erde nicht zu ihm durchdrangen. Was stimmte nun? Dann fiel ihm die Geschichte ein, die Kevin ihm mal erzählt hatte, als er nach der Herkunft des Namens Boann gefragt hatte, daß ihr angetrauter Mann meinte, einen Tag unterwegs gewesen zu sein, und als er wiederkam gebar seine Frau ein Kind, das sie vom obersten irischen Gott empfangen hatte. So konnten für ihn Stunden vergehen, wenn in der Welt da draußen Monate oder Jahre vergingen. Unvermittelt überkam ihn alle Erschöpfung, die ihn in der Festung der Morgensternbrüder zu überrumpeln versucht hatte und er fiel in einen tiefen Schlaf.
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Claire Dusoleil lag sich unter Schmerzen windend und stöhnend auf einem Bett des Krankenflügels. Zwischendurch rief sie merkwürdige Zauberformeln, die Madame Rossignol nicht verstand. Sie holte Professeur Faucon zu sich, die die Rufe ebenfalls nicht kla verstand. Sie vermutete nur, daß es eine Sprache aus Atlantis sein mußte.
"Sie ist mit Julius verbunden", sagte die Lehrerin. "Wahrscheinlich ruft er dieselbe Formel, und sie unterstützt ihn durch ihre Kraft und ihre Liebe."
"Ich würde sie zu gerne in einen Zauberschlaf versenken, Blanche", seufzte Madame Rossignol. Doch Professeur Faucon schüttelte den Kopf.
"Das würde ihr nicht helfen, Florence. Das würde sie eher ...""
Claire wurde auf einmal ganz ruhig. Sie fühlte keine Schmerzen mehr und schien von sich aus in einen tiefen Schlaf versunken zu sein. Professeur Faucon gefiel das nicht. Mochte es sein, daß der Blutrachefluch sie bereits ins Koma versetzt hatte? Sie blickte ihr tief in die dunkelbraunen Augen. Sie hoffte, aus ihrem Geist etwas herauszuschöpfen. Dabei sah sie Julius, wie er gerade vor zwei in Blau gewandeten Zauberern anlangte und hörte ihn wie aus weiter Ferne mit ihnen sprechen. Dann sah sie, wie er Madame Odin befreien wollte und fast von dem korpulenteren der beiden Zauberer überwältigt wurde. Dann passierte es, daß Julius sich Madame Odin zuwandte und jenen Gegenstand an ihren Körper drückte, der wie ein silbernes Pentagramm mit verkürzten und an den Enden abgerundeten Zacken aussah. Unvermittelt glühte helles Licht auf, und Professeur Faucon verlor den Kontakt. Das letzte was sie noch wie aus ganz weiter Ferne hörte, waren die zwei geächteten Worte: "Avada Kedavra!"
"Nein, der Todesfluch", erschrak sie. Da sah sie wie Claire erzitterte. Sie bäumte sich auf, jedoch ohne einen lauten Aufschrei. Dann fiel sie wieder aufs Bett zurück, riss die Augen weit auf. Dann stieß sie sich mit einer reflexartigen Arm- und Beinbewegung vom Bett hoch, schrie kurz: "Nein, den bringst du nicht um!" Dann fiel sie aufs Bett zurück und begann warm und zufrieden zu lächeln, als habe sie ihren Geliebten endlich zurückbekommen. Dieses Lächeln und der Blick der dunkelbraunen Augen brannten sich in Professeur Faucons Gedächtnis ein. Dann sah sie, wie aus Claires Körper, genau zwischen Brust und Bauchraum, ein goldenes Licht erglühte, sich ausbreitete und sich zu einer konturgenauen Abbildung Claires vervollständigte. Claires Atem ging für zwei Sekunden hörbar und schnell. Die Leuchterscheinung umschloss sie nun vollkommen undurchsichtig. Professeur Faucon wollte gerade etwas sagen, als die Leuchterscheinung zu einer Säule aus Licht wurde, die nach oben raste, sich an der Decke zu einer Kugel zusammenballte und dann schneller als ein Blitz völlig geräuschlos durch die Decke verschwand. An der Stelle, an der die Leuchtkugel die Decke durchstoßen hatte, war jedoch nichts davon zu sehen. Glatt und unverbrannt spannte sich die Steindecke über dem Schlafraum. Auf dem Bett lag Claire Dusoleil. Der Blick der dunkelbraunen Augen war leer. Doch auf ihrem Gesicht lag ein warmes, sehr glückliches Lächeln. Sie atmete nicht mehr. Ergriffen von dem, was in den letzten Sekunden geschehen war, standen die beiden erfahrenen Hexen vor dem Bett und sahen auf den leblosen Körper des Mädchens. Sekunden vergingen, in denen keine ein Wort sagte. Dann hob Madame Rossignol den Zauberstab und ließ ihn über den Körper gleiten. Dann schüttelte sie langsam den Kopf und murmelte ein Wort, das magische Heiler wie Muggelärzte ungern aussprechen: "Exitus!"
"Das war nie im Leben ein üblicher Sterbevorgang", beteuerte Professeur Faucon. "Dieses Leuchten, diese Kraft war alles andere als normal."
"Wir müssen Madame Maxime informieren", sagte die Heilerin, die krampfhaft um ihre professionelle Haltung kämpfte. Noch nie in ihrer schon mehr als dreißig Jahre dauernden Anstellung in Beauxbatons hatte sie einen Schüler oder eine Schülerin sterben gesehen. Sicher, sie hatte schon mal die drakonische Strafe für den Mißbrauch der Pflegehelferprivilegien vollstreckt und sich danach heftiger Kritik der Eltern aussetzen müssen. Aber noch nie war eine ihrer Obhut unterstellte Schülerin gestorben. Doch was Professeur Faucon sagte rührte sie an. Das mit der Leuchterscheinung war kein gewöhnlicher Effekt gewesen. Mochte es sein, daß Claire nur scheintot war? Doch sie hatte die Lebenszeichen überprüft. Jeder Lebensfunke war aus diesem Körper da vor ihr entwichen. An diesem Punkt war jede Wiederbelebungsmaßnahme sinnlos.
"Ich werde erst Madame Maxime unterrichten, und dann werde ich um meine Entlassung aus dem Schuldienst ersuchen und mich ihren Eltern stellen", sagte Professeur Faucon. In ihren saphirblauen Augen glitzerten Tränen. Madame Rossignol wußte, die Lehrerin gab sich allein die Schuld an Claire Dusoleils Tod.
"Was können wir noch für den Jungen tun?" Fragte Madame Rossignol.
"Lebt er noch?" Fragte Professeur Faucon. Die Heilerin hantierte mit ihrem Zauberstab an ihrem silbernen Armband, dem Pflegehelfergeneralschlüssel.
"Merkwürdig", sagte sie. "Ich kann den Schlüssel nicht aufspüren. Wenn Julius tot wäre, würde ich einen lang anhaltenden Ton in meinem Armband erzeugen. Aber ich bekomme überhaupt keine Verbindung zu ihm.
"Dann könnte er in der Bilderwelt unterwegs sein?" Fragte Professeur Faucon, deren Schuldgefühl wegen Claires Tod von einem Funken Hoffnung überstrahlt wurde, Julius könne noch leben. Zumindest ihn wollte sie in Sicherheit wissen.
"Dann soll Viviane ihn an diesem Bild mit dem Tor wieder aufsammeln und direkt hierherbringen", sagte Madame Rossignol.
"Ich hole Madame Maxime und werde ihr beichten, grob fahrlässig das Leben einer Schülerin geopfert zu haben. Ich hoffe nur, ich kann Camille und Florymont noch meine Schuld eingestehen, bevor man mich nach Tourresulatant verbringt."
"Wenn der Minister nicht interveniert, weil diese Katastrophe nur durch das von ihm ausgehändigte Intrakulum passieren konnte."
"Wenn das beruhigend sein sollte, Florence, dann ist das gerade fehlgeschlagen", erwiderte Professeur Faucon. "Minister Grandchapeau wird mich ohne Gerichtsurteil verschwinden lassen. Vielleicht stellt er es auch so hin, daß ich Opfer eines Unfalls geworden bin, nur um der Öffentlichkeit nicht erklären zu müssen, was zum Tode des Mädchens geführt hat."
"Nein, Blanche, er wird sich auf den Blutrachefluch berufen. Immerhin ist das ja nicht zu unterdrücken, und keiner wird herausbekommen, was die Ursache ist, solange Julius nicht irgendwo wieder auftaucht", widersprach Madame Rossignol.
"Wie dem auch sei, ich werde Madame Maxime herbitten und dann in meinem Sprechzimmer mein Entlassungsgesuch verfassen", sagte die Lehrerin und verließ ohne weiteres Wort den Schlafsaal. Dabei prallte sie fast mit Madame Eauvive aus der Delourdes-Klinik zusammen. Die beiden Hexen blickten sich irritiert an.
"Viviane hat mich aufgesucht, ich möge herkommen. Stimmt es, daß Claire und Julius in Lebensgefahr schweben, Professeur Faucon?"
"Weiß Madame Maxime, daß sie hier sind?" Fragte Professeur Faucon sehr entrüstet.
"Ja, ich habe ihr mein Kommen angekündigt. Sie wird gleich hier eintreffen", sagte die Direktrice der Delourdes-Klinik.
"Dann kommen Sie bitte herein. Ich werde dann hier auf die Schulleiterin warten", sagte Professeur Faucon nun so, als erwarte sie ihr Todesurteil.
Als Madame Eauvive Claire Dusoleil untersuchte und Madame Maxime um ihre Selbstbeherrschung kämpfte, Professeur Faucon nicht mit ihren riesigen Händen zu erwürgen, berichtete Madame Rossignol, was in den letzten Minuten von Claires Leben geschehen war.
"Den Jungen trifft keine Schuld", sagte Madame Eauvive. "Ich weiß aus unserem Familienarchiv, daß es mindestens einen Nachfahren Ashtarias unter uns geben soll. Wenn Julius davon ausging, Claire retten zu können, dann hatte er durchaus die größten Chancen. Wo ist er jetzt eigentlich, Florence?"
"Ich finde ihn nicht. Vielleicht ist er ... Öhm, darüber darf ich nicht reden."
"Florence, ich habe natürlich die Sache mit dem Intrakulum mitbekommen und mich auch schon mit seiner Exzellenz, dem Zaubereiminister darüber sehr engagiert auseinandergesetzt, zumal der höchste Zauberer Frankreichs dem Jungen wohl noch einiges andere angedreht hat. Oder haben Sie das mit Hallittis Alterungsfluch geglaubt?"
"Öhm, ich weiß, wie es wirklich war", sagte Madame Rossignol. Madame Eauvive nickte.
"Minister Grandchapeau weißt jede ihm zugeschriebene Beteiligung an dieser Sache von sich und drohte mir mit Amtsenthebung und einem Prozess wegen Verunglimpfung des Ministeramtes. Im Moment kann ich also nicht beweisen, daß er damit zu tun hat. Nun, wichtig ist, daß wir der Familie Dusoleil beibringen, was mit ihrer Tochter passiert ist."
"Wie geht es ihnen denn?" Fragte Madame Maxime.
"Sie sind noch im Schlaf der Todesnähe. Wir müssen sie mindestens bis morgen schlafen lassen, um sicherzugehen, daß der Blutrachefluch verflogen ist. Florymont ist bei mir in der Familienwache."
"Dann sollten wir warten, bis Camille und die anderen weiblichen Familienangehörigen aufgeweckt werden können und Mademoiselle Dusoleils sterbliche Hülle mit dem Conservatempus-zauber belegen", empfahl Madame Maxime abgeklärt.
"Ich werde sie in meinem Stammschloß aufbahren, damit sich alle von ihr verabschieden können", sagte Madame Eauvive. Dann fragte sie Madame Rossignol, ob sie schon einmal einen Totenschein ausgestellt habe. Die Schulheilerin von Beauxbatons schüttelte heftig den Kopf und erbleichte. "Dann nehme ich Ihnen diese Bürde ab, Florence", erbot sich Madame Eauvive.
Besprechen wir alles nötige in meinem Sprechzimmer!" Bat Madame Maxime darum, die Angelegenheit an einem besser abgeschotteten Ort zu bereden. "Der Leichnam sollte jedoch schon abtransportiert werden."
"Das wäre den Mitschülern gegenüber nicht recht", sagte Madame Rossignol. "Immerhin hatte Claire, also Mademoiselle Dusoleil viele Freunde und Freundinnen hier in der Akademie. Es wäre überaus wichtig, daß diese sich auch von ihr verabschieden können."
"Ich versuche, dem Schulrat gegenüber drei Tage Unterrichtsunterbrechung durchzubekommen", sagte die halbriesische Schulleiterin mit belegter, für ihr übliches Naturell sehr leise klingender Stimme.
"Das wäre wohl anständig", sagte Madame Eauvive bedächtig und machte eine dankbare Geste gegenüber der Schulleiterin. Dann fragte sie noch einmal, ob sie noch auf Julius Andrews warten sollten.
"Wir sollten die Gemälde der Akademie darauf ansetzen, ihn zu uns zu bringen, falls er den Weg zurückfindet", sagte die Direktrice von Beauxbatons.
"Gut, das können wir veranlassen", sagte die Schulheilerin und trat an das Bild, in dem Serena Delourdes, Viviane Eauvive und Aurora Dawn zusammensaßen und sich gegenseitig in einer tröstenden Umarmung hielten.
Gerade wollten sie den Krankenflügel verlassen, als ein goldener Lichtschein an der Decke aufglühte und etwas selbst für die erfahrenen Hexen Eauvive, Faucon, Maxime und Rossignol unbegreifliches eintrat.
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Claire und Julius liefen über eine unendlich weite Blumenwiese unter strahlend blauem Himmel. Die Sonne stand warm und hell im Zenit, von nah und fern war Vogelgezwitscher zu hören.
"Das ist meine Lieblingswiese, Juju. Maman hat sie mir mal gezeigt, als ich vier Jahre alt war. Seitdem denke ich gerne daran, wenn ich traurig bin", sagte Claire ihm.
"Wie bin ich denn jetzt hergekommen?" Fragte Julius.
"Weil du zu mir wolltest und ich dir das hier immer schon zeigen wollte. Außerdem kann ich dir auf der Wiese zeigen, wie schön das Leben ist und das du wieder Spaß daran haben wirst."
"Ohne dich werde ich keinen Spaß haben, Claire", murmelte Julius. Sie schüttelte den Kopf.
"Julius Andrews, wenn du nicht von Professeur Faucon zu uns gebracht worden wärest hätten wir uns nie kennengelernt. Dann würdest du auch ohne mich Spaß haben."
"Dann würdest du aber noch leben, und mein Vater irgendwie auch", sagte Julius.
"Dann sieh dir das mal an", sagte Claire und pflückte ein Büschel Gras, das sie hochwarf wie Marie Laveaus Geist die Vorhersageknochen. Unvermittelt fühlte Julius sich an einem anderem Ort wieder. Er war in der Winston-Churchill-Straße 13 in London, seinem Elternhaus. Sein Vater sagte ihm gerade:
"Und dieser Voldemort ist wirklich wieder aufgetaucht. Wie soll das dann bitte weitergehen mit Hogwarts. War für mich schon schwer genug, das hinzunehmen, daß du da lernst."
"Die denken, der wäre nicht wieder aufgetaucht", sagte Julius. Seine Mutter kam in das luxuriöse Wohnzimmer und sagte:
"Hast du den Brief von Professor Flitwick gelesen, Richard. Er schlägt vor, daß Julius im nächsten Jahr schon die ZAG-Stufe erreichen kann."
"Hui, hätte nie gedacht, daß du dich so reinhängst", lobte sein Vater ihn. "Falls das drin ist, Julius, dann mach das. Dann weiß ich zumindest, daß ich mich richtig entschieden habe. Aber dann solltest du dich von Gloria und Pina etwas zurückhalten."
"Pina ist meine Freundin, Paps. Außerdem weiß ich nicht, ob ich wirklich schon die ZAGs machen soll."
"Mußt du auch nicht, wenn du das Klassenziel erreichst", sagte seine Mutter. "Richard, gönn dem Jungen den Spaß, den du dir nie gegönnt hast! Das bist du ihm als Vater schuldig."
"Ja ja, solange er nicht ..." Das Telefon klingelte.
"Ja, hallo. ... Ach, Ryan ... Wie bitte? ... Unmöglich, mein Sohn hat bestimmt nichts mit deiner Nichte Melanie ... Häh?" Hörte er seinen Vater sprechen. Dann erwachte in ihm das schlechte Gewissen. Warum hatte er nicht Vorkehrungen getroffen. "Moment, deine Schwester ist ... Ja, das Wort stimmt wohl. Und deren Tochter ist mit Julius ..." Er hörte seinen Vater übertrieben lachen. Dann sprach er weiter: "Nun, wenn sie wirklich ... Du weißt ja, daß sowas behoben werden kann und ... Wie, kommt nicht in Frage? .. Ach, Hortensia sagt, das sei nicht erlaubt. Bei denen, Ryan, aber bei uns ... Öhm, wissen die anderen schon? Mist! ... Selber Opa, besser als Großonkel." Sein Vater legte auf. Im nächsten Augenblick sah er sich mit Pina Watermelon, die neben ihm auf einer Bank saß und ihren angeschwollenen Unterleib tätschelte. "Ich hätte besser aufpassen müssen, Pina", hörte er sich sagen.
"Jetzt ist es unterwegs und ich werde es kriegen, egal was die Drake oder Gloria sagen."
"Gloria sagt doch nichts dagegen", sagte Julius.
"Nöh, nur daß ich wohl die Klasse wiederholen muß oder besser für ein ganzes Jahr von Hogwarts runtergehen sollte, bis das Baby groß genug ist, daß ich es auch in die Schule mitnehmen kann. Oder tut dir das etwa leid, daß wir es gemacht haben?"
"Miteinander oder das Baby?" Fragte Julius.
"Beides", erwiderte Pina knurrig.
Dann befand er sich in seinem Elternhaus. Seine Mutter war vor einem Monat ausgezogen, weil sein Vater diese Frau, Loretta Hamilton in Dover getroffen hatte. Das dieses Weib jetzt auch noch bei ihnen wohnte ärgerte ihn. Die Krönung des ganzen war noch, als er in den Weihnachtsferien von einem Besuch bei den Watermelons zurückkam und seinen Vater unter der heftig keuchenden rothaarigen Schlampe fand, die ihn glücklich anstrahlte und sagte, wenn er wolle, würde sie ihm auch so ein Weihnachtsgeschenk machen. Julius verlor die Beherrschung und griff der haltlosen Frau in die feuerroten Haare. Diese warf sich herum und starrte ihn mit goldenen Augen an.
"Du wirst schön lieb sein zu Loretta, wenn du möchtest, daß sie deinen Vater nicht vor der Zeit wegwirft, Bursche."
Der Schreck, als er wenige Tage später hörte, daß seine Mutter tot aus der Themse gezogen wurde, warf ihn so heftig um, daß es dunkel um ihn wurde. Dann fand er sich wieder auf der weiten Blumenwiese. Claire stand neben ihm und tätschelte ein Gänseblümchen, das wie eine im Boden verwurzelte Verkleinerung Pinas aussah.
"Die wollte dich auch haben, hat sich aber wie ich nicht sofort anmerken lassen, wie gern sie dich hat", sagte sie.
"Ja, aber Pina ist in Hogwarts, weit weg."
"Nicht für Eulen. Außerdem kennst du deren Onkel."
"Ja, aber dem kann ich wohl jetzt nicht sagen, daß ich seine Nichte kenne."
"Ja, und dieses Monster Hallitti hätte deinen Vater auch gekriegt, wenn er deine Mutter und dich nicht verstoßen hätte", sagte Claire.
"Das stimmt", mußte er beipflichten. Claire nickte. Sie griff in eine kleine Tasche des rotgoldenen Tanzkleides, das sie trug und holte sieben winzige Samenkörner heraus, ein honigfarbenes, ein dunkelbraunes und fünf rote, die sie mit einem grazilen Schwung des rechten Arms über der Wiese verstreute. Dann machte sie mit dem linken Arm eine himmelwärts weisende Bewegung, worauf wie aus dem Nichts eine dicke, graue Regenwolke erschien, die Julius irgendwie an Madame Aurélie Odin erinnerte. Aus der Wolke erklang eine Stimme:
"Claire, muß das echt sein? Gönn deiner Oma doch auch mal einen Tag Ruhe. Diese Regnerei geht ziemlich auf meine Knochen." Julius mußte grinsen, ob er wollte oder nicht. Dann fielen die ersten Regentropfen aus dem ganzen Körper der Wolkenfrau, die ähnlich wie Claires Großmutter aussah. Er hörte sie leise keuchen, als müsse sie Kniebeugen machen oder läge in den ersten Wehen vor der eigentlichen Geburt.
"Danke, Oma, reicht schon!" Rief Claire und sah zu, wie die große Wolke davonschwebte. Julius blickte auf den regennassen Boden und sah, wie die Samenkörner kleine Sprosse austrieben, aus denen sich sieben unterschiedliche Blumen entwickelten, die alle so groß wie erwachsene Menschen wurden und dabei auch immer menschenähnlicher aussahen, bis Julius Belisama, Sandrine, Sabine und Sandra Montferre, Béatrice, Martine und Mildrid Latierre erkannte. Er stutzte. Was hatten ausgerechnet diese sieben jungen Frauen und Mädchen zu bedeuten.
"Pflück dir eine!" Forderte Claire.
"Ja, nimm mich!" Rief Mildrid und wedelte mit den Armen, die wie lange grüne Blätter aussahen. "Ich bin stark genug, dir bei allem zu helfen und dir die einsamen Nächte zu versüßen. Außerdem sagt Goldschweif, daß ich gute Kinder von dir kriegen kann."
"Einsame Nächte, da sind wir besser für zu haben, was San", erwiderte die Kreuzung zwischen Blume und Mädchen, die wie Sabine Montferre aussah. "Wir können dir mehr beibringen als Millie, helfen dir doch schon lange bei Verwandlung und können dich gut zwischen uns beiden einkuscheln, damit du es nicht kalt hast."
"Ja, außerdem hast du Bine bereits unters Kleid gesehen und damit auch mir", warf die wie Sandra Montferre ausehende Blume-Mädchen-Kreuzung ein.
"Die denken nur an sowas", knurrte das wie Sandrine Dumas aussehnde Gewächs. "Gérard ist auch so drauf. Wenn das so weitergeht muß ich den wohl doch abgeben. Wir beide könnten uns viel Zeit lassen, uns richtig kennenlernen, ohne daß du oder ich uns abhetzen."
"Unfug, du denkst auch dran, ihn in dein Bett zu holen, oder auf welcher Unterlage du ihn dir einverleiben willst", versetzte Millie. Martine sagte dazu:
"Ich gehe doch stark davon aus, daß du zwei heißblütige Schwestern gleichzeitig nicht haben willst aber eine Frau haben möchtest, die sowohl an das eine denkt aber auch das andere kann. Du weißt, daß ich sehr viel ackern mußte, um Saalsprecherin der Roten zu werden. Andererseits hast du mich als erste Traumgeliebte gehabt. Also nimm mich und werde glücklich und zufrieden!"
"Von dir hat der eben nur geträumt. Mich hat er aber schon gehabt", warf darauf Béatrice Latierre ein."
"Aber verkehrt herum!" Knurrte Claire. "Wenn ich den nicht so geliebt hätte, hätte ich dir schon längst einen Dauerkrampf in deine private Stube gezaubert", sagte Claire noch und wandte sich dann an Julius. "Ich wußte das, daß du mit Béatrice im Bett warst. Das das aber nicht so lief, wie der Fluch es herauskitzeln wollte, war mir klar, weil wir danach nicht alle zu liebestollen kaninchen geworden sind."
"Du braucst jemanden, die deine künstlerischen Fähigkeiten liebt und nicht nur deinen Körper", sagte Belisama, während die Latierre-Schwestern ihrer Tante kecke Blicke zuwarfen. Laufen konnten sie nicht, weil sie ja mit ihren Stengeln sicher im Erdreich verwurzelt waren. "Ich habe dir damals beim Sommerball schon gesagt, es wäre doch sehr nett, wenn du nach Beauxbatons kommst. Dann habe ich dich auch zur Walpurgisnacht eingeladen. Natürlich war mir klar, daß Claire dich nicht mehr losläßt, wenn sie dich einmal in den Armen hatte. Aber ich bin immer noch da und ganz bestimmt nicht so'n Luder wie eine von den Roten da."
"Heuchlerin", schimpfte Mildrid. "Künstlerische Fähigkeiten? Wie willst'n die erkannt haben, wenn du den beim Ball damals erst kennengelernt hast, ey?"
"Selber ey", knurrte Belisama mädchenhaft. "Weil ich das mit der Laterna Magica gehört habe und das Julius sich eher für seine Ausbildung interessiert anstatt dem ersten Rock nachzuspringen, der sich vor ihm hebt."
"Du hast doch nur angst vor dem ersten Mal, weil das in keinem deiner Bücher steht, Fachidiotin", warf Sabine ihr vor. "Goldschweif wußte das schon, daß er nur mit einer aus dem roten Saal wirklich glücklich werden wird, nicht wahr San!"
"Die hätte mir noch beifall geklatscht, wenn ich den vor dem Gewächshaus so richtig rangelassen hätte", antwortete ihre Schwester mit leidenschaftlich klingender Stimme.
"Also nur eine aus dem roten Saal, Pech für euch zwei", bemerkte Millie dazu und deutete mit ihren grünen Blätterarmen auf Sandrine und Belisama.
"Du kriegst den aber auch nicht", warf Martine ein. "Vom Körper und Geist ist der weiter als du. Julius, zieh zu mir, dann hast du es auch nicht weit zu deiner Mutter und kriegst eine anständig ausgebildete Frau, die deine Kinder kriegen will."
"Ey, ich war eher damit dran, Martine", erwiderte Mildrid.
"Wenn du dir nicht eine pflückst, machen die immer so weiter, Juju, Mädchen halt!"
"Ich kann mir doch nicht einfach eine Blume pflücken und Peng, das dazu gehörige Mädchen heiraten", sagte Julius. Dann besah er sich die von Claire und ihrer Regen bringenden Großmutter herangezogene Blumenschau. Irgendwie war es lustig, wie sie sich um ihn stritten, mal seinen Körper, mal sein Wissen oder seine Kunstliebe umwarben oder ihre jeweiligen Vorlieben anpriesen. Ja, Béatrice wäre da wohl die am weitesten entwickelte. Aber die wäre ja weit weg. Aber irgendwie gefiel ihm die Vorstellung, Madame Ursuline Latierre als Schwiegermutter zu kriegen. Belisama war schön und für ihr Alter auch körperlich und geistig sehr weit entwickelt, wenngleich er nicht ganz verdrängen konnte, daß Millie recht haben könnte, wenn sie meinte, Belisama heuchele nur geistiges Interesse, bis sie ihn im Bett habe und dann nur noch seinen Körper haben wolle, womöglich, um viele kleine honighaarfarbene Kinder von ihm zu kriegen, ohne daß sie sich festlegte, wie viele. Bei den Montferres wußte er sofort, wollte er eine, würde er beide kriegen, wenn es keinen Zwilling von ihm gab. Irgendwie würden die sich um ihn zanken, wenn er beiden gleichzeitig nicht gleich viel von sich gab, egal wovon. Das wäre ihm doch etwas zu anstrengend, zumal die Vielehe in der französischen Zaubererwelt nicht gerade gut angesehen war. Sandrine war auf ihre Art ruhig und bedächtig, konnte aber auch, wie er schon gelernt hatte, sehr energisch und bestimmend auftreten. Das wäre bestimmt die ideale Partnerin für ihn, wenn er nicht das schlechte Gewissen hätte, Gérard die Freundin wegzunehmen. Sicher, mit Gérard war er nicht so eng befreundet wie mit Robert oder Hercules. Aber jemandem die Freundin auszuspannen fand er abartig, wenn leider auch weit verbreitet. Millie hatte nie einen Hehl draus gemacht, daß sie was von ihm wollte. Das Problem war nur, wollte er das sein oder tun, was sie von ihm wollte? Andererseits wüßte er bei ihr wirklich, woran er war. Wollte er eine so forsche Frau, die keine Probleme damit hatte, mal neben die Umgangsformen zu langen? Die gleiche Frage müßte er sich bei Martine stellen. Nein, Martine war zwar auch sehr frei heraus, was sie wollte, hatte aber ihren Weg gefunden, Spaß und Pflichten zu verbinden. Sicher, sie war ja auch ein paar Jahre älter als Millie. Aber sie würde ihn zumindest gut in die Zaubererwelt der Erwachsenen einführen. ... Vielleicht war das aber die falsche Formulierung, mußte Julius schmunzelnd feststellen. Tja, und dann war da noch Béatrice, die Frau, die er tatsächlich als erste Sexpartnerin gehabt hatte. Aber das war doch nur um diesen Fluch auszuhebeln und dann noch nicht mal so, daß er vom Jungen zum mann geworden war. Aber gerade das würde für Béatrice sprechen, daß sie sich gegenseitig auf die richtige Weise liebten, damit sie das berühmte erste Mal auch wahrhaftig erleben konnten. Claire hatte das gewußt, was er mit Béatrice getan hatte? Wahrscheinlich wußte sie es jetzt erst, wo er mit ihr auf dieser Blumenwiese war.
"Na los, geh schon hin und pflücke dir eine, damit Ruhe ist!" Trieb Claire ihn an. Doch er blickte sich nur um, hörte auf das gegenseitige Herunterputzen der halb in Blumen verwandelten Frauen und Mädchen. Dann wandte er sich an Claire und grinste verschmitzt:
"Du hast Bébé und Patrice, Gloria und Pina vergessen."
"Bébé will keinen Zauberer haben. Sie will zwar jetzt eine Hexe sein, aber bloß nicht nach der Schule mit einem Zauberer oder einem Kind von dem nach Hause kommen. Die anderen hatte ich gerade nicht in meiner Tasche, und da waren alle drin, die wirklich interessant für dich sind, glaub es mir. Maman hat mir genug über die Blumen und Bienen beigebracht."
"Nein, Claire, das blöde Spiel spiele ich jetzt nicht, eine Blume zu pflücken."
"Hast auch recht. Jungs pflücken normalerweise keine Blumen, wenn sie nicht wissen, für wen. Dann eben so rum, und wenn dir Mädchen zu schnatterhaft sind ..." Sie Griff Julius beim Kragen, und unvermittelt fühlte er sich am Boden festwachsen, bekam einen immer schlankeren Körper. Seine Arme wurden zu grünen Blättern. Claire lachte, während sie mit schnellen Schritten an den aufgewachsenen Blumen vorbeiging und sie alle Pflückte, was sie durch leises Aufschreien quittierten und dann innerhalb von Sekunden wieder zu Samenkörnern schrumpften.
"So, und jetzt wartest du hier schön, bis dich eine pflücken will", sagte sie und ging einfach weg, wobei sie ein flottes Lied von Hecate Leviata pfiff.
"Hey, Claire, das ist doch jetzt megablöd. Mach mich wieder normal!" Rief Julius. Doch Claire war bereits fort. Er stand herum, von der Sonne beschienen und fühlte, wie die hellen Strahlen ihm Kraft eingaben. Dann hörte er lautes Schwatzen und sah sich um. Da kamen acht Frauen in bunten Kleidern angeschlendert, wohl auf der Hut, keine der kleinen Blumen zu zertrampeln. Er erkannte die füllige Madame Ursuline Latierre in einem Kostüm aus sonnengelber Bluse und himmelblauem Rock, professeur Faucon in ihrem mauvefarbenen Umhang, die ihr Haar zu einem eleganten Zopf geflochten hatte, Hera Matine, die Heilerin von Millemerveilles in ihrer rosaroten Schwesterntracht, die schlanke und über die Maßen anmutige Fleur Delacour, deren silberblondes Haar luftgleich um ihren Körper floss, Aurora Dawn in ihrem Roten Kleid, daneben ihre Cousine Arcadia Priestley, dahinter Béatrice Latierre und ganz zum Schluß noch einmal Martine Latierre. Julius schwante Ungemach. Sollte eine von denen ihn hier aus dem Boden reißen? Würde das weh tun? Vor allem, was würde die, die ihn pflückte mit ihm anstellen.
"Schön, da ist er ja", sagte Ursuline Latierre und schritt weiter aus. Doch Professeur Faucon eilte ihr nach und meinte:
"Sie sind echt ungehobelt, Ursuline. Was versprechen Sie sich davon, den Jungen an sich zu reißen?"
"Das zweite Dutzen, Blanche. Nachdem Ferdinand sich mir verweigert und ich meinen warmen Ofen noch ein wenig arbeiten lassen will, wäre der Bursche da genau das, was mich so richtig ausfüllt."
"Sie meinen wohl eher auffüllt", schaltete sich Hera Matine ein. "Aber so gesehen haben Sie schon recht, Ursuline. Der könnte mein Fachwissen und meine Lebensfreude richtig gut ausreizen. Es ist schon ein herrliches Gefühl, wenn man das eigene Kind aus sich herausholt. Tut zwar heftig weh, ist danach aber um so erfreulicher, wenn es geklappt hat. Außerdem habe ich als Witwe eher Anspruch auf den."
"Hera, es wäre besser, wenn ich diesen Anspruch geltend mache", wandte Professeur Faucon entschieden ein. "Ich lege es nicht so entschieden auf Nachwuchs an und könnte den jungen Mann sicher in eine geordnete Zukunft führen."
"Sich einen Jungen zu krallen, ohne sich von ihm ein paar süße Kinder machen zu lassen sieht Ihnen ähnlich, Blanche", warf Madame Ursuline Latierre ein. "Der will aber keine Frau haben, die nur neben ihm liegt und schnarcht."
"Ich schnarche nicht", widersprach Professeur Faucon. Dann erkannte sie, daß sie der rundlichen Latierre-Matriarchin in die Falle gegangen war und fügte schnell hinzu: "Wenn er sich der körperlichen Liebe zwecks Familiengründung hingeben möchte, wären Sie ihm definitiv zu überlegen, würden ihn immer unterbuttern. Ich habe aber gelernt, ihn zu fördern, ihn voranzubringen."
"Er sieht schön aus, wie er da steht. Kann mir vorstellen, daß er mit der richtigen Ausbildung und Kleidung sehr gut neben mir aussieht", sagte Fleur. "Außerdem ergeben Ruster-Simonowsky und Halbvila bestimmt gute Hexen und Zauberer. Also nehme ich ihn."
"Sie sind verlobt", warf Professeur Faucon ein.
"Das war er auch", erwiderte Fleur Delacour. "Aber seine Verlobte mußte ihn verlassen und möchte, daß jemand sich um ihn kümmert."
"Mädel, du siehst zu schön aus um den Job richtig zu bringen", sagte Martine Latierre. "Du hast in Beaux zwar immer mit deinen Noten und mit deiner Schönheit kokettiert, aber ich bin mir echt nicht sicher, ob du dir die UTZs in Kräuterkunde und Magizoologie nicht erschlafen hast."
"Du nennst mich eine Hure, Martine. Ausgerechnet du, die Edmond den Kopf verdreht hat, daß er sich nicht nur auf seine Bücher fixiert?"
"Das das nicht ganz geklappt hat zeigt, daß ich nicht so drauf bin wie du, Blümchen. Außerdem passen wir besser zusammen, nicht wahr, Julius. Oder möchtest du lieber meine kleine Schwester haben?"
"Du nennst mich nicht eine Hure, Leichtfuß!" Schnarrte Fleur sichtlich gereizt. Béatrice und Aurora traten auf ihn zu.
"Wir könnten gut zusammenleben im Schloß meiner Mutter", sagte Béatrice. "Aber wenn ich das so höre, will die dich haben, um mir noch mehr Geschwister auf den Wickeltisch zu werfen. Da will ich lieber eigene Kinder haben. Also könntest du auch zu Aurora nach Australien ziehen, damit du weit genug von den anderen Weibsbildern weg bist."
"Genau, Julius, deine Mutter kennt mich ja und weiß, ich würde dich nicht zu irgendwelchen Unanständigkeiten verleiten, bis wir das offiziell dürfen", sagte Aurora.
"Meine Mutter sagt, wenn ich ihn haben kann, sollte ich ihn nehmen", sagte Arcadia Priestley. Julius rief sofort:
"Eh, Leute, so wie Sie alle drauf sind kann mich meinetwegen Demie fressen."
"Zumindest bekämen meine Kinder dann etwas von ihm zurück, wenn er ihr gute Milch macht", lachte Madame Latierre. Julius merkte in dem Moment, daß er wohl was falsches gesagt hatte, als er lautes Flügelschlagen hörte. Er drehte seinen Blütenkopf herum und sah die gigantische Flügelkuh Demeter. Sie flog genau auf ihn zu, brüllte alle umstehenden Frauen an, zurückzutreten. Dann sprach sie mit einer für ein weibliches Tier nicht zu erwartenden Basstimme:
"Du wolltest von mir gefressen werden? Ehrlich? Also was willst du sein, ein lebendiger Mensch oder ein stinkender Kuhfladen?"
"Ich nehme das gesagte zurück", sagte Julius sofort. Da verwandelte sich Demie in Callie Latierre. Sie stöhnte.
"Mann, diese Kuh zu sein ist ganz schön anstrengend", sagte sie, griff Julius mit beiden Händen um den Stengel und zog an ihm. Er meinte, ihm rissen die Füße aus, doch dann durchlief ein leicht wohliger Schauer ihn, als das Mädchen ihn sicher in den Händen hielt und hochreckte.
"So, jetzt habe ich dich, Julius. Was soll ich jetzt mit dir machen?"
"Öhm", sagte Julius, der fühlte, wie seine Kehle immer trockener wurde. Klar, er brauchte wasser. Das sagte er auch.
"Claires Oma hat sich gerade anderswo abgeregnet. Aber ich kann dich bei uns im Schlafsaal in Beauxbatons in eine Vase stellen. Pennie und Pattie freuen sich bestimmt, wenn sie dich gießen können."
"Äh, Mädel, du hast mich ausgerupft, nicht ausgegraben", erwiderte Julius röchelnd.
"Gut das du das sagst", erwiderte Callie. "Das heißt also, wenn ich dich nicht wieder eingrabe, gehst du ein?"
"Ich habe langsam keine Lust mehr auf dieses Spiel. Mach mit mir, was du willst!"
"Dann möchte ich haben, daß du zu uns zurückkommst und rauskriegst, wie schön das Leben ist. Ich bin ja ein paar Jahre Jünger als du. Deshalb denke ich, das es bestimmt viele schöne Sachen gibt, die ich noch rauskriegen kann, wie das mit einem Jungen ist, ein Brautkleid anziehen und dann wieder ausziehen, rauszukriegen wofür ich eigentlich leben will einfach. Kannst du mir da was erzählen, woran ich da so denken soll?"
"Weiß ich doch selbst nicht, bin doch erst vierzehn", gab Julius mit immer heiserer werdender Stimme zur Antwort.
"Und dann wolltest du nicht gepflückt werden, um wieder auf die eigenen Beine zu kommen? Das kapiere ich jetzt nicht."
"Claire hat dieses Blumenspiel angefangen."
"Claire ist nicht mehr da", erwiderte Callie. Dann stellte sie Julius wieder hin, und er bekam unvermittelt seine ganz und gar menschliche Gestalt zurück. Da standen sie alle um ihn herum, die erwachsenen Hexen und die Mädchen, auch Callie und ihre Schwester. Ja, und da waren noch Robert, Céline, Gérard, Monsieur Florymont Dusoleil und seine Frau Camille, die ihn anlächelten. Sie gaben ihm nicht die Schuld an Claires Tod. Als hätten sie seine Gedanken gelesen rief Camille Dusoleil:
"Claire ist nicht tot, solange du lebst und alle, die sie gekannt haben. Also, willst du leben, dann lebt auch Claire weiter."
"Ja, ich will weiterleben", sagte Julius. Die versammelten Hexen und Zauberer sahen ihn an und nickten ihm zu.
"Dann sieh zu, daß du aus Ashtarias goldenem Schoß wieder herauskommst", sagte Professeur Faucon. "Wir warten draußen auf dich."
"Genau, Julius. Komm zu uns nach draußen, damit du rauskriegen kannst, was das Leben so schön macht", riefen Belisama, Sandrine, Millie und die Montferres im Chor. Dann trat noch Pina aus der Versammlung, hinter ihr Gloria Porter.
"Wir sind auch noch da", sagte Gloria nur. Pina nickte und fügte hinzu:
"Außerdem würde Claire sich bestimmt freuen, wenn du nicht zu lange um sie trauerst. Sie war ein kleines Biest, weiß ich. Aber sie war für dich das Mädchen, daß dir alles gegeben hat. Schmeiß das nicht weg!"
"Will ich nicht, Pina", beteuerte Julius.
"Dann auf, Julius, verlasse diesen zeitlosen Mutterschoß, um dein Leben weiterzuführen", sagte Professeur Faucon erneut. Dann trat seine leibliche Mutter noch hinzu und sagte beruhigend:
"Ich habe Claire sehr gemocht. Es würde mich traurig machen, wenn du mir nichts mehr von ihr erzählen kannst."
Julius verstand. Sie alle um ihn waren da, um ihm zu zeigen, daß er auch ohne Claire weiterleben konnte. Sie selbst hatte ihn hier auf diese Wiese gestellt, um ihm zu zeigen, daß sie nicht wollte, daß er nur noch um sie trauerte, sich für ihren Tod die Schuld gab. Sie wollte ihm alles geben, was sie konnte, ihre Freude, ihr Wissen, ihren Körper, ihre Liebe und am Ende ihr Leben. Das verpflichtete ihn, weiterzuleben, nicht nur an sie zu denken, sondern sein Leben zu führen, das sie ihm ermöglicht hatte. Es wäre undankbar, wenn er das nicht annahm.
"Dann streng dich an, Julius. Wen die Göttermutter einmal im Leib hat will sie nicht so schnell wieder hergeben, weil die Welt so gefährlich ist", sagte Madame Dusoleil. "Maman hat mir das erzählt."
"Ich werde nicht hierbleiben", sagte Julius. Da löste sich die ganze Versammlung auf, und er schwebte wieder in jener goldenen Kugelschale aus Licht, im Leib Ashtarias. Doch er war nicht mehr allein. Neben sich sah er durchsichtige Gestalten, die aufeinander zuglitten. Es waren Claire und ihre Großmutter.
"Julius, wir werden dir vorangehen. Du wirst uns beide und doch keine von uns drüben wiederfinden", sagte Madame Odin mit hallender Stimme.
"Du hast dich entschieden, Juju. Dafür danke ich dir. Sonst hätten wir beiden ewig in Ashtaria bleiben müssen, und das wäre doch langweilig geworden. Danke für alles, Juju. Ich habe dich immer geliebt. Aber ich fürchte, wer ohne mitgebrachten Körper aus Ashtaria geboren wird, verändert sich."
"ja, so ist es", sagte Aurélie. "Claire und ich werden zusammen zurückkehren. Jede von uns wird vieles der Anderen in sich aufnehmen. Doch wenn die alten Schriften recht haben, ist eine Zeugung aus zwei Seelen wie die aus zwei Körpern, gemeinsames von den Ursprüngen, und doch was grundverschiedenes. Vielen Dank für die Hilfe, die du mir und meinen Verwandten gegeben hast, und trauere nicht um uns, weil wir nicht verschwinden, sondern nur etwas neues anfangen."
"Ich habe dich auch geliebt, Claire Dusoleil. Wo immer du hingehst, lebe wohl und glücklich."
"Goldschweif wird dir wen finden, die dein Leben so schön macht wie du es verdient hast", sagte Claire noch. Dann verschmolz sie mit ihrer Großmutter zu einer goldenen Frauengestalt, die unvermittelt in die Kugelschale hineinglitt, langsam und unter Ächzen und Schmerzlauten hindurchbrach und für eine halbe Minute nur eine kreisrunde, sonnenhell leuchtende Öffnung zurückließ, die sich dann wieder Schloß, als Julius versuchte, hinterherzuspringen. Mit tränenüberströmtem Gesicht rief er noch einmal den Namen seiner Gefährtin, die ihm eine so sonnige Zukunft verheißen hatte und jetzt nicht mehr bei ihm sein durfte.
"So kannst du mich nicht verlassen. Nur Zweiseelenkinder kann ich auf diese Weise gebären", sagte Ashtaria und klang leicht erschöpft. Julius fiel nun auf, daß die ihn umgebende Kugelschale etwas kleiner geworden war. Mochte es sein, daß Ashtaria durch die Freisetzung der beiden ihn liebenden Seelen an Größe verloren hatte?
"Wenn ich es so recht bedenke, bist du noch zu unbeholfen, um von mir in die Welt zurückgegeben zu werden. Am besten lasse ich dich in mich einfließen und kehre mit dir in meine Welt zurück, wo ich mit dir auf die Zeit warte, wann ich wieder gebraucht werde."
"Ey, du hast gesagt, du willst mich wieder hergeben", protestierte Julius. "Was würde denn dann mit der ganzen Prophezeiung und mit Iaxathan?"
"Das würde dich nicht kümmern, mein Kind. Du würdest in meinem großen Geist aufgehen, wissen, was ich weiß und mir geben, was du weißt. Das wolltest du doch, oder?"
"nein, ich will weiterleben, für Claire, damit sie nicht umsonst gelitten hat", sagte er kategorisch.
"Du weinst wie ein Säugling, obwohl du noch nicht in die Welt gesetzt wurdest", erwiderte Ashtaria sehr entschlossen. "Vielleicht sollte ich dich durch eine andere Sterbliche zur Welt bringen lassen, damit ... Nein, bei mir bist du besser aufgehoben, Kleines."
"Von wegen Kleines", erboste sich Julius. Er wurde richtig wütend, weil er sich um seine Rückkehr betrogen fühlte, weil er Angst hatte, hier nicht mehr wegzukommen und ... Da zog sich die Kugelschale etwas enger zusammen.
"Wenn du wirklich in dein unbeholfenes Leben zurückwillst, Julius, dann versuche, dich selbst hinauszutreiben, bevor mein Leib dich nicht mehr umgeben kann und du in meiner ganzen Daseinsform aufgehst. Es wäre schmerzfreier, wenn du wartest, bis wir beide eins sind."
"Schmerz ist ein wichtiger Teil des Lebens", entsann sich Julius einer Rede von Captain Kirk zum Vulkanier Sybok, der den Leuten einzureden versuchte, die Befreiung vom Schmerz sei die Erfüllung des Lebens. Da kam ihm der Gedanke, daß Ashtaria ihn prüfen wollte. Es lag an ihm, ob er sein Leben wiederbekam und dafür alles in Kauf nahm oder sich aufgab und dann in ihrer unendlichen Obhut verbleiben würde, sorgenfrei aber nicht mehr er selbst. So konzentrierte er sich auf eine der Wände, die immer enger wurden. Er hörte das leichte Keuchen Ashtarias. "Wetten du schreist gleich genauso wie Connie Dornier?" Dachte er.
"Oder du erstickst auf deinem Weg nach draußen. Dann bleibst du auch bei mir", stöhnte Ashtaria. Julius bekam den linken Scheitelpunkt der Hohlkugel zu fassen. Es fühlte sich an wie warmes Gummi, weich und irgendwie pulsierend. Er streckte seine Füße aus und traf auf die andere Seite der Kugel. Mit einem kurzen Ächzer stieß er sich ab, streckte seine Arme so weit hinter seinen Kopf wie möglich und prallte auf die gegenüberliegende Seite, die jedoch nicht nachgab, sondern hart wie stahl war. Dann besann er sich. Er fühlte sein Gewicht, also wo oben und unten war. Er tastete sich nach unten, während Ashtaria leise keuchte. Mußte diese Wesenheit wirklich atmen? Vielleicht gaukelte sie ihm das auch nur vor, weil er als "Sterblicher" nichts anderes erwartete. Dann stieß er sich nach unten, in der Hoffnung, Ashtaria würde sich hinhocken.
"Wirst du wohl meinen Rücken ganz lassen", knurrte sie unter einem wie gepeinigt klingenden Laut. Da wußte Julius, dieses astrale Weibsbild machte genau den Fehler, den viele werdende Muggelmütter von ihren Ärzten aufgenötigt bekamen. Sie hatte sich hingelegt, Das hieß, er mußte gegen die Schwerkraft, gegen sein eigenes, immer stärker spürbares Gewicht, den Ausgang suchen. So zog er die Beine an, wie ein ordentlicher Fötus und sprang dann vom untersten Scheitelpunkt ab nach oben, wobei er seine Arme wieder vorstreckte und gegen einen nachgiebigen, aber zähen Wiederstand prallte. Wieder versuchte er es, was dadurch begünstigt wurde, das sich sein übernatürliches Gefängnis immer mehr verkleinerte. Bald würde er nicht mehr langgestreckt darin stehen können. Wieder prallte er gegen den Widerstand. Tatsächlich vernahm er einen kurzen Aufschrei. Dann wagte er es, nicht mit den Armen zuerst, sondern mit seinem Schädel als ersten Kontakt gegen den Widerstand zu treffen.
"Arrg", hörte er Ashtaria. "Du wagst es wirklich, mir entschlüpfen zu wollen."
"Solange du mich nicht nachher noch wickeln oder stillen mußt ist mir das jetzt genau recht", knurrte Julius und drückte mit aller Kraft gegen den oberen Scheitelpunkt. Da brach der Widerstand fast zusammen. Er fühlte, daß er mit seinem Kopf eine tiefe Mulde gegraben hatte und zielte beim nächsten Sprung genau darauf. Ja, er fühlte, wie sein Kopf hindurchstieß. Doch fast bereute er das. Denn nun umschlang die durchstoßene Wand seinen Hals immer enger.
"Du bleibst bei mir", hörte er Ashtarias Stimme. "Ich kann und will dich nicht in diese dunkle Welt zurücklassen."
"Das Licht der Welt heißt das, wenn normale Menschen ankommen", dachte er und stieß sich gegen den von unten immer enger werdenden Boden. Er fühlte schon, wie ihm die Luft wegzubleiben drohte. Eine Sekunde dachte er daran, den Kopf wieder nach unten zu ziehen und sich dieser überbehütenden Mutter auszuliefern, als was er dann auch immer mit ihr zusammensein würde. Aber Claire und ihre Großmutter hatten sich für ihn geopfert, damit er weiterleben konnte. Das durfte nicht umsonst gewesen sein.
"Cythera wollte bestimmt nicht an die frische Luft", dachte er. "Aber jetzt fing sie an, sich in der Welt umzublicken, was sie alles bereithielt. Also wollte er das erst recht. Er dachte an den Heilsstern. Wie ging die Formel noch einmal? Er hatte die Aussprache vergessen. Dann stieß er sich noch einmal mit ganzer Kraft ab. Rote Kreise tanzten vor seinen Augen. Gleich würde er keine Luft mehr kriegen. Dann fühlte er, wie sein Hals freikam. Für eine Sekunde konnte er Luft holen. Da umschnürte es seine Lungen. Er blickte sich um. Tatsächlich ragte sein Kopf aus einer großen goldenen Kugel heraus, von der an den Seiten rumpfdicke Schenkel ausgingen, die in Beinen ausliefen, die bestimmt so lang waren wie Madame Maxime hoch war. Mit aller verbliebenen Kraft und Willensaufbietung stieß er sich mit den Beinen nach unten ab, begleitet von leisen Stöhnlauten Ashtarias. Er kämpfte verbissen, bis er wieder am Rand der Bewußtlosigkeit, gepeinigt vom Gefühl des zerquetscht werdens, den linken Arm aus dem gigantischen Leib aus verstofflichter Magie herausziehen konnte. Er schmerzte ihn. Doch er war überglücklich, denn nun konnte er sich damit weiter herauszwängen. Er fühlte schon, wie seine Beine immer mehr umschlungen wurden und eine Gegenkraft einsetzte, die ihn mit immer stärkeren Pumpbewegungen in dieses astrale Wesen zurückzerren wollte.
"Du bist zu schwach für diese Welt. Warum willst du in sie zurück?" Hörte er von vorne her ihre Stimme hallen. Er blickte nach vorne und sah den Kopf, der so groß wie der ganze Körper eines erwachsenen Mannes war. Die Gesichtszüge waren wirklich weiblich, und er sah die Anstrengung.
"Gleich gebe ich meinen berühmt-berüchtigten Urschrei von mir", dachte Julius und drückte mit seinen Beinen gegen die Kraft an, die ihn zurückziehen wollte. Dann bekam er den rechten Arm frei und stemmte sich mit beiden Armen gegen den Außenrand seines Gefängnisses. Er konzentrierte sich auf diese eine vereinte Bewegung, holte so gut Luft es noch ging und stieß sich mit Armen und Beinen zugleich ab. Laut jammernd quittierte Ashtaria sein Manöver. Er Kämpfte weiter, schaffte es, seine Hüften freizubekommen und warf sich mit dem Oberkörper nach vorne. Da zog ihn die erbarmungsloser werdende Kraft zurück, fast wieder bis über die Hüften.
"Ich will dich nicht hergeben. Du bist zu klein und hilflos. Dann sah er eine riesige Hand auf ihn zukommen. Würde sie ihn packen und zurücktreiben, war er verloren. So zerrte er sich mit den Armen nach oben, warf sich in einer verzweifelten Anstrengung nach vorne,strampelte mit dem Linken Bein, riss es hoch und frei, und dann, als ihn gerade die Hand ergreifen wollte, um seine Bemühungen zunichte zu machen, riss er mit einem kurzen Schmerzensschrei das rechte Bein frei, fühlte wie wohl einige Muskeln darin überdehnten oder rissen und lag keuchend auf dem gewölbten Leib. Die Hand, die ihn eigentlich zurückstoßen sollte, umspielte seinen Rücken und streichelte ihn sanft.
"Du bist wahrlich der Träger des Siegels der Herrscherin. Denn du hast gegen alle Verlockungen und meine Macht darum gekämpft, in dein kurzes, aber eigenes Leben zurückzukehren", sagte Ashtaria. Julius sah an sich hinunter und entdeckte, das er in einer gummiartigen goldenen Haut eingehüllt war. Ashtarias Körper begann zu schrumpfen, während sie sanft zu ihm sprach:
"Ich habe dich deinem Leben zurückgegeben. Denn du hast begriffen, daß du leben willst. Jetzt ist meine Aufgabe in deiner Welt vollbracht, bis wieder jemand kommt, der meines Schutzes bedarf und durch wahre Liebe meine Macht anruft. Lebe dein Leben, Julius Andrews! Lebe es gewissenhaft, bedächtig, mitfühlend und glücklich. Lebe lange und in Frieden!"
"Lebe lange und erfolgreich!" Erwiderte Julius automatisch, bevor er schmunzeln mußte, daß Ashtaria gerade mit ihm den vulkanischen Standardgruß ausgetauscht hatte. Außerdem wußte er, daß es mit dem Frieden wohl nicht weit hin sein würde. Er hatte in der Tat ein Leben wiederhaben wollen, daß gerade an diesem Tag alles andere als friedfertig mit ihm umgesprungen war. Sogenannte Friedenswächter hatten versucht ihn zu versklaven oder umzubringen und dabei eine von ihm geliebte Person aus seinem Leben gerissen. Doch dieser Hexe, Claire Dusoleil, verdankte er sein Leben. Es zu leben war ihr Erbe, das sie ihm hinterlassen hatte. Zwar fühlte er sich etwas schuldig. Doch er erkannte, als Ashtaria immer mehr zusammenschrumpfte, bis sie nur so groß wie er war, daß sie nichts anderes für ihn tun wollte als das und er ja auch sein Leben riskiert hatte, um ihres zu schützen. Seine vorübergehende und überbehütende Mutter aus verstofflichter Zauberkraft sah ihn aus ihren goldenen Augen an.
"Gib den Stern meiner Kinder an die Tochter und die Mutter derer, deren Liebe uns beide zusammengeführt hat. Ihr wird die Kraft meiner Kinder helfen, wie sie dir half!" Sie küßte Julius auf den Mund, und er fühlte, wie alle seine Schmerzen und die Erschöpfung von ihm wich. Sie gab ihm von der Kraft zurück, die er gegen sie angewendet hatte. Diese Form der Gerechtigkeit und Güte erwärmte ihn von innen her. Er hatte ihre Prüfung bestanden, sich für sein Leben entschieden und dafür ihre Hochachtung bekommen. Glaubte er früher nicht an höhere Wesen wie Engel oder einen Gott, so wußte er nun, was die höheren Wesen anging, gab es bestimmt noch einige mehr, die wohl einmal einfache Menschen gewesen waren und durch das, was sie taten und errangen in die Lage versetzt wurden, sich mit den der Natur übergeordneten Kräften zu vereinigen. Wo existierten sie, wenn sie nicht in der natürlichen Welt erschienen? Das wußte er nicht. Viele Menschen behalfen sich mit dem Glauben an einen Himmel oder eine Hölle, wo die einen für ihre Mühen und guten Taten belohnt, die anderen für ihre Tricksereien und bösen Taten bestraft wurden. Doch an diese Orte glaubte er nicht. Auch das Erscheinen Ashtarias hatte das nicht geändert. Im Gegenteil: Himmel und Hölle waren räumlich beschreibbare Orte. Doch dieses Wesen mochte in einer Weise existieren, die über Raum und Zeit erhaben war. Wenn es das war, was jeden erwartete, der starb, dann war der Tod kein grausames Ende, sondern eher ein vielversprechender Anfang. Doch um diesen zu würdigen, erkannte Julius, mußte er das Leben in allen Erscheinungsformen erfahren und respektieren.
Ashtarias Gestalt schrumpfte ein, bis ihre kleinen Hände und Füße nach dem Heilsstern langten und sich daran festhielten und das Artefakt für einen Moment noch einmal golden aufglühen ließen. Es schien so, als kehre Ashtaria in den Gegenstand zurück, aus dem sie erschienen war. Doch das war nur eine Sinnestäuschung. Wo immer sie jetzt war, sie benutzte den Stern als Brücke, nicht als Wohnung.
"Julius", hörte er Professeur Faucons Stimme. Er wandte sich um. Der goldene Schimmer auf seinem Körper war verschwunden, und er trug alles am Leib, was er auf seine waghalsige Reise mitgenommen hatte. Auf jeden Fall war er kein Baby.
"Melde mich zurück in der Welt, Professeur Faucon. Leider habe ich den Auftrag nicht ordentlich zu Ende bringen können. Claire und Madame Odin sind körperlich tot", sagte er. Da sah er, wie etwas golden schimmerndes von der Decke herabsank, erst gestaltlos, dann immer schärfere Konturen annehmend. er riss seine Augen weit auf, als er eine aus rotgoldenem Licht entstandene Frau sah, die wie Camille Dusoleil aussah. Sie blickte sich um, während sie ihre nackten Füße auf den Boden brachte und nun zu einer vollkommen undurchsichtigen, rotgoldenen Erscheinung wurde, ganz eindeutig wie Madame Dusoleil aussehend, oder eher wie eine Schwester von ihr.
"Das glaube ich jetzt nicht", dachte er, während der Heilsstern auf seiner Brust wieder warm und wohlig pulsierte wie ein außerhalb seiner Brust pochendes Herz, aus dem ihm Sorglosigkeit und Gewißheit in den Leib strömten.
"Wer bist du?" Hörte er Professeur Faucon fragen. Er sah sie nicht an, weil er nur Augen für die überirdische Erscheinung hatte, deren langes Haar wie von goldenen Funken durchsezte schwarze Seide in leichten Wellen um den Oberkörper lief. Dann hörte er eine Stimme, die wie eine gelungene Verschmelzung zwischen Claires Großmutter und ihr selber klang.
"Ich bin Ammayamiria, die Zweiseelentochter von Aurélie Odin und Claire Dusoleil. In mir sind sie vereint und ich bin nun ihre Seelentochter. Ich bin nur jenen sichtbar, die von der Liebe ergriffen waren, die meine beiden Mutterseelen gaben und empfingen und jenen, die ihnen wichtig sind. Ich bin aus dem Schoß der Ashtaria geboren, wie Julius Andrews, der sich für sein Leben entschieden hat. Ihm und euch möchte ich noch sagen, daß ich möchte, daß niemand ihm die Schuld am Verlust der körper meiner Mutterseelen gibt. Wird er das Zeichen meiner Urmutter Ashtaria an die Hexe weitergeben, die die körperliche Verbindung zwischen meinen Mutterseelen ist, werde ich ihr und allen, die ihre Liebe genießen erzählen, daß ich nicht tot bin, sondern das lebendige Kind aus Libe und Güte bin und mit der Behütsamkeit und Sorge der Mutter und der Unschuld der Jungfrau beseelt weiterlebe, solange es unter den körperlich lebenden welche gibt, die Kinder der Ashtaria sind und meine Liebe erfahren und sich meiner erinnern werden. Ich werde nun Ashtaria folgen, bis ich fühle, daß Camille, die Tochter Aurélies und Mutter Claires, ihr Erbstück erhalten hat, um aus ihrer Liebe heraus erneut zu ihr und ihren Anverwandten sprechen kann. Doch nur jenen werde ich sicht- und hörbar erscheinen, die mit meinen Muttersselen in gegenseitiger Liebe verbunden waren. Ihnen werde ich dann beistehen, wenn Zeiten hereinbrechen, in denen die dunklen Wolken aus böser Vorzeit heraufziehen." Dann wandte sie sich Julius zu. Nun eher wie Claire klingend sagte sie: "Halte dein Wort, Juju und warte nicht zu lange, bis du deine Liebe jemandem anderem geben möchtest!" Dann nickte sie Madame Maxime zu, die anstalten machte, auf Julius zuzugehen. Die Schulleiterin sagte:
"Wenn er dieses Artefakt nicht an Madame Dusoleil weitergibt, wird sie nicht erfahren, was mit Ihnen und dem Jungen passiert ist. Es könnte sein, daß unser Zaubereiminister nicht will, daß es zu viele wissen. Deshalb ist es besser ..."
"Nein, der Heilsstern Ashtarias muß zu seiner rechtmäßigen Erbin wandern. Nichts wird ihn aufhalten", sagte die rotgoldene Erscheinung jener Verschmelzung von Madame Odin und Claire, diesmal eher wie Aurélie Odin klingend. Die Schulleiterin trat vor und langte nach dem Heilsstern. Da umfing sie Ammayamiria mit ihren Armen. Auf einmal schrumpfte Madame Maxime so stark zusammen, daß die Frau aus goldenem Licht sie wie ein Baby in den Armen hielt. Sie zeterte und schlug um sich. Dann wurde sie ruhiger, weil die Erscheinung leise auf sie einsprach, ihr etwas zuflüsterte. Dann gab sie die stark verkleinerte Schulleiterin aus der Umarmung frei. Innerhalb einer Sekunde stand die an die drei Meter hohe Halbriesin wieder da, mit verklärtem Blick und einem merkwürdig warmen Lächeln. Wortlos trat sie zurück, während Ammayamiria sagte:
"Minister Grandchapeau wird es nicht hören. Denn wenn ich zu Ashtaria gehe, werde ich nur noch denen sicht- und hörbar sein, die die Kraft der Liebe meiner Mutterseelen in sich fühlen. Solange das Erbe meiner Urmutter nicht bei Camille Dusoleil angekommen ist, wird es durch die Kraft des Siegels Darxandrias vor Raub geschützt sein. Also bangt nicht darum, etwas ungehöriges zu erdulden, denn was ich tue und bin ist gegen niemanden gerichtet, der kein Feind des Jungen ist, der aus Ashtarias Schoß zurückgekehrt ist oder jener, die meinen Mutterseelen lieb und wichtig sind. So lebt denn alle wohl, die am Leben von Julius teilhaben. Dies war die einzige Botschaft, die ich euch mitteilen konnte." Dann sprach sie mit einer Stimme, die nun wie Aurélie Odin klang: "Blanche, ich bin froh, daß Sie, Ihre Tochter und seine Mutter weiterhin für Julius dasein werden. Ich werde die interessanten Gespräche über morgenländische und afrikanische Zauberei vermissen, aber freue mich, Ihnen noch einmal etwas zum Staunen gezeigt zu haben." Dabei lächelte sie Professeur Faucon mädchenhaft an, bevor sie sich umwandte, ihre Füße vom Boden löste und ihre rechte hand nach Julius ausstreckte. Er streckte seine Hand vor, ergriff die Hand, die sich warm und weich und irgendwie wie unter sehr schwachem Strom stehend anfühlte. Mit der linken Hand berührte Ammayamiria den Heilsstern, der wieder aufglühte. Da schrumpfte die Frau aus goldenem Licht ein, wurde dabei durchscheinend und drang in den silbernen Fünfzackstern ein, der noch einmal sehr hell aufleuchtete und dann nur noch silbern glitzerte.
"Das ist das mit abstand exotischste und erhabenste, was ich in meinem Leben zu sehen bekommen habe", sagte Madame Maxime ungewohnt entrückt sprechend. Julius lag auf einem Bett, Gegenüber stand noch ein Bett, auf dem ... Ja, auf dem Claire Dusoleils Leiche lag. Dieser Anblick erschütterte ihn für eine Sekunde. Doch dann hörte er tief in sich wieder ihr Lachen und ihre beruhigenden Worte, daß sie nicht wirklich tot war. Ja, und er hatte ja sehen können, daß sie irgendwie wiedergeboren wurde, als vereintes Kind ihrer und ihrer Großmutter Seele.
"Ja, Claire ist wohl gestorben, wenn gleich ich mir nicht sicher bin, daß ihre Seele uns verlassen hat", sagte Professeur Faucon. Madame Rossignol trat auf ihn zu und untersuchte ihn. Sie wiegte den Kopf und meinte:
"Auch wenn du körperlich absolut gesund bist, Julius, müssen wir dich um dich nicht in Verdacht zu bringen, an Claires Tod schuld zu sein in die Delourdes-Klinik bringen, wo du einige Tage bleiben wirst."
"Verstehe, Sie schieben es auf den Fluch. Stimt ja auch. Ohne den wäre Claire noch so bei uns wie vorher. Aber ich wollte sie nicht töten", beteuerte er.
"Das wissen wir", sagte nun Madame Eauvive, die wohl auch in dem Raum mit den Betten war.
"Wie sah das für Sie aus, als Ashtaria mich hier ablieferte?"
"Ich habe schon einige Kinder geholt, darunter auch meine eigenen Enkel", sagte die Leiterin der Delourdes-Klinik. "Aber das eine Gebärende aus goldenem Licht darum kämpft, nicht zu gebären und ihr Kind im Schoß behalten will wäre mir neu. Ebenso daß ein Kind seine Geburt mit solcher Vehemenz erkämpft. Sie war so groß wie ich, Julius. Du kamst auf ein Viertel deiner Größe verkleinert zum Vorschein. Wir konnten nicht eingreifen, weil ihr Anblick uns irgendwie lähmte."
"Weil es um sie und mich ging. Wir waren miteinander verbunden, aber das möchte ich gerne richtig erzählen."
"Besser nur mir, Madame Eauvive und Professeur Faucon. Für die restliche Welt sind Sie genauso ein bedauernswertes Opfer des Fluches geworden, weil Mademoiselle Dusoleils und ihre Verbindung sie mit beeinträchtigt hat. Diese goldene Erscheinung, aus der Sie wiedergeboren wurden hat es für die anderen nicht gegeben", sagte Madame Maxime.
"Ich möchte mich nur bei Ihnen entschuldigen, Professeur Faucon, wenn ich Ihnen Schwierigkeiten gemacht habe."
"Du wärest der erste Schüler, der mir solche Schwierigkeiten gemacht hat, daß ich gehen muß und er bleiben darf", sagte die Lehrerin leicht ungehalten. Doch Julius hörte einen winzigen Anflug von Belustigung heraus.
"Nun, da Sie genauso wenig was gegen den aus weiter Ferne gewirkten Fluch gegen Madame Odin und Mademoiselle Dusoleil tun konnten, Professeur und Julius ohnmächtig in einem Seitengang des Palastes lag, bis einige Portraits ihn fanden, sehe ich keinen Grund oder Anlaß, Sie dafür zur Verantwortung zu ziehen und Ihre Entlassung zu fordern."
"Weil sie sonst auch gehen müßte", flüsterte Madame Rossignol Julius zu.
"Das habe ich wohl gehört, Florence", versetzte Madame Maxime. "Aber ich will mal nicht so sein. Leider kann ich Ihnen für Ihre waghalsige Eskapade weder Bonus- noch Strafpunkte geben, Monsieur Andrews. Aber ich verlange von Ihnen ..."
Julius fischte das Intrakulum aus seinem Umhang und hielt es ihr hin. Sie nahm es und ließ ihren Satz unvollendet.
"Machen Sie mit dem verfluchten Ding, was Sie wollen, Madame. Ich habe dafür keine Verwendung mehr", sagte er. Er hörte noch das Zauberwort: "Stupor!", dann war es um ihn herum dunkel und still.
Julius erwachte in einem Krankenzimmer, allerdings einem etwas kleineren und mit üppigen Bildern von Naturlandschaften ausgeschmückten. Nur in einem Bild saß eine gemalte Person, Serena Delourdes. Sie sah auf die Betten herab, in denen mehrere Männer mit schlimmen Körperverunstaltungen oder überzähligen Gliedmaßen lagen. Julius hätte fast aufgeschrien. Doch eine weiche Hand legte sich auf seinen Mund und eine leise Stimme flüsterte:
"Psst, Monsieur. Madame Eauvive hat mir gesagt, sie dürften jetzt wieder erwachen. Offenbar gibt es keine Nachwirkungen mehr von dem Fluch, der sie erwischt hat", sagte eine Heilerin in zitronengelber Tracht, auf deren Bauchstück ein nach oben weisender goldener Wasserstrahl unter einer halb geschlossenen Hand prangte.
"Was für'n Fluch?" Fragte Julius, dem einfiel, wo er war und weshalb.
"Ein ganz tückischer aus Arabien, heißt es. Ich habe Sie im geschockten Zustand aus Beauxbatons bekommen. Madame Eauvive hat sie persönlich behandelt, um mögliche Folgeschäden zu beheben."
"Was für'n Fluch verdammt noch mal", spielte Julius den Ahnungslosen. "Wo bin ich hier eigentlich. Delourdes-Klinik?"
"Ganz richtig", wisperte die Heilerin. "Abteilung für nachhaltige Fluchschäden und mißglückte Verwandlungen. Sie sind wie die weiblichen Mitglieder der Familie Dusoleil von einem Fernfluch erwischt worden. Offenbar sollte die Familie ausgelöscht werden. Wir wissen nichts genaues, nur daß Sie wohl auch davon betroffen waren, weil sie den Corpores-Dedicata-Zauber mit Mademoiselle Dusoleil gewirkt haben."
"Claire? Was ist mit ihr?" Tat er erschrocken. Denn er wußte es ja zu gut.
"Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen darf, Julius", druckste die Heilerin herum.
"Ist sie noch am Leben? Wo ist sie?" Fragte er aufgeregt.
"Ihr wurde zu spät geholfen, Monsieur. Sie ... sie starb in Beauxbatons. Meine Kollegin Rossignol ist über die Maßen bestürzt, nicht rechtzeitig gehandelt zu haben."
"Claire ist tot? Claire ist tot?!" Stieß Julius nun aufgeregt heraus. Dann rief er laut "Nein, nein! Das darf nicht sein! Sie kann nicht tot sein! Das ist nur ein Alptraum!"
"Die Direktrice wird sich mit Ihnen darüber unterhalten. Sie bat mich, Sie zu ihr zu bringen."
"Claire ist nicht tot", stammelte er. "Sie kann unmöglich tot sein. Wer hat das gemacht? Wer hat diesen Fluch aufgerufen? - Claire ist nicht tot."
"Nicht aufregen, Monsieur", sagte die Heilerin und richtete ihren Zauberstab auf ihn. Unvermittelt durchströmte eine merkwürdige Lähmung ihn, keine die die Glieder betraf, sondern seine Gedanken verlangsamte. Das kannte er aus dem Ersthelferkurs, Constitranquillus, der den Gemütszustand beruhigte, ohne in den Lauf der Gedanken an sich einzugreifen. Doch eigentlich war er beruhigt genug. Was er gesagt und wie er sich gegeben hatte war Schauspiel gewesen. Hoffentlich kam die Heilerin nicht dahinter. Dann sah er sie genau an. Sie sah Madame Eauvive sehr ähnlich, nicht wie eine Tochter, eher wie eine Enkeltochter. Sie lächelte und mentiloquierte ihm unvermittelt zu:
"Okay, meine Großmutter hat mich eingeweiht. Wir können das Theater beenden. Komm bitte mit mir mit, wenn du deine Sachen wieder angezogen hast!" Julius sah ihr Namensschild unter dem Symbol für die Delourdes-Klinik: CLEMENTINE EAUVIVE
Er fand neben seinem Bett einen kleinen Wäschestapel, seinen Beauxbatons-Umhang, Unterwäsche und Socken, alles frisch. Madame oder Mademoiselle Eauvive stellte einen großen Holzbottich mit warmem Wasser und ein gelbes Stück Seife hin und half ihm rasch, sich tagesfrisch zu machen. Dann zog er seine Sachen an, warf den Krankenhausschlafanzug aus himmelblauem Stoff auf das Bett zurück und folgte der Heilerin, die wohl noch relativ jung war, durch mehrere Gänge. Unheimliches Stöhnen, sowie noch unheimlicheres Gackern, Knurren, Wiehern oder Jodeln drang aus dem Labyrinth der von Kristallsphären erleuchteten Gänge. Wollte er wirklich mal Heiler werden? Fragte er sich. Diese Geräusche kamen von durch Magie erkrankten Menschen.
"Machen Sie Platz bitte!" Herrschte ein schlachsiger Heiler die beiden an, als er zusammen mit einem Kollegen eine schwebende Trage aus einem vergitterten Fahrstuhlkorb herausbugsierte. Darauf war ein dicker Mann in grauem Anzug mit roter Fliege, der immer dicker wurde. Offenbar hatte da jemand den Adipositus-Fluch auf den Mann geschleudert.
"Diesen Kerl mach ich fertig. Der hört von meinem Anwalt!" keuchte er aufgebracht, wohl auch vor Angst, was da mit ihm passierte.
"Ach du meine Güte, wo kommt der denn her?" Fragte Heilerin Eauvive irritiert.
"Ist einer aus einer Muggelbank. Hat sich in Paris mit Clodius Brasseur angelegt, und der hat dem einen doppelten Adipositus und einen Antischock-Zauber apliziert", sagte der vordere Heiler und wünschte der Kolegin noch einen schönen Tag, bevor er mit seinem wesentlich jüngeren Kollegen, wohl einem Heiler im Praktikum, um die nächste Ecke bog.
"kennst du den Mann auf der Trage?" Fragte sie.
"Nöh, mir ist nur der Anzug aufgefallen. Was soll denn das mit dem Anti-Schockzauber?"
"Weil der betreffende Zeitgenosse weiß, daß wir Muggel, die verflucht werden erst betäuben, bevor wir sie herbringen. Er sieht wohl seinen Fluch als Strafe für was an, die der Muggel gefälligst bei vollem Bewußtsein erdulden muß. Minister Grandchapeau läßt gerade ein Gesetz erarbeiten, daß die Verfluchung von Muggeln und Behinderung der magischen Heilung mit einem Jahr in Tourresulatant bestraft. In diesen Zeiten wohl nötig."
"Zumindest kurierbar, wo der Abmagerungszauber nun feindosiert werden kann, daß man nach der unfreiwilligen Gewichtszunahme nicht zum Hungerhaken wird", sagte Julius.
"Stimmt", sagte Clementine Eauvive anerkennend lächelnd. "Daß die gleich immer mit Anwälten drohen. Früher haben sie mit der Inquisition gedroht."
"Ist so was ähnliches, nur das die einem das Barvermögen verbrennen und nicht mehr einen selbst", erwiderte Julius. Daß er vor wenigen Minuten eine ihn so erschütternde Nachricht erhalten hatte hatte er völlig vergessen. Aber hier in den Gängen wußte ja keiner, was er wußte.
Im Büro warteten Madame Eauvive, Madame Maxime, Professeur Faucon und Madame Rossignol auf ihn.
"Sie können dann gehen, Clementine und Ihrem Kollegen Bonfils bei der Behandlung des von Adipositus betroffenen Patienten zu helfen", schickte Madame Eauvive ihre Mitarbeiterin wieder hinaus.
"Wie Sie wünschen, Madame Ladirectrice", erwiderte Clementine Eauvive und schloß die Tür von außen.
"Ich habe durchsetzen können, daß ich die einzige bin, die Ihren vollständigen Bericht hören darf", sagte Madame Eauvive. Dann sah sie die gemalten Gründungsmütter Eauvive und Delourdes an und sagte: "Ich bitte Sie gemäß der Übereinkunft, niemandem außerhalb dieses Raumes davon zu berichten." Die beiden gemalten Hexen gelobten es. Dann berichtete Julius, was ihm widerfahren war. Madame Maxime sah ihn besonders aufmerksam an. Er zwang sich zu einer möglichst gelassenen Sprechweise und erzählte von seinem Ausflug in die Festung und wie es passierte, daß Madame Odin sich in eine goldene Leuchterscheinung auflöste, die dann als Ashtaria mit ihm entkommen war. Er berichtete auch von den Zwiegesprächen mit Claires und Madame Odins körperlosen Stimmen, vermied jedoch den Traum von der Blumenwiese zu erwähnen. Das mochte wohl eine ins Hirn gepflanzte Illusion gewesen sein, um ihn zu testen. Doch irgendwie schien Madame Eauvive zu wittern, daß er was zurückhalten wollte und mentiloquierte ihm sehr eindringlich:
"Erzähl bitte alles, wenn du nicht willst, daß ich dir Veritaserum einflößen muß!" So erwähnte er den Traum von der Blumenwiese - wenn es denn ein Traum war - und vermutete, daß Claires losgelöste Seele mit seiner in Verbindung getreten war, um ihn darauf einzustimmen, ohne sie weiterzuleben.
"Interessant, das von den großen Blumen drei Pflegehelferinnen dabei sind", warf Madame Rossignol ein.
"Ich denke, das sind wohl auch Traumbilder von mir gewesen, die bei der Sache durchgedrungen sind. Ich habe eigentlich nicht vor ..."
"Das wissen Sie noch nicht", sagte Madame Maxime unvermittelt ruhig. "Träume eröffnen dem Geist manches, was wache Gedanken ihm nicht erschließen wollen. Sicher ist, daß Mademoiselle Dusoleil Ihnen ein letztes Mal helfen wollte, die Trennung von ihr zu verkraften, indem sie Ihnen vertraute junge Damen und solche, die es womöglich nie werden wollen präsentierte. Für diese Art von Traum müssen Sie sich also nicht schämen, wenngleich manche infantilen Elemente darin waren, wie die sprechende Regenwolke oder die fröhlich ausgestreuten Samenkörner. Aber eben durch unsere Träume bleiben wir jung und lebendig im Geist. Na ja, wichtig ist, daß Sie hoffentlich bald die Auswirkungen dieses haarsträubenden Ausfluges verarbeiten werden, nicht vergessen, sondern damit zu leben lernen, wie mit dem Tod Ihres Vaters."
"Der vielleicht doch ... nein, das habe ich ja gelernt, daß ich das ganz bestimmt nicht verschuldet habe", sagte Julius.
"Wir kehren am besten zurück nach Beauxbatons, damit Sie mit den anderen die wohl noch bestehende Trauer um die Mitschülerin teilen können", sagte Professeur Faucon. "Nächsten Samstag wird auf dem Gemeinschaftsfriedhof von Millemerveilles die Bestattung von Claire Dusoleil stattfinden. Die Familie Dusoleil bat mich, Ihnen auszurichten, Sie möchten sich zu Ihnen gesellen, zum Kreis der direkten und näheren Angehörigen."
"Wenn sie das möchten, werde ich dabei sein", sagte Julius.
"Ihre Mutter wird zusammen mit der Familie Brickston auch dort anwesend sein", sagte Madame Maxime. Julius nickte schwerfällig. Obwohl Claire ihm zugeredet hatte, nicht um sie zu trauern, wollte sein Verstand eben dies.
"In Ordnung, wir brechen auf", sagte die Schulleiterin von Beauxbatons und entzündete den Kamin. Dann verließ sie das Büro durch die Tür.
"Sie hat sich einen der Muggeltransportbusse kommen lassen, um nach Beauxbatons zurückzureisen", sagte Professeur Faucon, bevor sie Julius losschickte, sich per Flohpulver ins Pflegehelfer-Büro zu versetzen. Kaum war er in einem smaragdgrünen Wirbel verschwunden, sah die Lehrerin Madame Eauvive und Madame Rossignol an.
"Hoffentlich haben wir alle das richtige getan, dem Minister nichts davon zu erzählen."
"Es war richtig, Blanche. "Das mit dem Fluch ist schrecklich genug, um wilde Spekulationen jeder Art von dem Jungen selbst abzulenken", sagte Madame Eauvive. Dann verschwanden Professeur Faucon und Madame Rossignol aus dem Büro der obersten Heilerin der Delourdes-Klinik.
In Beauxbatons suchte Madame Rossignol Julius auf, der sie besorgt ansah.
"Was liegt dir außer dem was passiert ist auf der Seele, Julius?" Fragte sie den Jungen.
"Es könnte eine Untersuchung geben, weil Claire die einzige war, die von Madame Odins direkten Verwandten starb."
"Madame Eauvive hat die passende Legende schon vor einem Tag in Umlauf gesetzt, Julius, indem sie plausibel ausführte, daß der Schlaf der Todesnähe nicht mehr wirkte, sobald Claire die ersten Auswirkungen des Fluches verspürte. Da sonst alle bedrohten Hexen früh genug behandelt worden sind, kann ihr und uns keiner das Gegenteil beweisen. Mach dir also keine Sorgen um meine Karriere."
"Ich meine nur, daß jemand Ihre Entlassung fordern könnte", wandte Julius ein.
"Madame Eauvive hat ausgesagt, daß ich alles getan habe, um Claires und dein Leben zu schützen. Alles ist schon erledigt und durch die Zeitung gegangen. Ich werde übermorgen vor den Rat der magischen Heilzunft treten und zusammen mit Madame Eauvive noch einmal alles berichten."
"Ja, und wenn sie Ihnen Veritaserum einflößen oder sie auf einen Eidesstein schwören lassen?" Fragte Julius besorgt.
"Das zeichnet einen guten Heiler aus, Julius. Du machst dir eher Gedanken um andere als um dich. Aber du bist nicht aus dieser Göttermutter herausgekrabbelt, um dir die Sorgen der ganzen Welt aufzuladen. Es gibt da einiges, das wirkt gegen das eine oder das andere. Aber das erzähle ich dir nicht, weil es Geheimsache ist."
"Wie lange haben wir Schulfrei?" Fragte Julius.
"Noch heute und morgen", sagte die Heilerin. "Am besten gehst du nachher in die Aula, um dich symbolisch von Claire zu verabschieden. Aber erst einmal hole ich alle Pflegehelfer her, damit sie ungestört von den anderen mit dir sprechen können. Am besten erzählst du Ihnen nichts von Ashtaria oder Ammayamiria! Was immer dieser Name bedeutet."
"Mütterliche Jungfrau oder jungfräuliche Mutter, also wohl die Entsprechung von Madonna oder Maria", sagte Julius merkwürdig entrückt aussehend. Er staunte, daß er diesen Namen erklären konnte.
"Würde passen, wo sie eine Verschmelzung aus beidem ist", sagte Madame Rossignol lächelnd. Sie schien nicht überrascht zu sein, daß Julius diesen völlig fremd klingenden Namen kannte.
Die Heilerin rief alle Pflegehelfer mit ihrem Schlüssel herbei. Durch die bezauberten Wände ihres Büros kamen sie hereingeschlüpft. Sandrine und Belisama strahlten Julius an, Millie sah ihn eher zurückhaltend an, als müsse sie aufpassen, daß sie kein falsches Wort sagte. Die anderen sahen ihn aufmunternd an, weil sie froh waren, daß er lebte, schwiegen jedoch.
"Herrschaften, Julius Andrews ist zu meiner großen Erleichterung heute aufgewacht und konnte nach eingehender Untersuchung meiner Kollegen in der Delourdes-Klinik entlassen werden. Er hat mich darum gebeten, ihm nicht andauernd zu sagen, wie leid es euch tut, daß Claire nicht mehr bei uns ist, so ehrlich ihr das auch meint", sagte Madame Rossignol sehr entschieden. "Er wird auch so erkennen, daß ihr alle mit ihm mitfühlt, was wichtiger ist als tausend Worte. Madame Maxime wird wohl nachher noch einmal ähnliches zu allen sagen. Aber weil ihr mit ihm bei mir arbeitet, seid ihr ihm im Moment die nächsten und wichtigsten Mitschüler. Deshalb habe ich euch hergebeten, damit ihr euch mit ihm unterhalten könnt, für den Fall, daß er euch sein Herz ausschütten oder euch zuhören möchte, was in den letzten zwei Tagen hier los war. Setzt euch also bitte an den Konferenztisch!"
Sie nahmen schweigend Platz. Die Heilerin brachte Kakao und Kekse auf den Tisch und setzte sich etwas abseits, um nicht zur unfreiwilligen Vermittlerin zu werden.
Erst sahen sie sich alle an. Julius betrachtete vor allem Sandrine, Belisama und Mildrid und mußte an diese merkwürdige Vision oder den Traum von der Blumenwiese denken. Claire wollte, daß er eine von ihnen pflückte, oder vielleicht doch die Montferres, Martine oder Béatrice Latierre. Oder sollte er sich von Professeur Faucon erwählen lassen? Unfug! Trotzdem mußte er lächeln, was die anderen ansteckte. Dann brach das eisige Schweigen, als Sandrine sagte:
"Julius, auch wenn Schwester Florence sagt, wir sollten dir nicht sagen, wie leid es uns tut, sage ich das jetzt doch mal für alle hier. Claire war ja eine meiner besten Freundinnen hier und in Millemerveilles. Aber ich frreue mich auch, daß du noch bei uns bist, weil du von ihr doch wohl viel mitbekommen hast. Was haben sie dir in der Klinik erzählt?"
"Das sie nicht so schlimm gelitten hat, weil Madame Rossignol sie wohl in Zauberschlaf versenkt hat", sagte Julius. "Und das es ein fieser Fluch war, der sie und andere Verwandte erwischt hat."
"Du hast eben gelächelt, als wäre dir was sehr lustiges durch den Kopf gegangen", sagte Belisama. Julius nickte und erwiderte:
"Ich habe an die Sachen zurückgedacht, die Claire und ich erlebt haben und dabei auch an meinen letzten Geburtstag gedacht, wie Kevin in Millemerveilles war."
"Das war nicht lustig, Julius", knurrte Belisama. Für sie war es ja auch nicht lustig gewesen, daß Kevins Feuerwerk ihr Haar angekokelt hatte und Aurora Dawn es völlig ausfallen und nachwachsen lassen mußte. So begannen die Pflegehelfer nun darüber zu reden, was sie an schönen Sachen von Claire mitbekommen hatten. Das ging eine Stunde, bis Madame Rossignol sagte:
"Es ist schön, daß ihr nicht den Tod, sondern das Leben von Claire besprochen habt. Nach dem Naturell ihrer Familie war es bestimmt das was sie wollte. Aber ich denke, Julius möchte sich auch von ihr verabschieden. Geht ihr bitte mit ihm in die Aula?"
"Natürlich, Madame Rossignol", sagte Gerlinde van Drakens, eine der älteren Pflegehelferinnen. Julius nickte ihnen zu und verließ mit ihnen per Wandschlüpfsystem das Büro. So kamen sie ungesehen und ungehindert vor die Aula, wo ein dreibeiniger Tisch mit schwarzer Samtdecke stand, auf dem ein großes, aufgeschlagenes Buch an einer Ebenholzbuchstütze lehnte. Julius kannte sowas. Zwar war er in seinem Leben noch nie bei einer Beerdigung dabeigewesen, aber was ein Kondolenzbuch war wußte er schon. Er trat vor und schlug die erste Seite auf.
"Für Claire Dusoleil, eine lebensfreudige junge Hexe, Abschiedsgrüße und Erinnerungen", stand in großer, schwarzer runder Schrift ganz oben. Darunter stand in kräftiger, eindeutig weiblicher Handschrift:
"Von allen, die in meiner Zeit als Lehrerin und Schulleiterin dieser ehrwürdigen Lehranstalt die Bildung und Obhut von Beauxbatons genossen, wird Mademoiselle Claire Dusoleil mir als die in Erinnerung bleiben, die ihrer Liebe und Lebensfreude alles untergeordnet hat, auch die Schule.
Olympe Geneviève Laura Maxime"
"Jetzt weiß ich endlich, daß sie noch ein paar Namen mehr hat", sagte Julius sehr leise aber belustigt klingend. Darunter stand in Professeur Faucons Handschrift:
"Ich habe mich sehr gefreut, die zweite Tochter meiner hoch geschätzten Nachbarn Camille und Florymont Dusoleil als lebensbejahendes, natürliches Mädchen kennenlernen zu dürfen und gab ihr sehr gerne von meinem Wissen und meiner Erfahrung. Ich hoffe, sie hat mir meine Strenge verziehen.
Blanche Faucon"
Die dritte Reihe ist ja leer", sagte er leise, als er sah, daß Céline, Laurentine, Sandrine und Belisama weiter unten ihre kurzen Abschiedssätze hingeschrieben hatten. Laurentine hatte geschrieben:
"Ich wollte nie eine echte Hexe sein. Aber durch dich, Claire, habe ich gelernt, wie schön es ist, eine zu sein. Danke dafür, daß du meine Blödheit ausgehalten und mich davon kuriert hast."
"Céline hat gemeint, du solltest der dritte auf der ersten Seite sein", sagte Sandrine. Julius nickte und griff zu der Falkenfeder, die in einem kleinen Faß mit schwarzer Tinte steckte. Dann schrieb er:
"Sie war eindeutig zu kurz, die Zeit, die wir beide uns kannten. Aber die möchte ich um kein Geld der Welt eintauschen. Danke für deine Liebe und daß du es mit dem Muggelabkömmling aushalten wolltest.
Julius Andrews"
Als er seinen Namenszug unter den kurzen Text gesetzt hatte, fielen ihm drei große Tränen genau auf die Buchseite und versickerten im Pergament. Er wandte sich ab, gab sich der plötzlich über ihn hereinbrechenden Trauer hin, bevor ihm einfiel, daß Claire nicht wollte, daß er traurig war, ja ihm immer noch beistehen würde, auch wenn sie nicht mehr ihren Körper hatte. Was war sie eigentlich, ein Engel? Diese Frage verdutzte ihn. Engel kamen bei ihm nur an Weihnachten vor oder in der Ostergeschichte. Aber wenn es ein Wort gab, daß Claires und Aurélie Odins neue Daseinsform bezeichnete, dann war "Engel" das naheliegenste. Denn sie war kein gewöhnlicher Geist wie die maulende Myrte oder die Graue Dame, oder auch der blutige Baron. Sandrine half ihm mit einem Taschentuch aus. Doch wer hielt ihn in den Armen? Er sah sich um und sah Millies mitfühlendes Gesicht dem seinen zugewandt.
"Hoffentlich hältst du mich jetzt nicht für ein Weichei", sagte er beklommen. Millie sah ihn an und erwiderte leise:
"Wer behauptet, daß große Jungs nicht weinen dürfen ist Strohdumm, Julius." Dann gab sie ihn aus der leichten Umarmung frei. Er fragte leise:
"Bleibt das Buch hier in der Schule oder wird das irgendwo hingebracht?"
"Madame Maxime wird es übermorgen Claires Eltern geben, damit sie es mit dem Buch, daß in Millemerveilles ausgelegt wird verwahren können", sagte Carmen Deleste. Julius betrachtete die weiteren Abschiedsworte in dem Buch, offenbar hatten sich schon viele Mitschüler hier eingetragen. Eine Niederschrift sprang ihm besonders ins Auge. Er kannte die Handschrift so gut, als wäre es jemand aus seiner Familie gewesen:
"Es ist sehr schade, daß ich dich nicht noch besser kennen gelernt habe, Claire. Aber ich war sehr froh, daß du dich um meinen Freund Julius gekümmert und ihm die schönen Dinge unserer Welt gezeigt hast. Danke dafür!
Gloria Porter"
Er betrat die Aula, in der fernes Vogelgezwitscher zu hören war. Der Festsaal der Schule konnte durch Geräusch- und Umgebungsbildillusionen nach Belieben verändert werden. Im Moment war es ... eine üppige Blumenwiese unter einer hellen Frühlingssonne an blauem Himmel. Julius vermeinte, ein neues Déjà Vu zu erleben. Besonders als Belisama, Sandrine und Millie vor ihn traten und auf einen kniehohen Tisch deuteten, auf dem Claires Körper lag. Sie hatten ihn in das rotgoldene Tanzkleid gehüllt, mit dem sie an zwei Sommerbällen und anderen Festen teilgenommen hatte. Julius kämpfte einen neuerlichen Weinkrampf nieder, als er sah, daß sie die drei goldenen Tanzschuhe und den goldenen Pinsel für das beste Zaubererbild des vorletzten Schuljahres und die Freundschaftspfeife um den Hals hängen hatte. Alle diese Auszeichnungen standen unmittelbar mit ihm in Beziehung. Sie ruhte auf einer Bordeauxroten Daunendecke und lächelte alle an, die sie betrachteten. So hatte sie ihn auch angelächelt, als er sich aus Ashtarias Leib herausgearbeitet hatte. Also war es nicht die übliche Verschönerung, die bei vielen Toten stattfand. Nur die Wangen waren wohl geschminkt worden, um die Leichenblässe in den gesunden braunen Hautton zu verwandeln, den sie ihr Leben lang gehabt hatte. Rechts neben ihr lag eine Flöte, links von ihr ein Pinsel. Man hatte also ihre Begeisterung für die schönen Künste gewürdigt. Julius betrachtete sie für zwei Minuten, jedoch ohne sich zu sehr auf sie zu konzentrieren. Denn da vor ihm lag nicht diejenige, die ihm vor der Rückkehr nach Beauxbatons noch versichert hatte, daß sie ihn immer geliebt hatte.
"Ich wollte ihr noch den Besen wiedergeben, den sie mir geschenkt hat", flüsterte Laurentine, die wohl zusammen mit Gloria, Céline und Jasmine einige Meter entfernt auf Julius gewartet hatte. "Aber Professeur Faucon hat mir gesagt, der gehöre mir und Claire habe den mir geschenkt, weil sie wollte, daß ich einen Besen hätte."
"Weil sie will, daß du auch weiterhin schöne Zeiten erlebst", sagte Julius halblaut. Dann umarmte er Bébé Hellersdorf, Céline und Jasmine und gab sich kurz einem weiteren Tränenbach hin. Doch bald schon fand er seine gelöste Stimmung wieder und verließ mit den Pflegehelfern, Gloria und Claires Schulfreundinnen die zur üppigen und bunten Weise veränderte Aula.
Abends im Speisesaal blickten alle schweigend zum grünen Tisch hinüber, als Julius von Professeur Faucon an seinen Platz geführt und wortlos zum Hinsetzen angehalten wurde. Links von Céline lag ein blaßblauer Hexenhut mit schwarzer Trauerschleife auf dem Tisch. Das Schweigen hielt an. So mußte Madame Maxime keine Ruhe gebieten. Sie stand für zwanzig Sekunden ruhig vor ihrem übergroßen, trhonartigen Stuhl. Dann sagte sie mit für ihre sonstige Art sehr bedächtiger, leiser Stimme:
"Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Schülerinnen und Schüler der Beauxbatons-Akademie. Ich freue mich, Monsieur Julius Andrews wieder in unserer Mitte begrüßen zu dürfen, der fast mit der uns so wohl vertrauten Mademoiselle Claire Dusoleil das Opfer Jenes heimtückischen, feigen Fluches geworden wäre." Sie blickte in Julius Richtung, suchte und Fand seinen Blick und fuhr fort: "Ich weiß mit absoluter Klarheit, daß Sie, Monsieur Andrews, die Liebe Mademoiselle Dusoleils verdienten und erwiderten und sie bereit war, ihr Leben mit Ihnen zu verbringen. Deshalb möchte ich Ihnen hier vor Ihren Lehrern und Mitschülern einige tröstende Worte mitgeben:
Wir alle, von mir über Professeur Faucon und den übrigen Lehrern, bis hin zu den Schülerinnen und Schülern der ersten Klasse, nehmen Anteil an Ihrem Verlust, den Sie ohne darauf vorbereitet werden zu können erleiden mußten. Doch ich weiß auch, daß Ihre Verlobte es sehr begrüßen wird, wenn Sie ihr Leben dadurch würdigen, daß Sie selbst Ihr Leben fortführen, es nicht nur als Akt der Leiden und Verluste anerkennen, sondern auch die freudigen Momente und Gewinne des Lebens umarmen und sich nicht von einem Schuldgefühl davon abhalten lassen, die Liebe jener, die sie Ihnen darbringen zurückzuweisen, weil Ihre Verlobte nicht mehr da ist. Denn beides, das Schuldgefühl und der Gedanke, sie sei nicht mehr bei Ihnen, sind grundweg falsch. ich selbst habe genug trauriges erfahren müssen und es nur zu akzeptieren verstanden, weil ich mich nicht davon habe niederwerfen und fesseln lassen. Ich kann Ihnen vieles befehlen, Monsieur Andrews. Aber dies ist eine Bitte, die ich an Sie richte, ohne Sie zu irgendwas zu zwingen: Heißen Sie Ihr Leben bitte wieder willkommen! Denn weil Sie leben, lebt auch Mademoiselle Claire Dusoleils Andenken weiter. Ich weiß, sie will es haben, daß Sie sie dadurch ehren, daß Sie aus Ihrem Leben das schönste und erfolgreichste machen, daß ein Zauberer führen kann, und dabei spreche ich nicht nur vom Erfolg in der Ausübung eines Berufes oder Erlangung gesellschaftlicher Würden, sondern vor allem vom Erfolg, das eigene Leben zu lieben und dadurch die größte Kraft zu erlangen, die einem menschlichen Wesen zufließen kann." Dann sah sie wieder in die Runde der sechs Tische, ohne einzelne Schüler anzusehen und sagte: "Auch an Sie alle richte ich eine Bitte ohne Zwang und Androhung irgendwelcher Strafen: Ereifern Sie sich bitte nicht in zu vielen Worten der Anteilnahme oder des Beileids. Einmal sollte reichen. Danach möchte ich sie bitten, Ihrem Mitschüler zu helfen, die Kraft zum Leben ohne Gewissensnot und Trauer zurückzugewinnen. Sprechen Sie bitte von Mademoiselle Dusoleil, um ihr Leben zu feiern, nicht um ihr Dahinscheiden zu betrauern. Schöne Erinnerungen und Wertschätzungen sind das wahre Elixier des Lebens, das kein Alchemist der Welt für sich allein braut, sondern von jedem erzeugt werden kann, der den Willen und die Liebe zum Leben nicht verliert, sondern teilt und vermehrt. Diese Worte von mir mögen genügen. Ich weiß, einige freuen sich heimlich, weil morgen noch ein schulfreier Tag ist. Aber wagen Sie ja nicht, sich bei Monsieur Andrews für die freien Tage zu bedanken! Das würde ich jedem, der das tut als unverzeihliche Respektlosigkeit auslegen." Dabei sah sie nicht zufällig zu den Blauen hinüber, auf deren Tisch jemand gerade ein Transparent entspannen wollte, auf dem Julius gerade noch so lesen konnte: "Schulfrei, Jucheh, Danke Andrews und ..." Doch der Saalsprecher kassierte diese Botschaft sofort und blickte zu Professeur Pallas hinüber.
"Schweinebacken erster Ordnung", knurrte Robert, als Madame Maxime sich setzte und damit auch die Schülerinnen und Schüler sich hinsetzen durften.
"Lass denen ihren Spaß", sagte Julius. "Wenn die sich einbilden, ihnen könnte sowas nicht passieren, kommt deren Zahltag noch finsterer als unser."
"Wenn die wen verlieren, meinst du?" Fragte Robert leise, als allgemeines Gemurmel, nur halb so laut wie üblich im Saal aufgekommen war.
"Ganz richtig, Robert", sagte Julius. "Jetzt habe ich innerhalb von drei Monaten zwei Menschen verloren, an denen mir sehr viel gelegen hat. Aber unsere große Direktrice hat recht, daß ich das besser überstehe, wenn ich mich an alles erinnere, was sie mir beigebracht oder geschenkt haben."
"Du warst schon in der Aula, hat Céline mir erzählt", sagte Robert. "Als ich die ganzen Sachen um ihrem Hals gesehen habe, habe ich echt gedacht, wie viel sie von dir mitbekommen hat. Allein schon für dieses Bild, was sie gemalt hat muß sie ja echt viel Zeit gebraucht haben."
"Ja, habe ich mich auch immer gefragt, womit ich das verdient habe", sagte Julius und erzählte, wie er vor bald zwei Jahren, wo in Hogwarts das trimagische Turnier lief, dieses Kalenderbild von Claire bekommen hatte. Er erzählte dann vom Weihnachtsball mit Jeanne und wie er auf die Idee für die Laterna Magica gekommen war.
"Übermorgen holen welche aus Millemerveilles sie ab. Gehst du da schon mit?" Fragte Hercules.
"Öhm, übermorgen ist wieder Schule, sagte Julius irritiert. "Ich habe von Madame Maxime nichts gehört, daß ich da immer noch frei haben soll. Ich werde wohl am Freitag abend nach Millemerveilles reisen. Gibt's irgendwas, wer von den Leuten hier hinkommt?"
"Alle", sagte Robert nur. "Ganz Beauxbatons zieht dahin, sofern nicht welche von den blauen Blödianen meinen, sich den Ausflug durch zu viele Strafpunkte zu verjubeln und im Karzer oder in Mäusekäfigen brummen müssen. Bertillon bleibt als Stallwache hier, hat Königin Blanche uns erzählt."
"Ich habe in der Klinik gehört, daß die Hexen der Dusoleil-Familie in einen sehr tiefen Schlaf versenkt wurden, jemand die Warnung vor diesem Fluch rausgelassen hat", sagte Julius. "Könnte sein, daß die in den nächsten Tagen herkommen. Madame Rossignol soll sich übermorgen einer Befragung durch den Rat der Heiler stellen, um zu klären, wie das mit Claire passieren konnte. Nachdem, wie ich es von den Heilern in der Delourdes-Klinik mitbekommen habe, hätte sie nichts mehr tun können, als der Fluch sie erwischt hat. Schon ziemlich grausam."
"Wenn das wirklich welche aus arabischen Ländern waren, gnade denen ihr Allah, wenn man sie erwischt. Soviel ich weiß ist bei denen das Kopfabschlagen noch als Höchststrafe im Gebrauch", sagte Hercules Moulin sehr verächtlich. Robert erwiderte:
"Noch viel zu gnädig. Immerhin haben die ohne weiteres mehrere Leute gleichzeitig angegriffen, von denen ihnen die meisten nichts getan haben."
"Man kann und sollte nicht Mord durch Mord bestrafen", sagte Julius. Robert und Hercules sahen ihn verwundert an, weil er weder Rache für Claire verlangte noch ein Todesurteil als anständige Bestrafung ansah. Deshalb sagte er zur Begründung: "Leute, es brächte den Dusoleils und mir doch überhaupt nichts, wenn die umgebracht werden, die das getan haben. Gefändnis sehe ich ein. Aber durch Hinrichtungen ist kein Mordopfer je zurückgekommen, und die Familien der Opfer haben auch nicht die große Befriedigung gekriegt, wenn der Täter wie auch immer hingerichtet wurde. Das war früher vielleicht mal so, wo das Aufhängen von Dieben und Räubern die Massen zum Richtplatz gelockt hat. Aber Rache bringt nichts. Ich habe auch gedacht, als ich das mit Claire hörte, die Typen eigenhändig und ohne Zauberkraft erwürgen zu müssen. Aber zum einen würde Claire dadurch nicht mehr wiederkommen. Zum anderen wollte sie bestimmt nicht, daß ich zum Mörder werde, auch für sie nicht."
"Ja, aber die kennen keine andere Sprache", sagte Hercules sehr aufgebracht. "Die können doch nur so bestraft werden."
"Erstens weiß man ja noch nicht, wer "die" sind und was "die" damit erreichen wollten", erwiderte Julius ganz ruhig, als berühre ihn Claires Tod und alles damit zusammenhängende nicht so sehr. "Zweitens hieß dieser Fluch Fluch der Blutrache, und auf das Spiel will ich mich nicht einlassen, jemanden umzubringen, weil der wen aus meiner Familie umgebracht hat, damit wieder jemand aus meiner Familie umgebracht wird. So würde das immer weitergehen."
"Wenn die Leute des Zaubereiministeriums von Arabien oder Ägypten oder Persien das machen, ist das keine Blutrache, sondern gerechte Bestrafung", sagte Hercules. Robert indes wirkte sichtlich betroffen von dem, was Julius gesagt hatte. Er blickte sehr nachdenklich zu Julius, dann zu Céline, neben deren Teller Claires Beauxbatons-Hut lag, wieder zu Julius und zu Hercules.
"Julius hat recht, sagte Célines Freund. "Wenn du wen verlierst, der dich geliebt hat, wäre es voll verkehrt, deshalb selbst zum Verbrecher zu werden oder zu verlangen, die umzubringen, die den geliebten Menschen umgebracht haben. Gerechtigkeit und Rache sind doch zwei ganz verschiedene Sachen, finde ich."
"Ja, was wäre denn dann bitte schön gerecht?" Fragte Hercules angenervt, weil er offenbar mit seiner Meinung alleine war.
"Daß man die findet, die diesen Fluch ausgerufen haben, sie vor aller Öffentlichkeit anklagt und dann für den Rest des Lebens einbuchtet", sagte Julius. Er stellte sich gerade vor, wie es in den Reihen der Bruderschaft des blauen Morgensterns zugehen mochte, wenn die unbeteiligten Brüder mitbekamen, was Yassin und seine Kumpane angestellt hatten. Das mochte diese Zaubererbruderschaft heftig treffen, ja vielleicht sogar zerschlagen. Das wiederum konnte im nahen Osten dazu führen, daß fähige Magier, die wirklich gegen das Böse kämpften, angreifbar wurden, und er wußte nicht, ob Voldemort nicht schon Freunde in den arabischen Ländern gefunden hatte. Wieder kam ihm der Gedanke, er sei Schuld an dieser Katastrophe. Doch dann hörte er Ammayamirias Stimme, die eine gelungene Verschmelzung zwischen Claires und Madame Odins Stimme war. Dieses überirdische Wesen wollte nicht, daß er sich schuldig fühlte, sondern daß er weiterlebte. Claire wollte nicht, daß er sich schuldig fühlte. Er war nicht schuld an ihrem körperlichen Tod, daß sie nicht mehr so wie vorher bei ihm sein konnte. Er hatte versucht, ohne Kampf aus der Sache herauszukommen, und Yassin Iben Sina und seine Mitbrüder hatten sich von der Angst vor möglichen ereignissen zu diesen bösen Taten treiben lassen.
"Hercules, Claire ist nicht mehr da", sagte Robert. "Jemanden anderen dafür umzubringen würde nicht mehr viel bringen. Oder glaubst du, es sei erlaubt, durch einen Mord einen geliebten Menschen aus dem Totenreich wiederzuholen. Das wäre schwarze Magie, und ich glaube nicht, daß Céline mich dann noch ansehen würde, wenn ich sowas anstelle."
"Trotzdem wäre es nur gerecht, wenn man den oder die zur allgemeinen Abschreckung ein für allemal aus der Welt haut."
"Verwandlung in eine niedere Lebensform wäre doch auch was", schaltete sich nun Gérard ein, der bis jetzt der Unterhaltung schweigend zugehört hatte. "Wegen eines ungemein feigen und grausamen Fluches werden Sie dazu verurteilt, ihr restliches Leben als Regenwurm zu verbringen."
"Oder als Kakerlake", schlug Hercules vor.
"Regenwürmer wären nützlicher als Kakerlaken", verteidigte Gérard seinen Vorschlag. Julius meinte dazu:
"Besser, sie hängen dem oder denen den Infanticorpore-Fluch an und zwingen die, noch mal von klein auf zu lernen, was richtig und falsch ist."
"Das ist doch dieser Zwangsverjüngungszauber", sagte Hercules. Robert grinste feist und ahmte einen Babyschrei nach. Dann sagte Julius noch:
"Immerhin könnten sie dann zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden, ohne dem Staat Gefängniskosten aufzuladen oder sinnlos hingerichtet zu werden."
"Schlag das denen vor, wenn raus ist, wer Claire umgebracht hat!" Forderte Robert ihn auf. Julius nickte. Wäre wohl keine üble Idee. Immerhin hatte genau diese "Strafe" Yassin Iben Sina bereits getroffen. Mochte es sein, daß er mit der durch den total verkehrten Todesfluch auch sein ganzes Gedächtnis verloren hatte, wie sein Vater. Oder war er wie ein Opfer des Infanticorpore-Fluches ein erwachsener Mensch, gefangen im Körper eines Säuglings? Das wußte er nicht und würde es wohl auch nicht erfahren. Dann sagte er, daß er großen Hunger habe und nicht mehr über dieses trübe Thema sprechen wolle.
Während des Abendessens schwiegen die Jungen der dritten Klasse. Waltraud Eschenwurz sprach leise mit Laurentine und Céline. Für die deutsche Gastschülerin war diese Situation sowohl betrüblich wie befremdlich zugleich, stellte sich Julius vor. Vielleicht konnte er noch am Abend oder am nächsten Tag, wo noch schulfrei war mit ihr darüber sprechen, wenn sie es wollte.
Als die Schülerinnen und Schüler das Abendessen beendet hatten, trat Professeur Faucon noch einmal an Julius heran. Schweigend übergab sie ihm einen unbeschrifteten Umschlag und verließ mit den anderen Lehrern den Speisesaal. Julius vermutete, daß in dem Umschlag eine wichtige Nachricht steckte, die nicht für alle gedacht war und setzte sich mit dem Pflegehelferschlüssel von seinen Kameraden ab, die neugierig waren, was die Saalvorsteherin ihm zugespielt hatte. Er trat in der Nähe der Gewächshäuser aus einer Wand aus und verbarg sich hinter dem großen Gewächshaus mit der Nummer null, wo die wirklich gefährlichen Zauberpflanzen gehalten wurden. Durch die von außen nur halbdurchsichtige Rückwand sah er sich wie unheilvolle Schatten bewegende Fangschläuche einer Fleisch fressenden Pflanze, die er noch nicht kannte. Doch der Brief von Professeur Faucon war wichtiger. Er holte ihn aus dem Umschlag und stellte fest, daß es eine Mitteilung Madame Maximes war.
"Stellen Sie sich um neun Uhr abends in meinem Besprechungsraum ein! Das nur für heute und nur für Sie allein gültige Losungswort für den König lautet "Fruchtschaumschnecke"."
Er sah auf seine Uhr. Es war noch eine gute Stunde bis neun Uhr. Er faltete den Brief zusammen, da zerfiel dieser zu feinem Pulver, das ihm durch die Finger rieselte.
Er kehrte zurück in den Palast und sagte seinen Schulkameraden, daß er noch einmal zu einer Besprechung bei professeur Faucon müsse. Die Zeit bis dahin verbrachte er abseits seiner Klassenkameraden. Waltraud hatte sich hinter einem Stapel Büchern verschanzt. Offenbar wollte sie sich durch Lernen von der ganzen Angelegenheit ablenken. Julius sah den Erstklässlern zu, die Schach spielten. Die beiden Muggelstämmigen hatten sich an die Zauberschachfiguren gewöhnt, seitdem sie im Beauxbatons-Schachclub waren. Beinahe hätte Julius über die Beobachtung der laufenden Partie die Zeit versäumt. Doch ein merkwürdiges Vibrieren unter seinem Umhang holte ihn in die Gegenwart zurück. Der Heilsstern, den er unter dem Umhang trug, erzitterte spürbar. Er sah auf seine Uhr und stellte fest, daß er bis zum geforderten Termin nur noch eine Minute hatte. Rasch ließ er den Zauberstab über seinen Kopf hinwegstreichen, um sich die Haare zu kämmen, zog seinen Umhang ordentlich und wandschlüpfte aus dem grünen Saal, bevor ihn jemand fragen konnte, was er habe. Er kam aus einer Wand im achten Stock heraus, von wo er noch zwei Quergänge passieren mußte, bevor er an einem großen Gemälde ankam, auf dem ein Königspaar miteinander stritt.
"Und Ihr begrüßt es wirklich, daß dieser Barbar Orion euch Avancen gemacht hat?" Fragte der König seine Frau sehr verärgert.
"Er weiß eben nicht nur meinen Rang zu schätzen. Ihr habt euch doch schon seit Jahren nicht mehr für meine Erscheinung begeistern können", konterte die Königin. "Außerdem habt Ihr es gerade nötig, wo ihr diesem britischen Frauenzimmer nachblickt, das des aus England herübergekommenen Schuljungen wegen bei uns wohnt."
"Die hat mich schon oft genug zurückgewisen, wie ihr wißt und ... Was will er?" Schnarrte der König und sah Julius verärgert an.
"Zu Madame Maxime will ich, Streitbolzen. Fruchtschaumschnecke!"
"Öhm, so sei es", knurrte der König und hielt seine Hand auf. Julius griff nach der Leinwand, schien durch diese hindurchzugreifen und legte seine Hand in die des Königs. Dieser zog ihn nach vorne, in das Bild hinein, worauf er an ihm vorbeiflog und durch ein Meer aus Farben auf einen dunklen Punkt zuraste, der immer größer wurde und sich als eine Wiesenlandschaft bei Nacht herausstellte. Er flog über die dunkle Wiese hinweg wie durch ein Fenster und plumpste auf einen weichen Teppich. Nun stand er in einem sechseckigen Raum, der mindestens vier Meter hoch war und auf Halber Höhe von einer schmalen Empore umringt wurde, auf der an jeder der sechs Seiten die Statue eines Beauxbatons-Gründers stand. Das war der Ankunftsraum von Madame Maximes Räumlichkeiten. Im gleichen Moment fauchte es in dem Kamin, der auf einer der sechs Seiten in die Wand eingelassen war, und Jeanne Dusoleil erschien aus einem smaragdgrünen Funkenwirbel heraus.
"Ah, du bist auch schon da, Julius", sagte sie zur Begrüßung und umarmte den leider nicht mehr zu erwartenden Schwager.
"Monsieur Andrews, kommen Sie mit Madame Dusoleil, Jeanne bitte zu uns!" Hörte er Madame Maximes Stimme. Julius fühlte das Vibrieren des Heilssterns stärker werden. Offenbar reagierte Ashtarias Artefakt auf die Nähe der Abkömmlinge Madame Odins. Er eilte mit Jeanne in den Besprechungsraum, den er vor elf Monaten zum ersten Mal betreten hatte, als er zusammen mit den Teilnehmern des trimagischen Turniers die Sub-Rosa-Gruppe begründet hatte, um die Vorgänge in Hogwarts zu überwachen. Dort saßen bereits Claires und Jeannes Eltern, sowie Catherine Brickston, Professeur Faucon und Madame Maxime. Julius sah leicht verlegen aus. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, daß er sich Claires Familie offenbaren sollte.
Claires Mutter umarmte ihn und sah ihn mit einer Mischung aus Freude und Bestürzung an. Sie hauchte ihm zu:
"Ich freue mich, daß du noch da bist, Julius. Dann ist Claire auch in dieser Hinsicht noch bei uns."
"Danke, Madame", antwortete Julius leise. Insgeheim fragte er sich, ob sie ihm nicht doch die Schuld an Claires Tod geben würde, wenn sie jemals die volle Wahrheit erfahren sollte. Er fühlte ein gewisses Unbehagen, daß er diese Hexe, die Mutter seiner Verlobten, vielleicht belügen mußte, was die wahren Ereignisse um Claire und ihn betraf. Wie lange würde er es geheimhalten können? Dann trat noch Monsieur Dusoleil auf Julius zu und reichte ihm die Hand. Der Junge, der einmal versprochen hatte, Claire nicht weh zu tun, sah ihren Vater betroffen an. Dieses Versprechen hatte er nicht einhalten können, oder doch?
"Ich grüße dich, Julius. Ich hörte, daß du ebenfalls von dem grausamen Fluch betroffen warst. Wie geht es dir?"
"Soweit gut, Monsieur."
"Du siehst mich so an, als würdest du dich schuldig fühlen", sagte Claires Vater. Julius sagte dazu nur:
"Ich habe ihr nicht helfen können, Monsieur."
"Das hätte deine Fähigkeiten wohl auch überstiegen, wenn du diesen Fluch hättest brechen können", sprach Florymont Dusoleil ihn von jeder Schuld an Claires Tod frei. Doch was würde er sagen, wenn er erführe, daß seine Frau und seine Töchter nur deshalb in Gefahr geraten waren, weil Julius sich auf Sachen eingelassen hatte, von denen er besser die Finger gelassen hätte? Andererseits hörte er wieder Madame Odins und Claires Stimmen, als sie zu dritt in Ashtarias Obhut gewesen waren. Irgendwie würde es wohl gehen.
"Setzen Sie sich bitte!" Forderte Madame Maxime ihre Gäste auf. Julius nahm zwischen Jeanne und ihrer Mutter Platz. Dann sagte die Schulleiterin von Beauxbatons:
"Ich freue mich, daß Sie sich bereiterklärt haben, den jungen Mann hier", sie zeigte auf Julius, "hier und jetzt Ihren Beistand bekunden, daß er nicht von Ihnen ausgegrenzt ist. Aber Madame Eauvive erwähnte, Sie, Madame Dusoleil", wobei sie Jeannes und Claires Mutter ansah, "daß Sie etwas wichtiges erfahren haben, was Sie ihm mitteilen möchten und dies unter Ausschluß der Öffentlichkeit."
"Das stimmt, Madame Maxime", erwiderte Camille Dusoleil. "Ich möchte jedoch darum bitten, daß Professeur Faucon, Madame Brickston und auch Sie uns hierfür bitte allein lassen mögen. Es geht einzig um ihn, mich und Claire."
"Entschuldigung, Madame, bei allem Verständnis", setzte Madame Maxime etwas verstimmt an, "Sie werden doch nicht von mir verlangen, mich aus meinen eigenen Räumlichkeiten zu entfernen?"
"Ich verlange es nicht von Ihnen, sondern ich bitte Sie respektvoll darum", erläuterte Camille Dusoleil. Professeur Faucon blickte ihre Vorgesetzte beruhigend an und sagte dann ruhig:
"Nun, dieser Raum ist ein Klangkerker. Was in ihm gesprochen wird, bleibt hier. Nachdem wir auch einen Imperturbatio-Zauber auf die Tür gelegt haben, ist jede Form der Belauschung ausgeschlossen. Ich kann mir denken, weshalb Sie möchten, das ausschließlich Mitglieder des Eauvive-Stammbaums Zeugen dieser Enthüllung werden. Madame Maxime, bitte vertrauen Sie darauf, daß in diesem Raum nichts geschieht, was Ihnen oder Ihrer Stellung mißfallen würde!"
"Wie lange werden Sie benötigen, Madame?" Fragte Madame Maxime nach einer halben Minute konzentrierten Nachdenkens. Camille sah sie ruhig an und erwiderte:
"Das weiß ich nicht so genau. Eine Minute, vielleicht zehn Minuten, Madame Maxime."
"Gut, ich räume Ihnen fünfzehn Minuten mit Monsieur Andrews ein. Blanche, Madame Brickston, bitte begleiten Sie mich vor die Tür!" Willigte die Schuldirektorin ein und erhob sich. Ihre imposante Erscheinung verhöhnte ihre Nachgiebigkeit. Doch sie nickte Professeur Faucon und Catherine zu, die ebenfalls aufstanden und hinter der Halbriesin hergingen, durch die Tür und schlossen sie von außen.
"maman, warum sollte Madame Maxime den Raum verlassen?" Fragte Jeanne.
"Weil Antoinette mir nach meiner Erweckung etwas sehr vertrauliches übergeben hat, daß in ihrem Verlies für Dokumente aufbewahrt wurde, welche reine Familienangelegenheiten behandeln, die sonst niemanden angehen", erklärte Madame Dusoleil. "Sie ersuchte mich unmißverständlich, nur uns und Julius zu informieren." Sie legte behutsam ihre jadegrüne Handtasche auf den Tisch, klappte sie auf und griff behutsam hinein. Langsam und bedächtig zog sie eine würfelförmige Schachtel heraus, die etwa zwölf Zentimeter lange Kanten besaß. Mit der anderen Hand bugsierte sie die Schachtel so, daß die vier Laschen, die den Deckel geschlossen hielten, vor ihr lagen. Dann öffnete sie eine Lasche nach der anderen und klappte den Deckel von sich fort. Julius sah ein Stück weißer Wolle im inneren. Sie fingerte übervorsichtig an der Wolle und hob sie an. Jetzt erkannte Julius, daß es eine runde Abdeckung war, die eine etwa acht Zentimeter große Glaskugel gegen Stöße schützen sollte. Die Kugel selbst lag noch in einer Schale aus weichem Stoff und glühte auf, als sie allen sichtbar wurde.
"Was ist das?" Fragte er ergriffen, weil er fühlte, daß er gleich etwas besonderes erleben würde.
"Nun, es ist etwas, was das Zaubereiministerium all zu gerne in seiner Obhut hätte, wenn deine und meine Vorfahren nicht so angesehen wären und schon vor vierhundert Jahren angefangen hätten, sowas wie das hier in einem geheimen Archiv aufzubewahren. Der Zaubereiminister ahnt zwar, daß dieses Archiv existiert, kann aber nicht hineingelangen, geschweige denn die darin enthaltenen Aufzeichnungen herausholen. Nur Angehörige der Eauvive-Linie vermögen, das Archiv zu betreten und zu durchforschen. Das hier, Julius, ist eine in AufbewahrungsGlas eingelagerte Weissagung, die vor achtzig Jahren von Laocoon Odin, meinem Urgroßvater, gemacht wurde. Echte Seher wie er mußten sich für wirklich glaubwürdige Vorhersagen in eine tiefe Trance versetzen, bekamen oft nicht mit, was sie vorhersagten. Da es damals schon gefährlich war, heftige Prophezeiungen aufzuschreiben, sie aber wortgetreu aufgezeichnet werden mußten, ließ der, der sie hörte, sie per Memorextraktion, einer Technik, Erinnerungen auszulagern, in diese kleine Glaskugel einfließn. Antoinette Eauvive führte mich in dieses Archiv, weil nur drei Personen diese Prophezeiung herausholen konnten, Claire Dusoleil, du, Julius und ich. Für jeden anderen war sie unberührbar, denn sobald die Namen derer, die erwähnt werden, an den Aufbewahrungsplatz geschrieben werden, schützt ein mächtiger Geistesverwirrzauber die Aufzeichnung, der jeden unbefugten in den Wahnsinn stürzt, auch und vor allem, wenn er gegen seinen Willen daran rühren will."
Julius sah mit großen augen auf den sanft glühenden Glasglobus. Ihm wurde in diesem Moment klar, was im letzten Jahr in England geschehen sein mußte. Ja, Gloria hatte ihm Zeitungsberichte gezeigt, demnach Harry Potter und seine Freunde sich mit Todessern in einer angeblich nicht existenten Halle der Prophezeiungen eine wilde Zauberschlacht geliefert hatten. Dahinter war also Voldemort hergewesen. Womöglich konnte nur er oder Harry Potter eine solche Aufzeichnung an sich nehmen, und Voldemort wollte nicht zu früh aus dem Versteck treten und hatte diese telepathische Verbindung zwischen sich und Harry benutzt, ihn dort hinzulocken. Alles weitere waren ungeklärte Fragen, von denen wohl die wichtigste lautete: Hat Voldemort die Prophezeiung an sich bringen können? Aber Dumbledore hatte angedeutet, daß Voldemort wohl nicht bekommen hatte, was er suchte. Ja, und da lag nun eine Glaskugel in einer Schachtel vor ihm, in der angeblich so eine Prophezeiung steckte. Wie konnte jemand vor achtzig Jahren wissen, daß es ihn und Claire einmal geben würde, wo noch nicht einmal ihrer beiden Eltern geboren waren?
"Wenn das echt eine Prophezeiung ist, wie sicher Können Sie sich sein, daß sie auch stimmt?" Fragte Julius skeptisch, obwohl er gerade erst vor kurzer Zeit auf sehr erschütternde Weise gelernt hatte, daß nicht alle Vorhersagen blanker Unsinn waren. Marie Laveaus Geist hatte ihn seine nahe Zukunft und mögliche Folgen sehen lassen, und daß Claire nun nicht mehr bei ihm war war auch das Ergebnis einer wahrgewordenen Weissagung.
"Der Umstand, daß nur mein Urgroßonkel, der sich die Prophezeiung angehört hat die Lagerung vorgenommen und die Namen aufgeschrieben hat, die er damals bestimmt noch nicht kennen konnte und meine Großmutter, die auch Claire mit Vornamen hieß, da noch nicht mit meinem Großvater verheiratet war, geschweige denn verlobt. von dir konnte damals ja auch keiner was wissen, oder?"
"Das glaube ich Ihnen gerne", sagte Julius. Um ihn hatten sich in den letzten Monaten zu viele Wahrsagungen gerankt, daß es nicht möglich sein sollte, daß jemand aus seiner weit verzweigten Ahnenreihe ihn nicht auch erwähnt haben mochte.
"Wie kann man diese Aufzeichnung abrufen?" Fragte Jeanne.
"Indem man die Aufbewahrungskugel öffnet. Deshalb kann sie nur einmal abgerufen werden", sagte Madame Dusoleil. Dann sah sie Julius an, der voll konzentriert auf die Glaskugel blickte, nahm diese aus der Schachtel und legte sie auf den Tisch. Julius griff behutsam danach. Sie fühlte sich sehr warm an, als enthalte sie heißen Tee. Doch in ihr befand sich gelborange glühender Rauch, der leicht waberte, als Julius die Kugel vorsichtig auf dem Tisch rollte.
"Müssen wir sie zerschlagen, oder wie soll das gehen?" Fragte er. Madame Dusoleil nickte sachte. Dann nahm sie die Kugel, zielte auf die Wand, vergewisserte sich, daß alle hinsahen und warf sie schwungvoll dagegen. Ein kurzes Klirren erklang, als die kleine Kugel in abertausend Scherben zersprang, die wie orange Funken davonsprühten. Der Rauch im inneren quoll heraus, färbte sich weiß und dehnte sich aus, bis er zu einer geisterhaften Erscheinung wurde, die einen bärtigen Mann im langen Umhang mit zerzausten Haaren darstellte. Julius hatte nur noch Augen und Ohren für diese Erscheinung, die frei in der Luft schwebte und den Anwesenden mit weltentrücktem Blick entgegensah. Dann öffnete sich der Mund, und hohl und eintönig drangen Worte daraus hervor:
"Zwischen zwei Zeitaltern dunkler Macht,
wird einst eine Hexe zur Welt gebracht.
Camille wird sie heißen,< angetraut einem aus dem Hause der Sonne,
der Pflanzen gewogen in emsiger Wonne.
Sie bringt da selbst drei Hexen zur Welt,
die Mittlere, Claire genannt, jedoch nicht Körper und Wissen der Frau je erhält.
Von der Insel der Briten wird einst zu ihr kommen,
ein Knabe, der seinem ihn ächtenden Vater genommen.
Julius Andrews, sein Name, sein Schicksal nicht kennend,
sie beide in ehrlicher Liebe entbrennend,
sich einander bindend, ihre Herzen füreinander findend.
Der Knabe jedoch wird durch vergessenes wissen,
sehr bald von der Seite der Versprochenen gerissen.
Verderbliches Werk, durch Angst geschürt,
den Jungen in große Gefahren führt.
Die Mutter Camilles und Claire finden Mut,
belohnen sein Tun durch der Liebe Gut.
Zwar lassen sie beide die Leiber dabei,
doch werden durch Morgensterns Tochter Ashtaria frei.
Ashtaria dem Knaben ewige Obhut verspricht,
will er sein weiteres Leben nicht.
Doch Claire wird wollen, daß er widerstrebt,
Damit er sein weiteres Leben lebt.
Er hört ihre Worte, und nimmt an sein Los,
sich loszulösen von Ashtarias Schoß.
Nur durch solch entschlossenes Streben,
bleiben auch Claire und ihre Großmutter am Leben.
Sie werden Zeugen ein Kind hoher Sphären,
das Ashtaria wird vor dem Knaben gebären."
Die Erscheinung verblaßte wenige Sekunden nach dem letzten Wort aus ihrem Mund. Als sie völlig verschwunden war, lagen nur noch die winzigen Scherben der Glaskugel auf dem Boden. Julius sank vorne über, sichtlich angerührt durch diese Prophezeiung. Camille Dusoleil umfing ihn mit ihrem rechten Arm und zog ihn sanft an sich. Wieder meinte er, losweinen zu müssen. Doch der Heilsstern unter seinen Kleidern pulsierte jetzt so stark, daß er sich der Ergriffenheit und dem Schuldgefühl nicht hingeben konnte. Madame Dusoleil fühlte wohl auch, daß da noch mehr war als der Körper eines Jungen, der meinte, gerade sowas wie eine Schuldzuweisung gehört zu haben, daß Claire seinetwegen hatte sterben müssen.
"Du konntest das nicht verhindern, Julius. Wenn das bisherige stimmt, weil Claire und Maman wohl beide nicht mehr da sind, muß sich dieser Teil der Prophezeiung wohl wirklich erfüllt haben. Wenn du denkst, du seist Schuld an Claires Tod, dann erzähle uns kurz, was du meinst, angerichtet zu haben. Es bleibt doch alles in diesem Raum."
"Sub Rosa", Julius", sagte Jeanne leise. Julius sah sie kurz an, kämpfte darum, nicht die Fassung zu verlieren und nickte. Dann griff er unter seinen Umhang und zog das hochmagische Schmuckstück hervor, das er von Madame Odin bekommen hatte. Es leuchtete schwach.
"Du hast Mamans Heilsstern", sagte Camille Dusoleil. "Wann hat sie ihn dir überlassen?"
Julius beschloß, sich über Madame Maximes Anweisung hinwegzusetzen und alles zu erzählen. Er berichtete in einer Art Telegrammstil, wie er auf das Geheimnis von Gregorians Bild gestoßen war und daß er wegen einer anderen Angelegenheit einen Gegenstand bekommen hatte, der Verbindungen zwischen zwei Bildern für ihn durchgängig machte. Dann erzählte er kurz von der Festung der Morgensternbrüder, daß er eine magische Prüfung bestanden hatte, um als Träger von Darxandrias Siegel anerkannt zu werden, was die Brüder in Angst versetzt hatte, er könne eine Kette schlimmer Sachen auslösen. Er erwähnte die Flucht mit Madame Odin, seine Rückkehr nach Beauxbatons und daß er hier erfahren habe, daß Madame Odin angegriffen und verschleppt worden sei. Um ihr zu helfen sei er noch mal durch die Bildverbindung gegangen, und habe gewartet, sie zu finden. Doch da sei bereits der Fluch aufgerufen worden, und er habe sie erst finden können, als er ihr sehr kräftiges Artefakt finden und damit zu ihr gehen konnte. Sie habe sich dann in die Bahn des Todesfluches geworfen, wodurch sie sich mit Ashtaria vereinigt habe, die ihn dann fortbringen wollte. Doch dann habe der Anführer der Morgensternbrüder noch einmal den Todesfluch gewirkt, nach dem er einen heftigen Schmerz in der Linken Hand verspürt hatte. Von da an sei alles wie ein Traum gewesen, bis Ashtaria ihm angeboten habe, ihn in sich zu behalten oder ihn in seine Welt zurückzulassen, wenn er denn wirklich in seine Welt zurückkehren wolle. Dann sei eine Gestalt aus Licht erschinen, die sich als gemeinsames Seelenkind von Madame Odin und Claire vorgestellt habe. Die Dusoleils sahen ihn teils verwundert, teils vorwurfsvoll, und dann wieder beeindruckt an. Als er dann Camille Dusoleil das Artefakt umhängte, leuchtete es so sehr auf, daß sie alle die Augen schließen mußten. Irgendwie hörte Julius dabei, wie Camille wie in Trance die Formel hersagte, die ihn zu Madame Odins Heilsstern geführt hatte:
"Aus Liebe geboren,
der Liebe und dem Heil verschworen.
Wenn aus Liebe gegeben
erhältst du Schutz und Leben."
Als er es wagte, seine Augen wieder zu öffnen, stand Ammayamiria genau vor der Wand, gegen die Camille die Aufbewahrungskugel geworfen hatte.
"Alles was euch Julius erzählt hat ist wahr. Macht euch keine Sorgen und versinkt nicht in Trauer!" Sprach das Lichtwesen mit jener gelungenen Verschmelzung zwischen Aurélie Odins und Claires Stimme.
Die Tür ging auf, und Madame Maxime, Professeur Faucon und Catherine traten ein. Die fünfzehn Minuten waren verstrichen. Sie sahen die Dusoleils und Julius an, dann den leuchtenden Heilsstern und suchten mit ihren Blicken den Raum ab. Doch sie sahen nicht, was die Dusoleils und Julius sehen konnten und hörten nicht, was diese hörten.
"Camille, Mutter und Tochter meiner Mutterseelen, ich, Ammayamiriia, bin die Vereinigung des Lebens von Aurélie Odin und Claire Dusoleil. Ich lebe nun ohne menschlichen Körper und kann nur von euch gehört und gesehen werden. Ich möchte euch sagen, daß ich froh bin, daß Julius weiter mit euch zusammen leben kann und ich nun auf euch alle aufpassen kann. Camille, du bist Aurélies einzige Tochter und damit Erbin des Heilssterns, den Ashtarias Kinder, unsere Vorfahren erschaffen haben. Die ihm inne wohnende Kraft der Liebe und des Schutzes wird dich und die von dir geliebten vor bösen Zaubern bewahren. Doch wenn du seinen Schutz nicht für dich selbst willst, kannst du ihn an deine älteste Tochter weitergeben. Denn nur so bleibt die Macht erhalten, die Schutz und Leben erhält, ohne anderen böses zu tun. Ich weiß, du wirst erkennen, wie du damit umgehen möchtest. Lebt nun wohl. Ich werde über jeden von euch und euere Nachkommen wachen. Jeanne, ich freue mich, daß du und Bruno bald ein Kind haben werdet. Florymont, Schwiegersohn und Vater, Julius hat meiner Mutterseele Claire nicht weh getan. Er wollte sich für sie opfern, wie sie sich für ihn. Vergiss das bitte nie! Julius, ich freue mich, daß du weiterhin bei meiner Familie sein darfst. Lebt nun euer Leben!"
"Moment, Ammayamiria, woher sollen wir wissen, daß du wirklich die Vereinigung zwischen meiner Schwiegermutter und Claire bist?" Fragte Monsieur Dusoleil. Da begriffen Madame Maxime und Professeur Faucon, daß sie wohl mit der so fremd- wie großartigen Erscheinung sprachen, die kurz nach Julius' Wiedergeburt zu ihnen gesprochen hatte. Ammayamiria beantwortete Fragen, die nur Madame Odin oder Claire hätten beantworten können. Dann fragte Jeanne, was denn dieser Name bedeute und hörte, daß Ashtaria sie kurz nach der Freisetzung mit diesem Namen belegt habe, und daß er mütterliche Jungfrau bedeute. Etwa eine halbe Stunde dauerte die Unterhaltung mit Ammayamiria. Dann verabschiedete sie sich und drang in den Heilsstern ein, der danach nur silbern schimmerte. Professeur Faucon, die in der Zeit mit dem Staubsammelzauber alle Glassplitter aufgelesen hatte, sah dann Camille Dusoleil an.
"Ich hoffe, Sie haben alle Fragen beantwortet bekommen. Können wir noch was für Sie tun?"
"Nein, wir kehren zurück nach Millemerveilles", sagte Madame Dusoleil. "Wir werden die Bestattung von Claires Körper vorbereiten, wie Ammayamiria sie uns vorgeschlagen hat. Bitte bringen Sie Julius am Freitag Abend um zehn Uhr zu uns. Bis dahin werden wohl alle Eulen mit den Einladungen angekommen und beantwortet sein."
"Ammayamiriia hat gesagt, wir möchten keine Trauerkleidung anziehen", sagte Jeanne. "Wenn es Claire so gefällt, werden wir eben unsere Festumhänge anziehen."
"Ja, das ist die beste Möglichkeit, nicht den Tod zu betrauern, sondern das Leben zu feiern", sagte Monsieur Dusoleil.
Julius beglückwünschte Jeanne beim hinausgehen zum baldigen Nachwuchs. Jeanne sagte:
"Immerhin hast du uns geholfen, daß ich das Kind auch kriegen kann."
"Bis Freitag abend", sagte Julius.
"Bis Freitag Abend", sagte Florymont Dusoleil. Dann verschwand auch er durch den Kamin im Empfangsraum. Julius wollte schon durch die Bildverbindung in den allgemein zugänglichen Bereich zurück. Doch Madame Maxime hielt ihn zurück.
"Ich gehe davon aus, daß Sie gehalten waren, einen vollständigen Bericht abzugeben. Das war aber jetzt das letzte Mal, daß Sie diese Vorkommnisse mit anderen besprochen haben."
"Ja, verstanden. Aber in dem Fall ging's nicht anders, weil mir Sachen erzählt wurden, die haargenau das trafen, was mir passiert ist."
"Also doch", erwiderte Professeur Faucon. "Dann existiert das geheime Archiv der Eauvives doch. Warum hat man diese Information nicht vorher gesichtet? Es hätte Claire und dir sicher eine Menge Schwierigkeiten erspart."
"Weil Madame Eauvive wohl erst heute damit herausgerückt ist, daß es diese Information gibt."
"Zumal deren Wert wohl dann erst zu erkennen war, als die betreffenden Tatsachen offenbart wurden", knurrte Professeur Faucon.
"Nun, die Vergangenheit läßt sich jetzt nicht mehr korrigieren", sagte Madame Maxime. "Hoffen wir, daß wir die Möglichkeiten unserer Zukunft doch noch frei genug nutzen können." Julius nickte.
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Julius hatte seinen Freunden und Klassenkameraden nur erzählt, daß die Dusoleils da waren und mit ihm über Claire und das Begräbnis gesprochen hatten, weil sie fanden, daß er dabei mitzureden habe. Goldschweif war kurz vor dem Fenster aufgetaucht und hatte ihm zugeflüstert, daß er nicht mehr ohne sie irgendwo hingehen solle, wo es bestimmt gefährlich werden könnte. Deshalb sollte er besser in ihrer Nähe bleiben, bis sie ihre Jungen hätte. Julius sagte dazu nur, daß er so schnell nirgendwo mehr hingehen würde, wo es für ihn gefährlich werden könnte. Dabei verschwieg er seiner vierbeinigen Vertrauten, daß er über Weihnachten nach Paris fahren würde, wo sie ja nicht hingehen dürfte. Aber bis dahin würde sie eh hochträchtig sein, dachte er sich.
Am nächsten Tag, der noch schulfrei war, ergab sich die Möglichkeit, mit Gloria zu sprechen. Sie unterhielten sich darüber, was in den letzten Tagen in Beauxbatons gelaufen war, und ob er nun sehr traurig war. Er sagte darauf nur:
"Ich muß mich daran gewöhnen, daß Claire nicht mehr da ist. Aber ich weiß, sie will nicht, daß ich nur noch traurig bin. Das war nicht ihr Stil."
"Hat deine Mutter was von sich hören lassen?" Fragte sie.
"Catherine hat es ihr erzählt. Eigentlich wollte sie herkommen, mich zu besuchen. Aber Catherine meinte, es ginge mir gut und sie würde mich am Samstag sehen können. Am meisten Leid tut es mir um Denise und Babette, wo die Jeannes Brautjungfern waren."
"Die werden irgendwie damit leben lernen, zumal Babette Claire ja nicht so häufig gesehen hat."
"Ich meine nur, daß ich nicht weiß, was bei denen ankommt."
"Ich denke, die werden lernen, daß es irgendwann langweilig ist, wenn man nur traurig ist", sagte Gloria. "Aber so genau kann ich das natürlich auch nicht wissen." Sie lächelte unbeholfen. Julius nickte anerkennend.
Abends sprach er dann noch mit Glorias Großmutter Jane. Da er nicht über Ashtaria und die Verschmelzung zwischen Madame Odins und Claires Seele sprechen durfte sagte er nur, daß er sehr traurig sei, daß Claire nicht mehr da sei und er nicht wisse, was er dagegen machen solle.
"Ja, das ist sehr traurig", sagte Mrs. Porter mitfühlend. "Das ist etwas, worauf niemand einen wirklich vorbereiten kann, noch dazu wenn man noch so jung ist wie ihr beiden es wart. Aber ich weiß, Honey, daß wir nicht wirklich sterben können. Wer keine Angst vor dem Tod empfindet und sich nicht krampfhaft in dieser Welt hält und dafür ein Geisterdasein führen muß, geht in eine wesentlich sorgenfreiere Welt hinüber, in der Schmerzen und der Lauf der Zeit nicht mehr existieren. Als meine Großmutter vor zehn Jahren starb habe ich geträumt, daß sie in ihrem schönsten Festkleid aus dem Haus ging und uns allen noch schöne und friedliche Tage gewünscht hat. Erst zwei Stunden später bekam ich die Eule mit der Nachricht. Bestimmt ist Claire immer dann in deiner Nähe, wenn du an sie denkst und dich so verhältst, wie sie dich geliebt hat."
"Das hat mir Madame Dusoleil auch so erzählt. Sie hat ja ihre Mutter verloren", sagte Julius nur.
"Dann werden sie beide aufeinander und auf euch aufpassen", sagte Mrs. Porter sehr zuversichtlich und lächelte ihr warmes, großmütterliches Lächeln.
"Ich hoffe, ich kriege das irgendwie klar, nicht von der ganzen Trauer umgeschmissen zu werden", seufzte Julius. "Erst mein Vater und dann noch Claire."
"Dein Vater ist nicht tot, Honey. Das sollen nur alle glauben, die mit der vollen Wahrheit nicht zurechtkommen können. Er fängt nur ganz neu an."
"Warum nicht auch Claire", grummelte Julius. Doch dann dachte er, daß es ja genau das war, was die Erscheinung Ammayamirias bedeutete. Claire fing etwas neues, großartigeres an und hatte ihm gesagt, er solle sich nicht an ihr altes Leben klammern.
"Am Samstag ist die Begräbnisfeier", sagte Julius. "Gloria wird ja auch dabei sein, weil sie im Moment Gastschülerin bei uns ist."
"Ich wünsche dir allen Mut, dich dem neuen Leben zu stellen und alle Hoffnung, daß du nicht in Trauer oder Einsamkeit ertrinkst."
"Glauben Sie an Engel oder Wächterseelen?" Fragte Julius.
"Nein, ich glaube nicht daran", sagte Mrs. Porter ruhig. Doch um ihren Mund spielte ein tiefgründiges Lächeln. "Ich weiß, daß nichts, was durch Liebe und Freundschaft entstanden ist verloren geht. Daher weiß ich auch, daß es in einer für uns nicht faßbaren Weise Beschützer gibt, die selbst einmal gelebt haben. Wenn dich das beruhigt, dann bin ich sehr froh."
"Danke, Mrs. Porter", sagte Julius nickend und beendete die Sprechverbindung. Als er den Spiegel wieder fortsteckte sah er über sich Aurora Dawns Bild und neben ihr auch Viviane Eauvive.
"Ich brauchte das jetzt", rechtfertigte Julius seine Unterhaltung nach der eigentlichen Bettzeit.
"Das weiß ich", sagte Viviane ruhig. "Ich habe nur zugehört."
__________
Die Tage darauf trafen die Einladungen für die Begräbnisfeier ein, Madame Rossignol kehrte nach ihrer Anhörung vor dem Heilerrat nach Beauxbatons zurück und verkündete:
"Sie haben eindeutig belegenkönnen, daß ich nicht zu spät eingegriffen habe und gegen diesen vielen Heilern unbekannten Fluch eh nichts habe machen können, solange ich weder den Schlaf der Todesnähe kannte und auch nicht sofort wußte, wer die direkt betroffene war."
Als der Unterricht weiterging atmeten doch viele auf. Der Alltag hatte sie wieder, zumindest bis Freitag abend.
Am ersten Schultag nach dem Abschied von Claire wurde ihr Leichnam aus der Aula geholt. Das passierte in der Zeit zwischen Unterrichtsbeginn und Mittagszeit. Julius erfuhr, daß Madame Delamontagne mit einigen Mitarbeitern die Überführung nach Millemerveilles durchgeführt hatte. Auch Claires persönliche Sachen waren abgeholt worden. Ob Madame Dusoleil sie an Jeanne, Denise oder Melanie Odin weitergeben oder sie als anonyme Spende für Hilfsbedürftige Zauberer und Hexen in ärmeren Ländern abgeben würde wußte Julius nicht. Claires Bett im Viertklässlerschlafsaal sollte noch bis zum Schuljahresende stehenbleiben. Laurentine hatte ihm erzählt, sie hätten es mit einer roten Tagesdecke überzogen, auf der eines von Claires dunkelroten Nachthemden ordentlich ausgebreitet worden war. Er entsann sich, daß in der Einladung zur Abschiedsfeier für Claire ausdrücklich von einer Feier des Lebens und nicht Trauer um den Tod Claires gesprochen wurde und daß alle Gäste bitte ihre Freudenfestbekleidung tragen und von Beileidsbekundungen an der Grabstätte abstand nehmen sollten. Der Unterricht sorgte dafür, daß sich die Schülerinnen und Schüler nicht dauernd mit Claire Dusoleil befaßten. Julius beschloß, seinen Vortrag über die Töchter des Abgrunds noch durch Nachforschungen zum Hintergrund Lahilliotas zu ergänzen. Madame D'argent, die Bibliothekarin, wunderte sich nicht schlecht, als er sie nach Aufzeichnungen über eine Ashtaria fragte, weil er irgendwo gelesen hatte, Lahilliota habe eine Schwester dieses Namens gehabt.
"Ashtaria wird in den Mythen morgenländischer Magier und den Aufzeichnungen Babylonischer Zaubererdynastien erwähnt", sagte Madame D'argent. "Es gibt sogar eine wissenschaftliche Arbeit über Ashtaria und ihr Vermächtnis von Madame ... Aurélie Odin."
"Ich denke, Claires Großmutter wäre sehr erfreut, wenn ich diese Arbeit lesen und damit ein gutes Referat hinbekommen könnte", sagte Julius.
"Nun, diese Sachen sind eigentlich eher UTZ-Lektüre, zumal in erwähnten Büchern auch Beispiele für verheerende Flüche oder sehr riskante Bann- und Abwehrzauber erwähnt werden. Deshalb stehen diese Werke in der verbotenen Abteilung. Da müßtest du eine schriftliche Ausleihempfehlung und -erlaubnis von Professeur Faucon beibringen, und ich fürchte, die wirst du nicht kriegen."
"Geht das auch von Madame Maxime?" Fragte Julius.
"Von der wohl erst recht nicht", erwiderte die Bibliothekarin sehr selbstsicher grinsend. "Gerade nachdem diese häßliche Sache passiert ist wird sie sich bestimmt nicht auf Sachen einlassen, die sie die Anstellung hier kosten", fügte sie noch hinzu. Julius nickte und entschuldigte sich für die Störung. Vielleicht bekam er die Gelegenheit, diese Sachen später mal zu lesen, wenngleich er ja auch schon ein kleiner Experte für Ashtaria war.
Am Freitag Abend bat Professeur Faucon ihn, seine Reisetasche zu packen. Er werde diese Nacht, sowie die Nacht vom Samstag auf Sonntag im Haus der Dusoleils schlafen. So legte er seinen neuen, weinroten Festumhang in die Reisetasche, verabschiedete sich von seinen Klassenkameraden und Pflegehelferkollegen und reiste per Flohpulver direkt ins Haus der Dusoleils.
"Ah, schön daß du sofort gekommen bist, Julius", sagte Madame Dusoleil. "Großvater Tiberius schläft mit Emil und seiner Familie im Wiesenlandschaftszimmer, Florymonts nähere Verwandten schlafen im Waldlandschaftszimmer. Du wirst in Jeannes ehemaligem Zimmer schlafen."
"Was ist mit Claires Zimmer?" Fragte Julius sehr verhalten.
"Das hat Florymont erst einmal zugemacht, bis wir in einem halben Jahr befinden, ob wir die Sachen von ihr an unsere Verwandten weitergeben oder irgendwie behalten", sagte die Mutter Claires und verdrückte eine kleine Träne. Dann lächelte sie warm und zog Julius an sich. Leise flüsterte sie ihm zu:
"Ammayamiria ist Denise und meinem Vater erschinen, als wir drei für ein paar Minuten alleine waren. Aber die anderen wissen nichts davon und müssen es auch nicht wissen, daß Maman und Claire dieses Wesen gebildet haben. Denise hat sie gefragt, wo denn ihre Flügel geblieben seien."
"Dann hat sie sich als Engel bezeichnen lassen?" Fragte Julius verhalten amüsiert.
"Denise hat das angenommen, und Ammayamiria hat nur gelächelt und gesagt, daß dies die schönere Beschreibung dessen ist, was man über Wesen wie sie sagt."
"Ist denise schon im Bett?" Erkundigte sich Julius.
"Sie schläft mit Melanie und Mayette in ihrem Zimmer", erwiderte Madame Dusoleil. "Emils Frau war nicht sonderlich begeistert, daß Ursulines zukünftiges Ex-Nesthäkchen von Denise eingeladen wurde."
"Die anderen Brautjungfern kommen morgen aus Beauxbatons nach", sagte Julius leise. Da hörte er schwere Schritte von der Treppe her.
"Mimie, ist der Junge da?" Fragte ein älterer Mann, Monsieur Tiberius Odin.
"Er ist bei mir unten, Papa!" Rief Camille Dusoleil zurück.
Als Madame Odins Witwer hereinkam, begrüßte ihn und sprach ihm sein Mitgefühl aus.
"Aurélie war immer schon ein sehr reiselustiges Mädchen. Daß sie Claire nun mitgenommen hat und ihr eine ganz andere Welt zeigen kann ist für mich ein sehr großer Trost", sagte Monsieur Odin. "Du weißt, daß sie und Claire zu einer transvitalen Entität verschmolzen sind. Deshalb weißt du, daß sie beide nicht ganz weggegangen sind."
"Den Begriff höre ich heute zum ersten Mal", bemerkte Julius. "Klingt aber sehr akademisch für das, was sie nun geworden sind."
"Ja, zumal es unter den Zaubereigelehrten genug Kritiker dieser Existenzform gibt. Sie halten Geister für die einzigen nachweißbaren Erscheinungsformen verstorbener Personen. Aber die werden als postmortale Existenzen bezeichnet. Das weiß ich, weil mein Bruder in der Erforschung nicht- oder nachlebendiger Wesenheiten tätig ist."
"Dann wissen Sie vielleicht, wie Ammayamiria entstanden ist?" Fragte Julius.
"Technisch gesehen ist sie deine einige Zeit ältere Schwester, weil sie wie du aus einer anderen, noch mächtigeren transvitalen Entität wiedergeboren wurde. Du bist aber mit deinem Körper in diese mächtige Wesenheit aufgenommen worden und somit nicht mit Aurélie und Claire verschmolzen."
"Das wäre ja auch noch heftiger gewesen", erwiderte Julius. "Dann hätten wir eine unausbalancierte Daseinsform zwischen Männlich und weiblich gebildet, wenn ich nicht durch den weiblichen Überhang ... Aber lassen wir das! Das ist jetzt wohl unangebracht."
"Für Cassiopeia vielleicht, aber wir beide wissen ja, daß wir uns nicht abfällig über verstorbene Angehörige auslassen", erwiderte Monsieur Odin.
"Sie hat mich schon angegiftet, weil Florymont, Jeanne und ich uns darauf verständigt haben, keine konventionelle Trauerfeier auszurichten. Das sei ein Verstoß gegen die gesellschaftlichen Anstandsregeln. Dann hätten Jeanne und Bruno ja gleich nackt heiraten können und so weiter."
"Auf anderen Planeten ist sowas üblich", grinste Julius und erinnerte sich wie auf Knopfdruck, wie Laurentine und er beim Sommerball die Leute an ihrem Tisch amüsiert hatten, weil sie von den Betazoiden und ihren Hochzeitsbräuchen gesprochen hatten.
"Bei allen guten Geistern, dann müßten die Gäste ja auch nackt herumlaufen", erwiderte Monsieur Odin. "Neh, Cassiopeia ganz naturbelassen anzusehen hatte ich doch keine Lust drauf."
"Zumal es bei Hochzeiten und Trauerfeiern ja Sache der direkten Verwandten ist, wie sie ausgerichtet werden", erwiderte Madame Dusoleil. Offenbar hatte der Abschied von Madame Odin und Claire ihre Abneigung gegenüber Madame Cassiopeia Odin nicht vertrieben. Julius wußte auch warum, und das hatte unmittelbar mit Claire und ihm zu tun.
Jetzt sah er sich bei Claires dreizehntem Geburtstag mit dieser Hexe sprechen, die ihm vorhielt, er sei doch nur ein Muggelbrütiger und Claire habe was besseres verdient, worauf es zwischen ihr und Claire und dann noch zwischen ihr und Madame Delamontagne heftig geknallt hatte. Ja, so hatte Julius ohne es zu wollen mitgeholfen, daß sich das Verhältnis zwischen den Dusoleils und Cassiopeia Odin noch mehr verschlechtert hatte. Wofür das alles? Nein! Diese Frage durfte er weder sich noch sonstwem stellen. Alles was er bisher gemacht und gesagt hatte war richtig gewesen. Keiner würde ihm dafür noch einen Vorwurf machen, es sei denn, er selbst.
"Papa, bist du unten?" Hörte Julius die Stimme eines etwas jüngeren Mannes fragen. Es war Emil Odin, Camilles Bruder.
"Ja, ich bin bei Camille unten!" Rief Tiberius Odin. Noch einmal erklangen schwere Schrittte, dann stand Emil in der Küche, wo der große Kamin war. Er sah Julius an und legte sein Gesicht in Trauerfalten. Julius nahm die halbherzig vorgebrachte Beileidsbekundung entgegen. Er sah sofort, daß Emil Odin in einem schwarzen Samtumhang gekleidet war, wohingegen Monsieur Tiberius Odin einen dunkelblauen Umhang trug und Camille Dusoleil ein grasgrünes Kleid trug, nur um die Taille eine schwarze Schleife tragend.
"Ohne dir jetzt noch mehr weh zu tun, Julius, fand ich es schon etwas merkwürdig, daß Camilles Familie dich als engeren Angehörigen bezeichnet, wo Claire und du nicht offiziell verlobt wart und ..."
"Der Corpores-Dedicata-Zauber ist eine magisch bindende Verlobung, Emil. Hat deine Frau das nicht begreifen wollen?" Fragte Madame Dusoleil. "Und warum kapierst du es auch nicht?"
"Weil das eben nicht offiziell ist und ..."
"Mein sohn, deine Mutter und ich haben uns so einander versprochen, und keiner hat gewagt, dem zu widersprechen, und Camille hat das mit Florymont auch so gemacht", sprach Tiberius Odin ein Machtwort. "Also lasse den Jungen ja damit in Ruhe. Claire und er haben sich durch diesen Zauber einander verbunden. Deshalb wäre er beinahe mit ihr zusammen gestorben. Also hör ja auf, derartig zu reden!"
"Entschuldigung, Papa. Aber in meiner Anstellung kann ich mit derartigen Zaubern nicht so gut auftrumpfen", sagte Emil.
"Hat auch keiner von dir verlangt, Bruder", sagte Madame Dusoleil. Dann sagte sie beschwichtigend: "Außerdem sind wir nicht hier, um uns zu streiten. Julius ist jetzt schon hier und sitzt morgen neben Bruno in der ersten Reihe, weil Claire das so wollte."
"Sie hatte überhaupt nichts zu wollen, Camille", schnarrte nun Cassiopeia Odins Stimme. "Es war unverantwortlich, ihr diesen Zauber und das damit einhergehende Versprechen durchgehen zu lassen. Aber ihr wollt diesen ..."
"Schlammblutbengel?!" Schoss Julius eine Frage auf Madame Odin ab, die in ihrem schwarzen Seidenkleid eher wie eine trauernde Witwe als wie eine ungemochte Tante aussah. Sofort trat stille ein. Dann sagte Madame Dusoleil ganz ruhig:
"Es steht dir noch frei, Cassiopeia, dich zu den übrigen Gästen zu setzen. Aber dann ziehst du bitte ein anderes Kleid an, bevor noch wer glaubt, es sei deine Tochter, die wir morgen ehrenvoll verabschieden. Ich habe jetzt keine Lust, mich mit dir so mädchenhaft rumzuzanken, weil du den Jungen nie abkonntest und Claire am liebsten einen dir genehmen Schwiegersohn aangebunden hättest." Dann sah sie Julius tadelnd an und fuhr fort: "Öhm, Julius, auch wenn Emils Frau so denken mag, wie du gerade geredet hast, ist und bleibt es immer und überall unangebracht, so zu reden, besonders über sich selbst."
"Außerdem sind meine Eltern beide Eauvive-Nachkommen und daher Nachfahren einer alten Zaubererfamilie, damit Sie das wissen", knurrte Julius an Cassiopeias Adresse.
"Hallo, Julius, nicht noch ärgern. Die ist so schon unausstehlich genug", hörte er Madame Dusoleils Stimme direkt in seinem Kopf. Er wandte sich schnell Monsieur Tiberius Odin zu, der seine Schwiegertochter strafend ansah, weil sie offenbar gegen bestehende Anstandsregeln verstoßen hatte. Diese sah mit hochrotem Gesicht ihre Schwägerin an und sagte halblaut:
"Du wagst es, mir zu unterstellen, ich verabscheue Kinder aus reinen Muggelfamilien? Es ging und geht nur darum, daß diese Kinder erst lernen müssen, wie sie in unserer Welt zurechtkommen und ..."
"Cassiopeia, ist gut jetzt!" Bellte Monsieur Odin, dessen Gesicht ebenfalls rot angelaufen war. Allerdings verriet die Wölbung der Augenbrauen über der Nase, daß es eher Zornesröte war.
"Wir sind nicht hier, um uns zu streiten", wiederholte Madame Dusoleil, was sie schon einmal gesagt hatte. Dann kam noch ihr Mann und fragte, was los sei. Er meinte dann noch:
"Cassiopeia, Julius ist genauso Gast und Angehöriger von Claire wie du. Finde dich bitte damit ab und mach die Sache nicht noch tragischer als sie eh schon ist!"
Jeanne apparierte krachend in der Küche und begrüßte ihre Eltern. Dann apparierte ihr Mann Bruno auch noch. Jeanne sah Julius an und steuerte auf ihn zu. Unvermittelt lag er in ihren Armen und wurde an sie gedrückt.
"Ich freue mich, daß sie dich schon hergelassen haben. Dann haben wir morgen früh ein wenig Zeit, um alles in Ruhe anzugehen. Du weißt, daß du heute mein Zimmer hast?"
"Mhmm", machte Julius, der zwischen Trauer und Erleichterung schwang. Diese Frau da sah so aus, wie Claire in fünf Jahren ausgesehen hätte und hielt ihn so sicher wie ihre Schwester das gerne getan hatte. Doch es war nicht Claire. Claire war nicht mehr da, zumindest nicht mehr als junge Frau. Jeanne schien zu fühlen, wie Julius empfand und strich ihm sacht über die Wange. Bruno trat heran, sah Julius an und grinste feist.
"So hat sie mich gehalten, als wir zum ersten Mal vor unserer Haustür standen", sagte er. Dann wandte er sich an Cassiopeia Odin und feixte: "Siehst aus, als hätte dir jemand eine runtergehauen, Tante Cassie."
"Sie Monsieur halten sich bitte geschlossen, wenn Sie nicht im Bilde sind, was hier gerade vorgefallen ist", fauchte Madame Odin wie eine wütende Katze. Jeanne drehte sich mit Julius in den Armen um und bugsierte ihn einfach zur Tür hinaus. Widerstandslos ließ er sich von ihr zu ihrem früheren Zimmer bringen, wo sie die Tür öffnete und ihn hineinführte.
Das Zimmer war bis auf vier Möbelstücke leergeräumt. Ein gemütliches Gästebett stand der Tür gegenüber an der Wand, daneben ein Nachttisch und ein Tisch mit einem hochlehnigen Stuhl. An der Wand hing ein Bild von Viviane Eauvive, daneben noch ein Zauberergemälde von einer Holzbläsergruppe in bunten Kostümen, das sehr wahrscheinlich von Claire gemalt worden war.
"Das mit den Musikern hat sie mir zum siebzehnten Geburtstag gemalt", sagte Jeanne, als sie sah, wo Julius hinsah. Er sah sie an und sagte:
"Ich dachte, du hättest alle Bilder bei euch im Haus."
"Die beiden habe ich dir noch einmal reingehangen. Die Musiker sind, wie du es von ihr schon kennst, darauf abgestimmt, morgens zu wecken. Habe ich auch erst mitbekommen, als ich es mit Barbara zusammen in unserer Schlafkabine im Reisewagen aufgehangen habe. So wurde ich auf jeden Fall immer wach."
"Und das Bild von Magistra Eauvive?" Fragte Julius. Doch Jeanne grinste nur mädchenhaft.
"Dazu muß ich dir doch wirklich nichts sagen, oder?" entgegnete sie belustigt. Julius stutzte kurz, doch dann mußte er nicken.
"Gut, hast du deine Sachen in der Tasche, die unten steht?" Fragte Jeanne.
"Ja, habe ich. Kann aber nur ich holen", sagte er.
"Dann kommst du besser runter, wenn die alte Gewitterhexe da unten sich beruhigt hat", schlug Jeanne mit verächtlicher Stimme vor. "Irgendwie wird die es nie lernen, Leute nicht andauernd zu schikanieren."
"Woher willst du wissen, ob sie mich schikaniert?" Fragte Julius.
"Weil sie dich wieder so angeglotzt hat wie bei Claires dreizehntem Geburtstag."
"Die kann mich nicht ab, und deine Eltern können Sie nicht ab", knurrte Julius. Jeanne nickte bestätigend. Dann zog sie die Tür von außen zu und ließ Julius alleine. Er stand im Dunkeln. Er blickte nach oben, wo er gerade so die Umrisse einer Dekckenlampe ausmachen konnte. "Illuminato!" Rief er. Sofort flammten vier helle Lichter auf.
Von unten hörte er Monsieur Tiberius Odin mit seiner Schwiegertochter streiten. Jeanne war wohl auch dort. Er sah Vivianes Bild an und sagte nur:
"Bitte sagen Sie meiner Mutter in Paris, daß ich bei der Familie Dusoleil angekommen bin und ob sie wüßten, wann und wie sie morgen anreisen!"
"Mache ich gerne", sagte die gemalte Ausgabe der Beauxbatons-Mitgründerin und trat nach rechts aus dem Bild. Die Musiker auf dem anderen Bild blickten ihn fragend an. Er zählte durch, es waren genau siebzehn, und für jeden hatte Claire einen eigenen Farbton gefunden. Er sagte ruhig:
"Bitte spielt mal was schönes flottes!" Der Musiker mit dem Fagott nickte und ließ mit raumfüllendem Bass ein A erklingen. Auf diesen Ton stimmten sich alle ein, dann zählte der Fagottist mit vier Wippbewegungen seines Oberkörpers an, worauf ein schneller Marsch nur von Flöten, Klarinetten, Oboen und dem Fagott angestimmt wurde, der Besenflug von Lady Livia. Diese Musik rief eine weitere sowohl fröhliche wie schmerzende Erinnerung wach. Denn es war das Stück, daß Claire sich von den Musikern beim allerersten Sommerball gewünscht hatte, um die Polonese anzuführen. Julius gab sich der Musik hin, die so fröhlich und schwungvoll klang und doch so auf ihn einwirkte wie das schwermütigste Trauerstück. Als er gerade ansetzen wollte, die Musiker um ein anderes Stück zu bitten, räusperte sich Viviane eauvive:
"Julius, deine Mutter freut sich, daß du gut angekommen bist und wird morgen früh um halb neun mit der Familie Brickston per Reisesphäre ankommen. Am besten setzt du dich nachher noch einmal zu Florymont und Camille, wenn du nicht sofort ins Bett gehen möchtest."
"Da unten ist im Moment Gewitterluft", sagte er. Da pochte es an die Tür.
"Bist du denn völlig hirnrissig, dieses Lied so laut spielen zu lassen?" Erscholl Madame Odins stimme. Julius fühlte in einer Sekunde alles Blut in seinem Körper in den Kopf steigen, sein Herz in beiden Ohren hämmern und die Stirnadern anschwellen.
"Hört mal eben auf, da hat wer was gegen eure Musik", sagte er mit gerade noch gebändigtem Zorn zu den Musikern, die die Instrumente senkten. Dann öffnete er mit einem Schwung die Tür, sah Claires ungeliebte Tante direkt heraus in die Augen, so entschlossen, daß sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich und schnaubte:
"Madame, Sie nehmen sich hier mehr raus als ich, möchte ich Ihnen mal sagen. Außerdem ist das Lied, daß Sie für Hirnrissig laut halten das Lied, mit dem Claire und ich einen der schönsten Momente im Leben verbinden. Dann will ich Ihnen noch sagen, wie viel Schweineglück Sie haben, daß Sie kein Mann sind. Sonst hätte ich Ihnen ganz unverbindlich die Nase plattgehauen für diese Unverschämtheit. Damit Sie wissen, woran Sie bei mir sind. Claire wollte nicht, daß ich nur noch Trauermusik höre oder mache, und die Musiker da sind von ihr gemalt und bezaubert worden. Die können nix anderes spielen als das, was sie schön und lustig gefunden hat. Daß sie ihre Lieblingsstücke nachspielen ist völlig in Ordnung. Also noch mal: Sie haben in diesem Haus hier noch weniger zu melden als ich, und Claires gemalte Musiker spielen, was Claire gefallen hat und mir auch gefällt. Und Tschüs!!"
Wie vom Donner gerührt stand Madame Odin mit hochrotem Kopf da. Dann langte sie in ihr Kleid ... und blickte auf die sich ihr drohend entgegenstreckende Zauberstabspitze von Julius. "Na komm, probier's aus, Cassie!" Schnarrte er herausfordernd.
"Julius, ist gut!" Ertönte Madame Dusoleils Stimme nur für ihn hörbar unter seiner Schädeldecke. "Sie ist es nicht wert, daß du dich und uns in Schwierigkeiten stürzt."
"Sie haben Glück, daß Madame Dusoleil den heutigen und morgigen Tag zur Schonzeit für überdrehte Tanten erklärt hat", knurrte Julius, tauchte mit einer schnellen Bewegung in das Zimmer zurück, warf die Tür zu und verschloss sie mit einem Stupser des Zauberstabes. Dann hörte er Monsieur Dusoleil auf dem Flur sprechen, nicht gerade erheitert:
"Der Junge hat recht, Cassiopeia. Das ist ein Bild von Claire, und die hat ja nicht damit gerechnet, daß Jeanne oder sie selbst von den gemalten Musikern betrauert werden sollte. Was bildest du dir denn eigentlich ein? Sicher ist das hier in gewisser Weise ein Trauerhaus. Aber meine Frau, Jeanne und Denise haben uns hier drauf geeinigt, daß wir alles, was an lebendigem von Claire hier ist feiern und nicht ihren Körper betrauern. Wenn das deinen überzogenen Konventionen nicht paßt, dann steht es dir frei, zu Monsieur Renard umzuziehen und da zu schlafen."
"Pietätloses Pack", zischte Madame Odin und ging wohl davon. Monsieur Dusoleil klopfte an die Tür. Julius winkte mit dem Zauberstab, worauf die Tür klickend aufsprang. Wortloses Türenöffnen und verschließen war für ihn das einfachste überhaupt.
"Deine Tasche ist noch unten, Julius", sagte Claires Vater. "Möchtest du sie erst holen und dann noch mit uns etwas zusammensitzen oder sie erst mitnehmen, wenn du ins Bett gehst?"
"Ich komme zu Ihnen runter", sagte Julius und löschte mit dem Wort "Nox" die vierstrahlige Deckenlampe.
Die Gewitterstimmung, die durch das Verhalten Cassiopeia Odins aufgekommen war, verflog nur langsam, auch als Cassiopeia Odin mit ihrem Mann abrückte, um lieber im Dorfgasthaus zu schlafen dauerte es noch fünf Minuten, bis sie sich ruhig unterhalten konnten. Sie sprachen über den Ablauf der Feierlichkeiten, daß Monsieur Laroche, der Jeanne und Bruno getraut hatte, auch die Bestattungszeremonie durchführen würde und daß Madame Dusoleil von AmmayaMiria einen Vorschlag gemacht bekommen hatte, den sie sehr gerne annehmen würde.
"Morgen früh pflücke ich einen Apfel von dem Baum, der von Claires Zimmer aus direkt zu sehen war", sagte Madame Dusoleil. "Dann gehen wir zum Gemeindefriedhof, wo wir Monsieur Laroches Zeremonie mitverfolgen und den Sarg mit Claires Körper drin einbetten."
"Wozu der Apfel?" Fragte Julius.
"Das wirst du dann sehen", tat Madame Dusoleil geheimnisvoll. Jeanne nickte anerkennend. Sie sagte noch:
"Ich werde deine Mutter und die Brickstons morgen abholen. Deine Mutter wird sich hinter uns in die zweite Reihe setzen." Julius nickte dankbar.
"Gut, dann sollten wir uns jetzt besser alle hinlegen", schlug Monsieur Dusoleil vor. "Hoffe nur, daß wir genug Schlaf kriegen. Der Tag morgen wird lang."
Camille und Jeanne Dusoleil begleiteten Julius noch zu Jeannes Zimmer, wo er seine Tasche unterbrachte und sich dann noch das Familienbadezimmer zeigen ließ. Sie wünschten ihm noch eine gute Nacht und zogen sich zurück. Julius machte sich bettfertig und legte sich hin. In der Ferne war ein lautes, sehr tiefes Muhen zu hören. Er dachte an die Latierres. Waren sie mit Demie wieder angeflogen? Er überlegte, wer wohl mitgereist sein mochte und konzentrierte sich auf Madame Ursuline Latierre.
"Madame, sind Sie in Millemerveilles?" Fragte er, als er sich sicher war, sie erreichen zu können. Tatsächlich hallte seine Frage in seinem Verstand nach.
"Ich bin gerade gelandet. Hast du Demie gehört?" Kam die lautlose Antwort zu ihm zurück.
"Ja, habe ich", mentiloquierte er.
"Wo bist du, bei Camille oder Blanche?"
"Madame Camille Dusoleil", antwortete er.
"Dann sehen wir uns morgen früh. Schlaf gut!"
"Danke und Gruß an alle, die bei Ihnen sind!"
"Ich habe alle mit, die ich im Sommer auch dabei hatte, nur die Mädchen nicht, die In Beaux sind. Die wollte Madame Maxime mir nicht vorher geben", mentiloquierte sie.
"Dabei sind die doch auch mit Claire verwandt", erwiderte Julius verwundert.
"Nicht so sehr wie du, fürchte ich", kam die Antwort. Dann verabschiedete sie sich noch und schwieg.
"Schade, daß ich das mit Mum nicht machen darf. Spart echt die Telefonkosten", dachte sich Julius. Da merkte er, daß sein Kopf gut erhitzt war. Diese Kunst war sehr anstrengend.
In der Nacht träumte er von Jeannes Hochzeit und wie er sich fast mit Madame Delamontagne duelliert hätte. Dann träumte er wieder von der Blumenwiese, auf der Claire ihn vor die Wahl stellte, welche halb zur Blume gewordene Junghexe er sich aussuchen wolle. Dann sah er Ammayamiria, die über diese Wiese ging, wo er unschlüssig dastand und dem Zank der aus der Erde ragenden Blumen-Mädchen zuhörte.
"Ashtaria hat mir gesagt, ich solle über dich wachen, bis du wen gefunden hast, die dein Leben lebenswert macht. Falls du niemanden erwählst oder dich erwählen läßt, so hat sie mir gesagt, würde sie dich zurückholen."
"Wohin zurückholen?" Fragte Julius.
"in ihren Schoß, Julius", erwiderte die Frau aus rotgoldenem Licht.
"Wann denn?" Fragte Julius amüsiert, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß Ashtaria ihn je wieder behelligen würde. Warum auch? Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt.
"Das weiß ich nicht", sagte Ammayamiria. "Aber ich denke, du wirst nicht zu lange brauchen, um dir eine neue Gefährtin zu erwählen. Die Welt hat zu viel zu bieten als nur Lernen und wissen."
"Kommst du morgen noch einmal?" Fragte Julius und dachte an die Feier.
"Ich muß euch nicht mehr erscheinen, Julius. Ich bin jetzt immer bei euch, in euren Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen. Wenn ihr an meine Mutterseelen denkt, könnt ihr mich fühlen, auch wenn ich in dieser Gestalt nicht vor euch stehe."
"Was machst du sonst so, Ammayamiria?" Fragte Julius.
"Ich erkunde meine Welt und passe auf, daß die alten Mächte der Dunkelheit nicht noch einmal jemanden aus meiner geliebten Muttersselenfamilie bedrohen."
"Dann bist du der Schutzengel der Dusoleils?" Fragte Julius.
"Ein schönes einfaches Wort für das, was meine Aufgabe angeht. "Aber ich bin nicht so jemand, der euch zurückreißt, wenn ihr in einen Abgrund zu stürzen droht oder auffängt, wenn ihr vom Besen fallt oder aus einem brennenden Haus hinausträgt. Ich hüte euch alle, auch dich, damit du, Siegelträger, deine Aufgabe ohne Angst erfüllen kannst, sofern du dein ganzes Leben zurückgewinnst, ohne meiner jungfräulichen Mutterseele nachzutrauern."
"Das kann ewig dauern", erwiderte Julius verhalten.
"Denke ich nicht. Du bist zu jung, um keinen Spaß am Leben mehr haben zu wollen. Eines Tages, der nicht zu fern liegt, wirst du erkennen, daß du dich jemandem anvertrauen willst. Goldi wird dir helfen, dich zu entscheiden." Sie deutete auf die immer noch zankenden Blumen und mußte grinsen. Julius wußte, daß Goldschweif ihm sofort eine der Montferres oder Millie zeigen würde, wenn er sagte, daß er sich "ein Weibchen" aussuchen wolle. Aber eigentlich wollte er sich nicht von Goldschweif verkuppeln lassen. Denn die könnte glatt auf die Idee kommen, ihm Madame Maxime anzubringen, weil die ganz bestimmt starke und kluge Jungen von ihm kriegen würde.
"Wie gesagt, Julius, Ashtaria wird sich irgendwann fragen, ob du wirklich leben wolltest. Dann könnte ihr einfallen, dich aufzusuchen und in sich aufzunehmen. Wenn ich eines von der Welt gelernt habe, in der ich jetzt lebe, Julius, dann das, daß sie zwar sorgenfrei aber auch sehr langweilig ist, wenn man keine Aufgabe zu erledigen hat."
"Ashtaria kann nur erscheinen, wenn jemand den Heilsstern benutzt", argumentierte Julius.
"Das ist schon richtig. Aber dann könnte ihr einfallen, sich wieder um dich zu kümmern, wenn sie getan hat, wozu sie gerufen wurde. Aber sie ist eine geduldige Mutter, Julius. Womöglich wirst du sie erst wiedersehen, wenn du von dir aus beschließt, nicht mehr leben zu wollen. Aber dann wäre ich sehr traurig."
"Ich habe nicht vor, mich umzubringen."
"Das mußt du beweisen, vor allem dir selbst", erwiderte AmmayaMiria.
"Ich habe meine Zukunft gesehen, das habe ich Claire nicht erzählt. Ich werde auf jeden Fall noch ein paar Jahre leben."
"Du meinst das, was dir der Geist der afrikanisch-karibischen Ritualzaubermeisterin gezeigt hat? Ich weiß es aus deinen Gedanken, denn wir waren ja beide zusammen in Ashtarias Leib. Dann weißt du aber auch, daß du nur einen Weg gehen kannst, ohne dich und alle die dir gutes wollten zu verderben."
"Wieso, ich dachte, ich habe jetzt einen Schutzengel?" Gab Julius frech zurück.
"Der dir nur hilft, wenn du dir selbst nicht mehr helfen kannst und nur dann, wenn es etwas ist, was du nicht verschuldet hast und übermächtig ist. Verlasse dich nicht darauf, daß ich dich vor allem rette. Du hast dich selbst Ashtaria entwunden und ihr gezeigt, daß du durchaus genug Lebensmut und Lebenswillen hast, dich Gefahren zu entwinden, solange du sie selber meistern kannst und willst. Dir soll ich nur dann beistehen, wenn du von einer Gefahr heimgesucht wirst, die du nicht fliehen kannst. Meine eigentliche Sorge gilt den Verwandten meiner Mutterseelen, besonders ihren Schwestern Jeanne und Denise, sowie Jeannes werdendem Kind. Für sie werde ich die eigentliche Schutzengelin sein. Aber auch sie sollen ihre Lebensfreude zurückgewinnen, und das geht am besten, wenn ich mich euch nicht mehr leibhaftig zeige, sondern in euren Köpfen und Herzen bei euch bin, wie das sich für Engel gehört." Sie lächelte mädchenhaft. Dann sprach sie wieder ganz ernst: "Julius, ich wünsche dir, daß du wieder Freude erfährst, Liebe und Vergnügen. Wissen und Erfolg sind nicht viel wert, wenn es niemanden gibt, mit dem oder der du Wissen und Erfolg teilen kannst. Se alaishaduri, Julius." Sie umarmte ihn mit ihren warmen, wie mit schwachem Strom seinen Körper durchdringenden Armen und küßte ihn auf den Mund, wodurch er für einen Moment das Gefühl hatte, aus seinem Körper zu schlüpfen und wie ein Wasserstoffballon aufzusteigen. Dann verschwand die Wiese, zusammen mit Ammayamiria, und er fand sich in dem Bett wieder, das die Dusoleils ihm zur Verfügung gestellt hatten.
"War das jetzt echt nur ein Traum?" Fragte er sich. "Oder hat mich Ammayamiria auf einer anderen Ebene besucht?" Er ärgerte sich, daß er die Frage keinem stellen konnte, weil alles was mit Claires körperlichem Tod zu tun hatte zum schulinternen Geheimnis erklärt worden war, in das höchstens noch Madame Eauvive und die Dusoleils eingeweiht waren. Selbst der Zaubereiminister hatte bis zu diesem Tage keinen Schimmer davon, was sich vor fast einer Woche zugetragen hatte, und wie heftig Julius in diese grausame Sache mit dem Blutrachefluch wirklich verstrickt gewesen war.
Am nächsten Morgen stand er bereits um kurz nach sechs auf und schlich sich ins Badezimmer, wo er seine allmorgentlichen Verrichtungen machte und sich heute besonders gründlich rasierte. Als er mit seinem äußeren Erscheinungsbild zufrieden war zog er sich den tulpenroten Gebrauchsumhang an, den er als Alltagsbekleidung mitgenommen hatte.
Beim Frühstück leisteten Jeanne und Bruno ihnen Gesellschaft. Melanie Odin fragte einmal danach, warum ihre Eltern nicht geblieben waren. Doch als Denise meinte, die hätten sich wohl wieder mit ihren Eltern angelegt, rümpfte sie nur kurz die Nase, sah dann aber eher gleichgültig zu den anderen hinüber. Mayette Latierre fragte neugierig:
"Julius, erzähl mal! Wie haben's Pattie, Callie und Pennie geschluckt, daß Callies Maman wieder ein Kind im Bauch hat oder Millies Maman?"
"Zum Frühstück", erwiderte Julius schlagfertig. Obwohl sie eigentlich in stiller Andacht verharren sollten mußten doch alle lachen. Jeanne lachte am lautesten. Dann meinte Monsieur Odin:
"Als wenn euer Kaninchenstall nicht schon groß genug wäre, Mayette."
"Wir sind doch keine Kaninchen", protestierte Mayette. "So lange Ohren hamwer doch gar nich'."
"Papa, mußte das jetzt unbedingt sein?" Fragte Camille Dusoleil. Ihre Schwiegermutter Aminette Dusoleil sagte dazu nur:
"Natürlich haben deine Verwandten und du keine langen Ohren, Mayette."
"Obwohl das einen ganz einfachen Zauber geben soll, der lange Ohren macht", warf Melanie ein. "Argon hat's mir erzählt, wie er einem Blauen mal welche gemacht hat."
"Ja, aber ihr müßt den noch nicht können", erwiderte Monsieur Dusoleil bestimmt.
"Außerdem haben Kaninchen nicht so lange Ohren", sagte Julius. "Das wären ja sonst Hasen."
"Die würden auch passen", sagte Monsieur Odin dazu. Seine Tochter sah ihn nur konzentriert an. Offenbar mentiloquierte sie ihm was. Denn er erstarrte für einige Sekunden, um sich nicht anmerken zu lassen, was ihm mitgeteilt wurde.
"Jedenfalls gehe ich jetzt in den Garten und pflücke einen Apfel", sagte die Hausherrin und stand vom Tisch auf.
"Au ja, die ersten sind schon gut", sagte Denise vorfreudig.
"Nur einen. Aber ihr könnt heute nachmittag noch welche haben. Vielleicht backe ich euch noch einen Apfelkuchen", sagte Madame Dusoleil.
Die Kinder liefen ihr hinterher, als sie sich eine blattgrüne Gartenschürze umhängte und in den großen Garten hinausging. Der Himmel war bevölkert von aschgrauen Wolkenungetümen, deren dicke Bäuche bleischwer herabhingen und nur einen schwachen rötlichen Ton Morgenlicht durchließen. Sie suchte einen stattlichen Apfelbaum aus, der Claires Fenster genau gegenüberlag. Geschmeidig wie eine Katze turnte sie hoch genug in den Baum, wo pausbäckige rote Äpfel als schön anzusehende und bestimmt auch lecker schmeckende Herbstgrüße Hingen. Einige Früchte waren bereits abgepflückt worden. Doch es hingen immer noch genug davon an den kräftigen Ästen, deren Blätter bereits goldene Herbsttönung angenommen hatten. Sie griff sich einen Apfel heraus und pflückte ihn. Die trocknenden Blätter raschelten, als der Ast zurückfederte. Dann kletterte Camille Dusoleil gewand den Baum hinunter und ließ sich den letzten Meter einfach auf den weichen Erdboden fallen, federte den Aufprall ab und drehte sich ihren Familienangehörigen zu.
"Denise, du wolltest was davon haben?" Fragte sie. Denise bejahte das mit Kopf, Händen und Stimme. "Gut, ich teil den unter euch auf."
"Solange keine Würmer drin sind", kiebitzte Bruno.
"Lümmel! Als wenn ich nicht genau hinsehen würde, welche ich pflücken kann", lachte seine Schwiegermutter.
Sie trug den Apfel ins Haus. Sie steuerte jedoch nicht die Küche oder das Wohnzimmer an, sondern das Elternschlafzimmer. Als ihr die anderen folgen wollten machte sie eine zurückscheuchende Handbewegung und wies sie an, in der Küche auf sie zu warten. Dann zog sie die Schlafzimmertür von innen zu.
"Kommt, Leute, wenn sie möchte, daß wir in die Küche gehen, dann machen wir das", sagte Monsieur Dusoleil. So kehrten sie alle in die geräumige Küche zurück, in der sie vorhin gefrühstückt hatten. Etwa zwei Minuten später kehrte Camille Dusoleil zurück. Der gepflückte Apfel lag in ihrer rechten Hand. Sie wirkte etwas erschöpft, aber zufrieden, und der Apfel glitzerte leicht wie mit einer hauchdünnen, durchsichtigen Goldfolie überzogen, fand Julius. Doch das mochte am Licht der auf dem Küchentisch stehenden Kerzen liegen.
In der Küche schälte sie den Apfel mit einem Stupser des Zauberstabes und schnitt das Fruchtfleisch sorgfältig ab, bis sie das Kerngehäuse freigelegt hatte. Die abgeschnittenen Fruchtstücke verteilte sie an alle, die mal kosten wollten, natürlich zuerst an Denise, das zweite an Julius, der sich zwar etwas mehr zurückhalten wollte aber auf ihren Wink zu ihr kam.
"Ich steige da immer noch nicht durch, was der Apfel mit der Feier nachher zu tun hat", mentiloquierte Julius, als er genüsslich knirschend auf dem ihm gereichten Apfelstück herumkaute. Als der Butzen als einziges übrig war, zerlegte Madame Dusoleil ihn vorsichtig und entnahm ihm die Kerne. Julius dachte daran, wie sie einmal einen Apfelbaum mit Rapicrescentus-Tropfen hatte nachwachsen lassen. Da hatte sie einen ganzen Apfel einfach eingegraben, aber nur ein Baum war daraus hochgewachsen. Natürlich wußte er nun, daß die Schnellwachstropfen nur einen Kern anregten, den, der am ehesten mit den Tropfen in Berührung kam. Nun sah er zu, wie Madame Dusoleil Jeanne einen Kern gab, dann ihrem Vater und ihrer Schwiegermutter. Nun waren noch zwei der Kerne übrig, die goldenbraun glänzten. Madame Dusoleil nahm eine kleine Holzschachtel und legte die verbliebenen Samen des aufgeteilten Apfels hinein. Eine merkwürdige Vorahnung beschlich Julius, daß er gerade Teilnehmer an einer ganz privaten Zeremonie geworden war, die noch nicht ganz vollendet war. Dann sagte sie:
"So, die Damen und Herren, zieht jetzt bitte eure Kleider und Festumhänge an!"
Julius befolgte diese Anweisung zu gerne. Wenig später trat er in seinem neuen, aber auch sehr schicken Umhang aus weinrotem Tuch und seinen neuen Ausgehschuhen in den unteren Flur, wo sie sich alle versammelten. Jeanne disapparierte gerade mit leisem Plopp.
"Die kann wenn sie will ganz leise sein", sagte Bruno zu Julius, der fasziniert auf den Punkt geblickt hatte, an dem Jeanne verschwunden war. "Aber ich fürchte, wenn Bertrand ein paar Monate weiter ist wird sie damit aufhören müssen, bis er rauskommt."
"Soso, Bertrand heißt sie also. Komischer Name für'n Mädchen", scherzte Julius, der sich im Moment nicht wie vor einer Beerdigung, sondern einer Taufe oder einer Hochzeit fühlte, irgendwie im Kreis einer ihn liebenden, mit ihm feiernden Familie.
"Ich habe ihr gesagt, sie möchte mir einen Jungen ausbrüten", sagte Bruno mit leuchtenden Augen.
"Als wenn sie das bestimmen könnte", grinste Julius. Aber er hatte jetzt keine Lust, Bruno zu erklären, daß nicht die Mutter das Geschlecht des Kindes bestimmte, sondern der Vater, beziehungsweise dessen Samen. Aber das gehörte wohl im Moment wirklich nicht hier her.
"Habt ihr eigentlich was von dem anderen Paar gehört?" Fragte Julius.
"Barbara und Jeanne schreiben sich gegenseitig. Ich weiß davon aber nicht mehr als das sie sich Briefe schicken.
"Hätte ja sein können, daß Barbara auch schon was Kleines erwartet", meinte Julius.
"Ganz sicher, Julius. Die hat Gustav bestimmt nicht mehr aus ... Ähm, wäre jetzt wohl nicht gerade angebracht, sowas zu sagen", erwiderte Bruno und lief rosa an.
Zehn Minuten später traf Jeanne mit Catherine, Joe und Babette Brickston, sowie Martha Andrews ein. Jeanne trug das rosiggoldene Festkleid, das sie beim trimagischen Weihnachtsball getragen hatte. Als Julius seine Mutter sah, fühlte er wieder Tränen in die Augen steigen, und ihm wurde schlagartig wieder klar, daß sie nicht zu einer Taufe oder Hochzeit gehen würden. Immerhin trug Martha Andrews keine Trauerkleidung, sondern ein scharlachrotes Kleid mit weißen Rüschen. Cassiopeia Odin würde bestimmt einen Anfall wegen dieses angeblichen Fehlgriffs bekommen. Doch Julius wußte, sie hatte Claires Lieblingsfarbe gewählt, und dieser Anblick sagte ihm mehr als tausend Worte.
"Hallo, Julius", sagte sie zu ihm. Er umarmte sie. Er bemühte sich, nicht in Trauer abzugleiten. Er schaffte es weil er an Ammayamiria und die ihn trotz allem immer noch in ihrer Mitte willkommen heißenden Dusoleils dachte. Er war nicht Claires ehemaliger Freund, der aus Höflichkeit eingeladen worden war, sondern ein Mitglied der Familie, auch wenn er durch keine offizielle Zeremonie als solches bekanntgemacht worden war.
"Joe wollte seinen schwarzen Anzug anziehen. Es war schwer ihm zu erklären, daß Camille und Florymont nicht den Tod ihrer Tochter, sondern ihr Leben feiern wollen."
"Außerdem ist es bei vielen Bestattungszeremonien in der Zaubererwelt üblich, Festumhänge zu tragen, die nicht nur schwarz oder weiß sind", sagte Catherine. Sie mußte es wissen, dachte Julius. Denn sie war auch noch ein Kind gewesen, als ihr Vater von Voldemort ermordet worden war. Da hatte sie ganz sicher an dessen Beerdigung teilgenommen. Lustigerweise sagte Joe sowas ähnliches:
"Ich hatte ja keine andere Wahl als mich da auf Catherine zu verlassen, die das ja leider schon mal mitgemacht hat."
"Wir kamen noch rechtzeitig vom Ausgangskreis weg, Julius, sagte Jeanne. Hinter uns kam schon der erste Schwung aus Beauxbatons an. Werden wohl in einer halben Stunde alle zusammengekommen sein."
"Ich dachte, das wäre nur eine Familienfeier", wunderte sich Joe, während Babette sich mit Denise, Melanie und Mayette unterhielt, die farbenfrohe Festkleider trugen.
"Die ganze Schule rückt hier an", sagte Julius. "Du hast es ja mitgekriegt, wie groß die Reisesphäre werden kann. Da passen über hundert Leute rein."
"Abgedreht", sagte Joe. Diesmal meinte er es wohl eher fasziniert als abfällig.
"Wie geht's dir, Catherine?" Fragte Julius.
"Wenn du das jetzt jedesmal fragst, wenn wir uns treffen, Julius, lasse ich dich die nächsten Monate unter der Exosenso-Haube rumlaufen und mitkriegen, wie es mir geht", sagte Catherine. Dann mußte sie jedoch lächeln und erwiderte: "Uns beiden geht's gut."
"Immerhin nur eins", stöhnte Joe. "Barbara Latierre kam mal zu uns und erzählte, sie hätte Zwillinge im Bauch."
"Wir treffen uns Weihnachten wohl alle noch einmal im Schloß der Latierres", sagte Catherine.
"Was hat Barbara Latierre bei euch gewollt?" Fragte Julius.
"Babette wollte mit ihren Schulfreunden unbedingt mal auf dieser großen Kuh mitfliegen", sagte Joe.
"Ich dachte eher, daß Madame Ursuline Latierre häufiger bei dir vorbeikommt, um Schach zu spielen", wandte Julius sich an seine Mutter.
"Die hat wohl mit ihren Babys im Moment genug um die Ohren. Aber ich hörte, sie würde auch kommen."
"Sie ist gestern abend hier gelandet. Ich habe Demie brüllen gehört und mal die Grußfrequenzen geöffnet und bekam sofort Antwort."
"Du bist in Melo wirklich gut, hat Maman mir erzählt", sagte Jeanne, die noch dabeistand. "Wenn ich überlege, daß ich das erst in den Ferien vor der Hochzeit lernen konnte."
"Was meinst du, wann ich das gelernt habe", mentiloquierte Julius ihr. Sie sah ihn an, verzog aber keine Miene.
"In Ordnung, von uns wird erwartet, daß wir als erste im Haus der Andacht sind", sagte Monsieur Dusoleil. "Ich hoffe, unsere Kutsche ist schon vor der Tür." Er ging hinaus und kam nach einer Minute zurück. "In Ordnung", sagte er erleichtert, "sie ist da."
Vor der Haustür stand eine walnußbraune Kutsche, vor die ein goldenbrauner Riesenhengst mit Flügeln gespannt war. Daneben stand noch eine Hexe im langen roten Kleid, deren nachtschwarzes Haar glatt bis auf den Rücken herabfiel. Sie wandte sich den Hausbewohnern und ihren Gästen zu und blickte alle mit ihren graugrünen Augen an, teils mitfühlend, teils interessiert. Als Julius auf Hörweite an sie herangetreten war sagte er nur:
"Hallo, Aurora!"
"Hallo, Julius. Tut mir leid, daß das mit Claire nicht weitergehen sollte", sagte Aurora Dawn und umarmte Julius. Dieser brachte mit belegter Stimme heraus:
"Immerhin bist du auch hier. Ohne dich hätte dem Fest was gefehlt."
"Ich komme mit zum Haus der Andacht", sagte Aurora Dawn. "Wir sprechen uns dann wohl nach der Zeremonie noch einmal."
"Entschuldigung, aber könnte es sein, daß Sie in Australien wohnen?" Fragte Joe. Aurora Dawn nickte. Joe bekam auf einmal große Augen. Dann mußte er unvermittelt lachen.
"Da-ha-ha-has gib's doch nicht. Si-hi-hi-hi-hie sind auch ... Dann hätte Bill fast auch eine abbekommen."
"Ich habe es ihm angeboten", erwiderte Aurora völlig locker. "Aber er hat dankend abgelehnt, mit einer Hexe zusammenzuleben."
"Da haben Sie was falsch gemacht", erwiderte Joe amüsiert. "Sie hätten ihn erst heiraten und sich von ihm ... Autsch!" Catherine hatte Joe unvermittelt am rechten Ohr gezogen, so heftig, das es rot anlief.
"Ich wollte es ihm schon vorher sagen, Mademoiselle Dawn, aber meine Mutter bestand darauf, erst zu prüfen, ob er bereit für eine Familie war. Mag sein, daß Sie das jetzt ironisch finden, aber Sie haben Ihren Weg gefunden und ich meinen", erklärte Catherine. Dann bugsierte sie Joe in das Innere der Kutsche. Aurora kletterte hinter Julius hinein. Ganz zum Schluß kamen noch die Odins aus dem Dorfgasthof und warfen sich in die Kutsche. Emil trug nun einen ganz schwarzen Umhang, seine Frau das Trauerkleid von gestern Abend.
"Heuchlerisches Aas", dachte Julius und spielte mit dem Gedanken, ihr das zuzumentiloquieren. Doch sie würde dann sofort wieder Rabatz machen, und den mußte er jetzt nicht haben."
Ohne davon etwas zu fühlen wurden die Angehörigen Claires und ihre Gäste von den geflügelten Pferden durch die Luft getragen bis zu einer weiten Ebene im Osten Millemerveilles, die durch einen fünffachen Ring aus hohen Tannen begrenzt wurde. In einer Anordnung, die an mehrere konzentrische Räder, die durch ihre Speichen miteinander verbunden waren zogen sich Wege zwischen grünen Flächen hindurch. Hier war Julius noch nie gewesen, warum auch? Denn das war der Gemeindefriedhof von Millemerveilles, und bis heute hatte er keinen Anlaß gesehen, ihn zu besuchen, geschweige denn, jemanden dort zu beerdigen. Die Kutsche landete auf einer breiten Terrasse aus schwarzem Marmor vor einem niedrigen, dunkelroten Backsteinhaus, aus dessen Dach ein schlanker Turm mit einem Glockenaufbau herausragte.
"Da waren wir doch schon mal", sagte Joe zu Catherine."
"Ja, als wir beide zusammen das letzte Mal hier waren, Joe", erwiderte Catherine leise. Dann klappte die Tür der Kutsche auf, und alle stiegen aus.
Vor der Ebenholzflügeltür des Hauses erwartete sie ein Mann in langem, schwarzem Umhang aus Brokat, der einen ebenso schwarzen Zylinder auf dem grauen Schopf trug. Seine hellgrauen Augen strahlten Würde und Ernst aus, als sie die Ankömmlinge erblickten. Julius erinnerte sich wie auf Knopfdruck daran, wie er diesen Mann in schneeweißem Umhang mit weißem Zaubererhut mit silbernem Rand sah, als er Jeanne und Bruno fragte ob sie einander zu Mann und Frau nehmen wollten. Das war Monsieur Laroche, der Zeremonienzauberer, zuständig für die Dinge des Lebens und des Todes. Diesmal trug er keine silbernen Schnabelschuhe, sondern schwarze Lackschuhe. Rechts neben Monsieur Laroche stand eine rundliche Hexe in weinrotem Seidenkleid, deren strohblonder Zopf von einem kirschroten und einem Rubinroten Band zusammengehalten wurde. Das war Madame Delamontagne, die Dorfrätin für gesellschaftliche Angelegenheiten. Sie trug nicht das konventionelle Schwarz, sondern Rottöne, Claires Lieblingsfarbe.
"Ich begrüße Sie", sagte Monsieur Laroche mit seiner sanften Baritonstimme. "Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen, über diesen schweren Verlust hinwegzukommen, Messieursdames." Er reichte jedem der Angehörigen die Hand, auch Julius Andrews und seiner Mutter. Dann sprach er weiter: "Madame Delamontagne und ich werden nachher einige Worte sprechen. Möchte jemand von Ihnen eine kurze Rede halten?"
"Ja, ich", sagte Monsieur Dusoleil.
"Möchtest du auch etwas sagen, Julius?" Fragte Madame Delamontagne ihn warm anlächelnd. Er überlegte und nickte dann. Drei Sätze würde er wohl sagen können. Immerhin konnte er dadurch das Andenken an die kurze aber schöne Beziehung mit Claire ehren.
"In Ordnung. Dann bitte ich Sie nun, in das Haus zu gehen und Ihre Plätze einzunehmen", sagte Monsieur Laroche andächtig leise. An ihm und der Dorfrätin vorbei ging es in das Haus. Madame Delamontagne wirkte etwas unpässlich. Julius vermutete, daß dies nicht wegen Claires Beerdigung war, sondern wegen des kleinen Delamontagne, der unterwegs war. Immerhin war die Dorfrätin nicht die einzige werdende Mutter in diesem Haus. Denn als sich die Dusoleils und Odins zusammen mit Julius in der ersten der an die sechzig Reihen zu zwanzig Stühlen hingesetzt hatten, Catherine, Joe und Babette saßen in der fünften Reihe, während Martha Andrews genau hinter Julius saß, traten noch die Latierres ein, von denen einige auch Mutterfreuden entgegensahen, wie auch die Montferres, von denen Madame Raphaelle Montferre ebenfalls die freudigen Auswirkungen des heimtückischen Fluches in sich trug ein. Madame Ursuline Latierre hatte sich über jede Schulter ein rosarotes Tragetuch gebunden, aus dem je ein runder Kopf mit rotblondem Flaum hervorlugte. Die beiden gerade anderthalb Monate alten Töchter der nun dutzendfachen Mutter schliefen wohl. Weitere Gäste trafen ein. Einige in Schwarzer Kleidung, andre wie gewünscht in andersfarbigen Umhängen, die meisten davon aber in dunklen Tönen gehalten. Leise, getragene Musik aus unsichtbarer Quelle schwebte durch die innen riesig erscheinende Halle. Als kurz vor neun Uhr morgens eine Glocke im schlanken Turm des Hauses mit mittelhohem Mollklang anschlug, betrat Madame Maxime die Halle, hinter ihr die sechs Saalvorsteherinnen und -vorsteher von Beauxbatons, hinter ihnen die Erstklässler. Julius sah die Muggelstämmigen Mitschüler, die auch gerne Schach spielten. Hinter den Erstklässlern betraten die Zweitklässler den Raum, dahinter die Drittklässler, und so ging es weiter. Er sah Gloria Porter bei den Weißen, neben Belisama, die sich an ihr festhielt und dicke Tränen in den bergquellklaren Augen hatte. Er sah Céline zwischen Laurentine und Jasmine, konnte Sandrine bei den Gelben ausmachen, die sichtlich ergriffen war. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte Julius flüchtig. Er sah Millie Latierre neben Caroline Renard, deren Eltern in den Reihen der Nachbarn saßen. Bernadette Lavalette schritt mechanisch wie eine Marionette herein, das Gesicht eine starre Maske. Offenbar paßte es ihr nicht, jetzt hier zu sein. Julius dachte sich sogar, daß sie lieber hinter einem riesigen Berg von Büchern hocken würde, als zuzusehen oder hinzuhören, wie jemand, die ihr nicht sonderlich viel bedeutet hatte beerdigt wurde. Waltraud Eschenwurz hingegen nahm alles mit großem Interesse auf, konnte Julius sehen. Für sie war das hier eine außergewöhnliche Erfahrung.
Die näheren Verwandten der zu verabschiedenden durften nach dem Einmarsch in die Reihen der Angehörigen, so auch Argon Odin, Mildrid Latierre, ihre Cousinen Callie und Pennie und ihre drei Jahre jüngere Tante Patricia. Immerhin hatten sie das wohl bei Madame Maxime durchbekommen können. Die Familien Latierre und Eauvive, zu denen ja auch die Dusoleils und Odins gehörten, waren sehr einflußreich in der französischen Zaubererwelt. Nach den Schülerinnen und Schülern aus Beauxbatons betraten noch Zaubereiminister Grandchapeau und seine Frau Nathalie die Halle. Julius hätte ihnen zu gerne gesagt, daß sie nur deswegen hier waren, weil ihm der Minister das Intrakulum und vor allem Darxandrias Kettenhaube gegeben hatte. Doch das wäre zum einen unfair gewesen, weil außer Claires Ururgroßonkel wohl keiner hatte voraussehen können, daß Claire deswegen ihren Körper verlassen mußte. Der Minister wurde von Monsieur Laroche noch einmal gesondert begrüßt.
"Warum ist Monsieur Grandchapeau hier?" Flüsterte Julius an Madame Dusoleils Adresse.
"Weil er sich öffentlich gegen diesen Fluch ausgesprochen und die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert hat", flüsterte sie zurück. Dann trat Monsieur Laroche nach vorne und zog vorsichtig einen dunkelblauen Vorhang bei Seite, der den vorderen Abschnitt des Raumes verhüllte. Dahinter stand auf einem Eichentisch ein glänzendrot lackierter Sarg, indem Claires Körper mit über der Brust gefalteten Händen lag. Sie trug kein Totenkleid, sondern ihr rotgoldenes Tanzkleid. Nur die ganzen Auszeichnungen, mit denen sie in Beauxbatons aufgebahrt gelegen hatte, hingen ihr nicht mehr um den Hals. Sprichwörtliche Totenstille trat ein. Niemand wagte auch nur, lauter als nötig zu atmen. Der Eindruck gemeinsamer Anteilnahme, sowie ein Gefühl des Friedens breitete sich aus. Einige hielten sich dunkle Taschentücher vor die Gesichter, als der Anblick der wie friedlich schlafend daliegenden Claire sie erreichte. Julius wirbelte auf einem Karussell aus Trauer, Selbstvorwürfen, Beruhigung, Erleichterung und Wut. Doch als Monsieur Laroche das Schweigen brach, stellte sich seine Zuversicht wieder ein, daß er hier nur den Körper, nicht aber die Seele Claires für immer verabschieden würde.
"Liebe Gemeinde, die ihr heute aus allen Teilen unseres Landes gekommen seid, im Namen der Familie Dusoleil bedanke ich mich für euer zahlreiches Erscheinen und eure Anteilnahme. Denn wir sind heute zusammengekommen, um uns von einer liebgewonnenen Tochter, Enkeltochter, Schwester, Verlobten und Freundin zu verabschieden, die ein unbarmherziges Schicksal viel zu früh aus unserer Mitte abberufen hat. Doch wie wir hier sitzen, um uns an Claire Dusoleil, deren Name allein schon Wärme und Helligkeit verheißt, zu erinnern und ihren Leib auf den Weg zur letzten Ruhestatt zu geleiten, so erkennen wir alle auch, daß wir alle, die wir ihr Leben aus der Nähe oder auch nur aus weiter Ferne miterleben durften, einen Teil von ihr in uns tragen. Jeder von uns bewahrt in sich ein Stück von Claire Dusoleils lebendiger Seele, ihrer Lebensfreude und ihrer Liebe. Deshalb, liebe Gemeinde, ist es nicht so, daß wir uns von ihr als Mithexe verabschieden, sondern von ihrem Leib." Er sprach weiter über Claires Kindheit und endete bei der Hochzeit Jeannes, wo er sie als Führerin der Brautjungfern begrüßen durfte. Dann sprach er von Licht, das selbst in tiefster Dunkelheit nicht ausgehen kann, auch wenn viele es verlöschen zu sehen meinen. Er wandte sich an Claires Eltern und sagte: "Ihr habt etwas großes in unsere Welt gebracht, als ihr dieses kleine Mädchen in Liebe gezeugt und geboren habt. Die Welt wäre ärmer gewesen, ohne sie." Dann sah er Julius an und sagte: "Wie ich erfuhr hatte Claire mit ihrer Willenskraft und Liebe bereits empfunden, wem sie sich und ihr weiteres Leben anvertrauen wollte und fand in dir, Julius Andrews, einem Mitschüler, den sie vor drei Jahren kennenlernte, den Jüngling, mit dem sie ihr weiteres Leben verbringen wollte. Du magst jetzt denken, das das Licht von ihr erloschen ist. Aber stattdessen ist es nun in dir, ihr Leben, ihre Liebe, alles was ihr Freude bereitet hat, das trägst du alles in dir, und damit bist du immer noch der Jungzauberer, der sie für uns alle am Leben erhält, ihr Licht für uns weiterleuchten läßt und damit selbst die Wärme erfährt, die Claire dir gegeben hat und die sie dir ein Leben Lang geben wollte. Genau das ist es. Die Wärme ihres ganzen Lebens, ihre Fröhlichkeit, ja auch ihre Widerspenstigkeit, kannst du nun mit denen teilen, die wollen, daß Claire Dusoleil weiterlebt."
Julius fühlte einen dicken Kloß in seinem Hals. Monsieur Laroche hatte ihn quasi zu Claires Lebensfortsetzer erklärt. Das hatte er zwar vorher schon von den Dusoleils oder auch Ammayamiria gehört, aber es jetzt noch einmal gewissermaßen amtlich zu hören, wo alle dabei waren, lud ihm schon eine gewisse Verantwortung auf, fand er. Andererseits freute er sich auch, daß er mithelfen konnte, daß Claires Leben nicht vergessen wurde.
Es folgte ein Lied, das Julius nicht kannte. Es wäre schöner gewesen, wenn er vorher Melodie und Text bekommen hätte, viel ihm ein. Doch er wollte sich nicht ärgern, nicht hier und nicht jetzt. So Summte er die Melodie mit, während er auf den mit Herbstblumen in verschiedenen Rottönen geschmückten Tisch mit dem Sarg blickte. Es waren sogar vier Blumenkränze dabei, an denen jedoch keine Namensschilder oder dergleichen hingen.
Nach dem Lied bat Monsieur Laroche Claires Vater, ein paar Worte zu sprechen. Monsieur Dusoleil stand auf und ging mit bleischweren Schritten nach vorne. Das erinnerte Julius unsinnigerweise an Jeannes Hochzeit. Dann fiel ihm ein, daß es so unsinnig nicht war. Jeanne hatte er ins Leben verabschiedet, Claire nun in das Totenreich, wo auch immer das lag und wie es auch immer aussehen mochte. Er stellte sich mit dem Gesicht zur Gemeinde und sprach:
"Meine Familie, Verwandten, Freunde von uns und vor allem gute Freunde und Mitschüler von Claire.
Ich weiß, jedes Leben ist an sich zu kurz, weil es immer wieder neues zu entdecken und neues zu erfahren gibt. Deshalb möchte ich nicht darüber klagen, daß Claire ein zu kurzes Leben hatte, zumindest mit uns. So möchte ich dieses Leben kurz würdigen, das ich mit meiner Frau Camille ermöglicht habe und das uns allen, die wir hier sind, soviel gegeben und eröffnet hat.
Ich erinnere mich noch zu gut, wie Camille mir sagte, wir bekämen wieder ein Kind, das Zweite nach Jeanne. Ich weiß auch, daß Jeanne erst nicht wußte, ob sie das so gut finden sollte, einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester zu haben, immerhin war sie da schon vier Jahre alt und fing gerade an, sich in unserem Leben so richtig auszutoben. Als wir dann erfuhren, es würde wieder ein Mädchen, fand sie es toll, eine kleine Schwester zu kriegen.
Ich weiß noch, daß damals gerade eine Zusammenkunft der Kräuterkundler war, als Claire endlich ans Licht der Welt kommen wollte. ..." Er sprach ruhig und ohne Anflug von Traurigkeit über Claires Kindheit, daß sie schon mit vier Jahren die Hauswände angemalt habe, mit fünf Jahren alle mit einer Kinderpanflöte genervt habe, bis er einen Selbstspielzauber darauf legte, der sofort loslegte, wenn sie hineinblasen wollte und somit keine schrägen Töne mehr herauskamen. Das hätte sie ihm aber irgendwann mal übel genommen, erzählte er, als sie herausbekam, daß sie ja immer nur zehn Melodien spielen konnte, egal in welches Rohr sie hineinblies. Offenbar hat das ihre Begeisterung für Musik geweckt, sagte Monsieur Dusoleil schmunzelnd. Julius fühlte wie er von Madame Dusoleil in eine halbe, sanfte Umarmung genommen wurde und kuschelte sich an sie, wie sie an ihn. Doch beide weinten nicht. Sie gaben sich Wärme und Zuversicht, Zugehörigkeitsgefühl und Gewissheit, das Claire sie beide nicht von ungefähr zusammengeführt hatte. Währenddessen sprach Monsieur Dusoleil von dem ersten schweren Abschied, den nach Beauxbatons, wo sie eigentlich nur Kunst und Zauberpflanzen machen wollte, aber von ihrer Klassenlehrerin, Professeur Faucon, sowie Professeur Bellart auch auf interessante Dinge wie Verwandlung und Zauberkunst aufmerksam gemacht wurde. Dann kam er zu der Zeit kurz vor ihrem zwölften Geburtstag:
"Professeur Faucon brachte damals einen Gast nach Millemerveilles, der bei ihr wohnen sollte, weil seine Eltern aus mir damals wie heute unverständlichen Gründen nicht wollten, daß er zu einem Zauberer ausgebildet werden sollte. Ich habe diesen damals etwas schüchternen Jungen kennengelernt, als meine Frau ihn mitbrachte und stolz erzählte, daß er sich so für ihre Arbeit interessiere. Tja, und Claire fand heraus, daß man ihm wohl früher einmal anständigen Musikunterricht gegeben hatte, es ihm aber irgendwie wieder abgewöhnen wollte. Als er dann noch seinen Geburtstag mit uns feierte und drei Tage später von Claire zu uns eingeladen worden war, wußte ich nicht, ob Claire anfing, vom Mädchen zur Frau zu werden oder einfach nur wen außerhalb von Beauxbatons und Millemerveilles dabeihaben wollte. Das es stimmt, daß Väter eher die letzten sind, die merken, wenn ihre Töchter erwachsen zu werden beginnen, erkannte ich wohl erst das Jahr darauf. Jedenfalls schaffte Claire es, den Jungen dazu zu bringen, sich mit mehr Mut auf die nicht aus Büchern zu lernenden Sachen des Lebens einzulassen. Damit gab er ihr viel zurück, so daß sie bei ihrem allerersten Sommerball bereits den goldenen Tanzschuh tragen durfte, was ihr sehr wichtig war und sie unermeßlich gefreut hat. Offenbar gibt es doch etwas wie eine Fügung, die zwei Menschen zusammenbringt, die füreinander geschaffen sind. So erkannte ich erst im nächsten Jahr, daß Claire wirklich die Mädchenzeit hinter sich lassen wollte und auf dem Weg zur Frau wandelte und den Jungen, Julius, dabei sehr gerne an ihrer Seite haben würde. Ich fühlte die gewisse Eifersucht, die einen Vater befallen mag, der den ersten Platz im Herzen seiner Tochter zu verlieren fürchtet und riet ihm, er solle ihr ja nicht weh tun. Ich weiß heute, daß ich ihm damit eine ziemlich schwere Last auf die Seele gelegt habe und möchte mich an dieser Stelle bei dir Claire", er wandte sich kurz dem Sarg zu, "und bei dir, Julius", wobei er Julius abbittend ansah, "entschuldigen. Natürlich habe ich als Vater kein Recht, einen Jungen einzuschüchtern, nur weil sich meine Tochter auffallend - Ja, auch für mich - für ihn begeisterte und engagierte. Wir nahmen es sehr glücklich auf, daß Julius Claires Mühen dadurch belohnte, daß er sich mit ihr immer besser verstand und für sie die gleiche Zuneigung entwickelte wie sie zu ihm. Wie erwachsen Claire zu diesem Zeitpunkt schon war konnten wir daran erkennen, daß sie Julius nicht wie eine Trophäe bei ihren Schulfreundinnen herumzeigte, sondern ihn als eigenständig denkenden Zauberer respektierte. Das führte zwar wohl zu der üblichen Konkurrenz unter ihren Mitschülerinnen, hat mir Camille einmal erzählt, aber offenbar kamen sie sich trotz oder wegen dieser Konkurrenz immer näher. Ja, und vor einem knappen Monat erfuhren meine Frau und ich, daß Claire sich mit Julius durch den uralten Zauber Corpores-Dedicata ihrer gemeinsamen Liebe versichert und somit einander versprochen haben. Ich habe mich da natürlich gefragt, ob es nicht zu früh sei, solch ein Versprechen zumachen. Doch dann freute ich mich auf die ersten Enkelkinder mit hellblonden Haaren, die Claire und er uns vorstellen würden. Tja, leider wollte dasselbe Schicksal, daß Claire und Julius zusammenführte nicht, daß sie Camille und mir diesen Traum erfüllten. Eine verbrecherische Rache an meiner geliebten Schwiegermutter, die meine Frau und alle anderen weiblichen Verwandten von ihr betraf, forderte Claires Opfer. Doch sie hat uns durch ihre Verbindung mit Julius eine sehr wichtige Botschaft hinterlassen, nämlich, daß egal wo jemand herkommt, egal wozu er ursprünglich erzogen werden sollte, genauso ein Geschöpf der Liebe und Lebensfreude ist wie jene, die sich von vorne herein dazu bekennen und sie weitergeben wollen. Ich danke Camilles und meiner Tochter Claire dafür, daß wir an ihrem Leben teilhaben durften und sie nun mit der Zuversicht auf die größte aller Reisen gehen kann, die ein Menschenwesen antreten kann, daß wir sie alle lieben und die, die von ihr geliebt wurden, in Ehren halten. Mach's gut, Claire, lern was du lernen kannst, aber freu dich auch an den Dingen, die am Wegesrand liegen!"
"Das hat er von mir. Ich habe ihr das gesagt, als sie nach Beauxbatons ging", flüsterte Camille Dusoleil Julius zu und knuddelte ihn kurz.
Monsieur Dusoleil kehrte an seinen Platz zurück, während Monsieur Laroche sagte: "Lasst uns nun das Lied vom Aufbruch zu neuen Ufern singen, das, wie ich weiß, in Millemerveilles viele singen, die ihre Kinder oder Nichten und Neffen nach Beauxbatons schicken oder in ein Leben außerhalb dieser Gemeinde verabschieden!" Eine fröhliche Melodie erklang, und alle, die hier wohnten sangen lautstark. Einigen, so sah Julius, liefen dabei tränen über die Wangen, Hexen wie Zauberern. Dieses Lied kannte er. Claire hatte es ihm schon mehrmals vorgesungen und ihm sogar die Noten zum nachspielen gezeigt. Er kannte den Refrain und die ersten beiden Strophen und sang sie mit. Er fühlte, wie ihn das frei machte, nicht nur ihn, sondern jeden in dieser Halle der Andacht, der in Millemerveilles lebte. Er fühlte sich frei und unbeschwert, ja als Teil dieser großen Gemeinschaft, deren Gastfreundschaft und Liebe ihn hier ein zweites Zuhause hatte finden lassen. Auch wenn Claire nun nicht mehr hier wohnen würde, blieb dieser Ort sein zweites Zuhause, in das er zurückkehren durfte, wenn ihm danach war. Die Dankbarkeit, die er dafür empfand, wärmte ihn von innen her und ließ ihn erkennen, was Ammayamiria ihm hatte sagen wollen. Er hatte die Aufgabe, sein Leben mit anderen zu teilen, die ihm Freundschaft, Vertrauen und ehrliche Zuneigung anboten.
Als der letzte Ton verklungen war blickte Monsieur Laroche ihn an. Madame Dusoleil gab ihn aus der halben Umarmung frei, in der sie ihn die ganze Zeit gehalten hatte. "Monsieur Andrews hat darum gebeten, ebenfalls ein paar Worte zu euch zu sprechen", sagte der Zeremonienmagier. Alle blickten nun auf den wie sechzehn aussehenden Jungen mit dem kurzem blonden Haarschopf und den hellblauen Augen in seinem weinroten Festumhang, der in diesem Moment einen quaffelgroßen Kloß im Hals hatte. Denn nun war es an ihm, sich vor allen Leuten hier von Claire zu verabschieden. Es dauerte fünf Sekunden, bis er sich den entscheidenden Ruck gab und aufstand. Bedächtig schritt er zu Monsieur Laroche hinüber, blickte mit einer leichten Wehmut noch einmal in Claires wie schlafend wirkendes Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie lächelte ihn an, warm und voller freude. Selbst in diesem leblosen Körper war ihre Natur immer noch sichtbar, ihre Lebensfreude und die Beharrlichkeit, die Julius an dieser jungen Hexe immer schon sehr gemocht hatte. Für zehn Sekunden verharrte er vor dem roten Sarg. Dann wischte er sich mit einem Taschentuch kurz über die Augen, drehte sich um und blickte in die unzähligen Augenpaare der Hexen und Zauberer, die mit ihm zusammen hergekommen waren, sich von Claire zu verabschieden. Er dachte an Ammayamiria, in der Claires ganze Freude und Liebe weiterlebte, spürbar und nun unverletzlich. Dann fielen ihm die schönen Dinge ein, die er mit Claire erlebt hatte. Er öffnete seinen Mund und sprach ohne Trübsal und Wehmut, laut genug, daß seine Stimme in der großen Halle jeden erreichte, für den seine Worte wichtig waren.
"Ich möchte mich bei allen, die heute hergekommen sind bedanken, daß wir uns von Claire verabschieden. Als ich gehört habe, sie sei gestorben und würde nicht mehr wiederkommen war ich erst sehr traurig, ja auch wütend. Warum, habe ich mich gefragt, mußte ausgerechnet ihr das passieren? Wir hatten uns doch gerade erst richtig kennengelernt. Dann hörte ich, was passiert war und war nur noch wütend. Wieso hat jemand das mit Claire und allen anderen gemacht, die mit ihr verwandt waren, mit ihrer Großmutter Aurélie, mit ihrer Mutter Camille, ihrer Schwestern Jeanne, die sich gerade darauf freut, selbst Mutter zu werden, Denise und Melanie, die niemandem was getan haben, was wirklich böse ist? Doch die Fragen konnte ich nicht beantworten und wurde traurig. Und da hatte ich das Gefühl, daß Claire nicht will, daß ich traurig bin. Das wollte sie nie, weiß ich. Das war schon so, als ich von Professeur Faucon", wobei er die Lehrerin ansah, "hierhergebracht wurde. Claire hat mir gezeigt, wie schön es ist, wenn man als Zauberer an einem Ort wie Millemerveilles leben kann. Sie hat mich mit einer Entschlossenheit, für die ich ihr schon damals nicht böse sein konnte darauf gebracht, auch die Dinge zu tun, die nichts mit dem zu tun hatten, was meine Eltern oder die Lehrer in Hogwarts von mir erwarteten. Dafür bedanke ich mich bei ihr. Alles, was ich in den letzten zweieinhalb Jahren erlebt habe, vom ersten Ball, den ich besuchte, über die Zeit des trimagischen Turniers, über die erste Walpurgisnacht, die ich besuchen durfte bis zu jenem Augenblick, wo sie mich dazu brachte, mich zu ihr zu bekennen und wir beide uns in diesem warmen, uns umfließenden Zauber befunden haben, von dem ich heute weiß, daß er nur klappt, wenn sich die beiden, die ihn wirken, aus tiefstem Innersten lieben. Es ist schade, daß ich nicht noch mehr dieser großartigen Sachen mit Claire erleben kann. Aber das, was ich mit ihr erlebt habe, hat mir persönlich so viel neues gegeben, daß ich Stunden lang davon erzählen könnte. Aber ich bin kein so guter Redenhalter und finde auch, daß diese Sachen in einer netten Unterhaltung besser angebracht sind als in einer reinen Aufzählung. Deshalb möchte ich nur noch drei Sätze sagen: Madame und Monsieur Dusoleil, ich bedanke mich bei Ihnen, daß Sie uns und mir dieses einmalige Hexenmädchen gegeben haben. Die Zeit Claire, wo du auch bist, wünsche ich dir die hundertfache Freude dessen, was wir alle hier mit dir erlebt haben. Claire, danke für deine Liebe, ohne die ich bestimmt verlorengegangen wäre!" Er verbeugte sich ehrfürchtig vor dem Sarg, dann vor den Zuhörern und ging dann zu seinem Stuhl zurück. Niemand applaudierte. Das wäre hier wohl auch unangebracht. Kaum saß er, umfing ihn Madame Dusoleil erneut mit ihrem rechten Arm und hielt ihn leicht an sich gedrückt.
Monsieur Laroche ergriff noch einmal das Wort und sprach: "Sehr geehrte Mitglieder dieser Gemeinde! Kein Leben verfliegt wie Rauch im Wind. Es dauert an, wenn es genügend andere Leben mit Licht und Wärme erfüllt und ist unvergänglich, solange die, die sich daran erinnern ihre Erinnerungen weitergeben. So ist es nun an uns, den müden Körper unserer jungen Gefährtin zur Ruhe zu betten und uns von Claire Dusoleil zu verabschieden, ihr unsere besten Wünsche mit auf den Weg zu geben. Ich möchte noch einmal alle daran erinnern, die ihr nun hier in dieser Halle der Andacht zusammengekommen seid, daß wir alle von Claires Fröhlichkeit, Beharrlichkeit und Wärme erfüllt wurden und sie bestimmt nicht möchte, daß wir nur noch traurig sind. Eher wollte sie die ihr lieb gewordenen erfreuen, mit ihnen glücklich und gut gelaunt das Leben verbringen. Sie ist zwar von uns gegangen. Aber wir alle werden sie wiedersehen, in jenem Land, in dem die wohnen, die guten Mutes und voller Liebe und Zuversicht neues erleben und eine ganze Welt erforschen können. So möchte ich euch nun bitten, euch zu erheben, um Claires irdische Hülle der großen Mutter Erde zurückzugeben, auf daß sie in ihrem ewigen Schoß den friedlichen Schlaf schlafen mag!"
Sechs stämmige Männer in schwarzer Kleidung, die schwarze Seidenhandschuhe trugen erschienen aus einer bis dahin unsichtbaren Tür auf der anderen Seite des Sarges. Zwei von ihnen erkannte Julius. Sie waren bei allen drei Sommerbällen Wertungsrichter gewesen, denen Claire und er die goldenen Tanzschuhe verdankten. Einer von ihnen trat vor und schloß behutsam und geräuschlos den Sargdeckel. Vier andere hantierten mit großen Schraubenziehern und verschlossen ihn fest. Julius atmete auf. Nun war Claire in ihrem rotgoldenen Tanzkleid nicht mehr zu sehen. Die sechs Zauberer verteilten sich je drei links und rechts und hockten sich hin. Dann hoben sie den roten Bestattungsbehälter auf ihre Schultern und gingen im gemessenen Gleichschritt auf die Ebenholzflügeltür zu, durch die alle Gäste hereingetreten waren. Julius sah Monsieur Laroche, der direkt hinter den Trägern herging. Er wunderte sich, daß hier niemand gezaubert hatte. Geschah das aus zeremoniellen oder persönlichen Gründen?
"Du folgst mit Bruno und deiner Mutter bitte Florymont, mir, Jeanne und Denise", sagte Camille Dusoleil. Julius nickte ihr zu und wandte sich seiner Mutter zu. Diese verstand und schlüpfte vorsichtig aus ihrer Sitzreihe. Bruno nahm neben Julius Aufstellung. Zusammen reihten sie sich hinter den leiblichen Verwandten Claires ein. Seine Mutter und Brunos Eltern folgten ihnen. Dann kamen die Odins. Cassiopeia Odin wirkte dabei so, als müsse sie aufpassen, Martha Andrews nicht zu nahe zu kommen. Julius sah das kurz und blickte dann kerzengerade nach vorne.
An der Tür erwartete sie ein Zug aus bunt gekleideten Musikern mit einem auf mehrere Leute verteilten Schlagzeug großer und kleiner Trommeln und einem Becken. sowie verschiedenen Blech - und Holzblasinstrumenten. Der Musikzug begann, kaum daß der rote Sarg durch die Tür war, eine getragene, wehmütige Melodie zu spielen. Die Trommeln wurden dabei sehr sanft angeschlagen. Die Gemeinde der Andacht folgte schweigend, und es entstand eine langsame, nicht gar so fröhliche Polonese. Julius dachte für sich:
"Jetzt hast du doch noch die Polonese anführen dürfen, die die Dementoren uns vermasselt haben." Keiner sprach ein Wort. Alle gingen sie unter den langsamen, wehmütigen Klängen um das große Haus herum. Der Himmel war immer noch von bleigrauen Wolken überzogen, die einen Großteil des Sonnenlichtes aufsogen. Das trübe Licht drückte auf die ohnehin schon bleischwere Stimmung vieler Trauergäste. Nur Julius wirkte nun gelöster als vorher. Claires Anblick hatte ihm für einige Minuten diese schmerzvolle Stimmung eingeflößt, jetzt und für immer von ihr getrennt zu sein. Sie war, das erkannte er, ein sehr schönes Mädchen gewesen. Doch nun, wo er nur noch eine auf Hochglanz polierte Totenkiste sehen mußte, fiel ihm wieder ein, daß sie nicht wirklich tot war. Sie hatte sich mit ihrer Großmutter zu einer mächtigen, unangreifbaren Daseinsform verbunden, die über jeden Schmerz und jede Trauer erhaben war. Doch wie viel von Ammayamiria war Claire und wie viel Aurélie Odin? Darauf fiel ihm eine Antwort ein: Alles, was ihn mit Claire verband, war in Ammayamiria und damit auch alles von Claire.
Der Trauerzug bewegte sich auf einem der geraden Hauptwege, die die mehr als zwanzig konzentrischen Ringwege durchzogen. Etwa zwei Minuten lang ging der von der Zugkapelle begleitete Marsch, bis sie einen von jedem Gras und Buschwerk freigeräumten Platz von vier mal vier Metern erreichte, wo bereits zwei Zauberer in dunkelgrauen Arbeitsumhängen mit schwarzen Zylindern auf den Köpfen warteten. Die Sargträger bugsierten ihre traurige Fracht genau in die Mitte des freien Platzes und ließen ihn vorsichtig absinken. Immer noch wendete keiner von Ihnen Bewegungszauber oder dergleichen an. Als der Sarg auf der unbewachsenen Erde stand trat Monsieur Laroche rechts davon und nickte einem der beiden wartenden Zauberer zu. Auch den erkannte Julius. Es war ein Mitarbeiter Camille Dusoleils aus der grünen Gasse von Millemerveilles. Der war also auch Totengräber. Aber hier war überhaupt kein Grab, erkannte Julius. Niemand hatte eins ausgehoben. Offenbar wurden die Toten hier auf eine andere Weise beerdigt, als er es von der Muggelwelt her kannte. Der in Grau gekleidete Zauberer griff in eine Tasche seines Arbeitsumhangs und holte eine winzige Flasche oder Vase heraus, die er kurz mit dem Zauberstab antippte und den Behälter auf den Boden setzte, da wo das Fußende des Sarges war. Der winzige Behälter wurde zu einer sehr breiten aber niedrigen Vase mit Deckel. Dieser schraubte sich von alleine ab und gab ein Meer langstengeliger Blumen frei. Dann stellte sich Monsieur Laroche neben die Vase und griff hinein.
"Ich schenke dir die Pracht aus der Erde, zu der du zurückkehrst", sagte er und legte die Blume auf den Sarg. "Möge dein Schlaf dir den Frieden geben, den du verdient hast!"
Nun trat Madame Dusoleil vor, zog vorsichtig eine weitere Blume aus der Vase und legte sie auf Claires Sarg. Dabei sagte sie laut und frei von Trauer:
"Das ist mein Abschiedsgeschenk für dich, meine Tochter, damit du dich immer an den schönen Dingen der Natur erfreuen mögest."
Monsieur Dusoleil trat vor und legte auch eine Blume auf den Sarg, wobei er sagte: "Claire, so bunt wie du mein Leben gemacht hast sollst du es auch für alle Zeiten haben."
Jeanne und Denise legten ebenfalls Blumen auf den Sarg, wobei Jeanne sagte: "Claire, ich schenke dir das, um dir zu zeigen, wie gern ich dich hatte."
Als Julius an die Reihe kam, legte er eine schöne rote Blume auf den Sarg und sagte laut: "Claire, das ist das letzte, was ich dir schenken kann. Aber das reicht nicht im Ansatz an das heran, was du mir geschenkt hast." Dann ging er weiter und baute sich wieder hinter Madame Dusoleil auf. So passierten die Trauergäste den Sarg und bedekten ihn immer mehr mit Blumen. Martha Andrews sagte leise, als sie eine weitere rote Blume hinlegte: "Schade, Claire, daß wir beiden Frauen uns nicht noch besser kennenlernen durften. Gute Reise!"
So ging es weiter. Cassiopeia gehörte zu denen, die nichts sagen wollten oder konnten. So passierte der Zug die Angehörigen auf dem Weg vom aufgestellten Sarg fort. Als Bébé an Julius vorbeiging fragte sie leise:
"Wollen die den jetzt so stehenlassen oder graben die den ein, wenn wir weg sind?"
"Du, das weiß ich leider nicht, Bébé", sagte Julius. Sie nickte ihm aufmunternd zu und reihte sich schnell in den Zug der anderen Mitschüler ein. Die Blumen in der Vase schienen nicht auszugehen. Der ganze Sarg war nun vollkommen unter einer bunten Blütendecke begraben. Dann trat Madame Delamontagne an die Vase heran, nahm eine Blume heraus und fügte sie dem Blumenmeer hinzu. Dann nickte sie Monsieur Laroche zu, der den sechs Trägern und den zwei Zauberern in Grau mit einer sachten Handbewegung ein Zeichen gab, worauf sie ihre Zauberstäbe hervorholten und einen Kreis um den mit Blumen überhäuften Sarg bildeten. Die Teilnehmer der Bestattungszeremonie verließen im geordneten Rückzug das vier mal vier meter messende Stück Erde. Monsieur Laroche wandte sich noch einmal der Gemeinde zu und sagte laut:
"Nun, da wir alle Abschied von unserer schlafenden Mitschwester genommen haben, möge die Erde sie aufnehmen und im friedlichen Schlummer bewahren!"
Monsieur Laroche winkte mit seinem Zauberstab in Richtung des großen Hauses der Andacht. Wieder läutete die Glocke auf dem Dach. Gleichzeitig bewegten die acht den Sarg einkreisenden Männer ihre Zauberstäbe. Die Zugkapelle stimmte eine langsame Melodie mit Trommelwirbel an, die eine Erhabene Stimmung vermittelte. Der Boden erzitterte kurz. Dann begann der Sarg im Boden zu versinken. Gleichzeitig wuchs um ihn herum ein Wall aus frischer Erde auf, der immer höher wurde. Der Sarg wiegte sich auf seinem Weg nach unten. Aus dem kreisförmigen Erdwall wurde ein kegelförmiger Hügel, der sich über dem Sarg immer dichter schloß. Dann war Claires roter Sarg endgültig von Erde bedeckt. Der Hügel wuchs jedoch noch an, für etwa eine Minute. Dann verbreiterte er sich, wurde flacher und bedeckte nun die gesamte Fläche von vier mal vier Metern. Die Hügelkuppe erzitterte noch einmal, dann kam die Erde endgültig zur Ruhe.
Einer der beiden Zauberer, die hier gewartet hatten holte einen kleinen Tonsplitter oder soetwas aus seinem grauen Umhang und drückte ihn senkrecht stehend in den gerade aufgeworfenen Erdhügel. Er trat zurück und vollführte eine kurze Zauberstabbewegung. Der Tonsplitter wuchs an, wurde zu einer weißen Marmorplatte, in der in erhabenen Buchstaben eingraviert war:
"Claire Dusoleil * 1982 X 1996"
Julius wandte den Blick von der mal eben aufgerichteten Grabplatte. Er wollte nicht wieder in Trauer versinken. So hörte er nur, wie Monsieur Laroche zu der Gemeinde sprach:
"Nun ruhet ihr Leib im Frieden der Erde und ihre Seele atmet durch uns alle weiter. Mögen wir dieser Seele huldigen und uns zur Feier ihres Lebens im Gemeindehaus von Millemerveilles einfinden!"
"Zum Zeichen, daß meine Tochter lebt und weiterleben wird bitte ich nun alle, sich um den Grabhügel zu versammeln und Zeugen einer Handlung zu werden, die ich auf Grund langer Gespräche mit unseren Töchtern ersonnen habe. Geht einer von uns, mögen die, die bleiben etwas lebendiges errichten, das allen gehören soll und ein Sinnbild von Beständigkeit und Lebendigkeit ist", sagte Claires Mutter. Die Trauergäste blickten sie fragend an, auch Julius. Dann holte sie die kleine Schachtel aus dem Festkleid, in der sie die zwei nicht verteilten Apfelkerne aufbewahrt hatte. Jetzt klickte es bei Julius. Als Madame Dusoleil einen der leicht golden glitzernden, braunen Kerne aus der Schachtel holte sahen viele sie etwas befremdlich bis verstehend an. Jeanne nickte, weil sie offenbar erkannte, was jetzt passieren sollte. Mit einer Armbewegung holte Madame Dusoleil Jeanne, ihren Vater, ihre Schwiegermutter und Julius zu sich heran. Dann gab sie Jeanne den Kern in die Hand und flüsterte: "Halte ihn einen Moment und gib ihn dann an deinen Großvater weiter!" Jeanne befolgte diese Aufforderung. Als Monsieur Odin den Apfelkern in der Hand hatte, sagte Claires Mutter: "Halte ihn für einen Moment und gib ihn dann Aminette weiter!" Monsieur Odin nickte, hielt den Apfelkern eine Viertelminute in der rechten Hand und reichte ihn dann an Madame Aminette Dusoleil weiter. Diese sah Julius an, weil sie ahnte, was sie nun tun sollte. Sie nickte ihrer Schwiegertochter Camille verstehend zu, wartete ebenfalls eine Viertelminute und reichte den Kern dann an Julius weiter. Julius hielt den Apfelkern umschlungen, der sich warm und glatt anfühlte. Irgendwie spürte er darin etwas sehr lebendiges, das darauf wartete, sich zu entfalten. Einige Sekunden vergingen, dann sagte Madame Camille Dusoleil: "Gib ihn mir bitte zurück, Julius!" Julius verstand. Er wunderte sich nur, daß er vorhin keinen der verbliebenen Kerne bekommen hatte.
"Ich habe versprochen, Claires Andenken was lebendiges zu geben", sagte sie und ging tief in die Hocke. Madame Cassiopeia Odin stieß einen Laut der Entrüstung aus. Doch alle anderen blickten nun fasziniert auf das kleine goldbraune Samenkorn, das von Camille mit gutem Fingerspitzengefühl auf der Kuppe des Hügels in den Boden gedrückt wurde. In diesem Moment zerriss die graue Wolkendecke über ihnen und goldenes Sonnenlicht flutete die Szenerie und hüllte Camille Dusoleil für einen Moment in eine erhabene Erscheinung aus kräftigem Grün und Gold. Claires Mutter strich liebevoll die Erde über dem ausgesäten Kern glatt und murmelte dabei noch leise Worte. Dann holte sie den letzten Apfelkern aus der Schachtel und überreichte ihn Julius.
"Am besten schicke ich dich nachher mit Catherine durch den Kamin, damit du dir einen Platz bei euch aussuchen kannst, wo du ihn eingraben kannst", flüsterte sie ihm zu. Julius nickte. Jetzt war ihm die ganze Zeremonie sonnenklar, die Claires Mutter am Morgen mit dem Pflücken eines Apfels begonnen hatte und die nun von denen, die die restlichen vier Kerne bekommen hatten, vollendet werden sollte. Fünf Kerne eines Apfels von Claires Lieblingsbaum, von denen einer auf ihrer Grabstätte wachsen sollte, würden eine natürliche Verbindung zu ihr schaffen, und er wußte, daß Magie in den lebendigen Dingen der Natur ungleich stärker wirkte als in toten Objekten. Jetzt verstand er auch, was Ammayamiria mit dieser Aussaat bezweckte. Durch diesen und die anderen noch auszusäenden Kerne schuf Camille Dusoleil eine lebende Erinnerungshilfe, die sich nicht in einer leblosen Marmorplatte erschöpfte.
"Liebe Gäste, nachdem meine Frau unserer Tochter Claire einen letzten Abschiedsgruß hinterlassen hat, möchten wir euch nun bitten, uns bei unserer Lebensfeier für Claire Gesellschaft zu leisten", sagte Monsieur Florymont Dusoleil. Monsieur Laroche nickte ihm zu und gab dem Musikzug ein Zeichen. Mit einem lauten Schlag des Beckens begannen die Musiker ein fröhliches und beschwingtes Stück anzuspielen, das Madame Cassiopeia Odin die Zornesröte ins Gesicht trieb. Sie fuhr herum und zischte ihrem Mann etwas zu, worauf dieser erst den Kopf schüttelte und dann, als sie sehr verbittert auf ihn einsprach nickte. Sie drehte sich energisch auf der Stelle und disapparierte mit scharfem Knall, der das flotte Spiel der Zugmusikanten unterbrach. Keine Sekunde später ertönte keine zehn Meter weiter fort ein weiterer Knall, begleitet von einem bunt schillernden Blitz, aus dem Madame Odin herausfiel und schmerzhaft aufschrie. Nicht wenige aus Millemerveilles glotzten sie schadenfroh an, zumal sie bei ihrem mißglückten Disapparieren sämtliche Kleidung verloren hatte. Mit tomatenrotem Kopf keuchte sie, als einige der Jungs, insbesondere aus dem blauen Saal von Beauxbatons, laut zu lachen begannen. Einer stieß ein übertriebenes: "I, ist die schon runzlig!" aus, was eine weitere Lachsalve aus den Reihen der Blauen hervorrief. Melanie Odin glotzte wie mit Autoscheinwerfern ihre nackte Mutter an, Argon warf den lachenden Mitschülern einen sehr erbosten Blick zu. Madame Maxime klatschte in ihre Hände und rief:
"Sofort das Lachen einstellen! Darüber werden wir uns später noch unterhalten." Zwar schaffte sie es damit nicht, die feixenden und spottenden Schüler mit einem Schlag zur Ordnung zu rufen, aber innerhalb von fünf Sekunden lachte keiner mehr.
"Ist die blöd", dachte Julius. Dann sah er, daß dort, wo sie disapparieren wollte ihre komplette Garderobe auf dem Bodn zusammengeknüllt war.
"Zieh dich schnell an!" Zischte Monsieur Dusoleil seiner Schwippschwägerin zu. Diese, immer noch knallrot vor Verlegenheit und ohnmächtigem Zorn, vollführte eine hölzerne Drehung um sich selbst, sprang ab und stand in ihrem nun leicht zerknitterten schwarzen Kleid da. Dann sah sie ihren Mann vorwurfsvoll an, als hätte der ihr Unglück verschuldet. Dieser wandte sich jedoch ab und sah die Beauxbatons-Schüler an, die gelacht hatten.
"Ihr könnt alle froh sein, daß ich meine Frau nicht dafür verstoßen werde, sonst müßte der erste, der sie so gesehen hat auf ihren Besen." Diese Bemerkung schlug bei den Spöttern und fies grinsenden Jungen heftiger durch als Madame Maximes Ordnungsruf. Sie verloren das Grinsen aus dem Gesicht und wurden kreidebleich. Madame Odin hieb mit der flachen Hand nach ihrem mann. Florymont Dusoleil ergriff sie und zog sie übergangslos mit lautem Knall mit sich ins Nichts.
"Wo bringt er die denn hin?" Mentiloquierte Julius Madame Dusoleil.
"Zum Chapeau, Julius. Offenbar will sie ihre Sachen packen. Dumm nur, daß da im Moment keiner ist."
"Achso", mentiloquierte Julius. Dann fing er eine Gedankenbotschaft von Catherine auf, die weiter hinten in den Reihen der auswärtigen Gäste stand.
"Julius, ich kenne das mit den Äpfeln von irgendwo her. Wir beide begeben uns nachher zu mir und pflanzen den Kern ein, den sie dir wohl gegeben hat."
"Okay", schickte Julius nur zurück. Daß er sich wohl wieder heftig konzentriert und dabei alles um sich herum nicht mitbekommen haben mußte erkannte er erst, als die Zugkapelle wieder das flotte, mehrstimmig mit versetzten Melodien gespielte Lied angestimmt und sich in Marsch gesetzt hatte.
"Sie wollte wohl einen langsamen Trauermarsch auch beim Fortgehen", sagte Jeanne, die sich links von Julius einhakte, zur rechten von ihrem Mann Bruno.
"Kommt mir irgendwie bekannt vor das Stück und der Stil", sagte er leise.
"Reise in die Sonne von Charles Eauvive, der damit seinen Verwandten ein Stück zum Erinnern geschrieben hat, als er vor einhundertfünfzig Jahren nach Louisiana auswanderte", sagte Jeanne. Seine Auffassung von Musik war damals sehr umstritten. Allerdings empfand eer es als wohltuend, daß sie von den damaligen Sklaven gut aufgenommen wurde, die sie dann als freie Menschen zur Bejahung ihrer Kultur und Lebensfreude ausgebaut haben", sagte Jeanne. Martha Andrews, die nun wieder hinter ihrem Sohn herging hörte das und fragte:
"Möchten Sie damit sagen, daß einer unserer gemeinsamen Vorfahren den New-Orleans-Jazz erfunden hat?"
"Öhm, nein, nicht in der Form, die ich davon kennengelernt habe, Madame Andrews", verneinte Jeanne die Frage. "Aber Monsieur Eauvive war schon begeistert von schwungvollen und vielfältigen Musikstücken."
"New-Orleans-Jazz?" Fragte Julius leicht überumpelt. Denn schlagartig dachte er daran, daß sein für tot erklärter Vater diese Musik sehr leidenschaftlich geliebt hatte. Natürlich hatte er ihm auch von jener Tradition erzählt, der nach bei einer Trauerfeier auf dem Weg zum Grab schwere, traurige Melodien gespielt wurden und dann, wenn der Verstorbene in seinem Grab lag die zurückkehrende Trauergemeinde mit fröhlichen Melodien in Schwung brachte, das Leben wieder zu umarmen. Genau das passierte jetzt auch hier, und Julius fühlte kleine Tränen in seinen Augen, wenn er daran dachte, daß sein Vater diese Art von Beerdigung bestimmt auch gerne gehabt hätte und er ihn nicht so zur Ruhe betten konnte wie den Körper Claires.
Die fröhliche Musik wirkte wie ein Aufmunterungszauber auf die vom Grabhügel Claires abrückende Gemeinde. Sie ging mit immer beschwingterem Schritt auf den Hauptweg zurück und kehrte vor das Haus der Andacht zurück. Dort erhielten alle, die hergeflogen waren ihre Besen zurück und flogen los, während die Dusoleils mit ihren direkten Anverwandten und Angehörigen wieder in die braune Kutsche einstiegen und damit ins Dorf zurückflogen. Diesmal saßen Monsieur Laroche und Madame Delamontagne noch mit im Fahrgastraum. Virginies Mutter sah Julius an und fragte ihn:
"Entsprach es deinen Vorstellungen von einer ordentlichen Trauerfeier?"
"Ich denke, Claire wollte genau das so haben, Madame", sagte Julius ruhig. "Sie mochte Musik sehr, besonders fröhliche. Ja, und daß wir uns nicht andauernd über ihren körperlichen Tod unterhalten ist ihr bestimmt auch sehr recht. Sie wollte nie haben, daß andere wegen ihr traurig sind", sagte Julius. Die Dorfrätin nickte schwerfällig. Dann wandte sie sich an Camille Dusoleil:
"Das mit den Apfelkernen ist schon lange nicht mehr praktiziert worden, Camille. Bist du sicher, daß der Kern auch aufkeimt?"
"Ganz sicher, Eleonore", sagte Camille Dusoleil selbstbewußt. "Ich weiß, daß die Saat aufgehen wird."
"Nun, deine Kompetenzen in dieser Hinsicht wollte ich auch nicht anzweifeln", erwiderte Madame Delamontagne. "Ich gehe davon aus, daß du die übrigen Apfelkerne mit Bedacht aufgeteilt hast."
"Allerdings, Eleonore", sagte Camille Dusoleil und blickte Jeanne, ihren Vater, ihre Schwiegermutter und Julius flüchtig an.
"Moment, Madame", mischte sich Joe ein. "Soll das bedeuten, Julius möchte bei uns auch einen Apfelbaum pflanzen?"
"Falls er darf", sagte Camille ruhig.
"Das könnte Krach mit unseren Nachbarn geben, weil die nur Koniferen und Tannen bei sich im Garten haben", sagte Joe. "Apfelbäume machen doch viel mehr Abfall."
"Vom Laub her", ergänzte Catherine. "Aber das ist doch gerade das schöne an so einem Baum, daß er sich durch die Jahreszeiten verändert."
"Ja, aber Monsieur Dupond oder Madame Montpelier könnten ziemlich fuchsig werden, wenn der Wind ihnen Laub in den Garten bläst", erwiderte Joe.
"Gibt es bei Ihnen echt Leute, die einen Garten nur dann gelten lassen, wenn sie sich nicht um die Pflanzen kümmern müssen?" Wunderte sich Madame Dusoleil. Catherine bejahte es. Dann sagte sie: "Aber wir pflanzen deinen Apfelbaum bei uns ein, Julius. Ich weiß auch schon wo."
"Dann badest du aber den Stress mit den Nachbarn aus", sagte Joe zu seiner Frau.
"zu gerne", sagte Catherine. "Abgesehen davon denke ich nicht, daß wir wegen des Laubs oder überreifer Früchte große Probleme kriegen werden."
"Ich kann da eh nichts gegen sagen, Catherine, wenn das ein Teil des Andenkens ist, daß Julius mit seiner Freundin verbinden möchte. Ich hätte wohl selbst so'n Baum gepflanzt, wenn mir jemand gesagt hätte, daß das Samenkorn vom Lieblingsbaum einer zu früh gestorbenen Freundin sei", sagte Joe. Julius meinte erst, sich verhört zu haben. Joe protestierte nicht weiter? Was war denn mit dem auf einmal los? Oder machte ihn die Aussicht, bald wieder Vater zu werden zu einem umgänglicheren Menschen?
"Das ist sehr nett, wenn Sie dem Jungen diese Bitte erfüllen möchten", sagte Camille Dusoleil. Joe nickte nur flüchtig.
Im Gemeindehaus war alles für eine nicht ganz so traurige Feier vorbereitet. Mehrere große Tische standen so zusammen, daß sternförmig angeordnete Gänge zwischen ihnen hindurchführten. Die Tische waren mit weißen Tüchern gedeckt, und rote Kerzen standen auf ihnen bereit. Dann war noch eine große Bühne aufgebaut worden, auf der bereits Musiker aus Millemerveilles leise Tafelmusik aufspielten. Julius wunderte sich, daß in diesen Saal so viele Leute hineingingen. Als er dann sah, daß Madame Maxime und einige Dutzend der angereisten Beauxbatons-Schüler fehltensuchte er Professeur Faucon, die bei Professeur Fixus stand.
"Ja, Julius?" Wandte sich die Saalvorsteherin der Grünen an ihn. Er fragte frei heraus:
"Sind die Blauen alle zurückgeschickt worden?"
"Bis auf wenige Ausnahmen", sagte die Lehrerin. "Madame Maxime, Professeur Pallas und Professeur Paralax sind mit ihnen zurückgekehrt. Einige von denen werden wohl wegen sehr ungebührlichen Verhaltens Strafarbeiten aufbekommen. Andererseits hat Madame Cassiopeia Odin es sich mit ihrer übereilten Abreise ja selbst zuzuschreiben, daß sie sich zum Gespött der Halbwüchsigen gemacht hat."
"Ich hoffe, sowas passiert heute nicht noch einmal", sagte Julius ruhig. Dann verabschiedete er sich vorübergehend von den beiden Lehrerinnen und ging zu den Dusoleils, die den Tisch in der Mitte besetzten.
Nach einem einfachen Mittagessen mit Suppe und Baguettes mit verschiedenen Belägen unterhielten sie sich über die Bilder, die Julius von Claire bekommen hatte oder Sachen aus ihrer Zeit vor Beauxbatons. Julius saß dabei lange neben Jeanne und ließ sich von ihr die Freuden und Leiden einer großen Schwester erzählen. ER wiederum erinnerte sich gerne an Sachen wie den ersten Sommerball oder den Sonnenlichtvortrag, den er gehalten hatte. Jeanne gestand ihm ein:
"Ich habe während des Trimagischen ein paar Briefe von ihr gekriegt, wo drin stand, ich sollte aufpassen, daß du nicht hinter Fleur herläufst, weil du dich vielleicht in sie zu sehr vergucken könntest. Ich habe ihr zurückgeschrieben, daß ich nicht dein Kindermädchen sei und du wohl selbst herausfinden könntest, hinter wem du herlaufen kannst oder nicht."
"Soso", sagte Julius nun schmunzelnd, weil er manchmal eben doch den Eindruck gehabt hatte, daß Jeanne ihn besonders behüten wollte. Doch das wagte er doch nicht, ihr zu sagen.
Emil Odin sagte irgendwann am Nachmittag, wo er es wohl für höflich genug hielt, er wolle mit seinen Kindern und seiner Frau wieder abreisen. Melanie wollte jedoch noch bei den anderen Kindern bleiben, sich über alles mögliche unterhalten. Die Kinder waren es auch, die in dieser Feiergesellschaft lachten und sich bald über für sie interessantere Sachen unterhielten.
"Melanie, deine Maman möchte aber nach Hause", sagte Emil Odin etwas ungehalten. Camille wartete eine Minute, ob sich Vater und Tochter einigen konnten. Dann sagte sie:
"Melanie kann ruhig noch die Nacht bei uns schlafen, und du holst sie morgen ab, Emil. Lasse dem Mädchen die Gelegenheit, sich mit Denise und Babette weiter zu unterhalten!"
"Camille, ich möchte nicht, daß du mir reinredest. Du willst das ja auch nicht", knurrte Monsieur Odin. Dann sagte er: "Melanie, komm, wir müssen!" Schmollend folgte seine Tochter ihm, ohne sich noch einmal bei den anderen zu verabschieden.
Julius wechselte wie Jeanne zwischendurch die Tische und unterhielt sich mit seinen Mitschülern aus Beauxbatons. Bernadette meinte einmal zu ihm:
"Bin froh, nicht in einer Familie hineingeboren worden zu sein, die meint, die ganze Welt umkrempeln zu können. Hätte Claires Oma sich nicht mit irgendwem angelegt, könnte Claire heute noch bei uns sein."
"Claire ist noch bei uns, Bernadette, eben nur nicht mehr körperlich", sagte Julius.
"Dann glaubst du an ein Himmelreich? Oder hast du Claires Geist gesehen?"
"Sowas in der Richtung", antwortete Julius auf beide Fragen gleichzeitig. Wie er erwartete irritierte es Bernadette. Dann fragte sie:
"Wo hast du denn ihren Geist gesehen, Julius? In Beauxbatons ist er wohl nicht."
"Im Grunde überall da, wo mich was an sie erinnert, also an den Bildern, die ich von ihr habe, den goldenen Tanzschuhen und einigen Briefen, die ich noch von ihr habe wie die Walpurgisnachteinladung."
"Ach, so meinst du das", grummelte Bernadette mißmutig. "Dann hast du jetzt ja mehr Zeit für den Zusatzkram, den unsere Saalvorsteherin und eure Königin dir aufgeladen haben, wenn du unbedingt die ZAGs in diesem Jahr schaffen willst. Jetzt ist ja keine mehr da, die dich davon abhält."
Julius fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Zwar wollten sie hier nicht Claires Tod betrauern, aber diese eiskalte Bemerkung Bernadettes fand er doch ziemlich unpassend.
"Bernadette, zum einen kann dir das vollkommen egal sein, wer wann seine oder ihre ZAGs macht, und zum zweiten habe ich Claire nie als Störung empfunden, wie du Hercules vielleicht als Störung empfunden hast."
"Hat der das so gesagt?!" Fauchte Bernadette nun verärgert. Julius grinste in sich hinein. Seine Retourkutsche war zielsicher angekommen.
"Nöh, er meinte nur, du hättest keine Zeit mehr für ihn einplanen wollen, und nachdem, was du gerade gesagt hast muß ich vermuten, daß du ihn dann als Störfaktor bei deinen Lernarbeiten angesehen hast. mehr hat er nicht gesagt."
"Das geht dich ... Gut, ich kapiere, daß ich mit diesem Unsinn angefangen habe", knurrte Bernadette und wurde rot. "Das ist natürlich deine Sache, ob du in Beauxbatons zum lernen bist oder um dich für andere Mädchen, die mit dem Lernen nicht so viel am Zopf haben bereithalten willst. Wenn du meinst, Claires Andenken damit nicht zu besudeln, mach was dir Spaß macht!"
"Genau das ist es, was Claire von mir erwartet", versetzte Julius schlagfertig. Bernadettes Gesicht blieb stehen. Millie, die vier Stühle weiter entfernt saß beobachtete die Unterhaltung zwischen Julius und der von ihr ungemochten Streberin. Als sie sah, daß Bernadette sichtlich verstört und verärgert dreinschaute mußte sie grinsen.
"Warum hast du Pina und Kevin eigentlich nicht geschrieben, daß Claire diesem Fluch zum Opfer gefallen ist?" Fragte Gloria Julius etwas befremdlich. Er sagte ihr ruhig:
"Ich wollte das machen, wenn die Woche hier um ist und ich ihnen alles berichten kann. Ich wollte schließlich nicht irgendwas dummes schreiben, aus Trauer oder Ungewißheit."
"Hast recht, Julius. Wie du damit umgehst mußt du rauskriegen, und nachdem, was Kevin bei deinem letzten Geburtstag so von sich gegeben hat, auch gegenüber Claire, verstehe ich, daß du dachtest, ihm sei das nicht wichtig."
"An und für sich müßten wir hier noch tanzen können", sagte Julius und blickte durch die Halle, wo nur Tische standen.
"Stimmt, das hätte sie sicher gerne gemacht", sagte Gloria.
Als Julius seiner früheren Hogwarts-Mitschülerin noch einiges aus seiner bisherigen Beziehung zu Claire offenbart hatte, wanderte er weiter die Tische entlang und unterhielt sich mit Schulkameraden, älteren und jüngeren. Als er bei Waltraud Eschenwurz ankam nickte sie ihm zu und raunte:
"Das mit dem Apfelbaum könnte Madame Dusoleil aus einem deutschen Gedicht haben, wo ein freigiebiger Gutsherr einen Birnbaum gehabt hat, von dessen Früchten er den Nachbarskindern immer gerne abgab und vor seinem Tod bestimmt hat, eine Birne mit ins Grab zu kriegen, was dazu führte, daß er auch nach dem Tod den Kindern reife Birnen geben konnte."
"Hmm, klingt auf jeden Fall schön, Waltraud. Aber ich vermute, weil der Kern aus einem Apfel von dem Baum ist, der von Claires Zimmer aus zu sehen ist und alle, die ihr was bedeutet haben einen Kern bekommen haben, daß hier eine natürliche oder magische Verbindung errichtet werden soll."
"O, natürlich, Julius. Davon hat uns Professor Rauhfels erzählt. Wenn man von einem Baum eine oder mehrere Früchte pflückt und die den ersten Samen in die Erde eines Grabes legt, in dem jemand ruht, der mit diesem Baum eine sehr schöne Erinnerung verbindet, werden alle danach gepflanzten Bäume, sofern sie von diesem Jemand angenehmen Leuten gepflanzt werden, gesund und reich an Früchten aufwachsen. Es heißt sogar, daß sich in den Nachkommen dieses Baumes der Geist des verstorbenen einfindet, um über seine lebenden Angehörigen und Liebenden zu wachen, damit ihnen kein Leid geschieht."
"Ja, das habe ich gehofft, daß das zutrifft", sagte Julius lächelnd. Denn genau so stellte er sich Ammayamirias Erbe vor, daß sie nicht mehr leibhaftig erscheinen mußte, wenn solche Apfelbäume aufwuchsen, durch die sie wirken konnte. Dann fragte er noch, ob sie dieses Gedicht von dem kinderfreundlichen Gutsherrn und seinem Birnbaum irgendwo aufgeschrieben hätte. Sie antwortete dazu nur:
"Das hat mir besagter Muggel-Mitschüler aus seinem Lesebuch vorgetragen, der meinte, wir müßten beim Lernen als Raben auf einer Stange sitzen." Julius mußte wieder grinsen. Dann fragte ihn Waltraud zu Jeanne, ob es stimme, daß sie gerade schwanger sei. Julius nickte.
"Hoffentlich kriege ich nicht auch noch ein Kind, so fruchtbar wie hier viele sind", erwiderte Waltraud.
"Wenn der, von dem du's kriegst der Mann deiner Träume ist", erwiderte Julius amüsiert.
"Besser nicht, weil das dem Herrn sicherlich peinlich wäre, eine minderjährige Hexe derartig zu beehren", erwiderte Waltraud gleichfalls amüsiert grinsend. Julius verstand, daß Waltraud nicht die kalte Bücherhexe war wie Bernadette, aber wohl noch keinen Jungen gefunden hatte, mit dem sie was anderes als Lesen anfangen wollte, wohl eher für ältere Jungs schwärmte, auch wenn sie das ihm gegenüber mit keinem Wort erwähnt hatte. Er sagte dann noch:
"Ich finde es auf jeden Fall schön, daß du und Gloria euch hier nicht wie Fremde vorkommt."
"Ich habe mich mit Claire ziemlich gut angefreundet", sagte Waltraud. "Sie war zwar eher eine Romantikerin und hatte mir ein wenig zu viel Temperament, aber war wesentlich umgänglicher als manche Mädchen aus den anderen Sälen, mit denen ich Unterricht habe. Die vergleichen mich gerne mit dieser Bernadette, die sich auf die Zehen getreten fühlt, weil sie meint, ich wolle lernen, um sie auszustechen. So'n Unsinn! Habe ich doch echt nicht nötig."
"Die hat mir gerade gesagt, ich hätte jetzt ja wieder Zeit und könne mich voll drauf einlassen, was mir die Lehrer an Zusatzsachen geben."
"Bei deinen Zauberfähigkeiten wäre es zumindest schade, wenn du die fortgeschrittenen Sachen nicht jetzt schon lernen würdest wie den Schnellankleidezauber, den diese trauernde Witwe gebracht hat. Aber wieso konnte die nicht richtig disapparieren?"
"Hat dir das keiner erzählt?" Erwiderte Julius. "Millemerveilles war mal das Hauptquartier der dunklen Matriarchin Sardonia. Die hat über das Dorf eine magische Glocke gespannt, die nach ihrem Tod verstärkt wurde und keinen raus- oder reinapparieren läßt. Die Dame hat es offenbar vergessen."
"Und ist dann nackt zurückgeworfen worden", grinste Waltraud. "Gut zu wissen."
"Kannst du schon apparieren?" Fragte Julius aus spontaner Neugier heraus. Waltraud grinste verschlagen.
"Ein paarmal habe ich das schon gemacht. Hat mir am Anfang aber ziemlich den Atem verschlagen. Aber pssst, muß keiner wissen. Da ich das Gerücht hörte, du lernst Okklumentik, hier wohl Occlumentie genannt, kannst du das bestimmt gut verbergen."
"In Beauxbatons kannst du eh nicht disapparieren", sagte Julius ruhig. "Und was du in Greifennest oder auf Feensand machst ist für Professeur Faucon unwichtig." Innerlich war er sehr erregt. Waltraud konnte also schon apparieren, obwohl sie keine Ruster-Simonowsky-Hexe war. Dann müßte er das eigentlich auch können. Nur blöd, daß er das nirgendwo außer in Millemerveilles ausprobieren konnte. Tja, und ob er nun, wo Claire ihn hier nicht mehr willkommenheißen würde noch so oft wäre?
"Ich gehe dann noch ein wenig herum. Danke für die paar Minuten, die du mir gegönnt hast", sagte Julius. Waltraud bekräftigte, daß das für sie auch sehr angenehm gewesen war. Dann ging er weiter zu Céline und Laurentine, die ihn noch einmal zu der Sache auf dem Friedhof befragten. Außerdem kannte Laurentine das Gedicht, das Waltraud erwähnt hatte. Es stand in einem Lesebuch, daß sie bei der Einschulung mitgebracht hatte und das Professeur Faucon ihr nur gelassen hatte, weil Bébé einen Freizeitkurs Deutsch mitmachen wollte, um die Muttersprache ihres Vaters besser zu lernen. Julius steckte Céline das mit Bernadettes Bemerkung um zu sehen, wie das bei ihr ankam. Sie zukte die Schultern, lief leicht rot an und sagte dann:
"Die hat echt kein Gefühl für anständiges Benehmen. Die meint nur noch, was sie in irgendwelchen Büchern lesen kann sei das Leben. Aber ich sage dir was, Julius: Fang das bloß nicht an, was sie dir so frei heraus empfohlen hat! Was Claire und du am Schuljahresanfang hattet hat mich auch genug genervt, daß ich weiß, daß sie dich bestimmt nicht von wo auch immer beim Bücherlesen oder Zaubertrankbrauen beobachten will. Ich denke mal, du möchtest an Walpurgis bestimmt wieder mit jemandem mitfliegen."
"Da gäbe es so viele, die da in Frage kämen", sagte Julius grinsend. Dann sah er Laurentine an. Diese ahnte, was er sagen wollte und meinte:
"Wenn ich diese Soziusprüfung schaffe können wir beide mal drüber reden. Wäre zumindest besser als mit so Leuten wie Gaston oder Jacques. Allerdings muß ich ja nicht unbedingt wen einladen."
"Ich suche dir schon den richtigen aus, Bébé", sagte Céline. Laurentine zuckte mit den Schultern und meinte:
"Wenn das jetzt eine Drohung sein soll, dann lass ich mich durchrasseln."
"Aber ganz bestimmt nicht", versetzte Céline. "Du hast Claires Besen bekommen, weil sie will, daß du damit Spaß hast und nicht um damit im Palast zu bleiben. Denn wenn du bei Dedalus absichtlich durchrasselst verbietet er dir glatt das sonstige Fliegen auch noch und unsere Saalvorsteherin begräbt dich unter Strafpunkten."
"'tschuldigung, Mädels, daß ich euch jetzt auf diesen Unsinn gebracht habe", sagte Julius. "Am besten lasse ich euch mal wieder in Ruhe."
"Das haben wir gerne, erst Mädchen aufeinanderhetzen und dann schnell verschwinden", feixte Celine und hielt ihn sanft fest. Dann meinte sie:
"Abgesehen von der Walpurgisnacht, Julius, wirst du wohl irgendwann im Lauf des Jahres wieder wen finden. Ich weiß, daß klingt jetzt fies. Aber ich kenne Claire doch ein wenig besser als du, vielleicht sogar als ihre Eltern. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß sie, wenn sie das mit diesem Mistfluch vorher gewußt hätte, schon festgelegt hätte, daß du dir möglichst bald eine neue Freundin suchst."
Julius schluckte. Das war genau das, warum er jetzt und hier bei Céline saß, weil Claire ihn nicht hatte zurückkehren lassen wollen, wenn er sein Leben nicht mehr leben wollte, wozu wohl ihrer Meinung nach eine Zweierbeziehung gehörte. Um sich nicht all zu überrumpelt zu zeigen fragte er keck: "Ist das mit Robert nicht mehr so doll, daß du mir das sagst?"
"Soll ich dir jetzt eine runterhauen oder dir aus den vielen Mädels aus den Klassen drei bis sieben eine rauspicken und dich an sie dranbinden, Julius? Oder hat Robert so einen Unsinn behauptet?"
"Nein, hat er nicht. Ginge mich ja auch nichts an", beteuerte Julius. Céline lächelte.
"Ich habe mir schon überlegt, ob ich mit dem diesen Corpores-Dedicata-Zauber machen soll. Aber ich weiß nicht wie der geht."
"Céline, den würde ich nur bringen, wenn ich mir absolut sicher bin", sagte Julius. Er selbst dachte, daß er sich auf keinen Fall mehr darauf einlassen wolle. Nackt voreinander stehen, wenn es klar war, daß es die richtige war, okay. Aber das, was Claire mit ihm gemacht hatte, so schön es auch war, war ihm jetzt, wo er die unangenehmen Folgen davon mitbekommen hatte zu riskant.
"Lass dich doch schwängern, Céline. Dann bist du auch körperlich mit deinem liebsten verbunden", stichelte Bébé. Sie durfte das wohl gerade so noch, erkannte Julius. Céline schnarrte nur:
"Dann mach ich dich zur Amme, Bébé. Connie hat mit Cyttie mehr Arbeit als Freude. Andauernd Windeln wechseln oder die Kleine an ihren Nippeln nuckeln lassen und das Geschrei ertragen. Neh, wenn ich mich auf ein Kind einlasse, dann bestimmt nicht ohne den dazugehörigen Vater mit ranzuholen, wenn es um die Pflege geht."
"Okay, ihr beiden, von dahinten hat mir gerade Madame Lumière zugewunken. Dann möchte ich mal hören, was sie mir zu sagen hat", verabschiedete sich Julius.
Als er bei Aurora Dawn anlangte sah sie ihn wieder mitfühlend an. Er setzte sich zu ihr. Erst dann lächelte sie.
"Manchmal ist es schon bedauerlich, wie schnell etwas einfach vorbeigeht", sagte sie. Als Claire damals zur Welt kam war ich eine derjenigen, die sie keine acht Stunden nach der Geburt zu sehen bekamen. Nur damals habe ich mich halt nur für Madame Dusoleil gefreut, die gerade diese Kräuterkundlerversammlung abgehalten hat."
Julius schluckte. Da war Aurora wohl gerade mit den ZAGs durch, dachte er und fragte vorsichtig: "Dann geht dir das auch ziemlich nahe, daß sie jetzt nicht mehr da ist?"
"Einerseits schon, Julius. Andererseits weiß ich zu gut, daß unsere Welt oft sehr ungerecht und grausam ist, als mich zu lange darüber zu beklagen. Ich habe das bisher noch keinem erzählt, der nicht unmittelbar dabei war oder mit mir verwandt ist, Julius: Als ich im vierten Jahr in Hogwarts war, habe ich mit meinem damaligen Freund einen Angriff von Todessern mitbekommen und dabei einem kleinen Jungen das Leben gerettet. Allerdings frage ich mich heute, ob ich, wenn ich vorher gewußt hätte, daß er doch seinen Eltern nachschlagen würde, nicht besser mein Mitgefühl vergessen hätte."
"Wieso, wer war's denn?" Fragte Julius nun sehr neugierig.
"Du kennst diesen Jungen, er ist wohl gerade in der sechsten Klasse in Hogwarts. - Sein Vater sitzt gerade in Askaban, und seine Tante ... hat sich wohl mit seiner Mutter den Todessern angeschlossen, wenn sie nicht schon immer eine von denen war", flüsterte Aurora Dawn. Julius erbleichte. Sie hatte den Namen nicht genannt. Das mußte sie auch nicht. Dann überkam ihn ein irrsinniger Gedanke, der ihm die Zornesröte ins Gesicht trieb. Wenn es stimmte, daß Aurora Dawn dem verfluchten Slytherin-Bengel und Großmaul Draco Malfoy als kleinem Jungen das Leben gerettet hatte, dann ... war sie Schuld an Claires körperlichem Tod. Ohne Draco wäre Slytherins Galerie niemals aufgehangen worden. Ohne diese wäre er, Julius nicht mit einem Intrakulum losgeschickt worden, um sie zu vernichten. Ohne Intrakulum hätte er niemals die Festung dieser Morgensternbrüder finden und dieses Kugelding von Darxandria annehmen können, weshalb die Morgensternbrüder Madame Odin mit diesem Fluch behext hatten. Ein kurzes, vorwurfsvolles Glitzern in seinen Augen ließ Aurora Dawn erbleichen. Doch dann meldete sich sein Verstand zurück. Nicht Aurora Dawn war an dieser Katastrophe schuld, sondern dieser irre Massenmörder, der sich Lord Voldemort nannte. Denn nur der konnte Draco Malfoy verraten haben, wo und wie Slytherins versteckte Bilder zu finden waren. Hätte er nicht Draco Malfoy gehabt, wäre ein anderer Slytherin-Bengel von ihm angestachelt worden, diese Mörderbilder auszuhängen. Außerdem konnte Aurora Dawn es unmöglich vorhergeahnt haben, wen sie da rettet. Ja, er hätte Malfoy auch gerettet, als dieser noch klein und völlig unschuldig war. So sagte er:
"'tschuldigung, Aurora. Das kam jetzt wohl so rüber, als hättest du Claire umgebracht. Stimmt aber nicht. Ob du diesen heutigen Mistkerl gerettet hättest oder nicht, sein großer, böser Meister hätte sich so oder so einen von den Slytherins ausgeguckt, um dessen Erbschaft auf die Menschheit loszulassen. Du bist an Claires Tod genauso wenig schuld wie ich."
"Danke, Julius", sagte Aurora nun aufatmend. Für sie war diese Feststellung ein Freispruch von schweren Sünden. "Jetzt kann ich wohl besser schlafen. Ich habe immer daran gedacht, was gewesen wäre, wenn ich diesen Jungen nicht gerettet hätte. Wahrscheinlich hätte ich mit dem schlechten Gewissen nicht mehr leben können."
"In dieser Weltraumserie "Star-Trek" gibt es eine Folge, wo ein Zeitreisender aus einem späteren Jahrhundert zurückkommt und gefragt wird, was wem und dessen Nachkommen passieren wird. Er sagte, er dürfe nichts darüber erzählen. Dabei ging es auch um die Rettung eines Planeten vor einer Katastrophe und ob das in der Zukunft vielleicht neue Tyrannen hervorbringen würde oder nicht. Es ist bestimmt besser, wenn wir nicht immer wissen, was morgen oder in einigen Jahren passiert." Er dachte an die Prophezeiung aus der Rauchglaskugel. Was hätte man damals machen können, um zu verhindern, daß sie wahr würde? Er dachte auch an die Prophezeiung, die dem jungen Jedi Anakin Skywalker gemacht worden war, daß er das Böse vernichten und die Macht in Harmonie bringen würde. Der wurde später zum Bösewicht und hatte diese Prophezeiung erst ganz zum Schluß erfüllt, als er den galaktischen Imperator, den Oberbösen, getötet hatte, um seinem Sohn Luke zu helfen. Somit konnte niemand sagen, wie sich eine Prophezeiung erfüllte oder ob sie sich nur dann erfüllte, wenn der, den sie betraf sie vorher kannte. Kannte Harry Potter die ihn und Voldemort betreffende Weissagung? Sein Glaube an die Unbestimmtheit der Zukunft hatte einige gehörige Kratzer abbekommen. Doch eins war klar: Aurora Dawn war nicht schuld an Claire Dusoleils körperlichem Tod.
"Woher hast du eigentlich gedacht, daß Malfoy ...?" Fragte Julius nach diesem langen Gedankengang. Aurora sah ihn nur an und mentiloquierte::
"Die, die bei dir im Zimmer wohnt, hat keine Geheimnisse vor mir, auch wenn die anderen Portraits in Beauxbatons wohl zum Stillschweigen angehalten sind."
"Natürlich", schickte Julius ein einziges Wort zu ihr zurück. Dann unterhielt er sich hörbar mit ihr über die Feier und was sie von den anderen Gästen so aufgeschnappt hatte.
Bei Madame Ursuline Latierre, die er zehn Minuten später besuchte, hielt er sich auch eine Weile auf. Sie zeigte ihm die beiden neugeborenen Töchter und meinte:
"Das entbindet dich aber nicht, Weihnachten noch einmal zu mir zu kommen und mit uns die Ankunft der Beiden im angemessenen Rahmen zu feiern."
"Ich denke, es ist immer schön, wenn man sieht, daß das Leben weitergeht", sagte Julius. Er dachte an die Blumenwiese aus seinem Traum oder was es sonst war, bevor Ashtaria ihn hatte zurückkehren lassen.
"Sagen wir es so, Ferdinand möchte jetzt keine weiteren Kinder mehr mit mir haben. Eigentlich schade, aber deswegen gleich nach einem anderen zu suchen?" Sagte Madame Latierre halblaut. Dann schmunzelte sie. "Im Grunde findet er das aber noch schön, eine Hexe zur Frau zu haben, die ihm noch ein paar Kinder schenkt. Spätestens Weihnachten werde ich ihn wohl auch wieder dazu bringen, ganz ganz nett zu mir zu sein." Sie sah Julius sehr verschlagen an. Er dachte daran, daß sie sonst ihn holen könnte.
So verging der Nachmittag, der durch ein Sträuselkuchenessen und Gesang versüßt wurde. Abends verabschiedeten sich alle Gäste voneinander. Professeur Faucon nahm Julius noch einmal bei Seite und sagte ihm:
"Ich warte morgen Mittag auf dich. Ich hoffe, du hattest keine unangenehmen Unterhaltungen."
"Nichts, was mich jetzt noch aus der Bahn geworfen hätte, Professeur", erwiderte Julius. "Nur einige wundern sich, daß die Dusoleils und ich so locker damit klarkommen."
"Ich fürchte, was dieses Wesen dir an Ratschlägen und Aufmunterungen mitgegeben hat wird nicht immer wirken, und du wirst zwischendurch doch in Trauer verfallen. Sollte das so extrem sein, komm bitte zu mir! Ich bin ja in der Hinsicht leider eine gewisse Expertin."
"Ich hoffe, daß ich keinen grund habe, Ihr Angebot anzunehmen", sagte Julius ruhig. Die Lehrerin nickte verstehend.
Am Abend reiste er mit den Brickstons und seiner Mutter nach Paris. Catherine wollte haben, daß er den Apfelkern säte, den Madame Dusoleil ihm gegeben hatte. Seine Mutter meinte, als sie auf dem Weg zur Rue de Liberation waren, daß sie trotz des traurigen Anlasses doch den Eindruck bekommen habe, immer noch in Millemerveilles willkommen zu sein.
"Camille hat deinen Sohn quasi adoptiert, Martha. Sie möchte, daß du und er auch weiterhin in ihrem Leben vorkommt."
"Was war das mit diesem Mädchen, dieser Bernadette oder wie sie heißt?" Fragte Martha Julius. Dieser fragte zurück, wie sie darauf käme. Sie antwortete: "Das habe ich über zwanzig Ecken mitbekommen, daß sie wohl eine ungehörige Bemerkung losgelassen hat von wegen, du könntest ja jetzt richtig lernen, weil ja keiner mehr um dich herumsein würde."
"Buschtrommeln, höh?" Erwiderte Julius. Martha sagte, daß sie das wohl von Raphaelle Montferre habe, die das von ihren Töchtern habe, die das wiederum von Kameradinnen aus niedrigeren Klassen hätten. Julius erklärte ihr, was wirklich gesagt worden war und wie er sich aus der Affäre gezogen hatte. Martha meinte dann:
"Nun, die Möglichkeit besteht ja wohl doch, daß sie dir deshalb, weil du im Moment keine tiefer gehende Beziehung mehr hast mehr aufhalsen könnten. Nichts für ungut, Catherine, aber deiner Mutter traue ich durchaus zu, daß sie ausloten will, wie heftig sie Julius fordern kann."
"Nur, daß Maman weiß, wie nachhaltig ein Verlust wirken kann, Martha", sagte Catherine.
Als es schon dunkel war suchten Catherine und Julius im Schein einer Kerze ein Stück des kleineren Gartens aus, wo Julius den erhaltenen Apfelkern einpflanzen konnte. Zwar stießen hier wirklich verschiedene Gärten direkt aneinander, aber sie versicherte ihm, daß sie das mit den Nachbarn klären würde, bevor der Apfelbaum groß genug war, um die Nachbarn zu belästigen.
"Vielleicht sollte ich den Kern besser fortpacken und dann da einpflanzen, wo ich nach der Schule mal wohnen werde, wenn ich jetzt auch nicht mehr glaube, daß ich nach Millemerveilles ziehe."
"Oh, das zu denken wäre aber sehr voreilig, Julius. Ich denke schon, daß Camille und Florymont keine Probleme hätten, dich in Millemerveilles unterzubringen, egal ob du dann noch Junggeselle bist oder jemanden gefunden hast, mit der du dein Leben teilen möchtest. Außerdem steht da ja noch die Übergabe von Goldschweif an, sollte sie die erhoffte Nachfolgerin zur Welt bringen. Hier kannst du leider nicht mit ihr bleiben. Blieben also nur die Rue de Camouflage oder eine Zauberersiedlung."
"Ja, aber ich glaube nicht, daß mir Claires Eltern ein Haus in Millemerveilles freimachen, wenn ich mit Mädels wie Patrice oder Mildrid was anfangen sollte."
"Oder Béatrice Latierre oder Martine", ergänzte Catherine die kurze Liste. "Aber in letzteren beiden Fällen wäre deine Unterbringung tatsächlich außerhalb von Millemerveilles, weil martine entweder zu uns herzieht oder du zu ihr ziehst. Bei Béatrice wäre es wohl ziemlich klar, daß du nach Château Tournesol ziehst".
"Komisch, für einen trauernden Verlobten habe ich echt schon abgedrehte Gedanken", gab Julius zu.
"Du bist noch zu jung, um dich jetzt schon für unnütz oder unvermittelbar zu halten, Julius. Ich denke, die meisten Mädchen die sich vorher schon für dich interessiert haben werden jetzt erst einmal auf Abstand zu dir gehen, um dich in Ruhe zu dir finden zu lassen. Aber spätestens vor Walpurgis wirst du wohl wieder die Gelegenheit bekommen, dir Gedanken um eine mögliche Partnerin zu machen, falls sie dich solange warten lassen. Immerhin, und das solltest du dir immer klarmachen, bist du immer für Claire da gewesen, und sie wußte das auch."
Julius nickte. Dann ging er rasch in die Hocke, weil er ein geeignetes Stück Rasen gefunden hatte und drückte vorsichtig den Apfelkern in den Boden, richtig tief hinein. Dabei rannen ihm Tränen aus den Augen und benetzten das Fleckchen Gras. Unvermittelt sah er den Kern, den er gerade im Boden vergrub golden schimmern. Das war doch nicht normal. Da fiel ihm ein, daß Madame Dusoleil mit dem Apfel vorher ja noch in ihrem Schlafzimmer gewesen war. Mochte es sein, daß sie dort noch etwas mit ihm angestellt hatte? Ja, womöglich hatte sie den Heilsstern benutzt ... und hatte den Apfel mit Lebenskraft aufgeladen, die nun in die fünf Kerne eingeflossen war.
Catherine half ihm, durch den Kamin in ihrem Partyraum zu den Dusoleils zurückzukehren, mit denen er sich dann noch eine Stunde unterhielt, bevor er sich ins Bett legte.
Diese Nacht träumte er nicht von Ammayamiria, sondern von der Audienz um Mitternacht, wo Marie Laveaus Geist ihm seine Zukunft vorhergesagt hatte. Wenn er wirklich ein Gefangener des Schicksals war, welche schlimmen Dinge mochten ihm noch passieren? Konnte er den meisten davon vielleicht doch ausweichen? Wie und wann würde Ammayamiria ihm beistehen? Als er sich noch einmal umdrehte und einschlief träumte er das, was er in der ersten Nacht im Château Tournesol geträumt hatte, von Martine und einer gemeinsamen Tochter mit ihr. Nur diesmal hatten sich Millie und Claire nicht zerstritten, sondern Millie hatte sich Hercules als Freund ausgesucht.
__________Am nächsten Morgen fragte er Madame Dusoleil, ob das mit dem Heilsstern stimmte. Sie raunte ihm zu:
"Bist du doch dahintergekommen. Ja, ich habe diese Formel benutzt, die Ammayamiria mir verraten hat. Ich hoffe, damit haben wir nun eine wirklich mächtige Verbindung zwischen uns geschaffen."
"Ich möchte gerne wissen, was aus diesen Morgensternbrüdern geworden ist, die uns das angetan haben?"
"Ich habe bis jetzt nichts davon gehört", sagte Camille Dusoleil.
"In der Schule erzählen sie, daß man die hinrichten würde, wenn das rauskommt, wer den Fluch gewirkt hat."
"Du willst sowas natürlich nicht", vermutete Madame Dusoleil. Julius nickte sehr bestätigend.
"Es würde Claire nicht mehr so wiederkommen lassen, wie wir sie kennen. Was brächte es da noch?"
"Überhaupt nichts, Julius. Rache oder tödliche Vergeltung machen uns nicht zu besseren Menschen als die, die wir zu hassen anfangen. Ich habe Claire in mir getragen, unter Schmerzen geboren und aufgezogen. Dennoch kann ich für diese Leute, die uns angegriffen haben nur Mitleid empfinden. Ich bin froh, daß du das auch tust."
"Wegen mir ist ..." Julius wollte gerade wieder anfangen, sich die Schuld für das ganze zuzuschreiben. Doch Madame Dusoleil hielt ihm den Mund zu.
"Du hast das getan, was in diesem Moment das einzig richtige und wichtige war, Julius. Maman und Claire haben es dir doch gesagt, daß du nicht die Schuld daran trägst. Ammayamiria klagt niemanden an, schon gar nicht dich. Klage dich also nicht selbst an, sondern sei das, was du sein willst und womit du dir und anderen das Leben schön machen und ihm einen Sinn geben kannst!"
"Wenn das so einfach wäre", stöhnte Julius nun doch von einer Woge Schwermut ergriffen.
"Wenn das Leben einfach wäre wäre es langweilig", erwiderte Madame Dusoleil lächelnd. "keiner zwingt dich zu etwas, was du nicht von dir aus tun willst. Aber so viel ich weiß hast du es vorgezogen, lieber bei uns zu bleiben als in Ashtarias Obhut. Insofern mache ich mir keine Sorgen, daß du verlernt haben könntest, Spaß im Leben zu haben."
"Ich hoffe das", sagte Julius sehr ernst.
Am Mittag reiste er per Flohpulver zurück nach Beauxbatons, wo er sich mit seinen Schulkameraden noch etwas über die anstehenden Schulstunden und Freizeitkurse unterhielt. Die Woche war nun um, und er wollte möglichst bald zur Normalität zurückkehren. Doch eine Sache interessierte ihn noch. Er begab sich zwischen Abendessen und Schlafenszeit in den Gang, wo Gregorians Bild hing. Doch er brauchte es nicht direkt anzusteuern. Aus der Ferne hörte er schon die sehr aufgeregten Rufe:
"Iaxathan, der Dääämon wird blicken durch sein schwarzes Seelenfenster und verfinstern die Seelen der reinen und rufen die Seelen der Unreinen zu seinem Dienste! Zu seinem Dienste!!!"
Julius drehte um. Die Trübsal, die ihn jetzt doch eingeholt und in sich eingesaugt hatte wie ein durch die Galaxis ziehendes schwarzes Loch, verstärkte sich. Wegen dieses Endzeitpredigers konnte Claire nicht mehr mit ihm zusammen durch den Palast, durch die Parks und vor allem nicht mehr durch Millemerveilles gehen. Sie war aus ihrem Körper herausgerissen worden und zusammen mit ihrer Großmutter in Ammayamiria aufgegangen. Doch wenn sie sich nun besser fühlte, auch wenn sie Julius nicht mehr so gut an sich kuscheln konnte, warum fühlte er sich dann nicht auch erleichtert? Er dachte an jene Star-Trek-Folge, wo ein Besatzungsmitglied von einem abgrundtief bösen Wesen einfach so umgebracht worden war und sie als Holodeck-Projektion ihren Abschied von der Besatzung genommen hatte. Wie hatte sie zum Schluß gesagt? "Grußfrequenzen geschlossen." Doch die Grußfrequenzen zu Ammayamiria waren noch offen. Sie würde sich halt nur nicht mehr direkt zeigen. Machte das den Abschied von Claire nun schwerer oder leichter? Er dachte nur daran, das mit ihrem Fortgang ein ganzes Universum aufgehört hatte zu existieren. Doch so gesehen lebte er nun in einem ganz neuen Universum. Und so wie jene Besatzung vom Raumschiff "Enterprise D" weiter die Galaxis erforschte, so hatte auch er den Auftrag, das von ihm erreichte Universum zu erforschen, so wie er schon einmal eine neue Welt zu erforschen begonnen hatte, als er mit Gloria, Pina und den Hollingsworth-Zwillingen im Zug nach Hogwarts gesessen hatte. Trotz der Dementoren, denen sie dabei begegnet waren hatte er diesen Einstieg in ein neues Universum nicht bereut. Claire hatte ihren Körper verloren. Doch die Erinnerung an sie lebte weiter, in und durch ihn.
Er ging langsam zurück durch die Korridore und Gänge, suchte den grünen Saal auf und betrat den Schlaftrakt der Jungen. Morgen war wieder Unterricht. Die Professorinnen Fixus, Bellart und vor allem Faucon würden ihm wohl wieder schwere Zusatzsachen aufgeben. Er nahm sich vor, so viel davon wie möglich auszuprobieren.