Julius überlistete den gemalten Zwerg am nächsten Morgen. Er stand auf, als er wach wurde, besah sich seine Armbanduhr im schwachen Mondlicht und befand, daß er kein Licht brauchte. Denn dann, so hatte er gestern erfahren müssen, würde dieser von Claire gemalte Zwerg mit einer Trompete den Morgen begrüßen, unüberhörbar laut.
Der Gast der Dusoleils griff sich seinen Trainingsanzug und seinen Bademantel, verließ leise das Zimmer und wusch sich im Gästebad, zog sich den Trainingsanzug über und eilte leise die Treppe hinunter, um zum Morgenlauf aus dem Haus zu eilen. Madame Dusoleil wartete bereits im Morgenrock auf ihn, flüsterte ihm "Viel Vergnügen" zu und ließ ihn aus dem Haus.
"Hast du dir den Schwermacher umgehängt?" Begrüßte Barbara Lumière den Hogwarts-Schüler, als sie ihn am großen Teich in der Dorfmitte traf. Julius verneinte dies.
"Gut so. Der ist nämlich nicht zu unterschätzen. Du solltest nur nach Handbuch mit ihm üben. Wenn du möchtest, können wir das ja mal gemeinsam tun", erwiderte Barbara. Julius nickte zustimmend.
"Maman hat mir von gestern erzählt. Deine Maman ist ja tatsächlich sehr beherrscht, aber trotzdem keine seelenlose Hülle. Sie hat die Kleinen sehr freundlich angesehen."
"War das ein Test?" Fragte Julius leicht irritiert, weil er sich vorstellen konnte, daß Barbaras Mutter ausprobieren könnte, wie eine Muggelfrau auf echte Hexenbabies reagierte.
"Nein, Julius. Sie hat es halt nur bemerkt. Ist ja auch nicht so einfach, gesagt zu bekommen, daß Catherine Brickston nicht eine gewöhnliche Muggelfrau ist."
"Da hast du dir also auch Gedanken drüber gemacht", stellte Julius ruhig fest. Barbara nickte.
"Wir alle, die bei deiner Feier waren. Die Älteren natürlich am meisten. Na, nun besteht zumindest ein besserer Kontakt zwischen deinen Eltern und uns."
"Wenn mein Vater nicht was mitkriegt und durchdreht", wandte der nun Dreizehnjährige ein.
"Das liegt ja jetzt an deiner Mutter", gab Barbara gehässig grinsend zurück. Julius hatte dem nichts hinzuzufügen.
Nach dem Morgenlauf wünschte der Gast der Dusoleils Barbara eine erfolgreiche Prüfung. Schließlich wollten sie und Jeanne heute die Erlaubnis erhalten, zu apparieren, also jene Zauberkunst anzuwenden, mit der sie sich fast zeitlos von einem ort fort an einen anderen versetzen konnten.
Das Frühstück war wie üblich. Zu essen gab es reichlich. Jeder durfte aus der Tageszeitung laut vorlesen, was Julius immer besser konnte.
Nach dem Frühstück flog Claire mit Caro, Elisa und Dorian zu ihrem Ferienunterricht. Jeanne und Julius hatten frei. Auch Aurora Dawn und Arcadia Priestley verabschiedeten sich:
"Mach es noch gut hier, Julius!" Wünschte Aurora Dawn. Arcadia Priestley fügte dem hinzu:
"Lasse mich wissen, wie das angekommen ist, was wir besprochen haben!" Dann reisten sie per Flohpulver ab.
Sobald Claire fünf Minuten fort war, holte Julius die von ihm gebastelte und nun offiziell patentierte Zauberlaterne herbei und führte seinen Gasteltern und Jeanne vor, was er alles gemacht hatte.
Er begann mit der räumlichen Abbildung der Mondlandschaft, über der die von der Sonne erleuchtete Erde im schwarzen Himmel voller Sterne hing. Dann zeigte er sich bewegende Bilder, das vom hohen, herabdonnernden Wasserfall, die singende Meerjungfrau in der Unterwasserlandschaft, die Quidditchszene und schließlich den lebensecht und lebensgroß erscheinenden bretonischen Blauen, dem größten in Frankreich heimischen Drachen.
Gerade riss das nur als räumliches Bild zu sehende Ungeheuer sein spitzes Maul mit den langen Reißzähnen auf und fauchte als unüberhörbare Geräuschzauberei einen breiten Feuerstrahl gegen die Tür, als diese sich auftat und Barbara Lumière, eine elegant gekleidete Hexe mit weißem Spitzhütchen und eine Hexe mit rotblondem Haar, das mit Goldspangen zusammengehalten war eintraten, genau in den scheinbaren Feuerstrahl hinein.
"Huch! So wurde ich aber noch nie begrüßt", zeterte die in türkises Satin gewandete Hexe mit dem weißen Hut erschrocken und entrüstet. Die rotblonde Hexe, die Julius in Beauxbatons als Professeur Bellart vorgestellt worden war, mußte zwar erst ihren Schrecken verarbeiten, lachte aber dann und applaudierte. Julius löschte schnell die Kerze in der Zauberlaterne, und der nichtstoffliche Drache verschwand im Nichts.
"Florymont, das ist ja phänomenal", lobte Professeur Bellart Monsieur Dusoleil. Dieser wandte sich Julius zu und sagte:
"Ihr Lob gebührt nicht mir, Mirabelle. Dieser junge Mann hat dieses Gerät angefertigt."
"Florymont, Sie möchten mich veralbern", gab Professeur Bellart etwas ungehalten zurück. "Dieser Junge soll solch eine hervorragende Konstruktion geschaffen haben? Der Drache war täuschend echt, ebenso die räumlichen Geräuschzauber. Der Junge kommt doch erst in die dritte Klasse in Hogwarts, wenn ich Madame Maxime und Blanche richtig verstanden habe."
"Das stimmt, Professeur Bellart", bestätigte Julius schüchtern. Dann sagte er:
"Aber niemand möchte Sie veralbern. Ich habe diese Laterne als freiwilliges Freizeitprojekt in Zauberkunst angefertigt. Mein Hauslehrer Professor Flitwick besitzt alle Unterlagen dazu."
"Nun, ich bin nicht hier, um über den Ursprung dieser tolldreisten Begrüßung zu diskutieren. Ich bin zusammen mit Madame Mistral hier, um Mademoiselle Jeanne Dusoleil zur Prüfung in der Kunst der Apparition abzuholen. Sind Sie bereit, Mademoiselle?"
"Jawohl, Professeur Bellart", antwortete Jeanne. Barbara zwinkerte der Schulkameradin zu und machte Platz. Als Jeanne nur mit ihrem Zauberstab ausgerüstet das Werkstatthaus verließ, in dem Julius sein Wunderwerk vorgeführt hatte, wandte sich Professeur Bellart noch mal an Julius:
"Falls Sie mich nicht verulkt haben, Monsieur Andrews, wäre das ein immenser Leistungsbeweis. Angenehmen Tag noch, Madame und Messieurs!"
Als sich die Werkstatthaustür wieder schloß, mußte sich Monsieur Dusoleil heftig anstrengen, nicht gleich laut loszulachen. Als er sich sicher wähnte, von den ehrwürdigen Hexen nicht mehr gehört zu werden, brach es schallend aus ihm heraus.
"Das sie so heftig erschreckt wird, kennt die gute Ariane nur von ihren aus der Art geschlagenen Söhnen, die im blauen Saal wohnen!" Rief Madame Dusoleil über das Lachen ihres Mannes hinweg. Unvermittelt lachte auch Julius. Als er gefragt wurde, was ihn denn zum lachen angeregt habe prustete er:
"Ariane? Die Dame heißt wie die europäische Weltraumrakete? Ist ja krass!"
"Sag ihr das bloß nicht", lachte nun Madame Dusoleil. "Sie mag überhaupt keine Muggelsachen. Die sind ihr ein Gräuel."
"Ich werde den großen pferdefüßigen Höllenfürsten mit den zwei Hörnern tun, Madame", konnte Julius irgendwie zwischen den Lachsalven herausbringen.
"Möchtest du, daß ich die Laterne und die Glasplättchen bruchsicher verpacke?" Fragte Madame Dusoleil ihren Gast, als man sich wieder beruhigt hatte.
"Öhm, ja bitte. Ich habe das irgendwie nie gelernt, Sachen einzupacken. Da, wo ich das gekauft habe, hat man mir im letzten Jahr geholfen, Claires Geschenk zu verpacken. Irgendwie muß es im Erbgut der Männer doch einen Fehler geben, daß wir zwar die tollsten Maschinen bauen, aber keine Geschenke einpacken können."
"Gut, dann zeige ich dir das, wie das ohne Zauberei geht", sagte Madame Dusoleil und ging mit Julius ins Wohnhaus, wo sie die Zauberlaterne in eine große mit Filz ausgeschlagene Schachtel legte, auf die Julius mit rubinroter Tinte einen Gruß an Claire und die Empfehlung, vorsichtig damit zu sein, weil es zerbrechen könnte, schrieb. In einen Beutel, je eine Lage Seidenpapier zwischen jedem Glasplättchen, wurden die bezauberten Bilder verstaut. Dann wurde das ganze so zusammengepackt, daß es in das hauchdünne Geschenkpapier eingewickelt werden konnte. Darauf schrieb Julius noch mal, daß es ein Geschenk von ihm sei und nahm das Paket wieder mit auf sein Zimmer.
Claire kehrte um zwölf Uhr zurück, sichtlich erschöpft und sagte nur:
"Das war heute schwer. Diese Objektflüche sind ja wirklich gefährlich."
Um kurz vor eins apparierte Jeanne mit strahlendem Gesicht und einem goldgerahmten Pergamentrechteck in beiden Händen im Flur. Julius, der gerade auf dem Treppenabsatz zwischen erstem Stock und Erdgeschoß stand, sah Jeanne an und verstand ohne Worte: Sie hatte bestanden!
"Juhu, Julius! dreizehn von vierzehn in der Theorie, neunzehn von zwanzig im praktischen Teil. Das wird so gerechnet, wie die Soziusflugprüfungen, Praxis mal zwei plus Theorie durch drei. Da muß man auch drei Viertel der höchsten Punktzahl haben, um zu bestehen."
"Jau, Jeanne. Nachdem, was du mir über die Theorie erzählt hast, ist das allein schon heftig", sagte Julius und freute sich sichtbar mit Jeanne. Claire, die gerade aus ihrem Zimmer herabkam, sah ihre älteste Schwester an und strahlte auch. Dann hakte sie sich im Überschwang bei Julius ein und stubste ihn an, mit ihr nach unten zu gehen.
"Siebzehn von achtzehn, ist ja so gut wie meine Soziusflugprüfung", sagte Julius, nachdem er durchgerechnet hatte, wieviele Endpunkte Jeanne nun hatte.
"Barbara hat auch bestanden?" Fragte Julius. Jeanne nickte. "Insgesamt fünfzehn Punkte. Sie hat sogar mit einem großen Sack voller Steine und Früchte zu apparieren gewagt, um zu testen, ob sie ihre Schwesterchen mitnehmen kann, falls es einen Notfall gibt. Da du auch ein guter Theoretiker bist, Julius, kannst du mir ja noch sagen, wann ein Notfall Apparieren mit minderjährigen und ungeübten Zauberern erlaubt."
"Du bist ja wirklich gut drauf. Das ist der Folgeartikel nach dem Paragraphen, wo drinsteht, daß man beim Apparieren die Wahrscheinlichkeit, von Muggeln gesehen zu werden unter einem Zehntel halten muß. In der magischen Personenverkehrsordnung (MPO), die ja in der ganzen Zaubererwelt gilt, ist das der Artikel Paragraph sieben im Teil über Apparition und magische Schnelltransportmittel, wenn du mich nicht falsch unterrichtet hast, Jeanne", sagte Julius vorsichtig, weil er auf einen Fehler gefaßt war.
"Paragraph sieben, Unterabschnitt zwei", vervollständigte Jeanne lächelnd.
"Wo wart ihr überall, fragte Claire beim Mittagstisch. Sie wußten ja alle, daß man zwar im Dorf bedenkenlos apparieren konnte, sofern nicht Häuser besonders geschützt waren, wie das von Madame Faucon zum Beispiel. Aber aus dem Dorf hinaus konnte man nicht disapparieren.
"Erst einmal haben wir bestimmte Punkte in Millemerveilles angesteuert. Dann sind wir per Flohpulver zum Verkehrsbüro in die Provence gereist und haben von da aus vorgegebene Ziele erreichen müssen, einige davon über fünfhundert Kilometer vom Startpunkt weg. Ich habe mich nur einmal um zwei Meter verschätzt, als ich im Büro von Madame Mistral ankommen sollte und stattdessen bei Madame Grandchapeau im Büro für Muggelangelegenheiten auftauchte. Aber die zwei Meter haben mich nur einen Punkt gekostet.
"Häh, das Ministerium ist nicht gegen Apparitionsbesuche ...? Natürlich nicht. Vergiss meine Frage, Jeanne! Die müssen ja irgendwie zur Arbeit kommen und vielleicht schnell abrücken können", sagte Julius.
"Wenn sie müssen können sie eine Apparitionsmauer hochziehen, die niemanden rein oder rausläßt", wußte Monsieur Dusoleil.
"Madame Grandchapeau läßt dich übrigens noch mal recht schön grüßen. Da ich in der Prüfung steckte, wollte sie mich nicht fragen, wie es deiner Mutter gefallen hat. Wahrscheinlich wird sie von Madame Delamontagne und Madame Brickston einen Brief bekommen", berichtete Jeanne noch.
"Gut, daß es zu keiner Materiedurchdringung kam", sagte Mademoiselle Dusoleil.
"Hmm, die hatten die vor zwei Tagen. Ein Junge aus Fleurs Haus hat mit seiner Freundin zusammen Prüfung gehabt. Dabei sind sie auf ein Ziel losgesteuert und bei der Ankunft an einem Arm verschmolzen. Sie hatten nur den linken und einen rechten Arm frei. Er hing mit seinem rechten Arm so mit ihrem linken zusammen, daß sie für einen ganzen Tag zusammenbleiben mußten. Die Unfallmagier haben sie erst dann wieder trennen können."
"Hou! Das stelle ich mir aber jetzt doch heftig vor", sagte Julius der sich ausmalte, was alles anfiel, vom Essen, Toilettenbesuchen bis zum Schlafen.
"Die heiraten in zwei Monaten eh. Leider müssen sie die Prüfung noch mal machen", sagte Jeanne etwas bedauernd.
Alle freuten sich für Jeanne, am meisten Julius, der zu gerne dieses Dokument haben wollte, das ihm erlaubte, zu apparieren.
Madame Dusoleil buk zur Feier von Jeannes bestandener Prüfung einen Kuchen und verwöhnte auch ihre übrigen Haus- und Mitbewohner mit Leckereien.
Vor dem Abendessen kamen die Porters und Hollingsworths zusammen mit Pina noch mal am Dusoleil-Haus vorbei, um sich zu verabschieden. Sowohl die Mädchen, als auch die Frauen scheuten sich nicht, Julius zum Abschied zu umarmen. Jede hatte für Julius noch einen Wunsch oder guten Rat zum Abschied parat.
"Wenn du schon mit der jüngeren Mademoiselle tanzt, dann gewinn gefälligst auch wieder diese Trophäen!" Hauchte Pina, eher gehässig als wohlwollend klingend.
"Ich finde es schön, daß du hier gut untergekommen bist und wir bei deiner Geburtstagsfeier dabei sein durften, Julius. Schreib mir bitte, wie es dir hier weiter ergeht!" Wandte sich Gloria Porter an ihren Haus- und Klassenkameraden.
"Danke für diese schönen Ferientage hier!" Wünschten Betty und Jenna Hollingsworth. Ihre Mutter fügte dem noch hinzu: "Es war wieder nett, bei deiner Geburtstagsfeier dabei zu sein. Viel Spaß mit deinen Geschenken!"
"Schreib mir bitte, wie weit du im Schachturnier kommst!" Bat Mrs. Porter Julius zum Abschied.
"Schöne Ferien noch, Honey! Lasse dich von Bläänch nicht zu waghalsigen Sachen verleiten!" Meinte Mrs. Jane Porter, die als letzte Julius umarmte und kurz auf die rechte und linke Wange küßte. Dann kehrten die Geburtstagsgäste in den Gasthof zurück, von wo aus sie heimreisen wollten.
"Na, da hast du aber noch nette Abschiedswünsche mitbekommen", lachte Jeanne Dusoleil. Claire, die etwa vier Meter entfernt zugeschaut hatte, trat an Julius heran und hauchte ihm zu:
"Dieses Mädchen mit dem blonden Zopf legt es wohl darauf an, dich zu beanspruchen, wie sie dich umklammert hat, wie?"
"Wenn du das als Maßstab ansetzt, müßte ja Glorias Oma mehr für mich empfinden als Pina. Immerhin hat sie mich solange in den Armen gehabt, wie sie mit mir sprach, und dafür, daß amerikanische leute meistens nicht über einen Händedruck hinauskommen, wenn sie nicht verwandte oder Geliebte grüßen, war das schon sehr innig", versetzte Julius. Claire Dusoleil lachte.
"Du bist doch schon mit ihr verwandt, so wie sie mit dir umspringt", gab Claire mit einem gehässigen Grinsen zur Antwort. Julius fragte:
"Huch! Wie kommst du denn darauf?"
"Du hast letzten Sommer bei ihr gewohnt, bei Gloria und ihren Eltern, meine ich. Offenbar meint sie, du seist schon ein Verwandter."
"Claire, sei doch nicht so gehässig!" Tadelte Jeanne ihre Schwester. Claire wandte sich um und sagte nur:
"Ich weiß, was ich gesehen habe, Jeanne."
"Mädchen, keinen Zank mehr!" Befahl Madame Dusoleil mit ruhiger aber fester Stimme. So fügten sich die beiden älteren Töchter.
Abends gab es Hausmusik, und um zehn Uhr zogen sich alle auf ihre Zimmer zurück.
Mitten in der Nacht schlich sich Madame Dusoleil zu Julius ins Zimmer, weckte ihn sanft aus dem Schlaf und flüsterte ihm die Frage zu, ob er zusammen mit ihr, ihrem Mann und Jeanne ein Ständchen spielen wollte, wenn Claire erwachte. Julius wisperte, daß er nicht wußte, ob das klappen würde. Doch dann stand er auf und folgte Madame Dusoleil. An einem großen Kessel voll warmem Wasser wuschen sich die vier nächtlichen Überraschungsplaner, denn das Wasser aus den Leitungen würde durch alle Wände rauschen. Dann schob Madame Dusoleil Julius in ihr Musikzimmer. Jeanne kam ebenfalls hinzu und schloß die Tür.
"Das Zimmer ist ein Klangkerker, Julius. Es ist permanent so bezaubert, daß keine Geräusche nach außen gelangen, solange alle Türen und Fenster verschlossen bleiben. Immerhin muß man ja draußen nicht hören, wenn sich wer mal verspielt", sagte Madame Dusoleil und legte Julius die neue Altblockflöte vor, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.
"Du kannst gut nach Gehör spielen, habe ich mitbekommen", setzte die Hausherrin an. Aber du kannst auch sehr gut Noten lesen, hat Blanche mir erzählt. Wieso hat dich da niemand gefördert?"
"Och, wir hatten schon Musikunterricht in der Schule, Madame. Die Mädchen haben sogar Klavier gelernt. Unsere Musiklehrerin, Mrs. Chimes, hat uns in der vierten Klasse die Notenschrift beigebracht. Ich habe das gelernt, wenn ich mal Musikstücke aus CD-Heften nachspielen wollte, wo die manchmal in Notenschrift niedergeschrieben sind. Aber meinen Eltern lag mehr an meiner Mathematik als Musik. Das ist Ihnen ja nun auch geläufig."
"Nun gut. Wollen wir das Lied spielen, daß wir für dich gespielt haben oder ein anderes?" Fragte Madame Dusoleil. Julius schlug vor, ein anderes Lied zu nehmen, da es sonst zu langweilig sei. So übten sie von halb vier morgens bis halb sechs. Dann verließen sie das Musikzimmer, stellten sich leise im Garten unter Claires Fenster und legten Los. Im Selben Moment schmetterte im Haus eine laute Trompetenmelodie los, die fast wie der Weckruf in einem Wildwestfort klang. Die Geburtstagsmusiker mußten erst einmal innehalten und den Lachanfall unterdrücken, bevor sie richtig losspielen konnten.
"Dieser Trötenzwerg kriegt heute noch Ärger", dachte Julius, während er sich auf die von ihm zu spielende Stimme konzentrierte. Jeanne spielte die obere Flötenstimme, Madame Dusoleil sang, Monsieur Dusoleil ließ seine Finger über die Tasten seines Akordeons fliegen, während er genau im richtigen Rhythmus die Backen des Instruments auseinanderzog und zusammenschob, um Luft durch die Ventile zu blasen.
Claires Fenster klappte auf, und mit zerzaustem schwarzem Haar, mit vom Schlafsand verklebten Augen, aber fröhlich dreinschauend, schaute das Geburtstagskind heraus. Es wartete, bis alle Strophen gespielt und gesungen waren, dann sagte Claire:
"Vielen Dank für dieses schöne Wecklied. Schade, daß der Trompeter nicht gewußt hat, daß ich heute Geburtstag habe. Sonst hätte er mitspielen können. War irgendwie lustig. Julius, die kleinen Schlenker zwischen den langen Tönen stehen aber nicht im Notenheft, wo das Stück drin ist. Ich dachte, du machst nie mehr, als du gesagt bekommst!"
"Man sollte meinen, daß du durch das eine Jahr, das du nun älter bist, etwas weniger frech bist, Claire", gab Julius lachend zurück. Dann antwortete er auf die Bemerkung noch: "Das hat irgendwie gepaßt mit den Schlenkerern."
Claire kam herunter und ließ sich von jedem und jeder einzelnen gratulieren. Als Julius an die Reihe kam hauchte sie ihm zu:
"Das ist wirklich schön, daß du heute wieder mit mir feiern kannst. als du erzählt hast, daß sie dir wen zugewiesen haben, der bestimmt, was du machen darfst und was nicht, war ich echt bange, du könntest diesen Sommer nicht herkommen."
"Das hätte Madame Delamontagne notfalls per Gerichtsbeschluß angeordnet. Die will ihre Schachrevanche haben, und Barbaras Mutter hat ja gesagt, daß sie mich auf jeden Fall beim Sommerball dabeihaben wollte."
"Recht hat sie", erwiderte Claire und drückte Julius kurz aber innig an sich, nicht flüchtig, wie es die höfliche Umgangsform zwischen unverheirateten und nicht miteinander verwandten Hexen und Zauberern in Frankreich gebot. Julius fragte sich in diesem Moment erneut, ob dieses Mädchen nicht mehr für ihn empfand, als nur die Aufmerksamkeit einer Gastschwester. Immerhin mußten sowohl seine Mutter, wie auch Claires Eltern ähnliches mitbekommen haben. Sonst hätte seine Mutter ihn nicht gefragt, was Sache sei, und Monsieur Dusoleil hätte ihm nicht den guten Rat "von Mann zu mann auf gleicher Augenhöhe" gegeben, ihr blos nicht wehzutun. Aber wie empfand er? Wirkte das, wie Claire mit ihm umging, nicht irgendwie auf ihn? Konnte es vielleicht sein, daß ...?
"Guten Morgen, Leute und alles gute zum dreizehnten Geburtstag, Mademoiselle Claire!" Trällerte Barbara Lumière von der großen Wiese vor dem Wohnhaus, wo üblicherweise Besenflieger landeten. Dann sah sie Julius an, der mehr verlegen als glücklich aus der Umarmung Claires freikam. Er würde sich später mal die Fragen vornehmen und durchdenken, falls dies überhaupt noch möglich war, befand der Hogwarts-Schüler und wandte sich an Barbara.
"Gelaufen oder appariert?" Fragte er direkt heraus.
"Lümmel, ich bin appariert. Da mir jemand zum laufen weggeblieben ist, mußte ich eben schnell herkommen. Schön, wie du gespielt hast, Julius."
"Du hast uns zugehört?" Fragte Julius erschrocken.
"Es hat mich nicht krank gemacht, Bursche", bekam er es zurück. Ihm fiel ein, daß Barbara ja dann auch gesehen hatte, wie Claire ihn umklammert hatte. Wenn das rumging, würde man ihm bald nachsagen, daß er mit Claire schon fest verbandelt sei. Die Jungs, mit denen er sich auf Virginies ZAG-Party unterhalten hatte, könnten sich dann voll das Maul zerreißen.
"Seit wann bist du wach, Barbara?" Fragte Madame Dusoleil.
"Der Lunette-Wecker ging um drei, der Étée-Wecker folgte zwei Minuten später. Ich habe Maman beim Windelwechsel geholfen. Füttern mußte sie alleine. Sie sagte, ich bräuchte nich den Nutrilactus-Trank zu nehmen, nur bei Drillingen."
"Den was?" Fragte Julius für sich. Claire, die das hörte gab die Frage laut weiter. Barbara lachte wie ein albernes Schulmädchen. Dann sagte sie:
"Hat Madame Matine dir noch nicht erzählt, daß Hexen einen Trank nehmen können, um fremde Kinder zu stillen? Berufsmäßige Hexenammen können so zehn Kinder am Tag satt halten."
"Da ich vom Bauplan her sowieso nicht sowas kann hat mir die nette Madame Matine nur erzählt, was Männer besser lassen sollen, um keine Kinder zu produzieren", gab Julius nun frech zurück. Madame Dusoleil trat zu ihm und sagte:
"Oh, da habe ich aber was gehört, daß Jungen in Beauxbatons den Trank aus Jux gebraut und getrunken haben. Die bekamen davon eine hübsche Oberweite und mußten zu Schwester Florence, sich die überschüssigen Polster absaugen lassen. Sag also nicht, daß du das nicht könntest."
"Sicher, Säugetiere sind ja fast gleich gestrickt. Eine leichte Hormonverschiebung bringt's schon", gab Julius grinsend zur Antwort. Ein leichter Klaps seiner Gastmutter auf seine Hinterbacken war die Antwort.
"Das waren aber wohl die Blauen, die diesen Gag gebaut haben, wie?" Fragte Julius noch.
"Zwei Blaue und ein Roter", erwiderte Madame Dusoleil, die trotz des ernsten Themas das Lächeln nicht verloren hatte.
"Du bist ja einer. An meinem Geburtstag redest du mit größeren Hexen übers Kinderkriegen und Stillen. Was soll mir das sagen?" Wandte sich Claire mit einem hintergründigen Lächeln an Julius.
"Daß ich froh bin, daß du aus dem Alter rausbist, wo man sowas mit dir machen muß", parierte der Hogwarts-Schüler gekonnt. Claire lachte darüber und streichelte Julius über die linke Wange.
"Hat deine Maman gesagt, wann du wieder zu Hause sein sollst?" Fragte Madame Dusoleil Barbara. Diese sagte:
"Sie meinte, ich möge heimkehren, wenn ich Claire gratuliert habe. Da ich ja nicht eingeladen wurde, soll ich nur gratulieren und dann zurückapparieren."
"Ich spreche mal eben mit deiner Maman, daß du mit uns frühstücken kannst, wenn du schon einmal da bist", bot die Hausherrin an. Ihr Mann nickte zustimmend. Sie ging ins Haus und blieb dort eine Minute, in der Julius sie mit jemandem sprechen hören konnte. Er hatte das ein paar mal gesehen, wie Hexen und Zauberer sich durch zwei Kaminfeuer miteinander unterhalten konnten, wie durch Telefon. Wie genau das ging, hatte er jedoch noch nicht gelernt. Er hatte nur einmal mit einem Pulver, ähnlich wie Flohpulver, Madame Faucon durch das Feuer zurufen können, daß er zu ihr zurückkehren würde. Aber den Kopf so zu bezaubern, daß er aus dem lodernden Kaminfeuer einer anderen Zaubererfamilie herausschaute, war für ihn noch schleierhaft.
Es lief darauf hinaus, daß Barbara mit den Dusoleils und ihrem Gast frühstücken durfte. Beim Frühstück erzählte Barbara von ihrer Apparitionsprüfung und schilderte, wie sie fast mehrere Kilometer zu hoch über dem Zielpunkt aufgetaucht wäre. Julius fragte dann noch, ob man in festem Fels steckenbleiben könne oder an den Startpunkt zurückgeschleudert würde. Barbara grinste. Sie antwortete:
"Du wirst zwar abgedrängt, sofern in diesem Raum mehr Masse ist, als du selbst besitzt, so heißt es wohl bei den Muggelphysikern, allerdings purzelst du dann an einen Ort, der in der Richtung liegt, in der du beim Apparieren blicken würdest. Wenn du also in einen Berg reinapparierst, schubst der dich soweit vorwärts, bis du an seiner gegenüberliegenden Flanke herausploppst. Da du das im halbstofflichen Zustand mitbekommst und den Drall nicht mehr umkehren kannst, wirst du wie ein Gespenst auf der Flucht vor einem Geisterjäger durch alle Gesteinsschichten des Berges sausen, und zwar mit der im Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit. Warum das so ist, hat uns Professeur Bellart nicht erklären können. Es ist aber nachgemessen worden, daß es die Schallgeschwindigkeit ist."
"Hmm, dann ist man eher wie ein mechanischer Energiestoß, der sich durch den Berg fortpflanzt, aber nicht völlig darin verebbt", meinte Julius. "Irgendwo habe ich das im Buch über die Energien der Zauberkraft gelesen, daß sich magisch veränderte Materie bei einer mitgegebenen Bewegung innerhalb einer anderen Materie verschieben kann, aber nur so schnell, wie die Grundteilchen platzmachen können. Ich werde mir den Wälzer wohl noch mal reinziehen müssen, wenn ich mit dem Apparieren zu tun kriege."
"Das ist die Ruster'sche Substanzperfusionsformel", warf Monsieur Dusoleil ein. Julius merkte auf. Der Name Ruster war ihm im Zusammenhang mit seinen überragenden Grundtalenten der Magie geläufig. Aber er hatte gedacht, dieser Zauberer oder diese Hexe sei Heilerin gewesen, also nur für Lebewesen zuständig.
"Wenn du es nicht schaffst, richtig in den magischen Impuls einzutauchen, kann es zu einer solchen Materiedurchreichung kommen. Das passiert aber nur Lebendigen. Geister sind da anders beschaffen."
"Die haben ja auch keinen Körper im eigentlichen Sinne", wußte Claire einzuflechten.
"Sagen wir es so, der Körper ist nicht greifbar. Aber das jetzt zu erörtern würde uns beim Frühstück zu lange aufhalten", beschloß Monsieur Dusoleil, als er den etwas gelangweilten Gesichtsausdruck seiner Frau zur Kenntnis nahm. Vielleicht wollte sie auch nicht, daß ihr Mann und Julius sich in irgendwelchen abgehobenen Vermutungen verloren.
Barbara wurde in das Zeitungsvorleseritual einbezogen und las einen Artikel über den Streit zwischen dem amerikanischen Zaubereiminister, Jasper Poole mit Minister Grandchapeau über eine Lockerung des Drachenzuchtverbotes. Offenbar planten die amerikanischen Zauberer, in den unbewohnten Landstrichen größere Bestände aller Drachenarten anzuzüchten. Weil Grandchapeau ab dem 19. Juli den Vorsitz in der globalen Magieministerkonferenz (GloMaKo) innehatte, mußte er sich mit diesem Antrag befassen. Julius grinste nur. Irgendwie waren die Zaubererwelt und die Muggelwelt doch nicht so weit auseinander, dachte er. Denn in der Welt seiner Eltern stritten sich die Amerikaner auch oft mit der restlichen Welt in den vereinten Nationen, soweit er mit seinem kümmerlichen Verständnis für Politik da durchgestiegen war.
Julius las noch einen Artikel über Ronda Laveau, eine Enkelin der berühmten Voodoo-Hexe aus den Staaten, die in zwei Wochen nach Frankreich kommen wollte, um das Land ihrer europäischen Ahnenlinie zu besuchen.
Nach dem Frühstück verabschiedete sich Barbara und disapparierte. Jeanne und Julius flogen auf ihren Besen zum Ferienunterricht, wo heute der letzte Tag über Objektverfluchungen anstand.
"... Der wohl heimtückischste statische Objektfluch ist der Decompositus-Fluch, Mesdemoiselles und Monsieur. Er kann eine tödliche Falle und ein unüberwindliches Gefängnis darstellen, wenn jemand ihn gut beherrscht", begann Madame Faucon den Unterricht und schlug das Tuch von einem Holzkasten zurück, der auf dem Tisch stand. Julius sah sogleich, das dieser Kasten total blank war, als habe man ihn vor wenigen Minuten erst gesäubert. Madame Faucon stellte in respektvollem Abstand ein Glas voll Wasser auf und brachte dessen Inhalt durch eine schnelle Zauberstabbewegung zum sieden. Die Dampfschwaden stiegen auf, waberten über den Tisch und prallten wie fortgeblasen vom Holzkasten zurück. Sie schafften es nicht, ihn nur ansatzweise zu befeuchten. Julius schätzte, daß der doppelte Raum, den der Kasten sichtbar einnahm, frei von Wasserdampf gehalten wurde.
"An und für sich ein netter Trockenhaltezauber, nicht wahr?" Erkundigte sich die gestrenge Beauxbatons-Lehrerin und sah jeder und jedem mit ihren saphirblauen Augen genau ins Gesicht. Julius hob die Hand und bat so ums Wort.
"Könnte es sein, daß dieser Kasten mit eben diesem Fluch behext ist und der alles zerstreut, was Wasser enthält, also auch Dampf in der Luft?"
"Wenn er dies nur täte, wäre er harmlos", sagte Madame Faucon nickend. Dann schüttete sie den noch brodelnden Inhalt des Glases mit Schwung über den Kasten.
Mit einem lauten Zisch, gefolgt von einem violetten Blitz und einem kurzen Knall, verpuffte das Wasser, kaum daß es den Kasten berührte, als wenn dieser noch viel heißer sei, als die heißeste Herdplatte.
"Festzuhalten ist, daß dieser Fluch Wasserhaltige Gegenstände schlagartig entwässert. Da vieles aus wasserhaltigen Substanzen besteht, zerfallen diese folgerichtig", sprach die Hexenlehrerin und beschwor mit dem Zauberstab ein Stück Holz herauf, das sie von ihrem Sitzplatz aus genau auf den Kasten warf.
Ein kurzes Plopp, gefolgt von Knisternden blauen Funken, und das Stück holz zerfiel zu Staub. Es verbrannte nicht. Es löste sich innerhalb einer Sekunde vollkommen auf. Der Staub zerfiel wohl auch, denn der Kasten blieb glatt wie frisch poliert stehen.
"Mir schwant böses", dachte Julius für sich. Dann fragte er:
"Warum zerfällt der Kasten selbst nicht?"
"Weil er als materieller Fokus des Fluches dient und quasi von diesem zusammengehalten wird. Aber Sie können sich denken, was die Gefahr des Fluches bedeutet?"
"Das kein Lebewesen solch ein Objekt anfassen sollte. Wahrscheinlich würde es in Sekunden zu Staub zerfallen", vermutete Julius, nachdem er sich die Sprecherlaubnis geholt hatte. Madame Faucon sah ihn sehr zufrieden an. Dann zauberte sie noch ein Stück Holz aus dem Nichts herbei, verwandelte es in eine große Küchenschabe und ließ diese auf den verfluchten Kasten zulaufen. Kaum berührte einer ihrer Fühler den Kasten, knisterten ein blauer und ein violetter funke gegen das Tastorgan des Insekts. Dieses schnellte zwar zurück, doch der Fühler zerbröselte bereits, wie vertrocknetes Laub, auf das jemand trat. Dann traf es den Kopf der Schabe, der ebenfalls zerfiel. Langsamer, aber unaufhaltsam, fraß sich die Zersetzung den ganzen Insektenkörper entlang, bis dieser vollständig zu Staub zerfallen war. Keiner nahm dies gelassen zur Kenntnis. Alle schluckten hörbar.
"Bleibt was übrig, wenn ein Mensch diesen Kasten da anfassen würde?" Erkundigte sich Virginie schüchtern.
"Nicht einmal ein Knochensplitter", antwortete Madame Faucon kalt und trocken. Die Lektion war offenbar bei allen angekommen.
"Aber die Vernichtung setzte sich immer langsamer fort", wußte Seraphine die von allen gemachte Beobachtung auszudrücken.
"Weil mit dem Tod des Lebewesens die Stärke der Verheerung langsam abnimmt. Aber sie breitet sich aus, bis der ganze zusammenhängende Körper nicht mehr besteht. Dies ist der nach dem Todesfluch endgültigste Vernichtungsfluch der Zaubererwelt. Um der Vernichtung zu entgehen, muß er erst erkannt werden ...", setzte Madame Faucon an und beschrieb dann, daß neben der glänzenden Oberfläche, die wohl keinen Staub an sich heranließ, Wasserdampf- und Rauchabweisung zwei wirksame nichtmagische Erkennungsmöglichkeiten waren. Wollte man sichergehen, diesem Fluch zu begegnen, konnte man mit einem Holzspan prüfen, ob dieser Fluch vorhanden war. Man mußte den Span allerdings werfen, nicht mit der Hand heranführen oder telekinieren. Fernlenkmagie prallte an dem Objekt ab, was typisch für viele Flüche und Abwehrzauber sei. Dann erklärte Madame Faucon, wie auf magische Weise dem Fluch begegnet werden könne. Drachenhauthandschuhe waren zum Beispiel gute Isoliermittel, wenn man sie vorher mit dem Extrakt aus dem wandernden Firnfraß, einer antaktischen Zauberpflanze, die sich ins tiefe Eis eingraben und dort das gefrorene Wasser aufnehmen konnte, einrieb. So konnte Madame Faucon den verfluchten Kasten anfassen, ohne etwas zu erleiden.
Dann kamen die Gegenflüche, die sie zu diesem Thema lernen konnten. Irgendwann schafften es Jeanne und Julius, den Kasten zu entfluchen, was sich daran zeigte, das er nicht mehr spiegelblank glänzte, sondern rauh und dunkel wie gewöhnliches Holz aussah und eine erneute Wasserdampfwolke nicht zurückdrängte. Madame Faucon ließ noch mal eine Küchenschabe laufen, die unbeschadet über den Kasten spazierte, auf der anderen Seite wieder heruntersprang und weiterlief, bis die Lehrerin sie erstarren ließ und in einen einfachen Mantelknopf verwandelte.
"Ich werde mir doch keine Küchenschaben im Haus halten", sagte sie nur und legte für den endgültigen Test die Hand auf den Kasten, was allen Schülern den Atem raubte. Doch weil ihr nichts passierte, konnten alle wieder durchatmen.
"Ihre Grundkraft, Monsieur Andrews, erweist sich in Kombination mit ihrem Zauberstab als vorzüglicher Fluchbrecher."
"Apropos, Madame Faucon", setzte Julius ohne Sprecherlaubnis an, bereit, zu schweigen, wenn die Lehrerin auch nur streng guckte. Doch sie nickte und ließ ihn weitersprechen. "Diese Phiole, die die Körperflüche blockiert, könnte die auch ..."
"Einmal ja, Monsieur. Allerdings würde sie Ihnen wie ein überhitzter Druckkessel zerbersten und sie mit kochendem Inhalt verbrühen. Danach wären Sie dem Fluch ausgeliefert, wenn Sie noch mal ein entsprechendes Objekt anfassen", beantwortete Madame Faucon diese Frage.
"Dann lassen wir das besser", konnte Julius darauf nur sagen. Die Goldblütenhonigphiole, die er von Madame Faucon bekommen hatte, war zwar unzerbrechlich gehext, aber offenbar reichte das bei diesem mächtigen Fluch nicht aus.
"Decompositus ist, Sie werden es erraten haben, ein verbotener Fluch, der nur deshalb nicht als unverzeihlich gilt, da man ihn rechtzeitig erkennen kann. Aber jemand, dem man nachweist, ihn auf ein Objekt, womit auch ein Gebäude oder ein Fahrzeug gemeint sein kann, gelegt zu haben, landet für zwanzig Jahre in Askaban, zumindest solange dieses Gefängnis noch besteht."
"Wieso sollte Askaban nicht mehr ...?" Fragte Virginie und erbleichte. Auch die anderen erbleichten bei dieser Äußerung ihrer Ferienlehrerin. Wenn Voldemort Askaban angriff, die Dementoren davon überzeugte, daß sie mit ihm mehr Spaß hätten als mit den Ministern, würde dieses Gefängnis keinen Wert mehr für die menschenachtende Seite der Magie haben. Möglich, daß Voldemort es für seine Feinde umbaute und einige Dementoren dort zurückließ. Aber so oder so stand Askaban das Schicksal der französischen Bastille bevor, wo erst die Feinde des Königs und später die Todeskandidaten der Revolutionäre eingesperrt waren.
Nach dem Decompositus-Fluch, der noch an drei Objekten gezeigt und gekontert wurde, besprachen sie noch die Wirksamkeit verschiedener Wirkstoffe in der dunklen Magie, zum Beispiel Menschenblut an sich, wie auch Blut von geschlechtlich unberührten Menschen, Verbrechern und Leichen von Gewalttaten. Alles in allem war es für Julius wie ein Ausflug in die Welt der Schrecken, wo das möglich war, wovor sich sein Vater wohl fürchten mußte, wenn er es sich mit einer echten bösen Hexe oder einem mächtigen Dunkelmagier verdarb.
"Menschen- und Einhornblut, Schlangen- und Spinnengift in Verbindung mit Zaubern kehren diese immer in ihr dunkles Gegenteil um oder verstärken bereits dunkle Zauber. Das habe ich Ihren jüngeren Mitschülern gestern bereits erklärt und ihnen den Decompositus-Fluch vorgeführt. Leider konnte niemand von ihnen ihn aufheben. Aber zumindest haben Sie alle die Lektion verstanden. Dunkle Objektbezauberungen sind kein Scherz und auch nicht als Notwehrmittel erlaubt. Wer Seelenfallen, Eindringungsflüche, Körperveränderungen oder diesen Decompositus-Fluch auf ein Objekt oder einen Raum legt, zielt auf die Schädigung unschuldiger oder zumindest argloser Mitmenschen ab. Ich verbitte mir also, daß irgendwer von Ihnen jemals, ob in der Schule oder außerhalb, derartige Flüche praktiziert, wenn er oder sie nicht meinen verheerenden Zorn erfahren möchte", sprach Madame Faucon mit düsterem Gesicht. Zum Beweis, daß sie durchaus mächtige Strafen verhängen konnte, verzauberte sie eine Stubenfliege, die gerade auf der Fensterbank herumsummte, in einen Kieselstein. Jeanne und Julius erbleichten. Sie beide wußten schließlich, daß ein ursprünglich schon als Lebewesen entstandenes Tier oder ein Mensch auch im Zustand eines toten Objekts fühlen und seine Umwelt erfahren konnte. Die anderen beiden Mitschülerinnen sahen die beiden verdutzt, ja höchst verstört an. Doch sie wagten nicht, irgendwas zu sagen, um nicht in die von Madame Faucon erzeugte Atmosphäre der Drohung und Belehrung einzugreifen.
Auf dem Heimweg sprach Jeanne:
"Hast du dich also auch mal darauf eingelassen? Immerhin hast du ja fast die ganzen letzten Ferien von uns bei ihr gewohnt und wohl mit ihr deine Hausaufgaben besprochen."
"Mmhmm, Jeanne", brachte Julius sehr betroffen heraus. Jeanne lächelte ihn mitfühlend an und sagte:
"Es ist eine wichtige Erfahrung, die ihr in Hogwarts nie machen werdet und außerhalb viel Vertrauen voraussetzt. Damit hat sie dir was sehr einzigartiges gezeigt, was immer sie mit dir angestellt hat. Ist aber gut, daß du das niemandem in Hogwarts erzählt hast. Mich haben meine Freundinnen, allen voran die stramme Barbara, gerne damit aufgezogen, daß man mich doch mal soeben als Eulenpost heimschicken würde, wenn ich wem was böses getan hätte."
"Und in mir hätten diese Idioten alles abladen können", sagte Julius, der fand, daß es Fair sei, ein wenig über seine Erfahrung mit Verwandlungsexperimenten zu erzählen.
So flogen die beiden nicht sofort zum Dusoleil-Haus zurück, sondern landeten erst einmal in einem der Parks rund um das Dorf. Julius schilderte Jeanne leise, was ihm widerfahren war, als er im letzten Sommer in Millemerveilles war. Einmal schrak er zusammen, weil eine Biene, groß wie ein Streichholz, aus dem Gebüsch hinter ihnen aufflog und brummend um sein Gesicht zirkelte, bis sie befunden hatte, daß Julius keinen Nektar bereithielt, den sie sammeln konnte.
"Was war denn das für ein Vieh?" Fragte Julius, nachdem er die Urangst, die er vor schwarz-gelb geringelten Insekten hatte, niedergerungen hatte.
"Das war eine Arbeiterin aus dem Stock von Madame L'ordoux, die ungefähr einen Kilometer von uns weg wohnt."
"Ich dachte, hier könnten keine Insekten fliegen, weil ... Blödsinn. Das gilt ja nur für Mücken und Flöhe, Wanzen und Blattläuse, wenn ich deine Maman richtig verstanden habe", sagte Julius immer noch nicht ganz frei von Unbehagen. Natürlich mußten hier die wichtigen Bestäuber leben können, Bienen oder Wespen. Wahrscheinlich krabbelten auch irgendwo Ameisen auf den wilden Wiesen und zwischen den gestutzten Büschen in den Parks herum.
"Warum werden die so groß?" Fragte er noch.
"Die tun nichts, Julius. Die sind extra gezüchtet, Menschen nur zu umfliegen, aber nicht stechlustig. Das war wichtig, um die Erlaubnis zu kriegen, sie durch Schwellfutter anzuzüchten, das den Königinnen ins Gelee Royal gemischt wurde."
"Das was?" Fragte Julius, der davon noch nie was gehört und sich nebenbei auch nicht dafür interessiert hatte, was Bienenköniginnen fraßen. Jeanne grinste belustigt, ihn endlich einmal nicht sofort mit Wissen bei der Hand zu erwischen und erklärte es ihm, daß die Bienen immer unfruchtbar waren, solange sie keine bestimmte Substanz in das Futter junger Larven gaben, die dann zu vermehrungsfähigen Königinnen wurden. Julius nickte und fand, daß es doch mal interessant sein mußte, sich mit den Bestandteilen seiner größten Angst in Ruhe zu beschäftigen.
Dann flogen sie wieder zum Haus der Dusoleils zurück und aßen zu Mittag.
Am Nachmittag halfen Jeanne und Julius Monsieur Dusoleil und seiner Schwester beim Schmücken des Gartens. Julius reichte die Girlanden und Luftschlangen an, die dann an Bäumen und Büschen angebracht wurden. Madame Dusoleil arbeitete in der Küche, während Claire die Anweisung bekommen hatte, ruhig sitzen zu bleiben oder nur mit Denise zu spielen.
Um drei Uhr waren alle Dekorationen fertig, Julius ging ins Wohnhaus und holte sein Geschenk, das er in die ihm schon vertraute Geburtstagstruhe werfen würde, wenn Claire darum bat.
Um kurz vor vier ging es los. Die Gäste trafen ein. Julius hörte die magische Stimme, welche jeden Gast begrüßte, mindestens zwanzigmal. Er saß mit Monsieur Dusoleil im Werkstatthaus und wollte erst eintreten, wenn alle Gäste da waren. Madame Dusoleil, Jeanne und Uranie Dusoleil wiesen die Gäste ein, wo sie sich hinsetzen konnten. Julius sah, daß neben Jugendlichen, die wohl alle aus Claires Haus und Klasse stammten, auch Caro, Béatrice, Sandrine und das Pärchen Elisa Lagrange und Dorian Dimanche eintrudelte. Dann kam noch Seraphine angeflogen, schließlich noch Virginie.
"Die hat auch die komplette Ferienklasse eingeladen, wie du, Julius", bemerkte Florymont Dusoleil.
"Ich hoffe, mein Geschenk kommt bei Claire genauso gut an, wie bei Ihnen", äußerte Julius, daß er doch etwas nervös war, weil sich hier und heute herausstellen würde, ob seine ganze Arbeit an der Laterna Magica sich auszahlte. Sicher, er hatte in Hogwarts dafür fünfzig Punkte abgeräumt, besaß nun ein eigenes Patent und gehörte somit zu den Erfindern der Zaubererwelt. Aber eigentlich war es doch eher die "Rache für die Walpurgisnachthexen", wie Fredo Gillers es genannt hatte, daß Julius sich für das schöne und kurzweilige Kalenderbild Claires revanchieren wollte. Dies war das Ziel, und hier und heute würde es sich zeigen, ob er es erreichte oder nicht. Es könnte ihm auch passieren, das Claire ihm vor versammelter Mannschaft ein paar runterhaute, weil er sich so aufgespielt hatte, was er ihr denn wert sei, daß sie ihm dieses Bild gemalt hatte und er doch nur in Werten wie Leistung und Lohn denken würde.
"Du bist so nervös, wie ich es war, als Camille vor mir stand, ich auf den Knien, ihre Hand haltend, als sie mich kurz vor dem Schulabschluß auf den Besen gezogen hat. Ich wußte nicht, ob ich das jetzt wirklich fragen sollte, zumal einige Jungs um uns herumstanden, die dumme Sprüche von sich gaben. Aber dann habe ich sie gefragt, und sie hat zugestimmt", erzählte Monsieur Dusoleil. Dann meinte er:
"Wie auch immer das ganze heute abläuft, Julius, du hast dich nicht um sonst abgerackert. Die Laterne ist ein Prachtstück und wird der Arbeit gerecht, die du dir damit gemacht hast. Ich denke sogar, daß die gute Mirabelle Bellart noch gestern einen Express-Brief zu eurem Zauberkunstlehrer geschickt und sich erkundigt hat, ob das stimmt, daß ein Drittklässler eine so tolle Bastelei zusammenbekommen hat." Dann klopfte er Julius freundschaftlich auf die Schultern und sah wieder zum Hauseingang hinüber, wo gerade ein Familienbesen und ein Ganymed 8 landeten. Auf dem Familienbesen saßen eine Hexe in silbergrauem Festkleid mit weißem Spitzenbesatz und feuerrotem Haar, ein Mädchen, daß wohl acht Jahre alt war und ein Zauberer, der das gleiche schwarze Wellenhaar besaß, wie Madame Dusoleil und ihre Töchter. Auch seine Haut war ein wenig dunkler als üblich für Nordeuropäer. Auf dem Ganymed ritt ein Jungzauberer, der wohl nur zwei Jahre älter als Julius war, gekleidet in einem schnieken mitternachtsblauen Festumhang mit Stehkragen. Julius grinste. Er hatte seinen Festumhang auf Claires Wunsch auch angezogen, weil sie meinte, daß sie es verdient habe, mal eine richtige Gesellschaft zu geben und keinen Kindergeburtstag mehr feiere. Monsieur Dusoleil, der seinen grünen Festumhang trug, verzog etwas das Gesicht, als er die rothaarige Hexe ansah, die mit energischem Schritt auf das Haus zuging.
"Darf ich dir vorstellen, Julius: Das ist Cassiopeia Odin, meine Schwippschwägerin, also Camilles Schwägerin, Jeannes, Claires und Denises Tante. Der Mann dahinter ist mein Schwager Emil. Das Mädchen heißt Melanie und der schnieke Jüngling hört auf den Namen Argon. Die Kinder sind in Ordnung, der Onkel ist still und zurückhaltend. Ich hoffe nur, daß du keinen falschen Eindruck von Cassiopeia kriegst."
Julius grinste, weil er bei dem Namen Melanie an die ältere Nichte von Dr. Ryan Sterling denken mußte, die er in diesem Jahr in den Osterferien getroffen hatte. Da er nun über Madame Delamontagne erfahren hatte, daß Pinas Mutter Dr. Sterlings Schwester war, war Melanie auch die Cousine von Pina. Also hatte Claire auch eine Cousine gleichen Namens, was irgendwie lustig war.
"Camille kommt mit Uranie raus und begrüßt die Gäste", kommentierte Monsieur Dusoleil, was Julius ebenfalls sehen konnte. Der Hogwarts-Schüler vermutete, daß die Dusoleils mit dieser Familie wohl nicht so gut standen, daß sie derartig gespannt dreinschauten, als müßten sie einen Selbstbeherrschungstest bestehen.
"So, dann spucken wir der guten Cassie mal in die Suppe und gehen nach ihr rein", bestimmte Monsieur Dusoleil gehässig grinsend. Das bestätigte Julius, daß diese Gäste zwar geduldet, aber wohl nicht uneingeschränkt willkommen waren.
Eine Minute nach den Odins betraten erst Monsieur Dusoleil und dann Julius das Wohnhaus. Claire umarmte ihren Vater, küßte ihn auf die Wangen, ließ sich von ihm küssen und sah dann in ihrem rotgoldenen Tanzkleid, das schwarze Haar seidig glänzend auf Julius in seinem weinroten Festumhang, den er dieses Jahr schon sooft getragen hatte, wo er Catherine Brickston doch im letzten Sommer absprechen wollte, ihm sowas zu schenken. Dann trat er zu Claire hin und umarmte sie flüchtig. Sie dagegen drückte ihn an sich, sodaß er durch die Umhänge und Unterkleidung ihre aufblühenden Brüste spüren konnte.
"Es wurde Zeit, daß du auch kommst, Julius. Alle anderen sind schon draußen auf der Terrasse. Dein Geschenk ist diesmal wohl etwas sorgfältiger ausgewählt, wie. Es scheint dir wichtig zu sein, daß es nicht kaputtgeht", sagte Claire leise.
"Öhm, ja", erwiderte Julius schüchtern. Als er endlich wieder freikam ging er zielstrebig ins Wohnzimmer, wo er die große Truhe mit der Aufschrift: "Claire Dusoleil 07. 23. 1982" in goldenen Lettern sah. Sie öffnete sich und gähnte ihm mit einem abgrundtiefem schwarzen Nichts zu. Sein Geschenkpaket entglitt ihm unversehens und segelte zielgenau in dieses schwarze Nichts hinein und verschwand darin. Leise klappte die Truhe wieder zu. Dann ging Julius in den Garten hinaus, wo Monsieur Dusoleil gerade Madame Odin begrüßte.
"Heh, da ist ja auch Monsieur Andrews", flötete Seraphine, die neben ihrer Schwester Elisa saß, die rechts von Dorian flankiert wurde. Seraphine trug denselben Festumhang, den sie an seinem, Julius' Geburtstag angehabt hatte.
"Die Ferienklasse sitzt beisammen", hauchte ihm Jeanne von hinten zu. Sie stand offenbar bereit, Claire zum Ehrenplatz zu geleiten. Sie deutete auf den ersten freien Platz links neben Seraphine. Julius erkannte, daß drei Stühle unbesetzt blieben, denn Monsieur Dusoleil hatte sich bereits zu seiner Frau gesetzt, flankiert von seiner Schwester, während links von Madame Dusoleil ihr Bruder saß. Die Kinder saßen fast beieinander, von der kleinen Melanie abgesehen, die links von ihrer Mutter hingesetzt worden war, die sich von ihrem Mann flankieren ließ. Julius stellte fest, daß sein Platz so gelegen war, daß er in Längsrichtung über den Tisch die Odins ansehen konnte und sie ihn. Irgendwie gefiel ihm das zwar nicht, aber heute war Claires Geburtstag, und wenn sie das wollte, fügte er sich mal.
Als Julius saß, holte Jeanne Claire heraus, die sich wie zu erwarten war, direkt neben Julius niederließ, von ihrer Schwester flankiert. Neben Jeanne saß Caro und grummelte, weil sie offenbar nicht so gesetzt war, wie sie es gerne gehabt hätte. Auf jeden Fall war die Ferienklasse nun zusammen. Virginie saß rechts von Dorian und unterhielt sich mit Jasmine, einer Klassenkameradin Claires.
"An und für sich gehört es sich, daß der Mann links von der Frau sitzt", meinte Julius zu Claire. Diese grinste und machte eine bedeutende Handbewegung.
"Seraphine hält sich für eine. Dann sitzt du richtig."
"Klar", erwiderte Julius grinsend. Es war doch manchmal zu herrlich, welch schnelle Schlagabtausche er und Claire sich lieferten.
Cassiopeia Odin sah Julius etwas strenger an, als es für einen üblichen Geburtstagsgast nötig gewesen wäre. Doch sie schwieg. Der Hogwarts-Schüler konnte sich zwar nicht vorstellen, was der Tante Claires an ihm mißfallen könne, zog es aber vor, sich nicht darüber zu äußern.
Zunächst sangen alle Anwesenden ein Geburtstagsständchen für Claire. Danach trug Madame Dusoleil eine große Geburtstagstorte auf, ähnlich der, die sie für Julius gebacken hatte. Dreizehn Kerzen prangten auf dem großen runden Kuchen, zwölf außen, die dreizehnte im Zentrum. Alle warteten, bis Claire die brennenden Kerzen ausgeblasen hatte, dann klatschten die Geburtstagsgäste. Claire schnitt sich das erste Stück der Torte ab und teilte dann an die neben ihr sitzenden Gäste weitere Stücke aus. Die große Torte mit Schokoladenüberzug wurde weitergereicht, wobei sie Stück für Stück kleiner wurde. Als alle von diesem und zwei weiteren Kuchen Stücke auf ihren Tellern hatten, wünschte das Geburtstagskind einen guten Appetit und begann, zu essen.
Während des Kuchenessens entspann sich eine lockere Unterhaltung zwischen den Jugendlichen, die von Quidditch über Schach und Musik alle Themen kurz anschnitt. Jasmine fragte Julius, wie ihm Beauxbatons gefallen habe. Julius, der fand, daß er sich diplomatisch ausdrücken müsse, erwiderte:
"Ich denke, Beauxbatons ist eine gute Schule, die viel vermittelt, und die Lehrer sind nach dem, was ich mitbekommen konnte, sehr gut ausgewählt. Ich bin froh, daß man mich dort willkommen geheißen hat, was ich nicht für eine Selbstverständlichkeit halte."
"Ja, das ist ja bedauerlich, daß du nicht noch eine Woche bleiben konntest, um etwas von unserem Unterricht mitzukriegen. Unsere Tanzlehrer hätten sich bestimmt gefreut, dich kennenzulernen."
"Ja, das ist wirklich schade, Jasmine", sprang Claire ein. "Julius hat von unserem Schulleben ja nichts mitbekommen können. Aber wenn er nicht von Hogwarts fortgeht, muß er damit leben."
"Hogwarts ist im Moment die einzige Schule, Claire, wo ich mich richtig in die Zaubererwelt einleben kann. Die Leute da haben ungefähr die gleiche Umwelt gehabt und sprechen meine Muttersprache. Es ist trotz der Sprachlernzauber doch noch ein Unterschied, ob du in einer Schule klarkommst, wo alle eine Fremdsprache sprechen und schreiben", wandte Julius ein, der nicht zugeben wollte, daß ihn im Moment nichts dazu bewegen konnte, Beauxbatons zu besuchen, falls nicht drastische Situationen das notwendig machten. Außerdem kam seine Mutter mit den Lehrern in Hogwarts besser klar, zumal sie die ja schon zweimal besucht hatte.
"Julius meint, unsere Schule sei ihm zu kalt", warf Caro ungefragt und gehässig ein. Der Gemeinte errötete. Claire sah Caro an und erwiderte:
"Woher willst du das wissen? Julius war ja nur die paar Stunden da, und die waren von der Aufbruchvorbereitung geprägt. Da muß alles seine Ordnung haben."
"Wie ich das mitbekommen habe, kannst du dich sehr gut mit Erwachsenen und Kindern unterhalten. Das ist schon eine gute Ausgangssituation für Beauxbatons", warf Virginie ein.
"Das wird es wohl sein, Claire", bestätigte Julius, um das leidige Thema zu beenden.
Irgendwann im Verlauf des Gespräches wandte sich Claires Tante Cassiopeia an den Hogwarts-Schüler. Da sie nicht über die ganze Tischlänge hinweg rufen wollte, winkte sie ihm, zu ihr herüberzukommen. Claire und Jeanne sahen leicht verdutzt drein. Julius stand auf und schritt unbekümmert auf die andere Seite des Tisches hinüber. Die Hexe, die vorhin noch angekommen war, scheuchte ihre Tochter Melanie vom Platz auf und gebot Julius, sich neben ihr hinzusetzen. Melanie lief zu Claire und der restlichen Ferienklasse von Madame Faucon hinüber und sezte sich. Julius saß auf dem Stuhl und fragte sich, was nun kommen würde.
"Junger Mann, Camille berichtete mir, Sie wären im letzten Jahr von Professeur Faucon hergeholt worden, um hier Ihre Ferien zu verbringen. Sie wollte zwar nicht verraten, weshalb Sie herkamen, hat aber angedeutet, daß familiäre Probleme der Grund für Ihr Hiersein sind. Nun interessiert es mich, die ich natürlich gelesen habe, daß sie Ostern hier waren, mit wem meine Nichte Claire Umgang pflegt. Ich hörte sowas, daß Ihre Eltern wohl keine reinblütigen Zauberer seien."
"Hmm, kann man so sagen", gab Julius gerade noch so gefaßt zurück. Was wollte die Tante von Claire damit bezwecken? Warum nahm sie sich heraus, klären zu müssen, mit wem ihre Nichte umging oder nicht?
"Nun, welcher Art sind diese familiären Probleme, die Sie hergeführt haben?" Fragte Madame Odin direkt heraus. Julius erwiderte ruhig, obwohl es in ihm zu brodeln begann:
"Die Sache wurde vor wenigen Tagen bereinigt, Madame Odin. Außerdem glaube ich nicht, daß ich Ihnen gegenüber auskunftspflichtig bin. Sie werden mich entschuldigen, daß ich Ihnen diese Frage nicht beantworten werde."
"Entschuldigung, kann es sein, daß man Sie nicht korrekt über mich informiert hat? Ich arbeite im Zaubereiministerium in einer wichtigen Abteilung, in der der gesellschaftliche Umgang sehr bedeutungsvoll ist. Wenn also jemand aus keiner reinen Zaubererfamilie in das Leben meiner Verwandten eingreift, geht mich das sehr wohl was an, zumal Claire noch zu jung ist, um sich partnerschaftlich zu binden."
Julius fragte sich, in welchem Film er gerade war. Aber gewiß war es der falsche. Wie kam die ihm völlig fremde darauf, sich hier und jetzt in das Verhältnis zwischen ihm und den Dusoleils einmischen zu müssen und noch zu meinen, er hätte was mit Claire?
"Öhm, Verzeihung, Madame. Ich fürchte, Sie sind da einem Mißverständnis aufgesessen. Zum einen bin ich Gast der Familie Dusoleil und sehe es so, daß sie mit mir irgendwie klarkommen müssen und nicht Sie. Zweitens steht in diesem Zeitungsartikel überhaupt nichts, daß ich in irgendeiner Weise versucht hätte, Claire mit eindeutigen Absichten zu umwerben. Ich möchte meine Verwunderung bekunden, daß ich von Ihnen in eine Art Verhör genommen werde und stelle noch mal klar, daß meine Situation für Sie keine Bedeutung hat. Ich respektiere Ihr Interesse an meinem Hiersein und sage deshalb, daß ich letztes Jahr im Einvernehmen mit den Zaubereiministerien Englands und Frankreichs hier war und diesen Sommer von Madame Faucon und der Familie Dusoleil eingeladen wurde, wieder hier zu wohnen. Da ich denke, daß Sie mit den genannten Personen keine Probleme haben, wenden Sie sich bitte an diese! Ich fürchte nur, daß Sie von denen auch keine gefälligere Antwort bekommen werden", antwortete Julius so kühl und sachlich, wie es seine brodelnde Stimmung zuließ. Monsieur Dusoleil wandte ungehalten ein:
"Cassiopeia, mit wem meine Töchter, nicht nur Claire, sondern auch Jeanne und Denise, Umgang pflegen, bestimmen Camille und ich. Julius hat uns im letzten Jahr sehr kultiviert und interessiert unterhalten. Er teilt einige Hobbies meiner Frau und mir, tanzt sehr gut und ist, wie du gehört hast, sehr manierlich in seinen Umgangsformen. Was ficht es dich also an?"
"Florymont, daß ihr hier unter einer Käseglocke der Unberührtheit lebt, gereicht euch zu einer gewissen Entschuldigung. Aber die Welt außerhalb von Millemerveilles besteht aus mehr als Tanz und Schachturnieren. Ich ging davon aus, daß du Sympathien für den jungen Monsieur Dulac hegtest, den ich euch vor zwei Jahren vorgestellt habe. Seine Mutter arbeitet ja mit mir zusammen und hat schon eingeräumt, daß sie sich vorstellen könnte, daß Claire oder Denise mit ihm zusammenleben könnten", sagte Cassiopeia Odin und legte noch nach: "Die Leute tuscheln schon, das Sebastian zu gunsten eines dahergelaufenen Engländers auf eine gute Partie verzichten müsse. In unserer Welt ist es wichtig, fest Bande zwischen den wichtigen Familien zu knüpfen. Früher war es Sitte, daß die angesehenen Zaubererfamilien ihre Kinder einander zugeführt haben. Sind wir nun plötzlich doch auf Mischblüter angewiesen?"
"Häh?!" Machte Julius, der nun erst recht glaubte, in einem schlechten Film zu sein.
"Noch einmal und vielleicht zum besser mitschreiben, Madame Odin: Ob und mit wem Jeanne, Claire oder Denise zusammenkommen, betrifft außer die drei nur Camille und mich. Du kannst dich hier doch nicht aufspielen, wie eine alternde Königin, die ihre Dynastie retten will, indem sie sich in die Belange ihrer Verwandten einmischt. Außerdem kann Julius nichts dafür, daß seine Eltern keine Zauberer sind", brach es aus Monsieur Dusoleil heraus, den Julius hier und heute zum ersten mal richtig zornig erlebte. Madame Dusoleil rümpfte die Nase und sah dann ihren Bruder an.
"Emil, ich ging davon aus, daß deine Frau gelernt hat, sich nur noch mit ihren direkten Angelegenheiten zu befassen. Offenbar hat sie immer noch viel zu viel Zeit in ihrem Büro."
"Keine Zauberer?" Fragte Madame Odin, jedes Wort wie einen Dolchstoß hervorbringend. "Soll das etwa heißen, ihr habt einen reinen Muggelstämmigen hier unter eurem Dach zu Gast. Seid ihr denn noch zu retten? Wenn es stimmt, daß der Unnennbare wieder da ist, bringt ihr euch und eure Familie in größte Gefahr, wenn ihr solche Leute ..."
"Danke, ich habe genug gehört", sagte Julius unvermittelt kalt und stand ruhig aber entschlossen von dem Stuhl auf. Er wandte sich ab und ging den Tisch entlang. Béatrice, eine Klassenkameradin Claires, hielt ihn mit einem kurzen Wink auf ihrer Höhe auf und fragte:
"Wo hast du gelernt, dich so gut zusammenzureißen? Das sah ja aus, als wäre dir das völlig egal, was diese Frau da sagt."
"Ich hätte an ihrer Meinung nichts geändert, wenn ich sie blöd angemacht hätte, Béatrice", gab Julius kalt zurück. Béatrice fuhr erschrocken zusammen. Er fügte schnell hinzu: "Entschuldigung, Béatrice. Ich wollte dich nicht erschrecken. Wo ich das gelernt habe, mich so gut zu beherrschen? Ich habe als Kind wichtiger Eltern erfahren müssen, daß es nicht viel bringt, sich immer gleich auf einen Streit einzulassen. Aber irgendwo gibt es für alles eine Grenze."
"Hör zu, Muggelbrütiger! Mir mißfällt das, daß jemand wie du meine Verwandten derartig behelligt!" Mußte Cassiopeia dem Jungen noch nachrufen, so laut, daß es alle hören konnten, hören mußten.
"Wer ist die denn, daß sie meint, so rumpöbeln zu müssen?" Fragte Caro Renard sehr ungehalten, als Julius an ihrem Platz vorbeiging.
"Niemand, mit dem ich mich abgeben muß, Caro. Niemand, dessen Meinung für mich wichtig ist", gab der Hogwarts-Schüler kühl zur Antwort und kehrte an seinen Platz zurück. Er sah, wie das Mädchen Melanie auf dem Stuhl kauerte, während Claire und Jeanne sehr finster dreinschauten. Das kleine Mädchen schien zu fürchten, Julius könne sich an ihm vergreifen, weil seine Mutter wohl was böses gesagt hatte. Julius sah die beiden älteren Dusoleil-Schwestern an und sagte:
"Ich habe nicht gewußt, daß ich eine ministerielle Anfrage an deine Tante richten lassen müßte, hier zu sein. Am besten schreibe ich Madame Grandchapeau, vielleicht auch ihrem Mann, daß ich als Fremder hier die hiesigen Sitten respektieren und mich dezent verabschieden muß, weil eure Tante keine Muggelstämmigen mag, was ich respektieren muß, nachdem ich im letzten Jahr welche erleben mußte, die nicht gerade zur verbesserung unseres Rufes beitragen wollten."
"Blödian!" Fauchte Claire und zog Julius am Festumhang zu sich heran.
"Die Frau spinnt. Seit Jeanne in Beauxbatons ist, hängt sie sich in alles rein, was wir machen. Sie meint, sie müßte eine geordnete Familie vorweisen, wenn sie in ihrem Beruf weiterkommen will. Diese Frau war eine Violette, eine von denen, die ihren eigenen Erfolg über Rücksichtnahme auf andere stellen. Daß Onkel Emil die geheiratet hat, versteht von uns keiner."
"Hast du mitgekriegt, was mir die hochherrschaftliche Dame unterstellt hat, Claire? Die meint, ich würde dich ihrem Wunschkandidaten für eine Hochzeit wegnehmen. Das alles nur wegen dieses Chermot-Artikels von Ostern."
"Wie war das?" Fragte Virginie interessiert. Julius gab schnell einen kurzen Bericht wider, was Cassiopeia Odin ihm in wenigen Worten vorgehalten hatte. Virginie verzog das Gesicht und stand dann auf.
"Maman sagte schon, daß diese Dame eine typische Mitläuferin ist. Die meint, sich mit allen gut stellen zu müssen, die Macht und Einfluß haben. Und wenn es der Unnennbare persönlich sei."
"Mann, hör auf", quiekte Melanie, der Tränen über die Wange rannen, weil alle schlecht von ihrer Mutter sprachen. Julius schluckte eine gehässige Bemerkung, das Mädchen könne ja anstatt Claire mit diesem Wunschkandidaten verheiratet werden und sagte:
"Kleine Mademoiselle, ich kann nichts für meine Eltern, du kannst nichts für deine Eltern. Also mach dir keine Gedanken darum!"
Virginie ging auf ihrer Seite des Tisches entlang zu Madame Dusoleil und flüsterte ihr was zu. Dann ging sie kurz ins Wohnhaus, vielleicht zur Toilette. Julius setzte sich neben Melanie Odin auf den freien Stuhl. Die Kleine sprang auf, als bedrohe der Hogwarts-Schüler sie und eilte zu ihrer Mutter zurück. Claire klopfte unmißverständlich auf den nun freien Stuhl. Julius zögerte einige Sekunden, dann schlüpfte er wieder auf den ihm zu Beginn der Feier zugewiesenen Platz.
"Du wohnst bei uns, und wie wir mit dir klarkommen, ist unsere Sache", wandte sich Jeanne an Julius, wobei sie sich hinter Claire vorbeibeugte.
"Solche Leute wie du haben die Zaubererwelt erst in diese Bredullie getrieben, Muggelbrut!" Rief Madame Odin. Julius ließ diese absolut ungehörige Beschimpfung an sich abprallen. Claire sah ihre Tante an. Dann hörten sie alle, wie Madame Dusoleil, die sich zur vollen Größe erhoben hatte, etwas sagte:
"Cassiopeia! Du weißt offenbar nicht mehr, wie man sich benimmt, wenn man zu einem Fest geladen ist. Ich ging davon aus, deine Stellung im Ministerium hätte dich zu mehr diplomatischem, ja höflichem Verhalten anregen müssen. Offenbar habe ich mich in der Einfalt der unter einer Käseglocke lebenden Landhexe geirrt und du mußt dich nicht beherrschen. Ich stelle nur fest, daß weder Florymont, Uranie oder ich Probleme mit Julius' Abstammung haben, ja gelernt haben, daß nicht die Abstammung zählt, sondern das Verhalten. Außerdem willst du doch nicht behaupten, daß deine Urgroßeltern alles reinblütige Zauberer und Hexen waren. Ich gebe dir also den gut gemeinten Rat: Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein! Falls du wirklich Probleme mit Claires Gästeliste hast, steht es dir frei, hier und jetzt wieder abzureisen. Ich lasse bestimmt nicht zu, daß jemand Claires Geburtstagsfeier derartig ausfällig stört. Also überlege es dir gut!"
"Ich weiß, daß ich dir ja sowieso nicht willkommen bin, Camille. Deine lässige Art, gesellschaftlichen Umgang zu pflegen, bedarf ja keiner Beschreibung oder weiteren Bemerkung. Ich kam her, um sicherzustellen, daß Claire an diesem Geburtstag beginnt, für ihr späteres Leben Verantwortung zu übernehmen und ..."
"Maman, schmeiß sie raus!" Stieß Claire unvermittelt aus. Julius sah, wie sich das Gesicht der nun Dreizehnjährigen so rot gefärbt hatte, als habe sie fünf Stunden in der prallen Sonne gelegen und sich total verbrannt. In ihren dunkelbraunen Augen glitzerten Tränen. Julius wußte nicht, ob es Tränen der Wut oder Traurigkeit waren. Auf jeden Fall war der ganze Körper des Mädchens angespannt wie eine auseinandergezogene Stahlfeder.
Mit einem scharfen Knall apparierte Dorfrätin Eleonore Delamontagne auf der Wiese vor dem Wohnhaus und kam mit weit ausgreifenden Schritten herüber. Sie trug ein langes bordeauxrotes Satinkleid und wirkte so, wie eine Kriegerin, die den Feind erblickt hat und zum Angriff übergeht.
"Du undankbares Geschöpf wagst es, mich zu beleidigen, deine Tante?!" Donnerte Cassiopeia Odin. Ihr Mann sank auf seinem Sitz immer mehr zusammen und warf seiner Schwester verzweifelte Blicke zu. Offenbar wußte er nicht, was er tun sollte. Argon, der halbwüchsige Sohn saß steif auf seinem Stuhl und trug eine Maske der unterdrückten Gefühle zur Schau. Melanie kauerte neben ihrer Mutter, die meinte, sich immer noch derartig ungebührlich aufspielen zu können.
"Es kommt zwar selten vor, daß ich mich in Familienangelegenheiten einmische, Mesdames et Messieurs", sagte Madame Delamontagne, als sie auf einen Meter an den Festtagstisch herangetreten war, "doch ich wurde informiert, daß hier jemand einen Gast unserer Gemeinde beleidigt, ja förmlich niederträchtig behandelt. Was soll das Theater hier, Madame Odin?"
"Wollen Sie etwa einräumen, dieser Muggelbastard dort sei ein angesehener Gast Ihrer Gemeinde, Madame Delamontagne? Haben Sie meiner Familie diesen Abkömmling kulturloser Personen angedient?"
"Wie bitte?! Sie wagen es, nicht nur Monsieur Andrews zu beleidigen, sondern auch noch mich? Sind Sie nun dem Wahnsinn anheim gefallen, Cassiopeia? Um dies eindeutig klarzustellen: Monsieur Julius Andrews ist ein gern gesehener, durch gutes Benehmen und kultivierte Umgangsformen positiv aufgefallener Gast unserer Dorfgemeinde und kann nichts für seine Abstammung. Er wurde als einer der Unseren erkannt und befindet sich in der korrekten Ausbildung seiner Zauberkräfte. Es tut mir leid, daß Sie offenkundig nicht verwinden können, daß die von Ihnen lancierte Wunschehe zwischen Claire Dusoleil und dem jungen Monsieur Dulac vielleicht nicht zu Stande kommt. Aber ich kenne Camille, Florymont und Uranie doch etwas besser als Sie und vermag zu beurteilen, daß ihnen schon daran gelegen ist, ihre Kinder und Nichten wohl versorgt zu wissen, egal, ob heute oder in einigen Jahren. Verzichten Sie also zu Gunsten von Sitte und Anstand auf diese halbinfantile Zankerei und auch auf die Beleidigungen gegen den jungen Monsieur Andrews!"
"Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie um Ihre Meinung ersucht zu haben, Eleonore", fauchte Madame Odin. Ihr Mann sammelte derweil seine Kinder ein. Argon kam fast unbemerkt von seiner in einer unverständlichen Wut gefangenen Mutter zu Claire und sagte:
"Mädchen, tut mir leid, daß Maman im Moment so fies drauf ist. Ich wollte deinen Geburtstag nicht kaputt machen. Papa meint, es ist besser, wenn wir mit Maman abrücken. Du und ich wissen, daß die Kinder aus Muggelfamilien nicht so schädlich sind, wie Maman es behauptet. Bursche, Julius heißt du doch? Lass dich nicht kleinkriegen! Es laufen zu viele Idioten und -innen rum. War aber nett, daß du meiner Schwester Mut gemacht hast, daß es nicht unsere Schuld ist", sagte Claires Cousin und hieb Julius kräftig auf die Schultern. Julius wandte sich an den Jungen:
"Du bist nicht für deine Mutter verantwortlich, selbst wenn ich das nicht entschuldigen kann, was sie sich geleistet hat. Mach's gut, Argon."
Monsieur Odin und sein Sohn holten die Besen, während sich Madame Delamontagne und Madame Odin noch stritten. Madame Dusoleil hielt sich zurück, während die übrigen Gäste tuschelten. Julius vermeinte herauszuhören, daß einige von ihnen noch nicht gewußt hatten, daß seine Eltern Muggel seien. Claires Gesicht war zwar nicht mehr so wutrot, aber Tränen liefen ihr die Wangen herunter, rollten über ihre Nase und tropften auf den Saum des rotgoldenen Tanzkleides. Julius fischte in eine Tasche seines weinroten Umhangs und zog ein weißes Stofftüchlein heraus, das er Claire reichte. Das Mädchen, das heute nur seinen dreizehnten Geburtstag feiern wollte, nahm das Tuch und trocknete sich damit die Tränen.
"... Wenn das so ist, werden wir uns hier und jetzt verabschieden", beendete Madame Odin die völlig sinnlose Zankerei mit der Dorfrätin für Gesellschaftsangelegenheiten. Sie warf sich herum und sah, daß ihre Familie bereits die Besen bestiegen hatte. Sie rief noch:
"Emil, wir holen unsere Geschenke wieder! Ich lasse mich doch nicht von dieser undankbaren Göre herunterputzen und anfauchen!"
"Das dürfte schwierig werden", flötete Florymont Dusoleil vergnügt. "Die Geschenke liegen in der Wandelraumtruhe und können nur von der Person herausgezogen werden, deren Ehrentag gefeiert wird, wenn nicht gerade Weihnachten ist. Aber keine Sorge, Cassiopeia. Falls Claire nicht darauf besteht, dein Geschenk zu behalten, bekommst du es per Expressdienst zurück."
"Du und deine albernen Zauberspielsachen!" Fauchte Madame Odin, dann trollte sie sich mit ihrer Familie. Argon sah reuevoll noch mal zu Claire hinüber, die immer noch wie vom Donner gerührt dasaß, Julius' bezaubertes Reinigungstuch in der rechten Hand. Dann flogen die Odins davon, ohne weiteres Wort des Abschieds.
"Eleonore, möchtest du vielleicht noch eine Tasse Kaffee?" Fragte Madame Dusoleil, als die zwei Besen nicht mehr zu hören und zu sehen waren. Die Dorfrätin nahm das Angebot an und dirigierte Virginie wieder an ihren Platz.
"Na, hast du deiner Mutter gepetzt, daß hier eine Muggelhasserin herumhängt", trällerte Julius leise, lächelte dabei jedoch jenes Klein-Jungen-Lächeln, mit dem er schon als Dreijähriger manche Bestrafung für böse Taten verhindert hatte. Virginie grinste, weil sie die Ironie verstanden hatte, mit der Julius das gesagt hatte.
"Die Dame hängt in der Abteilung für magische Volkskunde herum, leitet das Büro für Regionale Zaubereikultur und spielt sich auf, als sei sie die Zaubereiministerin persönlich. Das ist ja schon ein starkes Stück, daß sie ihre nicht direkten Verwandten verbandeln will, bevor die überhaupt durch die ZAG-Prüfungen sind. Das kannte ich auch noch nicht, daß jemand so drauf ist."
"Warum haben Maman und Papa die Gewitterhexe überhaupt eingeladen?" Schniefte Claire, die immer noch mit der Demütigung zu kämpfen hatte, welche ihr passiert war.
"Meine Schuld, Julius! Ich hätte es wissen sollen, daß Emils Frau ihre Angst vor dem Unnennbaren in blanken Hass auf Muggelstämmige umsetzt. Ich verstehe meinen Bruder immer noch nicht, daß er sich von dieser Person herumschubsen läßt."
"Ob Sie's glauben wollen oder nicht, ich bin schlimmeres gewöhnt, Madame. War vielleicht die wichtige Erfahrung für mich, daß nicht unbedingt alle mit mir gut klarkommen wollen. Wundern tut es mich allerdings schon, daß sie ihren Ruf derartig aufs Spiel setzt. Und für Claire tut's mir Leid", erwiderte Julius, der die innere Wut langsam niederringen und sie in ein Gefühl der grenzenlosen Verwunderung umwandeln konnte. Dann hing Claire auf Einmal mit ihrem rechten Arm um seinen Brustkorb und schmiegte sich an ihn. Ihre Mutter und ihre Schwester ließen ihr das durchgehen.
"Daß du das so einfach wegsteckst. Sie hat dich doch auch beleidigt", seufzte sie. Julius holte tief Luft, wobei er aus Versehen eine schwarze Haarsträne der dreizehnjährigen Gastschwester in die Nase bekam und den Kopf schnell zur Seite drehte, um nicht auf den Tisch zu niesen. Dann lachte er.
"Du hast mich eingeladen, Claire nicht sie. Damit hätte sie sich als erwachsene Frau abfinden können. Meine Eltern waren auch nicht mit meinen Freunden zufrieden, mußten aber einiges ertragen. Mein Vater hätte sich niemals so aufgeführt, nicht als Gast unter Gästen. Der hätte hübsch mitgefeiert und sich dann auf dem Nachhauseweg erst aufgeregt."
"Du bist auf jeden Fall willkommen, Julius. Cassiopeia muß krank sein, daß sie derartig ausfällig wird", knurrte Madame Dusoleil. Julius erinnerte sich daran, wie der Großvater seiner Mutter im hohen Alter immer bösartiger geworden war. Von einem liebenswürdigen Mann der ihn als Vierjährigen auf dem Schoß geschaukelt und ihm Seemannslieder vorgesungen hatte, sehr zum Unwillen seines Vaters, war er zu einem sehr aggressiven Mann geworden, der alles und jeden anschrie und beschimpfte, bis er starb. So nickte der Hogwarts-Schüler zustimmend. Madame Dusoleil pflückte ihn sacht aus der Umarmung ihrer mittleren Tochter und küßte ihn sanft auf die rechte Wange.
Nach dem Kaffeetrinken unterhielten sich alle wieder über Dinge, die ihnen Spaß machten. Madame Delamontagne kam noch einmal zu Julius herüber und beglückwünschte ihn zu seiner hervorragenden Selbstbeherrschung. Julius meinte:
"Die Dame kann froh sein, daß ich mal gelobt habe, keine Frauen und Mädchen zu schlagen und mein Karatetrainer mir erklärt hat, daß man wahre Größe beweist, wo andere einen klein sehen wollen. Ich bin von den Slytherins heftigere Pöbeleien gewohnt."
"Sie war nur Gast hier, genau wie du, Julius. Gäste sollten sich untereinander achten, um den Gastgeber zu ehren. Ich schreibe Nathalie, wieso eine derartige Entgleisung einer hohen Beamtin geschehen kann."
"Oh, bitte, veranstalten Sie meinetwegen keinen Sturm im Wasserglas, Madame!" Wandte Julius ein. Madame Delamontagne räusperte sich und sagte entschlossen:
"Sie wird ja wohl nicht erst deinetwegen derartig die Haltung verloren haben. Ich als Bürgerin in Amt und Würden werde mir das zumindest nicht bieten lassen, das unbeherrschte Hexen und Zauberer in den ministerialen Abteilungen arbeiten. Insofern tue ich das nicht wegen dir."
"Hmm, aber sie wird darauf schließen, daß es wegen dieses Zirkusses hier zu einer Verwarnung oder dergleichen kommt", wußte Julius noch ein Argument anzubringen.
"Junger Mann, ich kenne Nathalie Grandchapeau gut genug, um mit der gebotenen Feinfühligkeit vorzugehen. Wie gesagt: Eine derartige unsinnige, verwerfliche und unverzeihliche Entgleisung werde ich mir als französische Hexe nicht schweigend ansehen. Das wird die werte Madame Odin auch bedenken müssen, daß sie sich hier und heute sehr schlecht empfohlen hat. So, und ich werde nun zurückkehren und die liegengebliebene Arbeit fortführen."
"Oh, Maman, dann wäre es besser gewesen, wenn ich dich nicht angerufen hätte?" Erkundigte sich Virginie verlegen. Ihre Mutter schüttelte den Kopf mit dem langen strohblonden Zopf.
"Es mußte jemand einschreiten, der nicht durch familiäre Hemmnisse zur Zurückhaltung gezwungen war. Außerdem ging mich dieser Vorfall auch etwas an, da ich ja auch für Monsieur Andrews' Aufenthalt hier verantwortlich bin und dieser Dame das auch klargemacht habe. Amüsier dich noch schön, Cherie!"
Die Dorfrätin ging auf die große Wiese und verschwand unvermittelt im Nichts.
Um die leicht verdorbene Stimmung wieder aufzulockern schlug Madame Dusoleil vor, daß Claire ihre Geschenke auspacken möge. Das Geburtstagskind stand auf und ging mit strahlendem Gesicht ins Haupthaus der Dusoleils. Ihre verbliebenen Gäste folgten ihr, und so sahen sie zu, wie Claire im Wohnzimmer die Geschenke aus der Wandelraumtruhe fischte: Bücher, wohl auch schon für ihre neuen Fächer, neue Schuhe, Kleider und Halsketten, sowie eine Tüte mit Fruchtschaumschnecken. Von ihren Eltern bekam sie vergoldete Armbänder und einen kleinen Kasten, der ein in Drachenhaut gebundenes Tagebuch enthielt. Der Kasten konnte so verschlossen werden, daß nur der Eigentümer an das Tagebuch kam. Das Geschenkpaket von den Odins, was wohl Bettwäsche oder ähnliches enthielt, weil es weich und groß verpackt war, gab Claire ohne Worte an ihre Mutter weiter, die es mit verkniffener Miene aus dem Wohnzimmer trug. Dann förderte sie Virginies Paket aus dem schwarzen Nichts des Wandelraumzaubers in der Truhe. Sie packte es aus und hielt ein großes in königsblaues Leder gebundenes Buch hoch, auf dessen Deckel eine kleine zerbrechlich wirkende Frau mit fast weißen, blonden Haaren abgebildet war, die durch eine Brille mit zehneckigen Gläsern schelmisch dreinschaute. Sie trug ein wolkenweißes Rüschenkleid. Claire strahlte mit der Sonne um die Wette und hielt das Buch hoch.
"Kunst durch Wandel!" Jauchzte Claire und hielt das Buch noch höher, wie einen Siegerpokal nach einem erfolgreichen Endspiel. Julius trat näher heran und las den wie von einem verspielten Mädchen mit verschiedenen Buntstiften aufgemalten Namen MAYA UNITTAMO. Er hatte diesen Namen schon gehört. Barbara Lumière hatte ihm vor kurzem erklärt, daß es sich bei der Trägerin dieses Namens um jene Hexe handeln sollte, die für Beauxbatons und die amerikanische Schule Thorntails das Lehrbuch für den Verwandlungsunterricht geschrieben hatte. Laut Madame Dusoleil sollte sie schon 96 Jahre alt sein. Außerdem würde sie im August zu einem Besuch nach Millemerveilles kommen, hatte Barbara ihm noch erzählt. Claire freute sich sichtlich. Alle im Raum wußten, daß Verwandlung ihr Lieblingsfach in Beauxbatons war, obwohl sie von der Mutter her auch eine gute Kräuterkundeschülerin war.
"Das ist in der siebten Auflage draußen, Claire. Ich mußte es vier Wochen vorbestellen", berichtete Virginie.
Seraphine hatte Claire ein Buch über moderne Tänze der Zaubererwelt mit sich bewegenden Illustrationen geschenkt, während Elisa und Dorian ihr eine rauminhaltsvergrößerte Gießkanne gebastelt hatten. Schließlich fischte sie das längliche Paket von Julius Andrews aus dem schwarzen Wandelraum und las kurz die Aufschrift, daß sie damit vorsichtig sein müsse, weil zerbrechliche Teile darin seien. Sie packte es auf dem großen Tisch aus und staunte zunächst über die Schachtel mit den dreißig Glasplättchen, auf denen bereits sich bewegende Bilder zu sehen waren. Als ihr Vater jedoch herantrat und ihr zeigte, was sie damit anstellen konnte, nämlich eines dieser Plättchen zwischen Lichtquelle und Linse einer besonderen Laterne zu legen und die Kerze anzündete, staunten alle nur noch, außer dem Erfinder dieses Spielzeugs.
Claire hatte zunächst den Wald mit dem Einhorn eingelegt, das räumlich und lebendig über eine Kräuterwiese trabte und dann geschwind im Wald untertauchte. Claire staunte über diese feine Abbildung und legte die nächste Glasplatte ein, einen Wasserfall, der wie aus hunderten von Metern Höhe einen Hang hinabdonnerte, laut und naturgetreu. Eine Minute lang besah sich das Geburtstagskind diese Abbildung, bevor sie weitere Glasplättchen ausprobierte, wobei sie erst die Mondlandschaft mit der am schwarzen Himmel stehenden Erde nahm, dann die Meerjungfrau, dann einen ausbrechenden Vulkan, der risige Rauch- und Feuersäulen in den Himmel spuckte, bevor zähflüssige rotglühende Lava mit auf ihrer Oberfläche tanzenden Flämmchen am Kraterrrand herablief. So probierte sie alle Bilder durch, bis sie zum Schluß den naturgetreuen, jedoch körper- und so auch harmlosen Drachen in den Raum projizierte, der brüllend und fauchend herumging und von Zeit zu zeit einen Feuerstrahl ausspie. Als alle dreißig Bilder einmal gezeigt worden waren, klatschten die Geburtstagsgäste Beifall. Claire packte die Zauberlaterne sorgfältig weg und ging mit freudestrahlendem Gesicht auf Julius zu. Dieser bangte darum, in eine weitere innige Umarmung genommen zu werden und fand sich bestätigt, als das junge Mädchen ihn sicher und begeistert an sich zog. Dann kniff sie Julius unauffällig in die Seite und fragte leise:
"Wieviele Punkte hat man dir in Hogwarts dafür gegeben? Du möchtest mir doch nicht erzählen, daß du die nur der Punkte wegen gebaut hast, oder?"
"Hmm, kein Kommentar", erwiderte Julius leicht verlegen. Er fühlte sich merkwürdig wohl und doch unbehaglich, wie Claire ihn fest aber nicht verkrampft umklammert hielt.
"Du hast die selber gebaut. Diese Ideen und die Sorgfalt können nicht aus einer Serienfertigung stammen. Wolltest du mir nur ein entsprechendes Geschenk machen, weil dir das Bild zu Weihnachten so gut gefallen hat?"
"Öhm, ja das auch", brachte Julius gerade so heraus. Caro meinte ungefragt:
"Soll das jetzt ein reines Mädchen- oder Jungenspielzeug sein, Julius?"
"Das ist kein Spielzeug, sondern ein Kunstwerk", entgegnete Virginie ehrfurchtsvoll. "Besonders die Landschaftsbilder sind sehr gut herausgearbeitet. Allerdings fürchte ich, daß der naturgetreue Schein eines bretonischen Blauen in Beauxbatons nicht gerade mit Humor aufgenommen wird."
"Ich frage dich nicht, wie lange du daran herumgebastelt hast, Julius. Ich will das gar nicht wissen. Ich freue mich, daß dir soetwas schönes und gutgebautes gelungen ist und du es mir geschenkt hast."
"Hmm, ein Bettnachbar von mir meinte, das sei die Rache für deine Walpurgisnachthexen", gab Julius grinsend zum besten.
"Ach, dann haben ihm meine Hexen mißfallen?"
"Nicht die Bohne, Claire! Er meinte nur, daß kein Junge es wert sei, daß ein Mädchen sich sowas aufhalst. Wahrscheinlich wird es Mädchen geben, die dasselbe von dieser Laterne ..."
"Wie hast du das denn hinbekommen, Julius? Illusionen sind doch erst in der fünften Klasse dran", bemerkte Jasmine, die Claire anstrahlte.
"Viel lesen und rumprobieren, bis was brauchbares rauskommt", erwiderte Julius.
"Madame Faucon hat dich schon richtig eingeteilt, du Lümmel", meinte Virginie. "Die große Dame weiß eben doch, was sie von jüngeren leuten zu halten und zu erwarten hat. Immerhin hat sie dich ja auf die Zaubermalerei gebracht. Ist das schwer, sowas zu bauen?"
"Man weiß, was man getan hat, wenn sie einmal fertig ist. die Laterne an sich ist einfach. Aber die Glasplättchen mit den Bildern sind die knifflige Sache. Und wenn du die Bilder soweit hast, wie du sie haben willst, muß da noch ein Geräuschemuster drauf", sagte Julius. Claire, die wußte, wie schwer es war, ein gewöhnliches Wandbild zu malen, nickte anerkennend. Dann bedankte sie sich noch mal bei Julius und verstaute die Laterne sorgfältig.
Nachdem Claire auch das letzte Geschenk ausgepackt hatte, gab es Abendessen. Julius saß links von Mademoiselle Dusoleil und rechts von Claire. Caro saß neben Clement, was Jasmine, die links von diesem semmelblonden Jungen saß, offenbar nicht besonders behagte. Während des Abendessens, das sieben Gänge beinhaltete, wurde mit keinem Wort mehr der Vorfall vom Nachmittag erwähnt. Claire erkundigte sich bei Julius, ob dieses Mondlandschaftsbild wirklich mal von einem Muggel so gesehen und fotografiert worden sei. Julius nickte und erzählte noch mal die Geschichte der amerikanischen Mondlandungen. Mademoiselle Dusoleil fragte:
"Mal abgesehen davon, daß du Claire ein sehr schönes, technisch und schöpferisch hochwertiges Geschenk gemacht hast, hattest du noch andere Absichten mit dieser Zauberlaterne?"
"Sagen wir's so: Ich habe sie beim britischen Zaubereiministerium, bei der Abteilung für magische Erfindungen registrieren lassen. Vor ein paar Tagen kam die Bestätigung, daß sie nun patentiert ist und ich damit machen kann, was mir gefällt, also mit den Bauplänen, nicht mit dieser Laterne, die Claire jetzt hat."
"Du meinst, sowas könnte sich gut verkaufen lassen?" Fragte Claire. Julius hatte für diese Frage schon die entsprechende Antwort parat:
"Nur dann, wenn du mir nicht sagst, daß nur du allein sowas haben möchtest. Das Patent regelt nämlich, daß außer mir und von Leuten, denen ich das erlaubt habe, nachgebaut wird und von keinem anderen. Wenn du mir also sagst, daß du alleine diese Laterne haben möchtest, werde ich das berücksichtigen. Ansonsten kenne ich mindestens zwei Leute, die sich dafür interessieren, sie in Lizenz zu bauen und zu verkaufen, wofür ich pro Stück was abbekommen würde."
"Patentgebühren sind, gerade dann, wenn es international sein soll, sehr hoch, Julius", wußte Mademoiselle Dusoleil. Claire überlegte wohl noch, was sie sagen sollte. Dann meinte sie:
"Kann man das so einschränken, daß diese Laterne mit völlig anderen Bildern gemacht wird, als ich sie habe, oder hängen die Bilder mit den Zaubern in der Laterne zusammen?"
"Hmm, wenn ich das richtig gelernt habe, sind die Bilder unabhängig von der Laterne. Die Laterne muß nur so bezaubert werden, daß in sie eingelegte Bilder bei Anzünden der Kerze räumlich dargestellt und eingearbeitete Geräusche hörbar werden. Die Bilder selbst sind davon unabhängig, wenngleich sie wohl nur in einer derartigen Laterne richtig zur Geltung kommen."
"Wie hoch sind die Gebühren, um sich sowas patentieren zu lassen, Julius? Papa hat mir erzählt, es könnten an die fünfzig Galleonen werden, je nach Einstufung der Erfindung."
"Dazu sage ich nichts, Claire. Das wäre ja genauso, als wenn ich dich fragen würde, wie teuer in Geld deine Geschenke an mich waren."
"Wenn die Glasplättchen unterschiedlich bezaubert werden können, dann kannst du diese Laterne ruhig von jemandem nachbauen lassen. Vielleicht will Papa ja sogar was damit anfangen."
"Wie du meinst, Claire. Aber dann ist dieses Gerät nicht mehr lange einzigartig", wies Julius seine Gastschwester darauf hin, daß sie im Moment etwas besonderes hatte, aber nur solange, wie kein weiteres Stück nachgebaut würde. Claire nickte. Sie sagte:
"Wenn du den Leuten sagst, sie möchten ständig eigene Bilder machen, wird jede Sammlung von Bildern ja einzigartig sein. Das ist dann so wie ein maßgeschneidertes Kleid. Wie es geschneidert wird, ist zwar bekannt, aber doch jedesmal einzigartig. Du darfst sie also ruhig nachbauen lassen. Ist aber nett, daß du mich fragst, ob mir das gefällt", erwiderte Claire Dusoleil mit warmem Lächeln.
Nach dem Essen bestürmten die Jungen, die Claire eingeladen hatte Julius mit Fragen, wie er diese Zauber gelernt habe. Der Hogwarts-Schüler lehnte höflich alle Fragen ab, die auf Einzelheiten abzielten. Er sagte nur:
"Leute, ich habe daran lange gearbeitet und meinen Zauberkunstlehrer gebeten, nachzuprüfen, ob man sie so weitergeben kann. Es hat mir Spaß gemacht, auch wenn es schwierig war. Mehr möchte ich dazu nicht sagen."
Monsieur Dusoleil baute draußen im Garten das bezauberte mechanische Tanzorchester auf und ließ es einen Tusch spielen. Claire zog Julius unvermittelt aus dem Kreis der Jungen fort, die dümmlich und gehässig kicherten und gröhlten:
"Das war's wohl, Julius. Claire wird dich nicht mehr freilassen."
Der Hogwarts-Schüler hörte nur mit halbem Ohr auf dieses Getue. Claire grinste nur spöttisch und meinte, während sie den Gastbruder zum Eröffnungstanz führte:
"Jungs halt. Die haben Angst um ihre Freiheit, obwohl sie nicht einmal wissen, was das sein soll."
"Vielleicht ist das auch nur Neid, weil sie alles versucht haben, ein Mädchen für sich zu interessieren und stapelweise Körbe gesammelt haben. Aber ich hörte, Mädchen seien da noch schlimmer."
"Soso, Monsieur. Aber immerhin hast du nicht nur mir bewiesen, daß du durchaus interessant bist, sonst hätte sich Madame Delamontagne heute nachmittag nicht eingemischt."
"Die will doch nur das eine von mir, Claire", erwiderte Julius. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an und rümpfte die Nase. Dann lachte sie.
"Fast hätte ich geglaubt, du meinst was anderes, Julius. Aber das eine, was die von dir will, wird sie ja wohl morgen oder übermorgen kriegen, oder?"
"Yep! Aber nur, wenn deine Tante oder deine Schwester es nicht vorher von mir bekamen und mich fertig gemacht haben."
"Wäre auch nicht so schlimm. Dann könntest du dich am Montag wenigstens wieder auf den Ferienunterricht konzentrieren, wenn wir die Gemütsbeeinflussungsflüche durchnehmen."
"Dann bekäme ich aber Ärger mit unserer Lehrerin, weil ich ihre Erwartungen nicht erfüllt habe. Na ja, aber wenn es sein soll, dann wird es eben so sein", erwiderte Claires Tanzpartner.
Der Abend wurde wieder lang und teilweise anstrengend, weil Jeanne, Seraphine und Virginie von Julius den Rock'n Roll lernen wollten. Caro und Jasmine tanzten mit dem Hogwarts-Schüler langsame Tänze, ebenso forderten die weiblichen Erwachsenen der Dusoleil-Familie ihn auf, mit ihnen zu tanzen. Als sich Julius mit Mademoiselle Dusoleil zu einem Wiener Walzer drehte, sagte sie ihm:
"Camilles Schwägerin Cassiopeia muß geistig umnachtet sein, daß sie sich nur für deine Abstammung interessiert hat. Es ist auf jeden Fall schön, wie vielseitig du doch veranlagt bist. Ich werde nicht den Fehler machen, den Cassiopeia gemacht hat, nämlich vorzeitig festzulegen, daß du mit Claire verbandelt seist. Aber ich kann jeder jungen Dame nur meinen Glückwunsch aussprechen, mit der du später zusammenlebst, sofern du deine Talente weiter so erfolgreich ausschöpfst, ohne dabei arrogant und zu ehrgeizig zu werden."
"Ich hab's an meinem Vater gesehen, daß sich sowas leicht rächen kann. In der Zaubererwelt ist seine Stellung und Ausbildung wertlos, und trotzdem bildet er sich was darauf ein, wenn er mit Leuten von Hogwarts redet. Na ja, aber Mum hat sich ja doch sehr gut damit abgefunden, daß Catherine und ihre Familie zaubern können."
"Das ist richtig", erwiderte Mademoiselle Dusoleil.
Um elf Uhr abends tanzte Claire mit Julius den letzten Tanz, einen französischen Musettewalzer. Dann bedankte sie sich bei ihren Gästen für die schöne Feier und wünschte ihnen einen guten Heimweg. Julius sah, wie Caro, Jasmine, Dorian und Elisa, Clement und die anderen Kinder von ihren Müttern, Vätern oder anderen erwachsenen Verwandten abgeholt wurden. Dann schickte Madame Dusoleil ihre Kinder und den Hausgast mit sanften aber unmißverständlichen Worten zu Bett.
__________
Julius hatte bei dem Bild mit den Musikzwergen für den nächsten Morgen ein Wecklied von dem jägergrün gekleideten Zwerg mit dem Waldhorn bestellt, was den Trompeter etwas mürrisch dreinschauen ließ. So erklang ein fröhliches, aber nicht so dreinschmetterndes Jagdlied am nächsten Morgen, zeitgleich mit dem Krähen des bezauberten mechanischen Hahns aus Claires Zimmer. Der Hogwarts-Schüler stand auf und wusch sich. Dann zog er den mitternachtsblauen Umhang an, der zu seiner Gebrauchskleidung gehörte und ging hinunter zum Frühstück. Ruhig und ausgiebig aßen und tranken die Dusoleils und ihr Gast, während Monsieur Dusoleil die Samstagsausgabe des Miroir Magique studierte. Dann ging die Zeitung reihum, sodaß jeder daraus vorlesen konnte, der bereits lesen konnte. Julius entdeckte einen Artikel von Ossa Chermot über Nathalie Grandchapeau, die sich über ihre Tätigkeit in der Abteilung für den Kontakt zwischen Zauberern und Muggeln verbreitete. Er las ihn laut und amüsiert vor. Ihn freute es, daß Madame Grandchapeau sehr sachlich, aber teilweise auch humorvoll auf die Fragen der Reporterin antwortete. Claire las über eine Modenschau Madame Esmeraldas in Paris vor. Julius hatte bei dieser Hexe vor einem Jahr seinen Festumhang bekommen und lauschte etwas interessierter, als es für Jungen üblich war, welche Modelle zu welchem Preis vorgeführt worden waren. Jeanne, die inzwischen die neue Ausgabe der Hexenillustrierten "Mond des Sorcières" las, grinste, als sie einen Artikel fand, der ein Bild von Maya Unittamo in einem herbstlaubroten Kurzkleid enthielt.
"Madame Unittamo ist ja im Moment in Frankreich, Claire", sagte sie zu ihrer Schwester, als diese den Zeitungsartikel beendet hatte und den Miroir Magique an Julius zurückreichte, der sich die schlanken und ranken Modellhexen in den raffinierten Umhängen, Kleidern und Kostümen ansah, zu denen auch eine mit hüftlangem wohl blondem Haar gehörte, die sehr biegsam einen Spagat machte, als er sie genauer ansah. Das Foto war zwar schwarz-weiß, aber er kannte die Grautöne dieser Zeitung mittlerweile gut genug, um diesen die eigentlichen Farben zuordnen zu können und meinte, daß dieses Modell hellblaue Augen haben müsse. Er las deren Namen "Serena Marinera" unter dem Bild und erfuhr, daß ihre Eltern aus Deutschland und Schweden stammten, aber vor zehn Jahren nach Spanien gezogen waren. Offenbar war sie das, was in der Muggelwelt als Topmodell bezeichnet wurde. Julius mußte mit einem schier leidenschaftlichen Interesse auf das Bild gestarrt haben, daß Jeanne meinte:
"Vergiss es, Julius, die nimmt keine Jungs, die ihr nicht fünfhundert Galleonen geben, damit sie aus dem Bett aufsteht."
"Und das Doppelte, um sie dort hineinzu....", sagte Julius, bevor ihn ein unmißverständlich tadelndes Räuspern der Hausherrin das Wort abschnitt.
"Schade, daß Madame Unittamo am 28. In Paris ist", sprach Claire, nachdem für einige Sekunden Schweigen über dem Frühstückstisch gelegen hatte. "Sonst hätten wir sie dort sehen können. Deine Lehrerin Professeur McGonagall wird auch da hingehen, Julius."
"Oh, Professor McGonagall kommt am 28. Juli nach Paris? Das muß dann ja wichtig sein. Vielleicht sollte ich doch besser dahingehen und ... Autsch!" Julius bereute diesen Scherz, den er Claire bereitet hatte sofort, als sie ihm sehr kräftig ihre langen Fingernägel schmerzhaft in den linken Arm grub. Trotz Umhang spürte er, was doch für eine gemeine Kraft in diesen zarten Fingern steckte. Madame Dusoleil bedachte ihre mittlere Tochter mit einem strafenden Blick, den diese jedoch locker aushielt. Julius dachte zur eigenen Beruhigung daran, daß Maya Unittamo ja ab dem ersten August in Millemerveilles sein würde. Barbara hatte ihm das ja erzählt.
Nach dem Frühstück flogen Mademoiselle und Monsieur Dusoleil, sowie Jeanne und Julius zum Rathaus von Millemerveilles, einem ehrwürdigen Gebäude in der Nähe des im Zentrum angelegten großen Teiches mit den bronzenen Statuen magischer Wesen, die als Windrose und Sonnenuhr fungierten. Jeanne ließ sich von Julius auf dessen Sauberwisch 10 transportieren. In ihrem veilchenblauen Kleid und dem gestriegelten schwarzen Haar wirkte sie wie eine feine Dame, die von ihrem jüngeren Anverwandten zu einer wichtigen Veranstaltung gebracht wurde.
Julius sah sofort die imposante Erscheinung Madame Delamontagnes in ihrem purpurroten Seidenumhang und dem vollendet geflochtenen Zopf aus strohblondem Haar. Daneben stand bereits Madame Faucon, die in einen mauvefarbenen Umhang gehüllt war und ihr schwarzes Haar sorgfältig hinter dem Nacken zu einem Knoten gewirkt hatte. Er erkannte Barbara Lumière, die ein rubinrotes Kurzkleid trug, sowie Estelle, die gleichaltrige Hexe, gegen die er im letzten Turnier gespielt hatte und die ein bonbonrosanes Kleid trug. Dann sah er Béatrice, eine Freundin Claires aus einem anderen Schulhaus von Beauxbatons, die neben einer kleiderschrankgleichen Frau mit dunkelblonden Locken und einem hoch aufgeschossenen Jüngling mit derselben Haarfarbe stand. Der Junge war in einem königsblaun Samtumhang mit Kragen angetreten, während die Frau, wohl seine Mutter, ein meergrünes Glitzerkleid bis zu den Knöcheln ausführte.
Als wohl alle Teilnehmer des Schachturniers vollzählig angetreten waren, begaben sie sich ins Rathaus, wo der bärtige Monsieur Pierre die Auslosung der ersten Begegnungen vornahm. Wie im letzten Jahr wurden hierzu aus bezauberten Truhen mit den Kennzeichnungen A bis D die Paarungen zusammengestellt. Julius dachte, wie im letzten Jahr zur Gruppe C gezählt zu werden. Doch er kam bei den ersten Auslosungen nicht dran. Mademoiselle Dusoleil schien aus irgendeinem Grund zur Gruppe C gezählt zu werden. Denn als Monsieur Pierre ihren Namen aus der gähnenden Schwärze der Wandelraumtruhe mit dem großen C zog und dann aus der D-Truhe den Namen Mariette Simenon, fragte er sich, was wohl der Grund dafür sei, daß die Tante Jeannes um eine Spielstärke nach unten gewertet worden sei. Konnte es daran liegen, daß er sie im ersten Spiel des letzten Turniers besiegt hatte? Bertram Simenon, der Sohn der Dame mit den dunkelblonden Locken, war zur Gruppe B zugerechnet worden und sollte gegen einen Jungen der Gruppe A spielen, der zur Quidditchreservemannschaft von Millemerveilles gehörte, wie Julius sofort erkannte, als die Paarungen sich zusammenstellten. Witzig fand Julius, daß Jeanne Dusoleil gegen ihren Vater spielen durfte und Madame Faucon aus der Gruppe D gegen Barbara Lumière aus der Gruppe C. Dann erfolgte die Auslosung:
"Madame Begonie L'ordoux aus der Gruppe C spielt gegen Monsieur Julius Andrews aus der Gruppe D."
Als Julius diese Auslosung hörte, wunderte er sich. Er wandte sich an Jeanne, die grinste und flüsterte:
"Was hast du denn gedacht? Wer im Halbfinale des Turniers landet und es gewinnt, wird im folgenden Turnier um eine Spielstufe höher gewertet. Viel Erfolg!"
Julius folgte einer großmütterlich wirkenden älteren Hexe, die Ähnlichkeit mit Glorias Oma Jane besaß, wenngleich ihr Haar schulterlang und ohne Locken, goldblond war und die rehbraune Augen besaß zu einem Tisch, auf dem ein Schachbrett aufgebaut war. Eine Hexe, die als Madame Descartes schon öfters bei Turnierspielen von Julius Beisitzerin war, nahm an der Seite platz und klappte ein Notizbuch auf, dessen erste Seiten mit "Spiel 1" überschrieben waren und bequem alle Züge aufnehmen konnte, weil auf der linken die Züge der weißen und auf der rechten die Züge der schwarzen Figuren notiert werden konnten. Durch den Wurf eines Knutstückes wurde ermittelt, daß Julius die schwarzen Figuren führen sollte. Jeder Spieler ließ nun die entsprechenden Figuren seines mitgebrachten Schachspiels aufmarschieren. Das Spiel begann um punkt neun Uhr.
Nach zwei Stunden anstrengenden und abwechslungsreichen Spiels schaffte es Julius, einen seiner Bauern auf das rechte Turmfeld seiner Gegnerin zu bringen, was diesem wohl mißfiel.
"Oh nein, nicht sowas!" Stöhnte der Bauer, als er sich unter gewissen Körperverränkungen in eine zweite schwarze Dame verwandelte, da Julius seine schwarze Dame bereits vor einer viertelstunde verloren hatte. Als die magische Wandlung, die Julius bis dahin noch nie bei einem Zauberschachspiel beobachten konnte vollendet war, sagte die so entstandene schwarze Königin: "Schachmatt!"
"Huch, da muß ich wohl nicht richtig aufgepaßt haben. Es wäre besser gewesen, diesen Bauern zu schlagen, bevor er so weit vordringen konnte", bemerkte Madame L'ordoux etwas enttäuscht. Dann sah Sie Julius an und lächelte wieder. Der weiße König nahm die Krone ab und verbeugte sich vor den ihn umstehenden schwarzen Figuren. Julius sah, wie sich die zweite schwarze Dame in den Bauern zurückverwandelte, der erschöpft und leicht ungehalten vom Feld schritt.
"Du hast dein Spiel von Eleonore bekommen?" Flüsterte Madame L'ordoux. Julius nickte zur Antwort, als Madame Descartes das Spielergebnis in ihr Notizbuch eintrug und es dem Moderator Monsieur Pierre überbrachte.
"Sie sucht immer die besseren Schachmenschen aus, die sehr gut einschätzen können, wie gut jemand mit ihnen spielt. Die Bauern mögen es nur nicht, wenn sie sich in Damen verwandeln müssen. Geschlechtlicher Stolz, wenn du verstehst", flüsterte Julius' erste Turniergegnerin. Julius grinste.
"Frauenkleider passen mir auch nicht", gab er so leise wie nötig zur Antwort. Dann fragte er flüsternd:
"Ihren Namen habe ich doch außerhalb des Turniers schon mal gehört. Sie beschäftigen sich mit der Bienenzucht, richtig?"
"Oh, das ist korrekt, junger Mann. Ich beliefere unsere Gemeinde mit zwanzig verschiedenen Honigsorten. Wahrscheinlich hast du schon welchen von mir gegessen, in Kuchen oder Plätzchen, wenn nicht sogar zum Frühstück?"
"Hmm, Madame Dusoleil hat vor einigen Tagen einen tollen Braten mit Wein-Honig-Soße gemacht. Der war richtig lecker."
"Ja, das wird wohl so sein. In dieser Form ist der Honig auch noch gesund, obwohl ich den Chapeau Du Magicien auch mit Met beliefere. Interessiert dich die Imkerei?"
"Nur die Endprodukte", erwiderte Julius, dem ein Schauer bei dem Gedanken an wild herumfliegende Bienen über den Rücken lief. Madame L'ordoux bemerkte es wohl und lächelte warm.
"Du magst wohl keine Bienen. Ich weiß, daß viele Jungen und Mädchen mit meinen Bienen nicht gerade gut auskommen, weil sie so groß gezüchtet sind. Aber ich habe ihnen die Stechlust außerhalb des Stocks abgewöhnen können. Solange du keine schlägst, wird dir keine was tun."
"Ich hoffe, die Tiere wissen das auch", erwiderte Julius im Flüsterton. Die ältere Dame lächelte wieder und sagte:
"Das wissen die."
Eine Glocke verkündete, daß alle Partien beendet waren. Es hatte kein Remis gegeben, und Julius sah, daß Barbara Lumière bereits sehr früh verloren haben mußte. Auch war Mademoiselle Uranie Dusoleil nicht mehr im Turnier. Jeanne hatte ihren Vater besiegt, und Madame Delamontagne ihren Gegner natürlich auch.
Nach einem Mittagessen im Gasthaus Chapeau Du Magicien, wo Julius zwischen Jeanne und ihrer Tante saß, loste Monsieur Pierre die nächsten Partien aus. Dabei bekam Julius es mit einer Fünftklässlerin aus Beauxbatons zu tun, die er am weißen Tisch im Speisesaal dieser Schule hatte sitzen sehen können. Er gewann nach nur einer halben Stunde, weil das Mädchen zu früh wichtige Figuren verlor, teilweise aus Unvorsicht, teilweise aus Berechnung, Julius könne auf ihm gestellte Fallen hereinfallen, was er jedoch nicht tat. Er unterhielt sich mit der Hauskameradin Seraphines, die Veronique hieß, wie ihm Beauxbatons gefallen habe und ob es in Hogwarts wirklich so ungeordnet zuginge, wie sie von ihrer Schulkameradin aus der trimagischen Abordnung erfahren habe. Julius erzählte im gebotenen Flüsterton, daß in Hogwarts schon strenge Regeln galten, wenngleich dort wohl keine geregelte Freizeitgestaltung vorkam. Das Gespräch dauerte noch zwei Stunden, dann läutete die Glocke zum Ende der zweiten Runde. Jeanne, die gegen Madame Simenon gespielt und verloren hatte, winkte Julius, ihr zu folgen.
"Danke für das nette Gespräch, Julius. Man sieht sich dann wohl beim Sommerball", wünschte ihm Veronique noch. Julius nickte und erwiderte den Gruß. Dann folgte er Jeanne.
"Dann bist du aus unserem Haus der einzige, der noch im Turnier ist", stellte Monsieur Dusoleil nach der Rückkehr in den Jardin du Soleil fest. Der Hogwarts-Schüler bemerkte dazu:
"Entweder hatte ich zu leichte Gegner, oder ich hatte heute wieder einen Glückstag erwischt. Ich wundere mich aber dennoch, daß ich in die Gruppe D eingeteilt wurde."
"Ach, das hat Eleonore wohl gedreht, damit du ihr auch ja nicht vorzeitig aus dem Turnier fällst", meinte Madame Dusoleil. Ihre Schwägerin sagte nur:
"Camille, du weißt doch, wie das läuft. Auch wenn dich das nicht interessiert bist du doch orientiert, wann Umstufungen passieren und wann nicht. Auf jeden Fall stelle ich fest, daß unser Hausgast bei seiner Maman wirklich viel gelernt hat. Schade, daß nur Hexen und Zauberer an diesem Turnier teilnehmen dürfen. Es hätte deine Maman bestimmt interessiert, auch mitzuspielen, Julius."
"Sie spielt in England kleinere Turniere mit, Mademoiselle. Aber sie hat auch schon gegen einen russischen Meister gespielt, der bei der letzten mir bekannten Europameisterschaft auf den dritten Platz gekommen ist. Die Russen sind die unumstrittenen Meister", erwiderte Julius.
Nach dem Abendessen las Julius im Garten ein wenig in einem seiner neuen Bücher. Er fragte sich, wo er die ganzen Zauberbücher alle hinpacken sollte, wenn er nach Hogwarts zurückfuhr. Sicher, in die große Practicus-Reisetasche paßten viele Dinge hinein, da sie den Rauminhalt auf ein vierfaches dessen vergrößert hatte, was man ihr von außen ansah. Aber irgendwann würden die Bücher durcheinandergeraten. Er überlegte sich, ob er nicht Monsieur Dusoleil gegen Bezahlung bitten sollte, ihm einen magischen Bücherschrank zu bauen, der sich durch eingebaute Schrumpfzauber transportieren ließ. Daß dies möglich war, wußte er ja besser als viele andere seiner Mitschüler.
Ein Duett aus Harfe und Flöte weckte Julius wie bestellt auf, als die Morgenröte durch das Ostfenster seines Gästeschlafzimmers hereinschimmerte. Julius grinste. Er erkannte das Stück als eines, das tatsächlich für den Morgen geschrieben worden war, von einem norwegischen Komponisten, dessen Musik seine Mutter zwischendurch gerne zur Entspannung hörte.
Nach einer leichten Runde Dauerlauf um den Dorfteich, bei der ihm Barbara Gesellschaft leistete, frühstückte man im Dusoleil-Haus. Claire las aus der Mond des Sorcières vor, das Angelique Liberté ein Kind erwartete und daher nur noch wenige Monate ihren Beruf der Besenkunstfliegerin ausüben würde, bevor sie sich auf das Kind vorbereitete.
Julius wurde von Jeanne Dusoleil zum Turnier begleitet. Sie steuerte das Tandemgespann. Julius saß hinter ihr auf dem Ganymed 8.
Die nächste Runde wurde ausgelost, und der Hogwarts-Schüler bekam Bertram Simenon zugelost, der als Sieger der letzten Partie in die nächste Runde kam. Wie es üblich war, spielten die Sieger der ersten zwei Runden der gruppen A und B gegen die Sieger der beiden ersten Runden der Gruppen C und D. Julius hütete sich davor, den Jungzauberer, der wohl in der vierten Klasse von Beauxbatons war, zu unterschätzen und tat gut daran. Denn dieser versuchte, durch den sogenannten Schäferzug ein abruptes Spielende herbeizuführen. Doch Julius vereitelte ihm das und schaffte es nach nur zehn Zügen, ein Schachmatt des Gegners unabwendbar zu machen. Nach nur zwanzig Zügen war das Spiel dann auch schon um. Bertram sah zu seiner Mutter hinüber, die gerade haushoch gegen Estelle, Julius letztjährige Turniergegnerin, gewann. Dann meinte er leise:
"Wenn du gegen meine Mutter spielen mußt, Julius, dann hüte dich vor ihren Flankenangriffen. Ich würde es zu gerne miterleben, wie sie von einem jüngeren Gegner rausgeworfen wird."
Als die Glocke die dritte der fünf zu spielenden Partien für beendet signalisierte, waren außer dem Hogwarts-Schüler nur noch Madame Faucon, Madame Simenon und Madame Delamontagne übrig. Jetzt, so dachte Julius, wurde das Turnier richtig ernst. Er saß neben Madame Faucon am Mittagstisch. Sie sagte ihm:
"Du hast dich wieder sehr gut gehalten, Julius. Offenbar konntest du viel Praxis erwerben."
"Ob wir dieses Jahr wieder gegeneinander spielen müssen?" Erkundigte sich der Hogwarts-Schüler. Die Lehrerin lächelte und sagte:
"Es würde mich wieder sehr ehren, Monsieur Andrews."
Am Nachmittag warf Monsieur Pierre die verbliebenen vier Teilnehmerkarten in eine kleine Schachtel und ließ sie darin mischen. Dann zog er die erste Karte:
"Madame Eleonore Delamontagne spielt gegen ...", begann er, zog die zweite Karte und vollendete den Satz mit "Madame Blanche Faucon!"
Julius war zuversichtlicher als eben noch. Hätte er jetzt gegen Madame Faucon oder Madame Delamontagne spielen müssen, wäre er mit sicherheit etwas beklommener an die Partie herangegangen. So aber spielte er gegen eine Hexe, die er überhaupt nicht kannte. Doch falls er gewinnen sollte, wäre er fällig. Doch erst einmal mußte er gegen die breit gebaute Tante von Béatrice bestehen.
Das Halbfinale gestaltete sich dieses Mal wie ein Endspiel, dachte Julius. Denn es dauerte lang und war sehr anstrengend, da er ständig neue Angriffe der dunkelblonden Hexe abwehren mußte und keine Chance zur Verteidigung fand. Er spielte die schwarzen Figuren und mußte sich hüten, nicht schnell wichtige Figuren zu verlieren. Tricks, wie ein Damenopfer als Köder, Schäferzüge oder Rochaden halfen hier nicht weiter, erkannte der Hogwarts-Drittklässler rechtzeitig genug, um nicht selbst in eine Falle zu geraten. Seine Bauern gingen bald alle verloren, auch wenn er im Gegenzug beide Springer und beide Läufer schlagen konnte. Er hielt sich so, daß er alle Bauern von Madame Simenon abhalten konnte, aber den König nie so stellte, daß diesem kein Rückzug bleiben konnte, wenn ihm Schach geboten wurde, was einige Male passierte. Es dauerte wohl drei Stunden, bis Julius endlich einen Angriff ausführen und diesen so gelungen abschließen konnte, daß er die Gegnerin in die Defensive drängte. Dann gelang es ihm, seinen König unter der Deckung seiner verbliebenen Figuren mit auf die andere Seite des Brettes zu führen und nahm sich die Frechheit heraus, ihn so zu stellen, daß er den weißen König bei dessen nächsten Zug ins Schach laufen lassen würde. Irgendwann so um sechs Uhr abends war die Partie dann zu Ende. Julius hatte es geschafft, den weißen König von schützenden Figuren zu entblößen und so abzudrängen, daß er nicht mehr entrinnen konnte.
"Schachmatt!" Rief der schwarze König, der zu den Figuren gehörte, die den weißen König in die Enge getrieben hatten.
"Jäääääääh!" Rief Bertram, als er sah, wie der weiße König die Krone abnahm. Unverzüglich schritt Monsieur Pierre ein und verwarnte den Jungen, da die Partie zwischen Madame Faucon und Madame Delamontagne noch im Gange war.
So um sieben Uhr herum war auch diese Partie vorbei. Madame Faucon hatte verloren. Damit stand Madame Delamontagnes Wunschfinale fest: Die Revanche gegen Julius.
"Kehren Sie in das Haus Ihrer Gastfamilie zurück! Essen Sie dort reichlich und verschaffen Sie sich den nötigen Schlaf! Ich verbitte mir morgen jede Tätigkeit, die Ihren Ausfall beim Endspiel nach sich ziehen könnte", gab ihm Madame Delamontagne mit strenger Miene mit auf den Heimweg.
"Ich weiß, daß mein Sohn mich gerne verlieren sieht", sagte Madame Simenon noch. "Aber der wird noch was zu hören kriegen, daß er sich so lautstark gefreut hat. Ich wünsche Ihnen für den morgigen Tag viel Erfolg, Monsieur Andrews."
"Das war ja richtig schön, wie du dich aus dieser Zwangslage herausgespielt hast", sagte Béatrice, der Julius beim Verlassen des Gasthauses noch begegnete. "Tante Mariette kennt das nicht, daß Jüngere sie besiegen können."
"Es hätte auch nicht mehr viel gefehlt, und die Dame hätte mich besiegt", sagte Julius erschöpft. Jeanne brachte ihren Gastbruder in ihr Elternhaus zurück, wo Mademoiselle Dusoleil lachte:
"Hat die gute Eleonore es doch geschafft, ihren Willen zu bekommen. Das werde ich mir morgen nicht entgehen lassen, egal wie es ausgeht."
"Ich werde mir das morgen auch ansehen", stellte Claire klar. Sie interessierte sich zwar nicht für Schach, aber bei den Turnieren sah sie dann zu, wenn jemand aus der Familie so weit gekommen war. Offenbar, so fand Julius, hielten die Dusoleils ihn wirklich für ein Familienmitglied.
Da der letzte Tag des Turniers ein Montag war, lag am Morgen weiterer Ferienunterricht bei Madame Faucon an. Es ging um die Gemütsveränderungsflüche, wie den Panikfluch, den Traurigkeitsfluch und den Apathiefluch. Wieder übten vier Paare, von denen Julius und Virginie eines bildeten. Julius zeigte, daß er wirklich gut gelernt hatte, sowohl bei Moody, als auch aus dem Buch Madame Faucons, um die ihm geltenden Angriffe abzuwehren.
Mittags aß Julius genug, um sich satt zu fühlen und wurde dann von Madame Dusoleil zum Rathaus gebracht, wo das Finale des Turniers gespielt werden sollte.
Dort versammelten sich mehrere hundert Hexen und Zauberer jeden Alters, um das Endspiel zu beobachten. Alle übrigen Teilnehmer waren ebenfalls dabei. Monsieur Pierre, der als Turnierleiter arbeitete, verkündete:
"Mesdames, Mesdemoiselles et Messieurs! Heute, am 26. Juli 1995, findet ein vielversprechendes Endspiel im diesjährigen Schachturnier zu Millemerveilles statt. Unsere vielfache Turniersiegerin Madame Eleonore Delamontagne, darf sich zum zweiten Mal in Folge dem jungen Gast aus England, Monsieur Julius Andrews stellen. Wir erinnern uns daran, daß im letzten Jahr der junge Monsieur Andrews erstmalig an diesem hochgeschätzten Turnier teilnahm und es ebenfalls ins Finale schaffte, wobei seine heutige Gegnerin von ihm auf den dritten Platz verwiesen wurde. Demzufolge steht zu vermuten, daß hier und heute eine gerechtfertigte Revanche ausgetragen wird und es höchst interessant werden wird, wer am Ende Nerven, Spielwitz und Ausdauer für sich zum Erfolg ausnutzen wird. Madame Delamontagne, Monsieur Andrews, wie in jedem Endspiel gilt, daß Sie Pausen bis zu einer Gesamtzeit von einer Stunde einlegen und zwischendurch was essen und trinken dürfen. Das Spiel unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung, Bedenkzeiten dürfen fünf Minuten dauern. Viel Erfolg!"
Madame Descartes saß wieder bei und klappte ihr Notizbuch auf. Sie schlug die Seiten auf, die mit "Endspiel" überschrieben waren und loste aus, wer welche Farbe zu spielen hatte. Julius durfte die weißen Figuren spielen.
Wenn es im letzten Jahr anstrengend war, gegen Madame Faucon zu spielen, so war es dieses Jahr eine Höllenarbeit, fand Julius. Er mußte sich bei jedem Zug, den er tat, im Voraus überlegen, wie die daraus möglichen Folgezüge von ihm und seiner Gegnerin lauten konnten. So zog sich das Spiel von Anbeginn an wegen der ausgenutzten Bedenkzeiten in die Länge, dauerte bereits über zwei Stunden, als Madame Delamontagne vorschlug, etwas Tee zu trinken. Julius ließ sich von Madame Dusoleil eine Tasse kalten Früchtetee geben, die er bedächtig trank. Danach wurde weitergespielt, bis es sieben Uhr abends war. Sie aßen eine Kleinigkeit, Baguette mit Fisch und Salat, verrichteten körperliche Bedürfnisse und spielten weiter. Die große Uhr in der Rathaushalle zeigte bereits neun Uhr, als Julius seine Dame verlor und in eine brenzlige Lage geriet. Er hielt sich danach eher in der Verteidigungsrolle auf und lauerte auf Kontermöglichkeiten. Als die Uhr zwei Stunden vor Mitternacht zeigte, waren auf dem Brett nur noch wenige Figuren verblieben. Julius spielte das härteste Spiel seines Lebens, denn er wollte nach Möglichkeit nicht weitere Figuren verlieren, aber auch Madame Delamontagnes Figuren nach Möglichkeit schlagen. Erst um elf Uhr sah es so aus, als wenn das Spiel zu Ende ginge, wenngleich noch niemand sagen konnte, zu wessen Gunsten. Julius bemerkte die zunehmende Erschöpfung nicht. Er war so voll auf das Spiel konzentriert, daß alles in seiner Umgebung keinen Zugang zu seinem Gehirn fand. So merkte er nicht, wie Madame Faucon und Madame Dusoleil leise in seiner unmittelbaren Nähe saßen und besorgt aber auch geduldig verfolgten, wie die Partie verlief. Schweiß durchtränkte Julius' mitternachtsblauen Umhang, verklebte ihm die Haare und tropfte ihm in die Augen. Er hielt sich immer noch gerade auf dem Stuhl, dachte nur an die Spielzüge.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht konnte sich der Hogwarts-Schüler einen Vorteil erspielen, den er nutzte. So würde Madame Delamontagnes König in sechs Zügen Schachmatt gesetzt. Er schaffte es, den letzten Befreiungsversuch seiner Gegnerin zu vereiteln und siegte um genau vierzehn Minuten vor zwölf Uhr.
"Schachmatt!" Rief der weiße Ritter auf seinem Pferd, der neben einem Turm, einem Läufer und zwei Bauern den König umstellt hatte. Jubelnd hoben die Schachmenschen ihre Waffen und Werkzeuge in die Luft, während der schwarze König mit enttäuschtem Gesicht Krone und Zepter vor sich hinlegte und die schwarze Dame, die neben einem Turm und einem Läufer noch verblieben war, den Kopf schüttelte.
"Mesdames, Mesdemoiselles et Messieurs! Der Sieger im diesjährigen Schachturnier von Millemerveilles nach neun Stunden und sechsundvierzig Minuten Spielzeit heißt Julius Andrews!" Verkündete Monsieur Pierre, der ebenfalls in der Nähe des Tisches gesessen hatte, das offizielle Endergebnis. Applaus und Jubel brandete auf und drang beinahe schmerzhaft durch Julius' Ohren. Jetzt erst merkte der Turnierfinalist, wie ausgelaugt er war, daß seine Augen vor Schweiß und übermüdung brannten und sein ganzer Körper wie ein Sack feuchtes Stroh war. Er fühlte die Trockenheit in Mund und Kehle, hörte sein Herz mit dumpfen schnellen Schlägen in seinen Ohren wummern und fühlte sich unmittelbar kalt, obwohl es draußen wohl noch um die zwanzig Grad sein mochte. Doch Anstrengung und durchschwitzte Kleidung ließen ihn langsam ins Zittern geraten.
"Vestiseco!" Murmelte Madame Faucon, die ihren Zauberstab in die Hand genommen und über Julius Kleidung gewunken hatte. Sofort verschwand das Gefühl von Nässe und Kälte auf Julius' Haut. Doch nun fühlte er sich so, als hätte er steife Kleidung an, da der Trocknungszauber zwar die Kleidung entfeuchtete, aber die im Schweiß gelösten Stoffe nicht beseitigte.
"Hui, das war heftiger, als alles vorher", stöhnte Julius und wollte aufstehen. Doch Madame Dusoleil drückte ihn sofort auf den Sitz zurück. Schwindel überkam den Hogwarts-Schüler. Die geistige Höchstbelastung hatte seinen Körper gleichermaßen ausgezehrt, mehr als eine Quidditchpartie.
"Du bleibst gefälligst sitzen, bis Monsieur Pierre mit der Siegerehrung beginnt!" Zischte Madame Dusoleil. Madame Delamontagne reichte Julius über das nun leere Schachbrett hinweg die schweißnasse Hand.
"Sehr schön, mein Junge. Du hast dich sehr wacker behauptet. Wir stehen gleich auf, wenn die Siegerehrung ist. Danke für diese hervorragende Revanche!"
"Die haben Sie doch nicht bekommen", bemerkte Julius erschöpft.
"Muß man eine Revanche gewinnen, die man bekommt? Wir wissen nun beide, daß du in diese hohe Spielerstufe gehörst. Das im letzten Jahr war weder Glücks- noch Zufall, sondern Können."
"Madame, Monsieur, wir können nun die Siegerehrung vornehmen", sprach Monsieur Pierre. Julius stand auf, kämpfte jedes Anzeichen von Erschöpfung nieder, streckte Beine und Körper so weit durch, wie er konnte, um sich aufrecht zu zeigen.
Wieder brandete Applaus von den Zuschauern her. Madame Dusoleil und Madame Delamontagne hielten sich bereit, Julius zu stützen, wenn er sich nicht mehr aus eigenen Kräften auf den Beinen halten konnte. Julius lächelte, weil ihm nun, wo sein Gehirn wieder für alle Gedanken und Eindrücke frei war einfiel, daß er sich gerade sechs Schokofrösche erspielt hatte, die Kevin Malone ihm schuldete. Er hatte mit ihm vor seiner Abreise aus Hogwarts gewettet, daß er mindestens den bronzenen Zaubererhut im Schachturnier bekommen würde. Dafür sollte er zwei Schokofrösche bekommen. Für jeden höheren Platz sollten es zwei mehr werden. Nur wenn Julius verlor, ohne einen Zaubererhut zu gewinnen, hätte er Kevin sechs Schokofrösche geben müssen.
"Madame Dusoleil machte Madame Faucon platz, die sich neben Julius stellte und ihren rechten Arm um ihn legte. Madame Delamontagne legte ihren linken Arm um Julius. Dieser legte seinen linken Arm um die Beauxbatons-Lehrerin, froh, in dieser Pose nicht schwach, sondern siegreich zu wirken. Auch wenn er nicht alles mitmachte, was Jungen so wichtig erschien, war ihm doch wichtig genug, nicht schwach oder niedergeschlagen dazustehen.
Ein Blitz, gefolgt von rotem Rauch, flammte durch die Halle. Eine Hexe im türkisfarbenen Umhang stellte sich in Bereitschaft. Julius wollte noch rufen, daß er nicht fotogrrafiert werden wollte, als Monsieur Pierre die Siegerehrung begann.
"Das sechshundertfünfzigste Schachturnier in der Geschichte Millemerveilles ist nach langen und aufregenden, schweren und interessanten Partien zu Ende, Messieursdames und Mesdemoiselles. Es ist mir zum zehnten Mal eine Ehre, die Siegertrophäen an die vier erfolgreichsten Teilnehmer zu überreichen. Ich freue mich auch, daß zwei Gäste von außerhalb dieses Turnier mit ihren Fähigkeiten bereichern durften und sich erfolgreich unter die ersten Vier gespielt haben. Ich überreiche den ersten bronzenen Zaubererhut für das Erreichen des Halbfinales an Madame Mariette Simenon!" Sprach Monsieur Pierre und streckte der Tante Béatrices eine kleine bronzene Version eines Zaubererhutes entgegen, über dessen breiter Krempe sich wie von einem unsichtbaren Laserstrahl bewirkt der Name "Marietta Simenon" und die Jahreszahl 1995 einbrannte. Die wie ein Schrank gebaute Hexe nahm lächelnd die Trophäe entgegen und reckte sie hoch. Unvermittelt blitzte es wieder auf. Julius sah roten Qualm aus einem klobigen Fotoapparat kommen. Er sah, wie die Reporterhexe Ossa Chermot leise sprach und eine blaue flotte-Schreibe-Feder auf einer Notizblockseite herumsauste.
"Letztes Jahr war die nicht hier", sagte Julius mit Unbehagen in der Stimme. Madame Delamontagne flüsterte ihm zu:
"Das Schachturnier hat Jubiläum. Wir kamen darüber ein, Mademoiselle Chermot einzuladen, über das Endspiel zu berichten, zumal Madame Simenon im Ministerium arbeitet und vielleicht von sich aus mit der Presse gesprochen hätte."
"Den zweiten bronzenen Zaubererhut des diesjährigen Schachturniers erhält Madame Blanche Faucon!" Verkündete Monsieur Pierre und überreichte der Beauxbatons-Lehrerin die Trophäe, die Julius aus der halben Umarmung freigab und mit der rechten Hand die kleine Trophäe entgegennahm. Beifall erklang, und erneut wurde ein Foto gemacht. Wieder sprach Mademoiselle Chermot zu ihrer Schreibefeder, die unverzüglich weitere Zeilen auf die aufgeschlagene Notizbuchseite schrieb.
"Nun, sie hat mehrfach die höchste Trophäe des Schachturniers errungen, einige Male die silberne und letztes Jahr die bronzene. Dieses Jahr ist es wieder eine silberne Trophäe, Messieursdames und Mesdemoiselles. Der silberne Zaubererhut des sechshundertfünfzigsten Schachturniers geht an Madame Eleonore Delamontagne!"
Unter erneutem Beifall überreichte Monsieur Pierre die silbern schimmernde Trophäe, die etwas größer war als die bronzenen Zaubererhüte.
Ossa Chermot und ihr Fotograf taten ihr Werk und warteten eine halbe Minute mit den anderen Gästen zusammen auf das letzte und wichtigste Ereignis dieses Turniers.
"Letztes Jahr, so sagte ich, hat jemand erstmalig an diese unserem ehrwürdigen Traditionsturnier teilgenommen und sich erfolgreich ins Finale gespielt, wofür er den silbernen Zaubererhut bekam. Ich freue mich anlässlich des Jubiläums unseres Traditionsturniers anerkennen und belohnen zu dürfen, wie erfolgreich jener junge Zauberer seine Fähigkeiten steigern konnte. Somit ist es mir eine persönliche Ehre und Freude, den goldenen Zaubererhut des Schachturniers zu Millemerveilles in diesem Jahr überreichen zu dürfen an: Monsieur Julius Andrews, Schüler der altehrwürdigen Lehranstalt Hogwarts zu Großbritannien!"
Monsieur Pierre ließ sich Zeit. Jede Bewegung, jede Regung, die er nach der von tosendem Applaus gefolgten Ansprache darbot, dauerte doppelt so lang, wie bei den drei vorangegangenen Ehrungen. Foto um Foto wurde geschossen. Dann wanderte der goldene Hut, in den sich auf magische Weise der Schriftzug "Julius Andrews 1995" einbrannte, in die rechte Hand des dreizehnjährigen Sohnes zweier nichtzauberer aus England. Er nahm den Hut fest in die Hand und hielt ihn hoch. Drei Fotos in Folge hielten diese Pose fest, während Julius an die Schokofrösche und Kevins Gesicht dachte, das er machen würde, wenn Julius neben dem Zaubererhut auch Fotos aus der Zeitung als Beweis vorweisen konnte.
Mademoiselle Chermot trat näher und bat Monsieur Pierre, sowie die vier prämierten Schachspieler und -spielerinnen um kurze Stellungnahmen. Julius beschloß, diesmal eine kurze Aussage zu machen, wenn er gefragt würde. Das letzte Mal, wo er mit Ossa Chermot zusammengetroffen war, hatte er bekundet, daß ihm jede Stellungnahme verboten sei. Das hatte die Reporterhexe veranlaßt, Recherchen über ihn anzustellen. Wenn er diesmal etwas mehr sagte, würde sie hoffentlich nicht mehr über ihn hervorwühlen, als er wollte.
"Madame Simenon, als ehemalige Treiberin der Pariser Pelikane sind Sie es ja gewohnt, Siegerehrungen entgegenzunehmen. Ist es daher nun etwas alltägliches, hier geehrt zu werden?" Hörte Julius Ossa Chermot die breit gebaute Hexe befragen. Diese lächelte zufrieden in die schußbereite Kamera, die sofort ausgelöst wurde und sagte:
"Nun, Schach ist eine willkommene Betätigung für mich, um der geistigen Belastung in meinem Beruf als stellvertretende Leiterin in der Abteilung für magische Spiele und Sportarten einen gebotenen Ausgleich zu bieten. Früher hat es mir neben den hochanstrengenden Quidditchpartien einen schönen Ausgleich geboten. Ich sehe die Teilnahme an diesem Turnier und das Erringen des bronzenen Zaubererhutes als große Ehre, an der teilzuhaben ich Madame Delamontagne recht herzlich danken möchte."
"Ihr Sohn spielt auch Schach und nahm an diesem Turnier teil. Tut er dies, weil Sie dies wollen, oder tut er dies, um sich Anerkennung von Ihnen zu verschaffen?" Bohrte Mademoiselle Chermot nach, während der Fotograf auf Julius zutrat und bat:
"Junge, halt den Hut noch mal richtig hoch, bitte!" Julius folgte der Bitte und ließ das Foto über sich ergehen. Er streckte den goldenen Zaubererhut noch mal nach vorne, sodaß sein Namenszug zu lesen war und gönnte dem Fotografen einen zweiten Direktschuß. Madame Faucon sagte dem kameramann:
"Das muß ausreichen. Machen Sie um den Jungen bitte keinen unnötigen Aufstand!"
Der Fotograf nahm Madame Faucons unausgesprochenes Angebot an, sie mehrmals zu fotografieren, auch in verschiedenen Posen. Dann kam auch schon Mademoiselle Chermot und fragte sie:
"Professeur Faucon, nach der ehrenvollen und auch anstrengenden Leitung der Beauxbatons-Akademie in Stellvertretung von Madame Olympe Maxime haben Sie sich im Vergleich zum letzten Turnier zurückgenommen?"
"Nicht im Mindesten, Mademoiselle Chermot. Madame Eleonore Delamontagne ist eine würdige und anspruchsvolle Gegnerin, die mir ein anstrengendes aber auch erfahrungsreiches Spiel geboten hat. Bei einem Turnier fragt niemand anschließend nach dem Wert einzelner Runden, was ich persönlich bedauere, da sich im Verlauf eines Turniers Begegnungen von hohem Wert für die Spiel- oder Sportart begeben. Diesmal habe ich die bronzene Trophäe errungen, weil das vom Zufall bestimmte Los mich eben mit einer besseren Gegnerin zusammenführte. Jedoch möchte ich eindringlich bekunden, daß Monsieur Andrews, der mein letztjähriger Finalgegner war, keineswegs schlechter ist, als Madame Delamontagne oder ich, sondern nur durch den damals ungewohnten Turnierstress und den großen Respekt vor meiner Person an der endgültigen vollen Entfaltung seiner Künste gehindert war. Wir, die wir hier stehen, sind also nicht so verschieden voneinander, wie die Farbe der Trophäen es vorzugeben scheint. Mehr möchte ich hierzu nicht sagen."
Julius wunderte sich, daß Madame Faucon so viel sagte. Doch ihm war klar, daß sie als öffentliche Person, die sie als Lehrerin der hochangesehenen Schule Beauxbatons nun einmal war, nicht mit "Kein Kommentar" oder "Ich verweigere jede Stellungnahme" antworten konnte. Dann kam Mademoiselle Chermot zu Madame Delamontagne, während der Fotograf ein weiteres Gruppenbild mit Madame Faucon und Julius schoß. Die Lehrerin flüsterte:
"nimm Stellung zu deinem Hiersein, wenn du die Gründe dafür ausläßt! Belanglose Fragen darfst du ruhig beantworten."
Julius nickte. Das war voll in seinem Sinne. Er ärgerte sich nicht, daß Madame Faucon ihn hier bevormundete. Was Reporter anrichten konnten, wußte er zu gut von den Kimmkorn-Artikeln im Tagespropheten. Da wollte er nicht noch Öl ins Feuer gießen.
"Madame Delamontagne, dies war das zweite Zusammentreffen mit Monsieur Julius Andrews bei diesem Schachturnier. Beide Male haben sie nun verloren. Haben Sie Monsieur Andrews deshalb nach Millemerveilles kommen lassen, um eine Revanche zu bekommen?"
"Das bot sich an, Ossa", sagte Madame Delamontagne.
"Dann ist der junge Monsieur nicht etwa hier, weil ein ministerieller Beschluß dies verfügt hat?"
"Da diese Frage sich nicht auf mich bezieht, weise ich sie zurück", sagte die Dorfrätin nun leicht ungehalten.
"Ihre Leidenschaft ist das Schachspiel, wurde mir von vielen Stellen bestätigt. Ist daher ein zweiter Platz für Sie akzeptabel, oder wäre Ihnen ein Sieg beim Turnier wichtiger gewesen."
"Eine Leidenschaft begründet sich darauf, daß man sie auslebt, Ossa. Ob man dabei verliert oder gewinnt ist unerheblich. Außerdem habe ich überhaupt kein Problem, gegen einen besseren Schachspieler zu verlieren, wann, wo und wer es auch sei. Insofern nehme ich mit Stolz diese Trophäe als Würdigung für meine Bemühungen um eine sinnvolle Geistesbetätigung in den Grenzen unseres Dorfes und freue mich, daß dieses Turnier auch für auswärtige Hexen und Zauberer attraktiv geworden ist."
"Danke, Madame Delamontagne!" Sagte Ossa Chermot und schaltete damit Julius' höchste Aufmerksamkeit ein. Denn nun war er an der Reihe, sich zum Turnier zu äußern. Er wußte nur, daß er nicht ausplaudern würde, wie und warum er hergekommen war, solange es mit dem Turnier, seinen Eltern oder seiner Fürsorgerin zu tun hätte.
"Monsieur Andrews, ich frage Sie, ob Sie heute die Erlaubnis haben, mir einige Fragen zu beantworten", begann Mademoiselle Chermot und lächelte charmant. Julius nickte.
"So frage ich Sie, wie Sie sich fühlen?"
"Nun, ich bin total erschöpft, Mademoiselle Chermot. Aber ich freue mich, gegen eine so starke Gegnerin wie Madame Delamontagne gewonnen zu haben."
"Ist Schach für Sie wichtiger als Tanzen?"
"Da habe ich mir keine Rangliste erstellt, Mademoiselle", sagte Julius schnell und ohne Unruhe in der Stimme, während die flotte Feder seine Antworten niederschrieb. Er überflog die Notizen und nickte, weil die Feder außer einer detaillierten Personenbeschreibung von ihm nur das mitgenommen hatte, was er wirklich gesagt hatte.
"Worin sehen Sie den Zweck von Schach?"
"Hmm, das ist ein interessantes und anspruchsvolles Spiel", erwiderte der Hogwarts-Schüler. Offenbar hatte er sich sehr gut auf dieses Treffen eingestellt, fand Mademoiselle Chermot. Sie fuhr fort:
"Sind Sie ausschließlich des Schachturniers wegen nach Millemerveilles gekommen?"
"Es bot sich an, noch mal mitzumachen, weil ich hier meine Sommerferien verbringe", kam Julius' geschliffene Antwort.
"Dann gehe ich davon aus, daß Sie auch am Sommerball teilnehmen werden, wie im letzten Jahr?"
"Wenn man mich läßt, Mademoiselle. Niemand zwingt mich dazu."
"Könnte es nicht eher sein, daß Ihnen aus Ihren letztjährigen Erfolgen hier die Verpflichtung auferlegt wurde, erneut hier zu erscheinen?"
"Ich verbringe hier meine Ferien und mache nur das mit, was mir Spaß macht", sagte Julius und fügte hinzu: "Ich freue mich, hier in Millemerveilles meine Ferien zu verbringen. Der Ort ist schön, das Wetter sehr angenehm, und ich bin hier als Gast sehr willkommen, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Die Bewohner hier sind freundlich zu mir, und ich respektiere ihre Wünsche und Gepflogenheiten, wie es mir als Gast auferlegt ist. Das ist die einzige Verpflichtung, wenn Sie meinen, mir sowas zu unterstellen."
"Man erzählte mir, daß Sie nicht auf dem üblichen Weg von Hogwarts abreisten, um hierher zu kommen, Monsieur Andrews. Wollen und dürfen Sie uns darüber Auskunft geben?"
"Wer immer Man ist und wie glaubwürdig Sie diese Quelle finden, Mademoiselle, ich bin hier und verbringe hier meine Ferien. Das zählt für mich und nichts anderes. Da ich keine öffentliche Person bin, sind private Dinge unerheblich für Ihre Leserinnen und Leser. Ich bin nur ein Zauberschüler, der seine Ferien hier verbringt."
"Dann hat Ihnen das Ministerium nicht auferlegt, hier unterzukommen?"
"Auch dem Ministerium bin ich nicht wichtiger als andere Jungen und Mädchen", sagte Julius. Madame Faucon lächelte ihm zu, wobei sie auf der Hut vor dem Fotografen war.
"Dann sind Sie kein Ruster-Simonowsky-Zauberer?" Fragte Mademoiselle Chermot direkt und ohne Vorwarnung. Julius zwang sich zur inneren und äußeren Ruhe und schaffte es, nicht einmal zu zwinkern. Er sagte:
"Ob ich das bin zeigt sich erst, wenn meine Schulzeit zu Ende ist. Ich weiß zwar nicht, was genau darunter zu verstehen ist, aber ich gehe davon aus, daß das wohl erst später ergründet werden kann, wenn ich mit Hogwarts fertig bin."
"Behelligen Sie bitte den Jungen nicht mit Unterstellungen, die seitens sensationssüchtiger Informanten an Sie herangetragen wurden, Ossa. Julius ist hier in den Ferien, die er sich genauso verdient hat, wie meine Tochter Virginie oder die übrigen Schüler, die erfolgreich ein weiteres Schuljahr beendeten. Er sagte, daß private Angelegenheiten unwichtig für Ihre Leserinnen und Leser sind. Verschwenden Sie also nicht Ihre und seine zeit mit derlei Belanglosigkeiten", schritt Madame Delamontagne ein. Dann sagte sie noch:
"Über die zauberischen Begabungen des Monsieur Andrews liegt mir nichts vor, was den Rahmen der Normalität sprengt. Auch Madame Faucon hat darüber keine für mich relevanten Erkenntnisse."
"Nun, aber Monsieur Andrews hat sehr gut mit Mademoiselle Claire Dusoleil getanzt. Dient dieser Erfolg nicht dazu, die Kontakte hierher zu festigen?"
"Wie gesagt: Belanglosigkeiten sind für Ihre Leserinnen und Leser unwichtig", sagte Julius schroff, aber nicht so, als sei ihm jemand zu nahe getreten, sondern so, als vertue jemand seine zeit.
"Ich bin rechtschaffen müde, Mademoiselle Chermot. Ich bin froh, daß ich mit dem Turnier fertig bin. Mehr möchte ich nicht sagen."
"Danke, Monsieur Andrews."
Die Reporterin zog sich zurück und verließ mit ihrem Fotografen das Rathaus.
"Komm, Julius!" Sagte Madame Dusoleil und nahm ihren Gast an die Hand.
"ich hoffe, ich habe nicht zu viel ausgeplaudert", flüsterte Julius Madame Faucon zu. Diese meinte:
"Dafür, daß du sehr abgekämpft bist, hast du dich sehr souverän gehalten. Ich werde klären, wer da solche Gerüchte über dich in Umlauf gebracht hat. Denn von denen hier in Millemerveilles kann es keiner gewesen sein."
"Vielleicht hat wer im Ministerium sich ein paar Galleonen dazuverdienen wollen", vermutete Julius, der solche Lecks in wichtigen Behörden aus der Muggelwelt kannte.
"Wer auch immer das war: Wir müssen behutsam vorgehen, ihm oder ihr nicht den Eindruck zu vermitteln, in ein Wespennest gestochen zu haben, obwohl es genau das ist, wenn Mademoiselle Chermot diese These in die Zeitung bringt."
"Ich schicke eine Express-Eule zu Nathalie. Die soll dem Redakteur des Miroir einen leisen Vorschlag machen", meinte Madame Delamontagne. Was damit gemeint war, verstand Julius nicht. Außerdem überkamen ihn die letzten anstrengenden Stunden wieder mit voller Wucht, jetzt, wo er sich nicht mehr zusammenreißen mußte, um den Fragen einer gerissenen Reporterin zu begegnen.
Auf dem Rückflug saß Julius vor Madame Dusoleil auf dem Besen und lehnte sich an sie. Sein Kreislauf fuhr Achterbahn und Wirbelwindkarussell in einem, so sehr hatte ihn das Endspiel ausgezehrt. Im Wohnhaus der Dusoleils wurde Julius ohne weiteres Wort an die übrigen Familienangehörigen zu Bett geschickt. Madame Dusoleil persönlich stellte sicher, daß ihr Gast und Schützling schnell in seinen Pyjama und ins Bett kam. Sie deckte ihn zu und murmelte:
"Mach dir keine Sorgen um diese Chermot. Mit dem, was sie über dich hat, kann sie nicht viel anfangen. Du hast eine sagenhafte Selbstbeherrschung. Das empfiehlt dich für einen Beruf im Ministerium. Schlaf schön!"
Julius konnte noch ein "Danke, Sie auch", herausbringen, da versank er auch schon in den tiefen eines langen, unbeschwerten Schlafes.
Tättärätäh!! Schmetterte der Trompetenzwerg einen Weckgruß und holte Julius aus dem Schlaf. Sein Kopf schmerzte etwas, als habe er am Vorabend kräftig getrunken. Er quälte sich aus dem Bett, wankte zum Stuhl mit seinen Sachen und ging ins Badezimmer, wo er sich mit einer radikalen kalten Dusche wachrüttelte. Dann zog er sich an und stieg die Treppe zum Wohnbereich hinunter. Er fürchtete sich vor der heutigen Ausgabe des Miroir Magique. Würde Ossa Chermot sich über seine besondere Zauberbegabung auslassen?
"Na, wie geht's?" Fragte Jeanne munter. Claire deutete auf den Platz zwischen sich und ihrer ältesten Schwester.
"Wußte nicht, daß man sich nach einem langen Schachspiel auch wie besoffen fühlen kann", erwiderte Julius, nun wieder ganz wach.
"Du hättest doch vorher aufhören können", meinte Madame Dusoleil hintergründig lächelnd und legte ihm viel zum Frühstück vor. Baguettstücke mit Käse, Marmelade und Honig. Eine extragroße Tasse mit goldgelbem Milchkaffee, ein Glas mit Orangensaft und ein Stück Gewürzkuchen standen ebenfalls für Julius bereit.
"In was hätte ihn und dich Eleonore denn verwandeln sollen, Camille, wenn du ihm erfolgreich diesen Rat gegeben hättest?" Fragte Mademoiselle Dusoleil. Julius, der nun wieder genug Schwung zum Scherzen fühlte, erwiderte:
"In einen großen Keramikblumentopf und eine rote Rose mit Wurzeln."
"Ausgerechnet rot", wandte Madame Dusoleil ein. Dann lachte sie.
Julius nahm Monsieur Dusoleil die Zeitung aus der Hand und stellte aufatmend fest, daß er nicht auf der ersten Seite zu finden war. Erst auf den Seiten vier bis sechs war ein Artikel über das Schachturnier. Er las es als erster laut vor:
"Jungzauberer Julius Andrews aus England gewinnt das 650. Schachturnier zu Millemerveilles!
Gestern errang in einem neun Stunden und sechsundvierzig Minuten andauernden Spiel der aus Großbritannien stammende Jungzauberer Julius Andrews, welcher bereits zum zweiten Mal daran teilnahm, die höchste Trophäe im Jubiläumsturnier der Schachinteressenten zu Millemerveilles. In einem langen, teilweise unübersichtlichen Kampf um das Schachmatt bezwang er die vielfache Turniersiegerin und leidenschaftliche Schachmeisterin Eleonore Delamontagne und sicherte sich damit den goldenen Zaubererhut von Millemerveilles. Julius Andrews, der in Millemerveilles seine Sommerferien verbringt, äußerte sich auf meine Befragung direkt nach dem Turnier über seine Pläne und seine Leidenschaft für Schach und Tanz.
"Wenn man mich läßt!" Sagte er zum Beispiel, als er befragt wurde, ob er auch wiederum an dem Sommerball von Millemerveilles teilzunehmen gedenkt und stellte klar, daß ihm Schach und Tanz gleichermaßen wichtig seien, wenn es um seine Freizeit ginge. Er lobte Millemerveilles und dessen Bürger und bekräftigte, gern in diesem Ort zu verweilen, da er dort warmherzige Aufnahme gefunden habe. Allerdings, so ist zu vermuten, wurde er nicht nach Millemerveilles eingeladen, weil dieser Ort ihm warme und ruhige Geborgenheit und überdurchschnittlich gutes Wetter böte, sondern weil er einerseits an die Erfolge der vergangenen Turniere anzuknüpfen habe und andererseits in England, wo er herstammt, offenkundig keine solch warme und geborgene Unterbringung vorfindet. Gerüchte, wonach er aus besonderen Gründen von den Spitzen unseres Ministeriums für Zauberei zum Verweil in Millemerveilles angeregt worden sei, weil er besondere Begabungen oder eine besondere Abstammung aufweise, wurden als haltlos zurückgewiesen und konnten sich nicht bestätigen lassen. Demnach bleibt nur zu vermuten, daß der Jungzauberer aus England seine Ferienzeit in Millemerveilles nach dem Schachturnier nutzt, um gesellschaftliche Kontakte zu fördern. Wahrscheinlich wird er auch am nächsten Schachturnier teilnehmen."
Es folgten die direkten Äußerungen der vier besten Turnierteilnehmer mit Fotos. Julius atmete auf. Offenbar hatten Madame Delamontagne und Madame Grandchapeau schnell und ganze Arbeit geleistet, um das mit seiner Ruster-Simonowsky-Begabung aus der Zeitung zu halten. Entweder war der Informant dazu gebracht worden, seine Vermutungen zu widerrufen, oder man hatte der Zeitung etwas wichtigeres vorgeworfen, woran sie kauen konnte. Und tatsächlich fand Julius beim Zurückblättern auf Seite eins einen umfangreichen Artikel über einen Skandal in der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit, der in sich zwar sensationell, aber nach kurzer Aufregung doch harmlos war, zumal das Ministerium bestätigte, daß die für den Skandal zuständigen Beamten entlassen worden seien.
"Wer könnte ausgeplappert haben, daß ich kein normaler Zauberer bin?" Fragte Julius Madame Dusoleil. Diese meinte:
"Jemand, über dessen Tisch solche Berichte gehen. Vielleicht wurde jetzt was hingebogen, das diese Sachen widerlegt. Wer immer der Informant war oder ist, wurde vielleicht von der Redaktion des Miroir Magique hingewiesen, Beweise beizubringen, die er dann nicht mehr hatte."
"Daran siehst du, wie wichtig es ist, daß du hier gut untergebracht bist, Julius", sagte Mademoiselle Dusoleil. "Wenn du das Turnier nicht gewonnen hättest, hätte die dich aus irgendeinem dummen Anlaß heraus in die Zeitung gebracht, weil ja sonst nichts wichtiges passiert. So konnte Madame Delamontagne schnell genug die Hand drauflegen, ohne weiteren Staub aufzuwirbeln, hoffe ich."
Im Ferienunterricht bei Madame Faucon ging es weiter mit den gemütsverändernden Flüchen, wobei es Elisa Lagrange gelang, ihren Freund Dorian mit einem Sensitivus-Fluch so schreckhaft zu machen, daß selbst das kleinste Geräusch ihn zusammenfahren ließ. Am Ende des Unterrichtstages gab Madame Faucon noch mal auf, alle gemütsverändernden Flüche zusammenzufassen und die Gegenzauber dazu aufzuschreiben. Dann kündigte sie an:
"Morgen werden wir die Flüche mit materiellen Produkten beginnen. Lesen Sie sich dazu die entsprechenden Kapitel durch!"
Wie vor zwei Wochen üblich wechselten sich die Ferienschüler ab, die einen Sozius oder eine Sozia transportierten. Julius flog mit Dorian Dimanche zurück, der sich schwer von dem Sensitivus-Fluch erholt hatte.
"Du und Virginie seid wirklich gut aufeinander abgestimmt", sagte er. "Man könnte meinen, ihr trainiert Fluchabwehr wie einen Tanz."
"Sie kennt sich halt nur so gut aus, wie ich, Dorian. Ich habe von Madame Faucon ein Buch über Gegenflüche, aus dem ich viel gelernt habe. Außerdem hatten wir im letzten Schuljahr einen Lehrer, der uns ausschließlich in Fluchabwehr ausgebildet hat."
"Ich habe im letzten Jahr eine Zwei in Professeur Faucons Kurs bekommen. Aber Elisa ist einfach besser als ich. Hängt das vielleicht mit dem Zauberertalent zusammen?"
"Teilweise wohl. Du hast heute morgen nicht vielleicht die Zeitung gelesen?"
"Papa reserviert die Zeitung nur für sich. Aber er hat schon erzählt, daß da was über deinen Sieg beim Schachturnier drinsteht und was du gesagt hast. Die Chermot vermutete ja, daß du besondere Zauberkräfte hättest. Wer hat denn da gesungen?"
"Wie? Du glaubst, da hätte wer aus Hogwarts oder dem französischen Zaubereiministerium was in die Welt gesetzt?" Tat Julius unschuldsvoll, als habe er sich das nicht gleich so vorgestellt.
"Daß du kein normaler Zauberer bist, wissen wir ja alle, und deshalb hat dich die Alte ja auch unbedingt in diesen Ferienunterricht reinholen wollen. Also ist da auch was im Ministerium bekannt. Vor drei Jahren stand mal was über eine Sekretärin in der Abteilung für magische Pflanzen und Pilze, die für Zucht und Bekanntmachung von Zauberpflanzen zuständig ist. Diese Sekretärin soll eine Plantage von wilden Alraunen unter dem Tisch ihres Chefs hindurch ungemeldet gelassen haben, damit die Alraunenpflücker die Dinger teuer verkaufen konnten. Wilde Alraunen sind nämlich nicht nur für die Rückverwandlung zu gebrauchen, sondern auch in der schwarzen Magie. Das war ein Heidenskandal, als das aufflog, daß diese Hexe sich für ein ungesetzliches Zubrot von hundert Galleonen im Monat hat kaufen lassen. Der Entdecker dieser Plantage, beziehungsweise Population, wie es eigentlich heißt, hat den Standort ordentlich anmelden wollen. Das war Oleande Champverd. Die kennst du ja noch."
"Die Sekretärin von damals?" Tat Julius wie ein Idiot.
"Nöh, die Entdeckerin dieser Wildalraunen. Deshalb ist ja die ganze Kiste aufgeflogen, weil die ehrenwerte Dame ein halbes Jahr später diesen Standort noch mal besucht hat und feststellen mußte, daß da Zauberer und Hexen einfach drin geräubert haben. Sie ging noch mal zum Ministerium, diesmal direkt zu Grandchapeau - mit dem kann sie auch gut - und hat das noch mal angemerkt. Dabei kam das raus."
"Dann kann ich mir vorstellen, daß auch in meinem Fall wer meinte, was tolles verhökern zu können. Aber dann hätte ich ja ein Problem. Wer die Presse mit sowas füttert, könnte auch Leute anquatschen, die das noch mehr interessiert."
"Du meinst Du-weißt-schon-wen?" Fragte Dorian sehr beklommen.
"Lord Voldemort, genau", sagte Julius, der ruhig sprechen konte, weil er sich schon längst darüber im klaren war, daß der dunkle Lord Spione in den ihm wichtigen Zaubereiministerien besaß. Das war ja auch ein Grund, weshalb man ihn gleich von Hogwarts über Beauxbatons nach Millemerveilles gebracht hatte.
"Mann, du kannst den doch nicht einfach beim Namen nennen", erschrak Dorian. Julius grinste, was der hinter ihm sitzende Dorian nicht sehen konnte.
"Ich kann den beim Namen nennen oder nicht, das ändert nichts daran, daß er gefährlich ist, Dorian. Also kann ich das Monster auch beim Namen nennen. Abgesehen davon glaube ich mittlerweile auch nicht mehr, daß der wirklich so heißt. Der hat sich einen Kriegsnamen zugelegt, wie ein Soldat oder ein Cowboy im wilden Westen, oder wie ein Boxer oder Ringkämpfer. Es soll sogar Quidditchspieler geben, die sich einen heftigen Namen zugelegt haben. Willy das Wiesel von den Chudley Canons 1967 bis 1978.".
"Und wenn auch, den Namen darf man nicht laut sagen, sagen Maman und Papa", knurrte Dorian, wohl eher aus Verzweiflung als aus Wut.
Wieder zurück im Wohnhaus der Dusoleils fand Julius einen Brief vor, der am Morgen eingetroffen war. Er kam von Kevin Malone. Julius las:
Hallo, Julius!
Ich hoffe, du hattest eine tolle Geburtstagsfeier und die Kleine, mit der du letztes Jahr getanzt hast hat sich auch über die Zauberlaterne gefreut.
Wir hatten hier jede Menge zu tun. Wir haben Gemüse geerntet, ohne Zauberkraft. Meine Großeltern haben uns durch die Felder gescheucht, während sie in Ruhe das Haus repariert haben. Man, ein Quidditchspiel ist absolut nichts dagegen!
Gestern ist was passiert! Gilda war bei uns zu Besuch, um mal zu sehen, was ich so anstelle, wenn ich nicht in Hogwarts bin. Nun, sie war nicht begeistert, als sie Mirella getroffen hat. Mirella ist die Tochter eines Freundes meiner Großeltern. Sie lebt in einem Zaubererdorf im mittleren Westen von Amerika und geht auf die Thorntails-Schule, das was sowas wie Hogwarts bei uns ist. Die ist im Moment hier und hilft auch mit. Ich saß mit Mirella auf dem Heuboden und intonierte unsere größten Klassiker wie "Whiskey im Kruge" oder "Die Stadt, die ich so liebte". Gilda hat einen tierischen Aufstand gemacht, eben wie ein Mädchen halt, ob ich mich nicht schämen würde, mit jeder anzubandeln, die mir über den Weg läuft und so. mirella hat sich drüber geärgert und sich mit Gil in eine wüste Keiferei verzettelt. Ich hab dann versucht, die beiden Mädels zu beruhigen, was aber nicht gelang, weil Mirella meinte, ich hätte ihr irgendwelche Hoffnungen gemacht und Gilda das dann so hörte, als hätte ich mit Mirella was angefangen. Mann, schaff dir bloß keine Freundin an! Das kann ja schlimmer sein als die Hölle, von der Großvater Patric uns gerne erzählt, wo die dunklen Magier hinkommen sollen, wenn sie nicht als Geist weiterspuken. Aber ich fürchte, du bist ja total von interessierten Mädels umringt. Pass bloß auf, daß die dich nicht in Stücke reißen, nur um was von dir zu haben, weil du so gut tanzen kannst. Vielleicht hat diese Madame Dusoleil, deren Tochter dich im letzten Jahr gefüttert hat, dich ja schon verkuppelt, ohne daß du das mitbekommen hast.
Ich hoffe, du amüsierst dich gut.
Alles liebe und tolle
Kevin Malone
Julius faltete den Brief zusammen, ging auf sein Zimmer und schrieb Kevin eine kurze Antwort, in der er ihm berichtete, was um seinen Geburtstag und das Schachturnier gelaufen war. Er fügte auch ein, daß sich Pina und Claire Dusoleil irgendwie in die Wolle gekriegt hätten, weil Pina gemeint hatte, der Sommerball sei was zum verkuppeln. Dann schrieb er noch:
"Kauf mir ja die sechs Schokofrösche! Das Schachturnier war anstrengend, aber ich habe es hinbekommen, den goldenen Hut zu gewinnen. Das steht sogar in der Zeitung, dem Miroir Magique."
Er schickte Francis mit dem Brief los und ging zum Mittagessen.
Weil es Dienstag war, fand für Julius am Nachmittag eine weitere Ferienstunde in magischer Ersthilfe statt. Madame Matine holte ihn um zwei Uhr ab und nahm ihn mit zu sich. Dort fragte sie ihn noch mal, was er von der letzten Stunde behalten hatte. Dann holte sie ihre Instrumententasche.
"Du hattest letzte Woche mehr Glück als Verstand, daß du den Schnatz runterbekommen hast und er dir nicht Luft- und Speiseröhre verstopft hat, junger Mann. Du erinnerst dich noch, wie ich den wieder rausbekommen habe?"
"Das Ding mit dem Taschenspiegel, dem Schleimtrank und der ferngesteuerten Zange?" Fragte Julius zurück. Madame Matine nickte. Dann erklärte sie ihm:
"Der Spiegel ist ein Einblickspiegel. Hältst du ihn mit der spiegelnden Fläche jemandm an den Körper, wirkt er wie ein Sichtfenster in den berührten Bereich. Ich zeige dir das mal genauer."
Sie legte jenen etwa CD-großen Spiegel mit der spiegelnden Seite gegen ihren Bauch und forderte Julius auf, sich anzusehen, was zu sehen war. Der Hogwarts-Schüler schrak erst zurück, als er wie durch ein eingeschnittenes Loch in den Leib der Heilhexe hineinblicken konnte. Das Sonnenlicht schien durch die nichtspiegelnde Rückseite einzudringen und innen so gespiegelt zu werden, als hielte man das Glas richtig herum in die Sonne. Julius sah die rötlichen, vom pulsierenden Blut durchflossenen Organe, wie er sie in einer Medizindokumentation im Fernsehen mal mit seinen Eltern gesehen hatte. Sein Vater war dabei kreidebleich aus dem Raum gelaufen und hatte unüberhörbar sein Mittagessen ins Klo gespien. Julius fand das damals Interessant, wie Minikameras in lebende Menschen hineingeführt worden waren. Auch jetzt verflog das Unbehagen schnell, obwohl das, was er sah, viel echter war, als flimmernde, nur flach zu sehende Fernsehbilder. Madame Matine fragte ihn, was er sehen könne, und Julius bezeichnete alle Organe, die er zuordnen konnte. Dann sagte er:
"Ja, aber das Spiegelding kann ich doch nicht benutzen, wenn ich erste Hilfe leiste. Da habe ich gerade mal einen Zauberstab dabei, vielleicht eine Brandheilsalbe in der Nähe oder ähnliches. Aber sowas ist ja heftig."
"Auf jeden Fall haben deine Muggeleltern dich gut aufgeklärt. Dieser Spiegel hilft mir nicht nur beim Herausholen eines Schnatzes, sondern auch bei der Vorgeburtsuntersuchung. Dafür ist er im wesentlichen da. Aber ich denke mal, Madame Pomfrey hat in Hogwarts etwas ähnliches, obwohl sie den Zauber beherrscht, mit dem man fühlen kann, wo Verletzungen oder Brüche liegen. Das mit der Zange ist auch was, daß nur ausgebildete Heilmagier benutzen können. Aber was ich dir heute zeigen möchte, ist die Technik, mit dem Zauberstab innere Verletzungen zu behandeln, bevor sie ein voll ausgebildeter Heilmagier korrekt heilen kann. Aber vorher möchte ich dir im wahrsten Sinne einen Einblick in meine Tätigkeit geben, da ich denke, daß dein Grundwissen ohne praktische Erfahrungen nicht viel nutzt."
"Öhm, Sie wollen doch nicht etwa haben, daß ich mit jemandem ...", setzte Julius verdutzt an. Madame Matine schüttelte bedächtig den Kopf und räusperte sich.
"Nicht unter deinem siebzehnten Lebensjahr, Jungchen. Es ist zwar möglich, Jungen und Mädchen auch darin auszubilden, ganz legal, ohne die verdorbenen Hintergedanken der Muggel, wie es den Hexen in der Frühzeit auch oblag, aber du bist erst dreizehn jahre alt und daher wohl noch nicht in unmittelbarer Lernnot, wenn überhaupt. Bei den Meisten ergibt sich das von selbst, weil die Mutter Natur uns alle mit den nötigen Anlagen ausgestattet hat, es zu erlernen, ohne es vorher angelesen oder beobachtet zu haben. Wir überspringen also das von dir befürchtete, vielleicht auch erhoffte und kommen zum nächsten Stadium. Du hast mir ja förmlich in den Schoß geschaut. Da du alles erkannt und richtig zugeordnet hast, möchte ich dir vorführen, wie es bei einer hoffnungsvollen Hexenmutter aussieht. Nicolette!"
Aus einem Zimmer des Hauses, das Madame Matine bewohnte, erklang eine muntere Frauenstimme, und eine Viertelminute später stand eine Hexe wohl ende zwanzig im Behandlungs- und Büroraum der Heilmagierin, wo sie den Unterricht abzuhalten pflegte. Sie trug ein Kostüm aus einem weißen Rock und einer dotterblumengelben Seidenbluse, die, das fiel Julius sofort auf, gerade noch so eben die großen Brüste bergen konnte, welche die Hexe gerade mit sich herumtrug, wie auch den vorgewölbten Bauch, der baldigen Nachwuchs ankündigte. Die Hexe lächelte Julius an, der schamrot angelaufen war, weil er nicht wußte, wie er mit dieser Situation fertig werden sollte. Einerseits gaben sich die französischen Hexen sprichwörtlich zugeknöpft, zeigten selbst im Hochsommer wenig nackte Haut, gingen aber mit Sexualität und Mutterschaft so locker um, wie mit Koch- oder Backrezepten oder den neusten Sportmeldungen. Ihm war immer noch nicht klar, wie das für ihn zusammenpassen konnte, der von seinen Eltern nur deshalb so früh aufgeklärt worden war, damit er nicht von anderen was mitbekam, was sie nicht gut fanden, und sehr private Dinge waren, über die er sich im Vergleich zu anderen Jungen nie lustig gemacht hatte und wenn dann nur soweit, daß er einem Mädchen mal unterstellt hatte, das sie mit dem tollen Körper schon für erwachsen durchging.
"Nicolette, das ist der junge Monsieur Andrews, von dem ich dir ja erzählt habe. Julius, das ist meine Nichte Nicolette Clavier. Sie wird im September ihr drittes Kind bekommen. Ich habe sie gefragt, ob sie dir erlaubt, dir das Ungeborene einmal anzusehen, bevor wir uns mit der Ortung und Milderung innerer Verletzungen befassen. Sie hat zugestimmt, wenn du niemandem verrätst, was sie für ein Kind erwartet. Sie weiß es, und ich weiß es natürlich auch. Also kannst du es ruhig uns sagen, wenn du es herausfindest. Du brauchst dich nicht zu genieren. Das ist was rein natürliches."
"Ja, aber Madame Dusoleil und Madame Faucon haben mir erzählt, daß man als Zauberer keine nackte Hexe ansehen darf, wenn man sie nicht auch heiraten will und umgekehrt. Deshalb würden sich Jungen und Mädchen auch in einem verschlossenen Raum umziehen", warf der Hogwarts-Schüler ein, der immer noch nicht wußte, wie ihm geschah.
Die beiden Hexen, Tante und Nichte, lachten lauthals. Dann sagte Nicolette:
"Das gilt für unverheiratete Hexen und Zauberer, Julius. Ich bin seit sechs Jahren sehr glücklich verheiratet. Außerdem gilt das für unbekleidete Geborene Hexen und Zauberer über fünf Jahren. Wenn mein Kind ein Mädchen ist, mußt du nicht siebzehn Jahre warten, um ihm einen Heiratsantrag zu machen. Mich siehst du ja auch nicht unbekleidet."
"Diese Sitte gilt im Bezug auf nackte Haut und die äußeren beziehungsweise sichtbaren Geschlechtsorgane, Julius. Genügt das, um deine Hemmungen zu zerstreuen. Immerhin hast du mich ja auch schon mit dem Spiegel angesehen, und ich bin seit zehn Jahren Witwe, gelte also gemäß dieser Sitte wieder als unverheiratet."
"Wenn das kein Voyeurismus ist, dann nehme ich Ihr Angebot an", stimmte Julius zu und fand seine innere Ruhe wieder. Er nahm vorsichtig den Einblickspiegel von Madame Matine und näherte sich der schwangeren Hexe. Vorsichtig legte er ihr das magische Instrument auf den geschwollenen Unterleib, was sie sich ohne jede Gesichts- oder Körperregung gefallen ließ. Dann sah er auf die Rückseite des Spiegels und konnte deutlich einen in einer grünlichen Flüssigkeit schwimmenden Kopf sehen, der so klein War, daß der Einblickspiegel ihn voll erfassen konnte. Dann schob der Hogwarts-Schüler vorsichtig, jetzt eher neugierig als verlegen, den Spiegel nach unten und konnte so den ganzen Körper betrachten, bis er das ungeborene Kind vollends gesehen hatte, wie es mit einer pulsierenden Schnur am Bauchnabel mit dem Körper seiner Mutter verbunden war. Dann erkannte er auch, daß es ein Mädchen sein mußte, da die Beinchen leicht voneinander gestreckt waren. er sah, wie das ungeborene Wesen mit der rechten Faust einen Haken schlug und die Innenwand seiner winzigen Aufbewahrungsstätte traf.
"Huch, merkt die Kleine, daß man ihr zuguckt?" Wunderte sich Julius.
"Nein, der Spiegel ist nur von einer Seite durchsichtig, auch wenn wir meinen, er werfe das Umgebungslicht in den betrachteten Bereich", lachte Madame Matine, als Julius den Spiegel schnell fortzog.
"Immerhin hast du sofort erkennen können, daß ich eine Tochter bekommen werde. Wieder einmal. Dabei war das vor einigen Tagen noch kritisch, weil da eine Reihe von dumpfen Donnerschlägen zu hören war. Das hat mich ziemlich erschreckt."
"Gut, daß Sie das Baby nicht verloren haben, Madame Clavier", sagte Julius. Dann fragte er:
"Wieder einmal? Die wievielte Tochter ist es denn?"
"Die dritte", lachte Madame Clavier. Dann meinte sie: "Jetzt habe ich Roseanne und Camille bald eingeholt. Roseanne meinte, mit Zwillingen einen satten Vorsprung herausholen zu können."
"Das hat sich ja dann nicht bestätigt", sagte Julius lässig. Jetzt, wo die künstliche Scham ihn verlassen hatte, weil ja wirklich nichts anstößiges dabei war, hatte er seine alte Coolness wiedergefunden.
"Auf jeden Fall bedanke ich mich bei Ihnen für dieses interessante Erlebnis, Madame Clavier."
"Das ist noch nicht vorbei, Julius. Zu meiner Tätigkeit gehört nämlich auch, das Befinden ungeborener Kinder zu erforschen. Setzt du das hier bitte mal auf!" Wandte sich Madame Matine an ihren Ferienschüler und reichte ihm eine Art alter Nachtmütze, wie sie früher zur guten Nachtbekleidung gehört hatte. Julius nahm die mit merkwürdigen Mustern und Zeichen bestickte Kopfbedeckung und zog sie über den Kopf. Unvermittelt fiel sie ihm über Augen und Ohren, und die Welt um ihn herum versank in Stille, Dunkelheit und Schwerelosigkeit, als habe er keinen Körper mehr. Er hörte noch nicht einmal seinen Atem oder Herzschlag. Dieser beängstigende Zustand, der ihm merkwürdig vertraut vorkam, dauerte nur fünf Sekunden. Dann fühlte er seinen Körper wieder. Aber nein, das konnte nicht sein Körper sein. Denn er schwebte, besser schwamm in einer Art Gefäß aus weichem Material und bewegte sich nicht nach seinem Willen, sondern nach dem eines Anderen, fühlte, hörte, und sah jedoch so, wie das andere Wesen. Er hörte seinen Herzschlag mit mehr als hundert hellen Klopfern pro Minute und das Dumpfe Pochen eines übergroßen Herzens irgendwo über oder neben sich. Dann erklang Madame Matines Stimme, wie durch Watte gefiltert:
"Das ist ein Exosenso-Satz, Julius. Eine Kopfbedeckung und ein Auflegetuch, das den, der die Mütze trägt in die volle Empfindungswelt dessen einschleust, in dessen Kopfes Nähe das auflegetuch gerät. Wer es benutzen will, muß das Tuch zu Beginn der Beobachtung mindestens um den Hals tragen. Dann kann er für fünf Sekunden frei handeln, wenn er das Tuch bewegt. Dann tritt eine totale Sinnesbetäubung ein. Liegt das Tuch dann auf dem Kopf oder der Nähe eines lebenden Kopfes, erfährt man die fremden Wahrnehmungen. Höchst interessantes Gefühl, nicht wahr?"
"Ja, das stimmt", hörte sich Julius wie hinter einer weichen Wand sprechen, empfand jedoch nichts, was ihm das Gefühl gab, selbst zu sprechen. Keine Mundbewegung, keine Zunge, kein Atemzug war von ihm zu fühlen. Dennoch konnte er offenbar sprechen.
"Am besten machen wir jetzt Schluß", dröhnte Madame Claviers Stimme von allen Seiten auf Julius ein. "Felice scheint das zu spüren, daß wer ihr kleines Reich ausspioniert."
Tatsächlich spürte Julius, wie er ohne es zu wollen mit Armen und Beinen ausschlug und dabei auf weichen Widerstand traf.
"Mann, ist das laut", hörte er sich selbst wieder wie durch Watte gefiltert sagen. Dann fiel er wieder in die stille Dunkelheit. Diese dauerte jedoch nur zwei Sekunden, dann spürte er sich selbst auf einem Stuhl sitzen, fühlte und hörte Herzschlag und Atmung und sah die hoffnungsvollle Hexenmutter durch einen bläulichen Schleier. Er erkannte, daß er durch das feine Gewebe der übergezogenen Mütze sah und zog sie schnell aber bedacht vom Kopf. Dann sah er das violette Tuch mit den fremdartigen Zeichen und Mustern, das Madame Matine wohl um seinen Nacken gelegt hatte, als er mal kurz in Felices Vorwelt eingebettet war.
"Hui, das war ja fast so, wie in diesem Traum, den ich vor einigen Tagen hatte", sagte Julius in einem unbedachten Moment. Madame Clavier sah ihn fragend an und fragte, was das für ein Traum war. Madame Matine sagte:
"Du mußt den nicht erzählen, wenn er dir zu persönlich oder peinlich ist. Aber wenn du es tust, werden wir es keinem weitererzählen."
Julius gab sich einen Ruck. Ein Huhn das gackerte, sollte auch ein Ei legen, entschloss er sich und erzählte seinen Traum, den er in der Nacht zum 17. Juli geträumt hatte, direkt nach dem Tag mit den vielen Überschallflügen. Er erzählte auch, das er glaubte, warum er diesen Traum geträumt und woher er die Idee, den Grund für den Traum hatte. Madame Matine sah ihn erstaunt an und nickte dann.
"Dann waren diese Flugdinger gefährlicher, als ich ursprünglich angenommen habe. Gut, daß Professeur Fixus das bereinigt hat. Immerhin warst du ja mit Eleonore in Paris deswegen."
"Ich habe von diesen Muggelmordmaschinen gelesen. Selbst jene, die nicht direkt von ihnen getötet werden können Schäden davontragen, weil eine unsichtbare Ausstrahlung einen Körper auch nach Jahren schädigt und mißgebildete Kinder hervorbringen kann. Gut, daß wir wen hierhaben, der sich mit sowas auskennt."
"Hmm, Madame Clavier. So gut kenne ich mich damit nicht aus. Aber offenbar hat's Professeur Fixus gereicht", wiegelte Julius ab. Dann bedankte er sich noch mal bei Madame Clavier für dieses einzigartige Erlebnis und wandte sich an Madame Matine.
"Das machen Sie jedesmal, wenn Sie werdende Mütter betreuen?"
"Ja, das mache ich. Wie du gemerkt hast, kannst du unter der Exosenso-haube frei atmen und sprechen, wenn du nur daran denkst. Der Atem ist sowieso vom Willen unabhängig, sonst würden zuviele Leute es vergessen, wenn sie was wichtiges oder anstrengendes bedenken oder lernen müssen. Allerdings muß man sitzen, weil das Gleichgewicht mit den eigenen Sinnen ausgeschaltet wird. Die Arme gehorchen dir zwar noch, aber wegen der fehlenden Empfindungen sind sie unkontrolliert und können zu weit ausgreifen. Deshalb hilft mir eine werdende Mutter immer dabei, wenn ich diese direkte Einblicknahme vornehme. Im Verlauf der nächsten Wochen zeige ich dir auch Pflegetechniken für Neugeborene und Hilfsmaßnahmen, wenn du eine Gebärende betreuen mußt, bevor eine Heilmagierin zur Stelle ist."
"Heilmagierin?" Fragte Julius.
"Die Geburt eines Kindes ist trotz progressiver Denkansätze eine Sache zwischen der Mutter, einer Hebamme und dem Kind. Deshalb werden dafür Heilmagierinnen benötigt. Zulässig ist die Anwesenheit eines Zauberers nur dann, wenn noch keine Heilmagierin zur Stelle ist. Dann entfällt im Übrigen auch die Sittlichkeitsbeschränkung, daß du einer Hexe nicht auf den entblößten Leib schauen darfst, ohne sie später zu heiraten. Nur für den Fall, daß du später einmal in eine entsprechende Situation kommst und nicht wagst, eine Gebärende direkt anzusehen, nur weil du keine Mutter mit Kind heiraten möchtest. So, und nun zu den für den Kurs wichtigeren Unterrichtseinheiten. ..."
Madame Matine zeigte Julius die drei Zauber, die er lernen sollte, um innere Verletzungen zu erkennen und zu mildern. Den Läsiotectus-Zauber, der offene Wunden innerhalb des Körpers anzeigte, wie eine Wünschelrute Wasseradern und ein Metalldetektor alte verbuddelte Münzen meldet, den Sanguicalmus-Zauber, der die betroffenen Adern verengt, sodaß weniger Blut ausströmte und den Sanguiremotus-Zauber, der ausgeströmtes Blut in unverletzte Adern umschichten konnte. Julius trainierte diese drei zauber an einem Kaninchen, das von Madame Matine dafür mit leichten, aber behandelbaren inneren Verletzungen geschädigt worden war. Julius wandte ein, daß dies doch Tierquälerei sei, das so zu lernen. Madame Matine widersprach:
"Wenn du es aus Bösartigkeit verletzt, julius, ist das Tierquälerei. So ist es genauso ein zum Lernprozess notwendiger Versuch, wie er in den Lehranstalten der Muggel jeden Tag zu hundertausenden vorgenommen wird. Oder möchtest du mir jetzt vorhalten, wir hätten es nicht nötig, eine solche Barbarei zu betreiben. Mag sein, daß wir durch die Zauberei vieles machen können, was den Muggeln unmöglich ist. Aber für die Heilkunde müssen wir auch Versuche mit niederen Lebewesen machen, wie die Mediziner der Muggel auch, um das Gefühl für die Behandlung lebender Wesen zu erleben. Du hast doch eben miterlebt, wie weit Bilder und Schriften über die Natur einer Schwangerschaft von einer direkten Wahrnehmung entfernt sind. Das gilt auch für die Behandlung von Krankheiten. Das hat schon der Magier und heilkundler Paracelsus festgestellt, daß ein Arzt nicht nur aus Büchern lernen kann."
"Magier? Paracelsus war Zauberer? Das dürfen Sie meinem Vater nie erzählen. Der führt ihn immer als Begründer der wahren Wissenschaften ohne Aberglauben an. Der hat die Alchemie zur Chemie hin verändert, sagt er und die Gesundbeterei zur echten Heilkunst revolutioniert. Oder meinen Sie vielleicht einen anderen Paracelsus?"
"Ich meine Theophrastus Bombastus von Hohenheim. Der war ein echter Zauberer, Julius. Nur hat er seine magischen Künste nur unter seinesgleichen angewendet und die damals nur den Hexen und Zauberern bekannten Heilverfahren so umgesetzt, daß sie auch von Nichtmagiern verstanden und praktiziert werden konnten. Er blieb aber immer Alchemist, auch wenn er die einfacheren Elementarreaktionen an die Muggel seiner Zeit weitergab."
"Man lernt doch nie aus", sagte Julius beeindruckt.
"Deshalb bist du ja auch hier", sagte die Heilkundlerin und ging mit Julius noch mal die drei Ersthilfezauber durch. Julius fragte, ob der Injuriclausa-Zauber zum Schließen von Wunden nicht helfen würde. Er erfuhr, daß man eine Wunde genau mit dem Zauberstab anvisieren müsse, um sie zu schließen.
Zum Abschluß der sehr lehrreichen Stunden fragte Julius noch mal:
"Wielange können Hexen gesunde Kinder ohne größere Risiken bekommen?"
"Die älteste beschriebene Hexenmutter war Sarah Redwood, die vor hundert Jahren mit sage und schreibe neunzig Jahren zwei gesunde Töchter gebar. Sie lebte in Mittelengland und starb vor dreißig Jahren."
"Redwood? Hmm, interessant", erwiderte Julius. Madame Matine schien seine Gedanken zu lesen und führte aus:
"Zurzeit ist ein Urenkel von ihr, Chuck Redwood bei euch in Hogwarts. Er wird wohl in deinem Jahrgang sein. Ich fürchte, die alten Anlagen seiner Urgroßmutter könnten ihn nach Slytherin gebracht haben. Sie konnte nämlich Parsel und verkehrte in einer Schwesternschaft, über die Hexen nur ungern etwas reden, weil sie zu verwerflich ist."
"Sie meinen die Nachtfraktion, die Societas nocturna, die sich aus der Sororitas silenciosa, den schweigsamen Schwestern entwickelt hat?" Fragte Julius ohne groß nachzudenken, ob er das wissen oder gar fragen durfte.
"Oh, woher weißt du denn davon?"
"Eine Schulkameradin hat mir ein Buch über diese Geheimschwesternschaft geschenkt. Das ist öffentlich zu kaufen, habe ich gesehen."
"Ach das. Nun, es ist wohl alles wahr, was dort drinsteht, wenngleich es nur ein Tausendstel dessen enthält, was diese Schwesternschaft betrifft. Die wirklichen Angehörigen wissen tausendmal mehr, und die Hexen, die keine Bundesschwestern sind, kennen vielleicht welche, von denen sie die nicht so brisanten Geheimnisse erfahren haben. Als Heilmagierin höre ich da doch einiges. Aber diese Hexen legen keinen großen Wert auf breite Öffentlichkeit. Und die Nachtfraktion ganz gewiß nicht, junger Mann. Das steht wohl auch in dem Buch, daß dieses Wissen nicht für den ganz freien Markt bestimmt ist, sondern nur zum privaten Wissenserwerb."
"Oh, dann war ich wohl doch zu neugierig", stellte Julius fest und verfluchte seinen Enthusiasmus, der es doch zwischendurch wieder schaffte, seine Besonnenheit auszutricksen.
"Nun, du hast diesen Chuck Redwood wohl bei euch kennengelernt, sonst hätte dich das jetzt nicht so interessiert. Wahrscheinlich habe ich auch mit meiner Vermutung recht, daß er nicht bei euch in Ravenclaw untergebracht ist."
"Ja, Sie haben recht. Der Bursche weiß nicht, was er in Slytherin soll, aber er wurde da hingeschickt", bestätigte Julius kleinlaut. Dann fragte er schnell, wie alt die jüngste Hexenmutter war?"
"Das war eine Beauxbatons-Erstklässlerin vor zweiundfünfzig Jahren, die kurz nach der Einschulung einen Sohn gebar. Ihren Namen verrate ich nicht, weil verfügt wurde, diese Angaben unter Verschluß zu halten. Nur soviel: Du hast sie bis jetzt nicht kennengelernt, und sie lebt auch nicht in Millemerveilles. So, und nun fliege ich dich heim", beendete Madame Matine den heutigen Unterrichtstag.
Als Julius wieder im Dusoleil-Haus war, bestürmten Jeanne und Claire ihn mit Fragen. Irgendwo mußte jemand eine Buschtrommel geschlagen haben, dachte Julius. Denn Claire fragte:
"Stimmt es, daß Madame Clavier dich ihr ungeborenes Kind hat ansehen lassen?"
"Häh? Woher denkst du, daß ich heute einer Hexe mit diesem Namen begegnet sein soll?"
"Weil Madame Clavier die Tante von Béatrice ist und Béatrice vor einer Stunde hier war. Sie erzählte was, daß Madame Matine ihre Tante eingeladen habe, weil sie einem Schüler zeigen wollte, wie ein ungeborenes Kind aussieht", sagte Claire und grinste breit, weil Julius sein Gesicht nicht so gut im Zaum hielt, wie er es bei der Befragung durch Mademoiselle Chermot noch geschafft hatte. Dann erzählte er seine Erlebnisse und auch von dem Kaninchen, an dem er die Hilfszauber ausprobieren mußte. Jeanne meinte:
"Da hat sie recht, wenn sie einräumt, daß Muggelheiler das in der richtigen Ausbildung auch mit lebenden Tieren ausprobieren müssen, wie was geht. Ich habe damals eine Wanderratte behandeln dürfen. Da waren die Skrupel noch kleiner als bei einem weißen Kaninchen."
Julius beschrieb auch für Madame Dusoleil, die sich erkundigte, ob er heute wieder was verwerfliches gelernt hatte, wie es sich unter der Exosensohaube angefühlt hatte, als er in die Empfindungswelt des Kindes hineingeschleust wurde. Fast hätte er verraten, daß es ein Mädchen sei, bekam aber noch die Kurve und sagte, daß es heftiger war, als in diesem Alptraum vom Atomangriff auf Millemerveilles und seiner darauf folgenden Wiedergeburt als Pamela Lighthouses Kind.
"Sie will dich in die Säuglingspflege einweisen? Wieso?" Fragte Claire mißtrauisch. Julius grinste. Dann sagte er:
"Für den Fall, daß ich mich noch mal durch den Infanticorpore-Fluch zurückverwandeln lasse, kann ich mir dann selbst die Windeln wechseln und die Flasche geben, falls keine Hexe diesen Nutrilactus-Trank für mich schluckt."
"Das ist ein Sauzeug", warf Jeanne unsachlich ein. "Dieser Snape hat die Mädchen in unserer Klasse mal diesen Trank brauen und in stark verdünnter Form schlucken lassen. Das tut höllisch weh in den Brüsten, wenn du den Trank nicht korrekt einnimmst und ein Wesen findest, das du dann säugen kannst."
"Ich lese mich bei Gelegenheit mal schlau, wie der geht", drohte Julius an. Jeanne lachte.
"Du wirst dich doch wohl nicht wirklich noch mal mit diesem Fluch belegen lassen. Dann sollte Madame Faucon dich aber zu sich nehmen, wenn sie meint einen Säugling im haus haben zu müssen. Soviel ich weiß, können selbst Großmütter damit noch stillen, wenn ihre Töchter oder Schwiegertöchter zu wenig Zeit oder zu viele Kinder auf einmal zu umsorgen haben."
"Uääääaah!" Entfuhr es Julius. "Ich nehme das gesagte sofort und unwiderruflich zurück."
"Das mit diesem Mädchen, daß kurz nach der Einschulung in Beauxbatons Mutter wurde, habe ich auch gehört", wußte Claire. "Die soll im violetten Saal gewohnt haben. Wie sie hieß, wissen die nicht. Aber irgendwo ist das bei Madame Maxime im Giftschrank unerwünschter Dokumente verbuddelt."
"Ich glaube, ich sollte Hera doch bitten, dich nicht mit ihren Spezialgebieten vertraut zu machen. Nachher erzählt sie dir noch die Story von dem Paar, daß sich gegenseitig durch den Contrarigenus-Fluch behandelt hat, nur weil die eigentliche Frau keine Kinder bekommen konnte und der Mann gerne welche haben wollte. Das ging aber nach hinten los, weil der Mann, der dann als Frau lebte, den Mann, der vorher eine Frau war, nicht mehr leiden mochte. Blanche hat euch ja erzählt, wie dieser Fluch wirkt."
"Steht auch im Buch über Flüche, Gegenflüche, Banne und Meldezauber", bestätigte Julius. "Der Geschlechtertauschfluch, als Contrarigenus-Fluch einer der vier heftigen Körperbeeinflussungszauber, verändert das Geschlecht eines Wesens, sofern es keine Schnecke oder sonstige Zwitterlebensform ist, aber auch die Empfindungen. Männer, die sich freiwillig oder unfreiwillig zu Frauen machen lassen, bekommen eine völlig neue Empfindung, auch wenn die Erinnerungen dieselben bleiben, denken sie doch langsam immer mehr, immer schon als Mädchen beziehungsweise Frau gelebt zu haben und ändern dadurch auch ihre Geschmäcker und Sichtweisen. Wird der Fluch nicht vor der zweiten Schlafperiode umgekehrt, polt sich das ganze gefühlsgebundene Gedächtnis um. Ausnahmen bilden nur Neugeborene und Menschen ohne Seele, wenngleich das schon gruselig ist, daß es solche geben soll."
"Leider ja, Julius", sagte Madame Dusoleil sehr ernst. "In Askaban sitzen mindestens zwanzig magische Schwerstverbrecher, denen die Dementoren die Seele ausgesogen haben, um sie unschädlich zu machen, auf Befehl der betreffenden Zaubereiministerien. Die hätten sie auch gleich hinrichten lassen können."
"Moment", dachte Julius für sich. "Seelenlose Menschen haben doch kein Gedächtnis mehr. - Oder vielleicht doch, aber weil sie ja nichts mehr tun können, nichts mehr mitkriegen können kann das keiner nachprüfen, nicht mal Professeur Fixus."
"Woran denkst du, Julius?" Fragte Claire. Julius suchte und fand eine schnelle Ausrede:
"Ich habe gerade über diese Bestrafungsart nachgedacht. Hinrichten oder sie in was unschädliches zu verwandeln wäre humaner und hätte auch einen großen Abschreckungswert. Diese Dementoren sind ohnehin wandelnde Zeitbomben. Aber da sage ich besser nichts zu. Ihr habt sie ja nicht erleben müssen und werdet das wohl auch nie."
"Blanche hat uns gesagt, daß sie früher dem Unnennbaren beistanden und dies wahrscheinlich auch wieder tun werden, wenn er sich wieder zurückmeldet. Deshalb mag sie diese Kreaturen auch nicht."
"Wenn wir's schon von diesen Monstern haben, muß ich doch fragen, ob die hier nach Millemerveilles reinkommen können?" fragte Julius halblaut.
"eingeschränkt. Sie können hier ihre Kräfte nicht entfalten. Aber reinkommen können sie, solange es dunkel ist. Die Sonne schwächt sie, je stärker sie scheint. Das hat Blanche ja nach deinem Vortrag im letzten Sommer eingeräumt", antwortete Madame Dusoleil.
"Dann hat dieses Dorf doch ein Sicherheitsleck", dachte Julius.
"Wir haben aber Warnzauber, die anzeigen, wo welche sind und einige gute Zauberer und Hexen, die sie abwehren können."
"Den Abwehrzauber habe ich schon gesehen", sagte Julius und berichtete von Harry Potter und seinen Erlebnissen mit den Dementoren.
Nach einigen Minuten wechselte Jeanne das Thema und schlug vor, noch einige Übungsrunden auf den Besen zu fliegen. Claire durfte mit Erlaubnis, ja auf Anregung ihrer Mutter, mit Julius im Tandem fliegen, wobei sie steuerte, erst vorsichtig, dann immer sicherer. Nach der Übungsrunde verkündete sie, daß sie sich im nächsten Schuljahr auch für Tandemflüge anmelden wolle.
"Professeur Dedalus, der Fluglehrer und unsere Saalvorsteherin Professeur Faucon haben mir im letzten Jahr verboten, am Walpurgisnacht-Flug teilzunehmen, weil ich noch nicht die Flugbefähigung habe. Deshalb übe ich auch immer", sagte Claire.
"Hmm, ist das so gefährlich oder anstrengend?" Fragte Julius. Jeanne grinste ihn frech an und fragte:
"Möchtest du das erleben, was du in diesem Jahr nicht mitbekommen konntest?" Julius nickte. Jeanne holte ihren Besen und gebot Julius, hinter ihr aufzusitzen und sich gut festzuhalten, aber nicht seinen Körper zu versteifen.
Dann ging es los. Julius erlebte sein blaues Wunder. Jeanne flog in wilden Zick-Zack-Manövern über den Garten hinweg, schlug Loopings vor- und rückwärts, drehte Spiralen und Schrauben, ließ den Besen in wilden Bocksprüngen über die drei Häuser des Grundstücks hinwegsetzen und zirkelte in Rückenlage über der Wiese herum, bevor sie in einer schnellen Bewegung den Besen in Normallage warf und den wilden Besentanz mit einem Sturzflug mit Punktlandung auf der Wiese beendete. Julius atmete durch.
"Mannomann! Das war ja der rasende Wirbelwind und der irre Alpenblitz in einem! Gut, daß ich beim Besenflug und früher beim Karussellfahren meine Nackenmuskeln so gut trainiert habe, daß mir nicht der Kopf von den Schultern flog. Jetzt wundert mich nicht, daß Janine mich so sicher vom Besen gepflückt hat."
"Früher, wo der Sitzpolsterungszauber bei Flugbesen noch nicht erfunden war, war das Besenfliegen nur für Hexen attraktiv. Die Zauberer damals sind da eher auf geflügelten Pferden oder in fliegenden Wagen gereist, wenn sie nicht apparieren konnten oder wollten", trug Jeanne zu Julius' Geschichtswissen bei. Dieser hörte aufmerksam zu, wenngleich er das mit dem Polsterungszauber, der für Zauberer das rittlings auf dem Besen sitzen sehr angenehm machte, wußte, weil es in "Quidditch im Wandel der Zeiten" beschrieben stand.
"Was sind denn der wilde Wirbelwind und der irre Alpenblitz?" Fragte Jeanne, nachdem sie sich beide etwas von der wilden Besenjagd erholt hatten.
Julius erzählte was von schnellen Karussells, die auf den Jahrmärkten der Muggel zu finden waren und beschrieb auch, wie schnell diese Karussells fahren konnten. Dann sagte Jeanne:
"Auf jeden Fall hast du das besser weggesteckt als euer Hausmannschaftskapitän. Kann auch sein, daß ihm Fleurs Haare zu häufig ins Gesicht geweht wurden. Aber er hat gesagt, daß das etwas außergewöhnliches war."
"Wieso ist Madame Maxime in den See geplumpst, wenn Hexen in Frankreich so gut fliegen lernen?" Wunderte sich Julius.
"Die wollte dich einholen und hat ihr Gewicht unterschätzt, Julius", sagte Jeanne, wobei sie den Hogwarts-Schüler leicht verlegen ansah.
Man unterhielt sich noch etwas über die Sitten und Gebräuche der verschiedenen Länder und erledigte die Aufgaben für Madame Faucon. Dann gab es Abendessen.
Nach einem gemütlichen Abend mit Musik und improvisiertem Tanz, wo Julius und Monsieur Dusoleil mit den vier weiblichen Mitgliedern der Familie tanzten, legte sich Julius ins Bett und schlief tief. Er träumte noch mal von dem Erlebnis mit der Exosenso-Haube und dem ungeborenen Kind Madame Claviers. Das hatte ihn schon beeindruckt. Überhaupt so erkannte er, als er aus diesem Traum erwacht war, daß ihn fremdartige Erfahrungen tatsächlich reizten. Er dachte daran, ob er sich nicht einmal auch dem Contrarigenus-Fluch unterwerfen sollte. Doch wenn das stimmte, daß der nicht nur auf den Körper wirkte, wollte er es besser lassen. Nachher stritt er sich noch mit Caro um deren Wunschpartner. Dieser Gedanke zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.
__________
Der nächste Tag war ein Wechselbad der Gefühle. Es begann schon am Morgen, als er in der Zeitung las, daß es zu einem Zwischenfall mit tödlichem Ausgang in Birmingham gekommen sei, als zwei Zauberer, von denen wohl einer ein Todesser war, sich ein Duell geliefert und dabei getötet hatten. Offenbar ging der Kampf um die Macht wieder los, so titelte der Reporter in seinem Artikel.
Im Unterricht bei Madame Faucon ging es um Flüche, die außerkörperliche Kräfte freisetzten. Hierzu probierten Seraphine und Jeanne verschiedene Flüche, wie den Deterrestris-Fluch, der jemanden wie einen Freiballon schweben machte, den Murattractus-Fluch, der jemanden von der nächsten Wand anziehen und an diese festheften ließ, wie auch den Gravicorpus-Fluch, der jemanden bis dreimal so schwer machte, wie er eigentlich war. Dann waren alle Schüler in Paaren dran, sich abwechselnd zu verfluchen oder Angriffszauber abzuschlagen. Wieder schafften es Virginie und Julius, sich eine ausgeglichene Partie zu liefern, ohne daß der Eine oder die Andere dabei etwas abbekam. Julius, dem von Madame Faucon verboten worden war, Zauber ohne die dazugehörigen Sprüche zu wirken, konnte Virginie nicht überrumpeln, aber ließ sich auch nicht überrumpeln. Es knallte, zischte, fauchte und schwirrte, wenn energiereiche Zauber auf farbigen Blitzen oder Lichtstrahlen von nichtstofflichen Schilden oder Mauern abprallten und zerstreut oder unschädlich abgeleitet wurden.
"Sie haben exakt dieselbe Grundkraft, Mademoiselle Delamontagne und Monsieur Andrews", stellte Madame Faucon fest, als sie sich die Versuche und Ergebnisse notiert hatte. "Physikalische Flüche sind offenbar ihre Spezialität, Monsieur Andrews. Der Mikrovortex-Fluch, der gelenkte Wirbelsturm, ist ein sehr schwerer Angriffszauber. Daß Sie den aufrufen konnten, ist phänomenal."
"Mademoiselle Renard und Mademoiselle Claire Dusoleil bitte!" Beorderte die Lehrerin das nächste Paar zum Einsatz. Claire schlug sich besser als Caro, stellte Julius sofort fest, als Caro einmal an die Wand gedrückt und dort festgeheftet wurde, dann in eine Trudelbewegung geriet und schließlich abhob und unbeholfen herumschwebte. Claire hingegen parierte alle Flüche schulbuchmäßig. Seraphine und Jeanne gingen da schon mit heftigeren Flüchen zu Werk. Sie wirkten den Materieverdrängungsfluch, dem Seraphine diesmal widerstand, den Elasterra-Fluch, der den Boden, auf den er geschleudert wurde, wie ein überstarkes Trampolin federn ließen oder den Antergonus-Fluch, der jeder Bewegung eine gleichstarke Kraft entgegensetzte und den Permeabilus-Fluch, der den von ihm bezauberten Boden völlig durchlässig machte, wie aus Luft bestehend. Doch jede wußte, den auf sie abzielenden Fluch zu kontern. Anschließend beriet man sich über Flüche mit materialisationskomponenten. Was damit gemeint war, führte Madame Faucon vor, als sie mit "Serpensortia" eine große schwarze Schlange beschwor, die aus dem Zauberstab herausbrach und dann auf den ihr am nächsten liegenden Ferienschüler zukroch, Julius Andrews. Dieser wußte nicht, wie er dieses Tier abwehren sollte. So griff er ohne Anweisung zu einem Umweg und führte einen Verwandlungszauber aus, der aus einem Reptil ein Insekt zu machen vermochte, wie er es bei Professor McGonagall auch schon praktiziert hatte. Mit einem lauten Krach und unter grünen Funken zerbarst die Schlange, hinterließ dafür jedoch eine etwa fußballgroße Küchenschabe, die auf die nächste Wand zurannte, bevor Madame Faucon ihren Zauberstab auf sie richtete und "Dissolvetur Artivivum!" Rief. Zischend zerfiel das gezauberte Monstrum zu weißem Staub.
"Die Verwandlungshandlung war nicht übel, Monsieur Andrews. Allerdings birgt sie die Gefahr unerwünschter Folgeerscheinungen. Denn wenn ein derartig verändertes Kunstgeschöpf gegen tote Materie anläuft, wird es unter Umständen die Materie in sich aufnehmen und zu einem Ungeheuer mit der Masse der toten Materie anwachsen. Wenn es lebende Materie berührt, gibt es den ihm aufgezwungenen Verwandlungszauber an das Lebewesen weiter und kehrt in seine Ausgangsform zurück. Will sagen, jemand von uns hätte sich in diese Schabe verwandelt, wenn dieses Ungetüm ihn oder sie berührt hätte. Also Verwandlungen sind hier absolut nicht zu empfehlen. Aber ich erkenne an, daß Sie etwas tun mußten, Monsieur Andrews und Verwandlungen natürlich ein probates Mittel sind, um schnelle Veränderungen herbeizuführen, wenn man sie auch beherrscht, was Sie durchaus tun."
"Der Auflösungszauber wirkt bei allen diesen Kunsttieren?" Fragte Claire, die Julius' Verwandlungstrick sehr begeistert hatte.
"Ja, bei künstlichen Lebewesen, die nur solange bestehen, wie das Objekt des Fluches, also der Angegriffene, unversehrt bleibt. Es gibt jedoch auch Materialisationsflüche, die tote Materie hervorbringen. Dieser hier zum Beispiel: Toxifumosphaera!"
Aus Madame Faucons Zauberstab ploppte eine rote Blase, wie eine Seifenblase, die sofort anwuchs, als bliese jemand sie auf. sie flog durch den Raum und tippte gegen die Wand. Sie flog zurück und wuchs dabei immer noch an. Dann platzte sie, und unvermittelt erfüllte beißender, giftiger Rauch den Raum. Julius als Sohn eines Chemikers in Schutzmaßnahmen gegen unerwünschte Gasfreisetzung geübt, sah noch, daß die Qualmwolke am Boden entlang waberte, wie dicker Nebel und somit schwerer als Luft war. Sie roch wie eine Mischung aus reinem Ammoniak und Schwefelsäure. Der Hogwarts-Schüler sprang auf den Tisch und hielt den Kopf so über der Nebelzone. Er vermied es, zu tief einzuatmen. Dann fuhr ein Blitz aus Madame Faucons zauberstab durch den Raum und löste den giftigen Brodem in harmlose Luft auf. Hustend und mit geröteten Augen sahen die Ferienschüler ihre Lehrerin an. Julius stieg vom Tisch herunter. Er hatte am wenigsten von dem Hexennebel eingeatmet.
"Interessante Reaktion, Monsieur Andrews. Wieso sind Sie auf den Tisch gesprungen?" Fragte die Lehrerin, die offenbar nichts von der von ihr verschuldeten Qualmwolke abbekommen hatte.
"Ich konnte noch sehen, daß das Zeug schwerer als Luft ist, ähnlich wie dicker Bodennebel oder reines Chlorgas. Mein Vater hat mir beigebracht, immer Zuflucht zu nehmen, wo das Gas nicht hingeht, bei heißem Rauch am Boden, bei schweren Giftgasen so weit wie möglich nach oben. Ich hätte mich mit dem Schwebezauber anheben können. Aber der Tisch reichte tatsächlich aus."
"Gut, jetzt habe ich durch eine mentale Komponente eine relativ harmlose Giftsphäre geschaffen. Aber das muß nicht so sein. Wenn ein Hexer eine derartige Magie aufruft, kann er die tödlichsten Schwaden in einer solchen Sphäre einschließen, die ihm bekannt sind. Ich habe dieses Chlorgas, von dem Sie sprachen schon gesehen und gerochen, in einem öffentlichen Schwimmbad der Muggel. Es ist sehr tückisch, Monsieur Andrews. Wenn ich dies gewollt hätte, hätte ich das auch beschwören können. Allgemein gilt: Flüche mit Komponenten toter Materie können mit dem Spruch "Renihilis" gekontert werden, wie Sie alle gesehen haben. Der Gegenfluch wird bis zu fünfzig Meter weit getragen und breitet sich fächerförmig mit sehr großem Streuwinkel aus. Wer kennt Flüche mit lebender oder toter Materiekomponente?"
Jeanne, Seraphine und Virginie zeigten auf. Virginie wurde gebeten gegen jemanden anzutreten, der oder die dann den Fluch kontern sollte. Julius wartete, ob sich jemand melden würde. Dann stand er auf und trat mutig an. Doch der Mut verging ihm sofort, als Virginie ihren Fluch losließ:
"Volantapes!" Rief sie mit auf Julius deutendem Zauberstab. Krachend schien die Spitze des Stabes zu explodieren, wurde zu einer Art Pistolenlauf und spie mit lauten Knacklauten echte große Bienen aus, pro Sekunde fünf Stück, die auf Julius zurasten. Starr vor Entsetzen stand er da, ließ fast den Zauberstab aus seiner Hand fallen. Dann waren die ersten Biester aus dem Zauberstab schon bei ihm, umschwirrten ihn und stachen ihm in die Wangen, die Schultern und die Arme. Immer noch knackten stechlustige Bienen aus dem Zauberstab Virginies, die nicht wußte, ob sie das beenden konnte.
Die Bienen, die zugestochen hatten, zerfielen zu weißem Staub, der sich in der Luft verteilte. Andere Bienen flogen weiter und griffen Claire, Jeanne und Caro an. Julius verlor den Zauberstab aus der Hand, weil sein Arm taub wurde. Zwanzig Bienen mußten ihn dort gestochen haben. Aber das lähmende Entsetzen war wohl schlimmer, als die heraufgefluchten Insekten.
"Virginie, mach diese Biester weg!" Schrie Caro und schlug nach den gehexten Insekten, die immer noch Verstärkung aus dem Zauberstab bekamen. Virginie wurde kreidebleich und ließ den Stab fallen. Er klapperte zu boden. Knisternd verschloss sich dessen Spitze wieder, und der Bienennachschub brach ab. Die Junghexe sah nun ebenfalls entsetzt auf das, was sie heraufbeschworen hatte. Noch flogen die gefluchten Insekten von ihr fort und suchten sich Ziele unter denen, die in der allgemeinen Zielrichtung des Zauberstabes standen oder saßen. Madame Faucon hob ihren Zauberstab und rief:
"Dissolventur Artiviva!"
Aus dem Zauberstab der Lehrerin flog ein gleißender blauer Lichtball, der unvermittelt zu blauem von innen leuchtendem Nebel wurde, und alle herumsurrenden Bienen in Sekundenbruchteilen auflöste, bevor sie zustechen konnten. Virginie hielt nicht mehr an sich und weinte. Das wolte sie bestimmt nicht anrichten. Sie hatte nur gehört, daß man damit mehrere Insekten beschwören konnte, um sie auf ein bestimmtes Ziel zu lenken. Daß die stechlustigen Biester wild herumflogen und nicht nach wenigen Schluß war, hatte sie nicht gewußt. Julius, dessen Gesicht zu einer starren Maske geworden war, stand bibbernd da. Tränen rollten auch aus seinen Augen über die sich taub anfühlenden Wangen.
"Deshalb, Mesdemoiselles und Messieurs, lernen Sie hier bei mir, was passiert, wenn jemand meint, ihm unbekannte Flüche bedenkenlos loszulassen", bemerkte Madame Faucon und ging zu Julius. Sie untersuchte ihn und ließ dann ihren Zauberstab über ihn gleiten:
"Desanesthicus!" Sagte sie. Ein flirrender rosa Lichtkegel fiel aus dem Zauberstab auf Julius' Gesicht und wirkte sofort auf die betäubten Haut- und Muskelpartien. Als das Gesicht sich wieder frei bewegen ließ, ließ sie den Lichtkegel auf den Zauberstabarm und den restlichen Körper fallen. Julius spürte, wie die Betäubung verklang. Dann sah er sich um und sah, wie Virginie weinte. Der Wutanfall, der seinem abgrundtiefen Entsetzen folgte, verrauchte sofort wieder. Er ging zu ihr hin und sagte:
"Das konntest du nicht voraussehen, daß mich das so fertig macht, Mädchen. Aber jetzt weiß ich, wie heftig solche Flüche werden können."
Madame Faucon behandelte alle Gestochenen mit dem Betäubungsumkehrungslicht aus ihrem Zauberstab. Dann trat sie zu Virginie hin und sprach sanft zu ihr:
"Ist gut, Virginie. Es ist vorbei. Das wolltest du nicht, weiß ich. Komm! Setz dich wieder auf deinen Platz!"
Mit von ihr nur von Verwandten gekannter Sanftmut führte sie die stellvertretende Saalsprecherin zu ihrem Stuhl zurück. Dann sagte sie mit der hier gewohnten Strenge:
"Das sollte Ihnen allen die gebührende Warnung sein, wenn Sie es bis jetzt nicht begreifen wolten. Flüche sind Schadenszauber. Wer sie aufruft, beschwört Unheil herauf, entweder für jemanden anderen, aber auch für sich selbst. Monsieur Andrews, Sie hätten diesen Zauber nicht mit dem Dissolvetur-Zauber kontern können, weil hierbei bis zu hundert eigenständige Lebewesen erschaffen werden. Sie hätten eine dieser Bienen zerstreuen können, aber nicht alle. Was passiert, haben Sie am eigenen Leib erlebt. Diese gezauberten Tiere lähmen pro Stich eine Körperzone. Wer über den ganzen Körper gestochen wird, fällt in eine scheintodartige Starre. Die Atmung wird gefährlich flach, ebenso der Herzschlag gefährlich schwach. Es gibt nur drei Möglichkeiten, diesem Angriffszauber zu begegnen:
Der dissolventur-Artiviva-Zauber, man beachte die Wortänderung, welcher mehrere gezauberte Tierwesen zerstreut. Dann gibt es die möglichkeit, sich durch magische Gegengifte gegen Tiergifte zu immunisieren. Die Insekten stechen zwar noch zu, zerstreuen sich danach selbst, aber die betäubende Wirkung tritt nicht ein. Wer aber kommt schon darauf, sich ein Gegengift zu verabreichen, wenn er oder sie nicht damit rechnet, daß er oder sie mit diesem Fluch angegriffen wird.
Die dritte Möglichkeit ist die Aura der zerstreuung, die ich jedoch nur den Demoisellen Jeanne Dusoleil, Seraphine Lagrange und Virginie Delamontagne empfehlen möchte, vielleicht auch Monsieur Andrews, da sie sehr kraftzehrend ist. Sie schafft ein magisches Feld um einen lebenden Körper herum, der fremde lebende Materie zersetzt und künstlich entstandene Lebensformen in reine Lichtenergie auflöst. Diese Aura entzieht dem Körper pro Sekunde soviel Ausdauer, wie eine Minute körperliche Belastung. Sie zu erzeugen allein koste zwei Minuten normaler Belastbarkeit. Insofern ist Dissolventur Artiviva der probateste Gegenschlag, um sich vor diesen Attacken zu schützen. Ich glaube, wir sollten uns erst mit Flüchen mit toten Komponenten befassen."
Sie probten Fluch und Abwehr von Giftsphären, Steingeschossen oder Schleimfontänen, Sandwolken und Eisbällen. Julius, der sich mächtig zusammenreißen mußte, um sich von dem Schock des Bienenfluchs zu erholen, rief einmal:
"Globofrigidus!" Worauf ein kinderkopfgroßer Eisball aus seinem Zauberstab schoss und auf Virginie zuraste, die ihn mit dem Renihilis-Zauber in Luft auflöste. Dann rief sie:
"Reticum!" Worauf ein silbrigweißer Faden aus ihrem Zauberstab schoss, der sich im Flug zu einem engmaschigen Netz ausspannte und Julius zu umfangen drohte. Er duckte sich und rief ebenfalls: "Renihilis!" Das ausgeworfene Netz zerstob zischend in der Luft.
"Sehr schön. Für heute haben wir uns genug drangsaliert!" Entschied Madame Faucon. Damit beendete sie die heutigen Ferienstunden. Sie gab auf, sich über die Materialisationsflüche alles zu notieren, was in den empfohlenen Büchern stand. Danach verabschiedete sie ihre Schüler. Virginie trat bedröppelt aus dem Wohnzimmer, wo der Unterricht abgehalten wurde. Claire, die heute von Julius mitgenommen wurde, verließ mit Jeanne das Zimmer. Caro und die übrigen gingen wie immer aus dem Raum und verließen das Haus. Julius sah sich um, ob er noch hierbleiben sollte und wandte sich zum gehen. Doch Madame Faucon hielt ihn zurück.
"Irgendwie habe ich den Eindruck, daß dich Virginies Fluch heftiger betroffen hat als üblich. Stimmt das?"
"Da haben Sie vollkommen richtig beobachtet. Aber um Ihnen das zu erklären brauche ich zeit."
"Die hast du. Wen hast du heute mitzunehmen?"
"Claire", sagte Julius halblaut. Madame Faucon nickte und trat nach draußen. Als sie zurückkam, war außer Claire auch Virginie bei ihr.
"Jeanne nimmt Caro erst zum Teich mit und appariert dann hundert meter vor dem Haus, um Dorian abzuholen", sagte Claire. "Wir haben uns schon gedacht, daß Sie noch mal mit Julius und Virginie sprechen möchten."
"Gut, setzt euch", sagte die Lehrerin, nun nicht mehr das distanzierte Sie gebrauchend, wie es in der französischen Sprache besonders deutlich vorkam. Julius erzählte dann, was ihn so fertig gemacht hatte. Er hatte mit der ersten Biene bereits den wütenden Wespenschwarm aus dem Keller des alten Sanderson-Hauses vor sich gesehen und gehört. Als die erste Biene ihn stach, war dieses uralte Angsterlebnis so deutlich wiedergekehrt, als sei er wieder der vierjährige Junge, der nur einmal nachsehen wollte, ob was tolles in einem verlassenen Haus war.
"Ärzte und Seelenkundler nennen sowas wohl ein Trauma", schloß er seinen Bericht. Virginie wischte sich ein paar Tränen fort. Claire, die die alte Angst von Julius kannte, nickte nur. Madame Faucon sagte:
"Gut, daß wir das herausgefunden haben und kein böswilliger Zauberer. Wie bist du mit dieser Angst umgegangen?"
"Ich habe sie niedergehalten, wenn sie aufkam und mich konzentriert, an was anderes zu denken. Das war vielleicht verkehrt. Immerhin sind mir alle drei Irrwichte, denen ich bis jetzt begegnet bin, als Monsterwespen erschienen. Also wirkt diese Angst noch."
"Kann man dieses Erlebnis nicht mit einem Gedächtniszauber wegmachen?" Fragte Claire besorgt. Madame Faucon schüttelte den Kopf.
"Sachen, die sich so tief ins Unterbewußtsein eingegraben haben, sollten nicht angetastet werden, weil Überhänge im Gedächtnis vorkommen, die ohne diesen Kern, ihren Ursprung zu Wahnvorstellungen und tiefer greifenden Angstanfällen führen können. Im Grunde ist die Technik nicht so verkehrt, das angsterlebnis zu kennen und die daraus entstehenden Folgeängste niederzuringen. Doch für derartige Attacken müssen wir uns was neues einfallen lassen."
"Ich hörte davon, daß außer Gedächtnisveränderungen nur noch eine gezielte Begegnung mit dem Auslöser solcher Sachen wirklich hilft, Schocktherapie oder sowas", sagte Julius.
"Ich halte nicht viel von der Psychologie der Muggel. Aber wahrscheinlich stimmt es. Wir hatten in Beauxbatons einen Schüler, der Angst vor Feuer hatte. Der konnte in keinen Raum, wenn es dunkel war. Wir mußten ihn langsam an den Umgang mit Feuer heranführen, eben durch immer größere Feuer, aber immer mit der Möglichkeit für ihn, sich zurückzuziehen. Irgendwann ging es tatsächlich, daß er eine brennende Fackel in der Hand halten und in die Nähe eines lodernden Feuers gehen konnte. Hmm, wie stellst du dir vor, an deine Angst heranzugehen. Irrwichte sind da ja nicht das richtige Mittel?"
"Wahrscheinlich muß ich um ein Wespennest oder einen Bienenstock herumlaufen oder in dessen Nähe Picknick halten, bis die Angst durch Langeweile abgelöst wird", sagte Julius.
"Wespen und Hornissen interessieren sich nicht für langsame Behandlungen. Bei Bienen ist das auch nicht immer sicher. Aber mir fällt da ein, daß du doch mit Madame L'ordoux Schach gespielt hast. Habt ihr euch nach dem Spiel unterhalten?" Wollte Madame Faucon wissen.
"Ja, ich wußte, was sie macht und sagte ihr auch, daß ich Honig erst nehme, wenn er weit von den Bienen weg ist, die ihn gemacht haben", sagte Julius.
"Vielleicht hat sie ja Lust, dich in ihren Bienenställen herumzuführen, wenn du willst. Wir kriegen das irgendwie hin, daß du auch dort eine Möglichkeit für einen schnellen Rückzug ohne Panik bekommst, wenngleich ihre Bienen keinen Menschen angreifen, wenn er nicht gezielt auf sie einschlägt oder die Königinnen bedroht", sagte Madame Faucon. Aber das wäre doch ein brauchbarer Ansatz, bevor wirklich jemand böswilliges dich damit angreifen kann", sagte die Lehrerin und wandte sich an Virginie:
"Ich denke, Julius trägt dir das nicht nach. Du wolltest zeigen, was du kannst, was im Unterricht nicht verkehrt ist und hast ausgerechnet das gemacht, was deinen Gegner sofort außer Gefecht setzt. Da wir nicht in Beauxbatons sind, habe ich keinen Grund, dich dafür zu tadeln oder gar zu strafen. Geht das so in Ordnung?"
"Jawohl, Madame Faucon", sagte Virginie. Dann verließen sie, Claire und Julius das Faucon-Haus. Vor dem Haus wartete Jeanne.
"Ich habe Dorian schon zurückgebracht, Virginie. Traust du dir zu, mit Claire zu fliegen, Julius?" Julius nickte und ließ Claire hinter sich aufsteigen. Jeanne sicherte von hinten den Tandemflug ab, der jedoch störungsfrei verlief.
Im Haus der Dusoleils erzählten Jeanne, Claire und Julius, was passiert war. Julius erzählte auch, daß er wohl noch in den Ferien die freundliche ältere Hexe Begonie L'ordoux besuchen würde, falls die dies erlaubte. Camille Dusoleil meinte dazu nur:
"Ach, die freut sich, wenn sich jemand für ihre Bienen interessiert. Viele kommen nur, sagen "unheimliche Biester" und nehmen schnell den bestellten Honig mit, ohne sich alles anzusehen oder anzuhören. Ich werde es einrichten, dich zu begleiten, wenn sie dich zu sich bittet, Julius."
"Die Bienenställe sind interessant, Julius. Da war ich schon einmal drin", sagte Jeanne aufmunternd.
Sie unterhielten sich noch über die Flüche mit den materialisierten Produkten. Madame Dusoleil gab zu, da nicht gerade überragend gut abgeschnitten zu haben. Sie räumte ein, daß ihr die direkten Angriffe und Abwehrzauber besser gelegen hätten und die wohl auch wahrscheinlicher seien.
Bis fünf Uhr vertrieben sich die Dusoleils und ihr Hausgast die Zeit mit Spiel und Schulaufgaben im Garten. Sie tranken Kaffee und Kakao, aßen kleine Kuchen, die Madame Dusoleil gebacken hatte und unterhielten sich darüber, wer alles am Abend zum Sommerball kommen würde. Julius fragte, wer aus Beauxbatons, der oder die nicht in Millemerveilles wohnte, hinkommen würde. Jeanne meinte:
"Barbara hat wohl versucht, Gustav van Heldern einzuladen. Doch der ist mit seiner Familie unterwegs in den Staaten. Schade eigentlich. Die beiden können sehr gut miteinander tanzen. Fleur wollte wohl kommen. Mal sehen! Sonst weiß ich nicht, wer außerhalb von Millemerveilles noch eingeladen wurde. Auf jeden Fall kommen inklusive Barbara, Seraphine und mir 58 Leute mehr, als im letzten Jahr. Es wird also voll."
"Du hättest Barbara oder Roseanne fragen sollen", wandte Madame Dusoleil ein. Julius nutzte diesen Einwurf für eine freche Bemerkung.
"Oh, das wäre toll gewesen, wenn ich vorher hätte abklären können, mit wem ich bestimmt nicht auf diesem Ball zusammen feiern will und rechtzeitig hätte absagen können."
"Lümmel!" Lachte Madame Dusoleil. Claire konterte sogleich:
"Mit Jacques mußt du auch nicht tanzen."
"Stimmt, der hat 'ne große Schwester, mit der ich mehrmals gut getanzt habe", sezte Julius einen drauf. Claire sah ihn an und sagte halblaut:
"Am besten fragst du Madame Lumière, ob sie dich nicht doch adoptiert. Dann hast du sie als große Schwester. Aber glaub dann nicht, mit ihr nur Spaß zu haben! Glaube es mir, die kann sehr anstrengend ernst sein."
"Ach ja, die muß euch Kleinen ja wecken", erinnerte sich Julius daran, was man ihm über die Hausdisziplin in Beauxbatons erzählt hatte.
"Ganz genau", fauchte Claire böse.
"Damit hätte ich kein Problem. Mädels dürfen nicht zu den Jungs und andersrum", wußte der Hogwarts-Schüler, immer noch einen Spruch nachzulegen.
"Edmond ist da noch heftiger, hat Gérard erzählt. Der kommt gleich mit Wasserstrahlen oder dergleichen, wenn er Leute aufwecken will."
"Saalsprecher oder nicht, das sollte er sich bei mir nicht wagen", tönte Julius.
"In Hogwarts seid ihr eben viel zu locker angefaßt", sagte Jeanne. "Ich habe es mehrmals erlebt, wie Leute zu spät zum Frühstück oder in den Unterricht kamen. Aber du magst ja keine richtige Ordnung, Julius."
"Wenn sie zivil ist, dann schon. Gegen soldatische Ordnung habe ich was, gegen blinden Gehorsam und übertriebene Respektsgesten. Ich denke mal, Respekt und Disziplin kommen durch Vernunft und Anerkennung besser zu Stande, als durch äußeren Zwang. Das sieht auch eure Hauslehrerin so", wies der Hausgast der Dusoleils den Vorwurf zurück.
"Inwiefern?" Fragte Madame Dusoleil sehr interessiert.
"Das sie zwischen Angst und Respekt unterscheidet", gab Julius zurück.
"Du mußt einem nicht gleich Angst einjagen, um ihm Respekt beizubringen, Julius. Das meinte Blanche wohl. Das geht auch so, daß du eine Arbeit zugewiesen bekommst, die dir zeigt, wie schwer es jemand hat, der deinen Respekt erwartet. Das beherrschen sie in Beauxbatons sehr gut, glaube es mir", sagte die Familienmutter.
"Nun, mit den Anstandsregeln für den Sommerball kann und werde ich auch dieses Mal kein Problem haben", beendete der Hogwarts-Schüler dieses Thema mit fester Stimme. Alle nickten.
Um halb sieben war das große Feinmachen angesagt. Julius duschte noch mal, zog sich seine Festsachen, den weinroten Umhang und die kirschroten Tanzschuhe an, die ihm auch noch passten. Er meinte schon, er sei im letzten Jahr gar nicht gewachsen. Doch wenn er seine mitgebrachten Alltagskleider anprobierte, wurde ihm überdeutlich, daß er aus fast allem, was ihm seine Eltern vor Hogwarts gekauft hatten, unweigerlich herausgewachsen war. Er kämmte sich unter Benutzung von Mrs. Porters Frisurhaltelixier die Haare zu leichten Wellen und wartete, bis die magische Wirkung eintrat und das Haar nun einen vollen Tag bei Wind und Wetter den Halt nicht verlor, ohne jedoch steif wie mit Haarspray behandelt zu wirken.
Als er mit seiner höchstens eine halbe Stunde dauernden Vorbereitung fertig war, verließ er das Gästebad und sah Madame Dusoleil, die bereits in eine fließende, blattgrüne Ballrobe gehüllt war. Sie hatte sich ihr Haar geschmeidig in den Nacken gekämmt und gebürstet und es in Höhe des Nackens mit einer silbernen Schnur durchwirkt und zusammengebunden. Um den Hals trug sie eine Kette aus meergrünen Schmucksteinen, ebensolche Armbänder an jedem Arm und einen dunkelgrünen Schmuckgürtel um die Taille. Sie begutachtete Julius und nickte.
"Gloria hat dir viel über gute Haarpflege beigebracht, oder? Der Umhang sitzt immer noch sehr gut. Catherine hat's mir erzählt, daß du ihn nicht haben wolltest. Und jetzt ist es schon das siebente Mal, daß du ihn anziehst", sagte sie mit einer warmen Stimme und freundlichem Gesichtsausdruck. Behutsam ließ sie ihre rechte Hand von oben bis zur Hüfte über den Umhang gleiten.
"Wahrscheinlich stehen wir zwei nachher wieder auf der Bühne", sagte die Hausherrin lächelnd. Julius grinste. Er fragte:
"Glauben Sie, daß wir beide partnerschaftlich und vom Erscheinungsbild her gut harmonieren, um zusammen die Trophäen zu holen?"
"Oh, das wäre interessant, wenn das wirklich passieren sollte. Ich weiß zwar nicht, ob Florymont dann nicht eifersüchtig würde, aber wenn er zusammen Mit Claire ein prämiertes Tanzpaar bildet, dürfte das für ihn kein Problem sein. Allerdings glaube ich, daß Claire was dagegen hätte, wenn ihre alte Mutter ihr einen guten Partner fortnehmen würde und sie dafür mit ihrem Vater tanzen müßte."
Madame Dusoleil und Julius lachten über diesen Scherz. Der Hogwarts-Schüler wußte, daß diese Hexe viel Humor und Wortwitz besaß, genau das, was er brauchte. Seine Eltern konnten sich zwar gewählt ausdrücken, hatten ihn aber immer schon getadelt, weil sie mit seinen schnellen Sprüchen Probleme hatten. Auch Madame Faucon war nicht gerade eine, die man immer mit lockeren Sprüchen bedenken durfte, wußte er sehr gut.
"Maman, ist er fertig?" Rief Claire nach oben. Die Angerufene wandte sich zur Treppe und rief:
"Dein Papa ist schon fertig, ma Chere!"
Wieder lachten Gastmutter und Feriengast über diesen gelungenen Wortwitz.
"Gut, dann nehme ich eben den mit und du darfst mit Julius tanzen", erwiderte Claire. "Sag ihm, wenn er nicht früh genug fertig wird, muß er eben mit dir tanzen."
"Der war gut", befand Julius voller Anerkennung. Madame Dusoleil schmunzelte.
"Ist ja auch meine Tochter. Der Mann, der sie heimführt, muß das vertragen können."
"Aber das mit dem Hinfliegen ist eine gute Idee. Diese Chermot hat mir ja auch schon unterstellt, daß ich mit Claire verbandelt sei. Nachher sitzt die da auf einem Hochsitz und schießt uns ab, mit der Kamera meine ich."
"Ach, das ist aber nett, daß du mich hinfliegen möchtest", nahm Madame Dusoleil den Vorschlag auf. Julius' Gesicht fror für eine Zehntelsekunde ein. Dann nickte er langsam. Wäre mal ein Gag, dachte er. Allerdings mußte da ja noch Monsieur Dusoleil zustimmen. Dann fragte er:
"Was passiert eigentlich mit Denise, während wir weg sind?"
"Uranie bleibt heute zu Hause, weil Jeanne mitgehen möchte. Sie passt mit der Nichte Madame Pierres auf deren Kinder und Denise auf."
"In Ordnung, Madame. Ich bin dann soweit."
Claire war zwar nicht begeistert, daß Julius sie nicht mitnehmen wollte, doch sie sah ein, daß diese Ossa Chermot wirklich auf die Idee kommen könnte, eine wilde Geschichte draus zu stricken. Immerhin hatte sie ja den Artikel in der Ostermontagsausgabe der Zeitung noch im Gedächtnis und legte es wie Julius nicht darauf an, unnötig in der Zeitung erwähnt zu werden. Zwar galten die Veranstaltungen in Millemerveilles als geschlossene Gesellschaft, wo die Presse nichts zu suchen hatte, aber wenn Chermot schon die Möglichkeit hatte, den Gewinner des Schachturniers länger zu beobachten, konnte man nicht wissen, was sie anstellte. Sicher, sie hoffte, daß Julius sich deshalb nicht durchhängen lassen und schlechter tanzen würde. Aber sie verstand, was er für diese Reporterhexe empfand und respektierte das.
Um zehn Minuten vor Acht bestiegen die Dusoleils und ihr Gast die Besen. Jeanne flog allein auf ihrem Ganymed 8, Claire saß hinter ihrem Vater auf dem Cyrano-Familienbesen, und Julius hatte seinen Sauberwisch 10 geputzt und gestriegelt. Mademoiselle Uranie Dusoleil flog gerade mit Denise fort und wünschte den fünfen einen schönen Abend.
"In Ordnung! Du steuerst", stellte Madame Dusoleil noch mal klar. Julius nickte schwerfällig. Er konnte zwar nun jemanden ohne Probleme transportieren, aber Madame Dusoleil war doch etwas schwerer als Gloria oder Claire. Doch wenn er mit Jeanne, die er auch schon einmal als Sozia mitgenommen hatte, fliegen konnte, dann auch mit ihrer Mutter. So saß Camille Dusoleil hinter ihrem Feriengast auf, legte sanft ihre Arme um ihn, wobei sie den vorderen Bereich des Besenstiels zu fassen bekam und wartete, bis Julius seine Hände in der praktischen Steuerhaltung um den Besen gelegt hatte. Sie zog die Beine an, damit der Besen leicht nach hinten sank und wartete auf das Startzeichen:
"Los!" Gab Julius es und stieß sich gleichzeitig mit seiner Sozia von der großen Wiese ab, auf der bei den Dusoleils gestartet oder gelandet wurde. Er mußte zwar erst das ungewohnte Zusatzgewicht auspendeln, doch dann bekam er den Sauberwisch mit zunehmender Geschwindigkeit in eine sichere Fluglage und nahm Kurs auf den Musikpark von Millemerveilles.
"Keine Sorge, Julius! Du kannst das besser, als du es dir vor einem Jahr noch zugetraut hättest. Das ist irgendwie interessant, von einem Jungzauberer zum Ball ausgeflogen zu werden", bemerkte Madame Dusoleil
Auf dem Weg zum Musikpark begegneten ihm mehrere Hexen und Zauberer, darunter die Delamontagnes. Madame Delamontagne trug diesmal eine dunkelgrüne Ballrobe mit hellbraunen Spitzen an Säumen und Kragen und hatte sich durch das Haar eine lange Schnur aus roten, gelben und haselnusbraunen Perlen gezogen. Am unteren Ende ihres strohblonden Zopfes war noch eine dunkelgrüne Schleife mit verspielt wirkenden Knoten befestigt. Virginie trug ein grasgrünes Ballkleid mit gelben, roten, blauen und violetten Rüschen, weißen Schmuckperlen und weißem Satinkragen. Um ihren Hals trug sie eine Kette aus weißen und gelben Perlen und hatte sich einen Haarreif aus vergoldetem Flechtwerk mit kleinen weißen Blümchen aufgesetzt. Ihr ebenfalls langes Haar hatte sie diesmal zu einem eleganten, nicht zu strengen Knoten gebunden, in den sie noch eine Brosche wie ein großes vierblättriges Kleeblatt gesteckt hatte.
"Hallo, Julius!" Rief Virginie ungezwungen. Dann lachte sie.
"Wolltest du Madame Dusoleil was gutes tun und bringst sie zum Tanzplatz?"
"Jawohl, Virginie", erwiderte Julius.
"Wau, Jeanne, dieses Tanzkleid sieht ja wirklich schön aus", sagte Virginie, als habe sie Jeannes rosagoldenen Festumhang noch nie gesehen. Das, so wußte Julius, stimmte jedoch nicht. Aurora Dawn hatte genau denselben Umhang zum kleinen Ostersonntagsball zu Ehren der Quidditchmannschaften aus Sydney und Millemerveilles ausgeführt. Aber sowas sollte man einer Frau, auch wenn sie von den meisten Leuten noch "Mädchen" genannt wurde, nicht auf die Nase binden, wußte Julius.
Julius sah die Lagranges, Eltern und Töchter und stellte fest, daß tatsächlich Wert auf partnerschaftliches Aussehen gelegt wurde. Sicher, Seraphine trug eine birkenhelle Festrobe und silbernen Arm-, Hals und Kopfschmuck, Elisa hatte sich ein rosenrotes Kleid mit rosa Rüschen angezogen und ihr Haar zu einem niedlichen Zopf gedreht, aber Madame und Monsieur Lagrange waren farblich zueinander passend gekleidet. Sie trug einen wallenden himmelblauen Umhang mit weißen Spitzen, er einen wasserblauen Umhang mit weißem Stehkragen und einen dunkelblauen Zaubererhut.
"Oh, Camille, hast du Streit mit Florymont, daß du euren Gast zum Flug mit dir angehalten hast?" Lachte Madame Lagrange. Die Angesprochene erwiderte:
"Nicht im mindesten, Adele. Nicht im mindesten."
"Wir sehen uns dann noch", flötete Seraphine, die kurz gesehen hatte, was Julius trug. Sie hatte den Festumhang zwar schon ein paarmal gesehen, aber es war ihr immer noch ein Bedürfnis, ihn genauer zu begutachten.
Sie trafen noch Caro und ihre Eltern, Dorian, der nur mit Mutter zusammen flog, wobei diese steuerte, sowie Madame Faucon, die diesmal eine zimtfarbene Ballrobe mit vergoldetem Schmuckgürtel trug. Julius sah, daß sie sich durch Schminke und einen verspielten Zopf an Stelle des üblichen Haarknotens ein jüngeres Aussehen verschafft hatte, unterließ es jedoch, sie aus der Ferne darauf anzusprechen.
Ein großes Rechteck aus Kerzen, Lampen und Lampions bezeichnete den Tanzplatz im Musikpark. Wie im letzten Jahr konnte Julius beim Anflug erkennen, daß lange Buffets an jeder Seite des Rechtecks aufgebaut waren und viele kleine Tische, wo höchstens sechs Personen platznehmen konnten, die rechteckige Tanzfläche umstanden. Schwebende Leuchter beschienen mit dem Licht ihrer vielen Kerzen den Tanzplatz, der aus glattem, feingefugten Holzbohlen zusammengesetzt worden war. Auf der nördlichen Seite des Rechtecks war eine große Bühne errichtet worden. Auf ihr saßen bereits Musiker in roten, grünen, gelben, violetten, weißen und blauen Umhängen hinter kleinen Pulten, wo Instrumente oder Notenhefte auflagen. Ein majestätischer Konzertflügel thronte im Zentrum der Bühne auf seinen mächtigen Beinen. Eine Hexe in strahlendweißem Kleid saß auf dem hohen, bequemen Hocker und ließ ihre Finger schnell über die Tasten wandern, ohne auch nur eine davon anzuschlagen.
Zwanzig Meter vor der Tanzplatzbegrenzung landete Julius unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen den Sauberwisch und wartete, bis sich Madame Dusoleil abgeschwungen hatte. Dann stieg auch er vom Besen ab und schulterte den Sauberwisch. Madame Dusoleil hakte sich rechts bei ihm unter und flüsterte:
"Das bringen wir jetzt korrekt zu Ende."
Julius schritt mit seiner Gastmutter auf einen 20 Meter durchmessenden Kreis zu, in dem Drehgestelle in separaten Goldkreisen untergebracht waren. Zauberer und Hexen in braunen Umhängen nahmen den ankommenden Besuchern die Flugbesen ab und hingen diese in die Gestelle ein.
"Ach, Camille. Es ist wieder einmal schön, Sie zu begrüßen", sprach einer der Zauberer in Braun und sah Madame Dusoleil lächelnd an. Dann sagte er:
"Monsieur Andrews, welche Freude, auch Sie wieder zu sehen. Schade, daß Sie nicht mit der jüngeren Mademoiselle Dusoleil zusammen gelandet sind. Aber Sie werden Ihre Gründe haben."
"Auf jeden Fall keinen Streit", gab Julius sofort zurück. Dann kam Madame Faucon und begrüßte Julius.
"Wolltest du heute nicht mit Claire zusammen auftreten? Es war auf jeden Fall manierlich, wie du geflogen bist. Ich habe Jungen gesehen, die mit ihren Freundinnen oder Schwestern zusammen ankamen und meinten, daraus eine Zirkusnummer zu machen", sagte sie noch, als Julius ihren Gruß erwidert hatte.
"Wahrscheinlich liegt es daran, daß er nicht verhungern möchte, falls ich vom Besen falle, Blanche", versetzte Madame Dusoleil frech. Die Beauxbatons-Lehrerin räusperte sich zwar, beließ es aber nur bei dieser tadelnden Äußerung und ging dann weiter, um andere Ballbesucher zu begrüßen, darunter die Delamontagnes.
Mit seiner Gastmutter begab sich Julius zu Madame Lumière, die sozusagen die Empfangsdame machte und in einen zu ihrem braunen Haar passenden Seidenumhang gehüllt war und ihr Haar etwas glänzender hinbekommen hatte.
"Ah, da seid ihr ja", flötete sie, als Madame Dusoleil und ihr Hausgast in Hörweite waren. "Ich habe dich anfliegen gesehen, Julius. Sehr saubere Landung, wenn man die zwei Kilo bedenkt, die Camille dir Zusatzgewicht bereitet hat. Camille, du und Florymont setzt euch mit Blanche und den Delamontagnes an Tisch sieben an der Südseite hin! Nathalie kommt dann auch noch. Julius, du wirst gleich von meiner Ältesten abgeholt. Du sitzt mit ihr, Sandrine, Estelle, Frederic und Gérard am ersten Tisch auf der Westseite gleich vor der Bühne."
"Wo sitzt Claire?" Fragte Madame Dusoleil.
"Die sitzt mit Seraphine, Caro, Jacques, Marc und Serge einen Tisch weiter. Seraphine ist die Tischsprecherin."
"Moment, die Rossignols sind auch da?" Fragte Julius. Madame Lumière nickte.
"Die und die beiden Montferre-Schwestern. Barbara hat mir erzählt, daß du auch mit ihnen getanzt hast", erzählte sie noch. Dann kam Barbara in einem rubinroten Kleid mit einem ebenso roten Stirnband und vier goldenen Armbändern an jedem Arm.
"Ist ein Julius Andrews hier? Der fehlt noch auf meiner Tischliste. Ah, da ist er ja. Folgen Sie mir bitte, Monsieur. Maman, einen schönen und erfolgreichen Abend!"
Die sportliche Junghexe nahm Julius einfach beim Arm und zog ihn lässig hinter sich her. Madame Dusoleil rief ihm noch nach, sich gut zu amüsieren, was er ihr auch wünschte. Sie gingen an den Tischen auf der Westseite vorbei, sahen, wie Jeanne, Virginie, Seraphine und Bruno ihre Tischgäste begrüßten und steuerten den Tisch direkt vor der Bühne an. Ein schwebendes A breitete sich vom Orchester her aus. Flügel und Streicher hielten den Kammer- und Stimmton und ließen die übrigen Instrumente darauf einklingen.
"So, da ist unser letzter Tischgenosse", meldete Barbara in die Runde der bereits sitzenden. Julius erkannte Gérard, einen schmächtigen Jungen, der wohl in seinem Alter war und eine kastanienbraune Lockenpracht besaß. Er erkannte auch Estelle, gegen die er im letzten Jahr im Schachturnier angetreten war und auch Sandrine, die wohl zu den Leuten aus dem gelben Saal von Beauxbatons gehörte. Frederic, der dritte Junge am Tisch, war ein ziemlich hoch aufgeschossener, dabei jedoch klapperdürrer Fünfzehnjähriger, der sich bereits einen blonden Schnurrbart hatte wachsen lassen, während sein übriges schmales Gesicht glattrasiert war. Er sah verlegen zu einem Tisch auf der Ostseite hinüber. Julius folgte dem Blick und erkannte ein bildhübsches Mädchen, klein, zierlich, voll erblüht, mit einer honigfarbenen Löwenmähne und in ein weizengelbes Tanzkleid gehüllt. Sie blickte zurück und sah mit großen bergquellklaren Augen auf die Tische und lächelte Julius und Frederic an. Frederic verzog etwas das Gesicht, als er bemerkte, das die Julius' unbekannte Junghexe den Hogwarts-Schüler genauer musterte.
"So, guten Abend zusammen", begann Barbara. "Als vom Festkommitee der Gemeinde von Millemerveilles bestellte Sprecherin dieses Tisches begrüße ich euch alle noch mal zu diesem herrlichen Anlaß, dem Mittsommerball zu Millemerveilles. Ich möchte euch noch einmal einander vorstellen, weil sich noch nicht alle von Beauxbatons her kennen. ..."
Nachdem Barbara alle namentlich einander vorgestellt hatte, mit sich selbst endend, erklärte sie noch mal, wie der Abend ablaufen würde, daß sie alle nur an das aufgebaute Buffet auf der Westseite gehen möchten, um zu essen und zu trinken und dort auch halbverborgen aufgebaute Häuser für aufkommende Bedürfnisse aufsuchen konnten. Dann überließ sie ihren Tischgenossen, miteinander zu sprechen. Julius, der zwischen Sandrine und Barbara saß, wandte sich Frederic zu.
"Auch ein Gast hier?"
"Joh", erwiderte Frederic. "Meine Oma hat mich eingeladen, weil eine Dame mehr zugesagt hat, als auf der Liste stand. Die sitzt da drüben bei ihren Kollegen von der Heilzunft."
Julius folgte der Handbewegung des bohnenstangengleichen Jungen und sah Madame Matine, die ein rosenrotes Kleid trug neben einem älteren Zauberer in nachtschwarzem Samtumhang, den er auch als Heilmagier wiedererkannte, welcher bei den Quidditchspielen der Dorfjugend bereitgesessen hatte. Daneben saß eine ältere Hexe in einem fliederfarbenen Tüllkleid, die er auch wiedererkannte, denn sie war auf dem Buch "Zauberisches Wohlbefinden" abgebildet. Offenbar war es Florence Rossignol, die als Schulkrankenschwester in Beauxbatons arbeitete.
"Madame Matine ist deine Oma? Ich habe sie Ostern kennengelernt", knüpfte Julius den Gesprächsfaden weiter.
"Ich weiß. Sie hat dich ja erst vor acht Tagen von einem quicklebendigen Schnatz entbunden."
"Würg!" machte Julius und mußte dann aber lachen. Dann setzte er der scherzhaften Bemerkung Frederics noch einen drauf und meinte:
"Ja, ich suche schon nach dem Vater. Der soll mir gefälligst die Behandlungsgebühren rüberreichen."
"Jau! Der ist gut. Wo hast du eigentlich den Umhang her? Der sieht ja richtig feierlich aus, wie für einen Ministeriumsmitarbeiter."
"In der Rue de Camouflage gibt's 'nen Laden, Madame Esmeraldas Boutique. Da habe ich ihn her. Der ist ein Geburtstagsgeschenk gewesen."
"Von deiner Mutter? Ach neh, du kommst ja aus England. Dann hat ihn dir die Faucon geschenkt, nehme ich an."
"Die nicht, Frederic", korrigierte Julius leicht. "Die nächste Generation."
"Klar, Madame Brickston. Die wohnt ja in Paris. Dann kennst du wohl auch ihren Muggelehemann. Der arme Tropf macht ja mit diesen Rechenelkotronikmaschinen herum."
"Ja, den habe ich auch kennengelernt", bestätigte Julius so undetailliert wie möglich.
"Du spielst gerne Schach, habe ich gelesen. Ist das wirklich so doll?" Fragte Frederic.
"Geld verdienen würde ich damit nicht, aber zur Übung des Vorausdenkens ist das allemal sehr gut", antwortete Julius.
"Na ja, ich bin ja eher Quidditchspieler. Ich bin bei den Weißen von Beauxbatons."
"Ja, und ihr werdet dieses Jahr wieder verlieren, wie im vorletzten Jahr", klinkte sich Gérard ein und straffte den Körper. Barbara bedachte Gérard mit einem warnenden Blick, sah dann Frederic an und meinte:
"Ich hoffe, Seraphine und Gustav haben dieses Jahr eine bessere Startaufstellung. Wenn ihr im ersten gegen die Roten ranmüßt, könnte das für euch unangenehm werden."
"Mögen die Auswahlringe diesmal geben, daß wir gegen die Gelben zuerst müssen. Dann holen wir zumindest gute Punkte."
"Das vergiss mal schnell!" Versetzte Sandrine. "Diesmal ist Maurice wieder dabei. Falls wir wirklich zuerst gegen euch müssen, wird es diesmal ein kurzes Spiel."
"Spielt ihr in Hogwarts auch Quidditch?" Fragte Frederic.
"In England? Da spielen wir Rugby, Fußball und Tennis. Den ganzen Muggelkrempel", veralberte Julius den langen Jungen. Dieser sah ihn bedauernd an. Barbara kniff ihm kräftig in den Arm und sagte:
"Erzähl denen bloß nicht, in Hogwarts würdet ihr langweiligen Muggelsport machen! Noch dazu Tennis, dieses Einschlafmittel erster Güte. Unser Gast aus England ist im Reserveteam seines Schulhauses fest eingeplant. Und wenn Bruno, Jeanne und ich mit ihm fertig sind, wird der nächstes Schuljahr Stammspieler sein. Tennis! Du hast schon bessere Witze gemacht, Monsieur Julius."
"Werte Gäste!" Klang magisch verstärkt die Stimme von Madame Lumière. "Ich freue mich wieder einmal, Sie alle hier begrüßen zu dürfen, beim Mittsommerball von Millemerveilles. Gut, daß es immer im Juli stattfindet und nicht im Juni, wo wir diese Gewitterwelle hatten. Ich freue mich vor allem, wieder zahlreiche Gäste von auswärts begrüßen zu dürfen, allen voran Madame Grandchapeau, die mit ihrer Tochter Belle heute ebenso zugegen ist, wie die ehrenvoll für Beauxbatons im trimagischen Turnier zu Hogwarts angetretene Mademoiselle Fleur Delacour, die sich sehr gefreut hat, auch eine Einladung zu bekommen, sowie Madame Rossignol, die mit ihren Enkeln Serge und Marc unser Gast ist, wie die Zwillingsschwestern Sabine und Sandra Montferre. Ich bedauere, daß Norbert und Martine nicht mitkommen konnten. Dann begrüße ich sehr herzlich das Ehepaar Bellart und freue mich, den Gewinner des goldenen Tanzschuhs vom letzten Sommer, Monsieur Julius Andrews, dazu bewogen zu haben, den weiten Weg von den britischen Inseln hierher zu machen. Alle diejenigen, die letztes Jahr die Quidditchweltmeisterschaft besucht haben, sind ebenso herzlich willkommen.
Ich möchte Ihnen nun die musikalisch verantwortlichen des heutigen Abends vorstellen: Heißen Sie bitte mit herzlichem Applaus das magische Philharmonieorchester von Paris unter der Leitung von Maestro Antoine Berlios willkommen!"
Beifall brandete auf, der dreißig Sekunden andauerte. Dann furh Madame Lumière fort:
"Die Tischsprecher und -sprecherinnen werden Sie und euch gerne über alles notwendige informieren, falls dies nicht bereits geschehen ist. Wie üblich wird vor jedem Stück, zu dem getanzt werden darf, angekündigt, um welchen Tanz es sich handelt, und ob Damen oder Herren gebeten werden, sich einen Partner dafür zu suchen. Es sind zwei große Pausen angesetzt, einmal um neun Uhr und einmal um halb elf. Am Ende des Abends, so um halb zwölf herum, wird das Gremium von zwanzig gut verteilten Punktrichtern in den Kategorien tänzerisches Können, äußeres Erscheinungsbild und partnerschaftliche Harmonie die Punkte zusammenrechnen, die jedes Paar an diesem Abend erringt, unerheblich, ob es sich nur einmal oder zu jedem Tanz zusammenfindet. Wer in diesen drei Wertungsklassen die drei höchsten Gesamtergebnisse erzielen konnte, wird mit den bronzenen, silbernen und goldenen Tanzschuhen prämiert.
Ich wünsche uns allen einen schönen, kurzweiligen, angenehmen und vergnüglichen Abend!"
Erneut brandete Beifall auf. Dann sagte der Dirigent mit magisch verstärkter Stimme:
"Wir spielen nun zum Eröffnungswalzer auf. Die Tischsprecherinnen und Tischsprecher mögen sich unter den tanzwilligen Damen oder herren eine Partnerin oder einen Partner erwählen. Ansonsten mögen sich die tanzwilligen Herren interessierte Damen wählen!"
Julius sah sich schnell um. Jacques am Nebentisch saß stocksteif da, dachte nicht daran, wen aufzufordern. Frederic schnellte etwas unbeherrscht hoch und wollte zu dem Tisch, an dem die Hexe mit dem Honighaar saß, sah, daß César, der Tischsprecher, sie galant aufgefordert hatte und knurrte wütend. Julius dachte schon, Claire zu diesem Tanz aufzufordern, bevor sie als einziges Mädchen am Nachbartisch sitzen blieb, weil Jacques nicht wollte, als Barbara ihm ihre rechte Hand sacht aber bestimmt auf die Schulter legte.
"Ich bitte dich, mit mir diesen Tanzabend zu eröffnen, Julius. Oder lehnst du ab?"
"Öhm, nein", erwiderte Julius. Er wollte den Eröffnungstanz auf jeden Fall tanzen. Wenn Barbara ihn aufforderte, wäre es peinlich, ihr Angebot zurückzuweisen. So stand er auf und ließ Barbara sich an seiner rechten Seite unterhaken. Gemeinsam gingen sie auf die Tanzfläche. Jacques grinste blöd und meinte:
"Joh, Babsie, nimm den. Ich bleib hier."
"Na warte, Bürschchen", knurrte Barbara leise. Dann stellte sie sich mit Julius korrekt auf. Die Musik setzte ein, und Julius drehte sich gekonnt im Dreivierteltakt mit der etwas größeren Junghexe.
"Es ehrt mich, wieder von einer Tischsprecherin aufgefordert worden zu sein. Hat es einen bestimmten Grund?"
"Ja, hat es. Frederic kann nur schnelle Tänze, Gérard hat Sandrine aufgefordert, also bliebst nur du übrig."
"Deinen Bruder wolltest du nicht auffordern?" Fragte Julius schüchtern.
"Ich blamiere mich doch nicht beim Eröffnungstanz. Den kriege ich schon zum Tanzen, keine Bange. Leider kann ja Gustav nicht hier sein. Dann werde ich mir eben die aussuchen, die gut tanzen können, aber auch meinen schwesterlichen Pflichten nachkommen. Dieses Jahr verdirbt der keinem den Spaß, weil er dumm herumsitzt."
Julius sah sich um. Beim Walzer, einem Musettewalzer, zu dem mehrere Akordeons im Gleichklang spielten, konnte er sich gut einen Rundblick verschaffen, ohne den Blickkontakt mit Barbara zu unterbrechen. So sah er, wie Claire von Frederic aufgefordert worden war und mit ihm tanzte. Jacques stolperte sich was zurecht, weil Seraphine ihn mehr oder weniger gezwungen auf die Tanzfläche geholt hatte, Jeanne und Bruno schwebten über das Parkett, wie auch die Eheleute Dusoleil. Fleur Delacour, die er an ihrem langen Silberblonden Haar und ihrer grauen Ballrobe erkennen konnte, tanzte mit einem gutaussehenden Jungen in mitternachtsblauem Umhang. Belle hatte sich einen Jungen aus der Millemerveilles-Jungenmannschaft ausgewählt, während Janine Dupont, die Sucherin der Mädchenmannschaft, von ihrem Freund geführt wurde. Dann sah Julius die kleine runde rotblonde Professeur Bellart, die mit einem Zauberer mit dunkelbraunem, säuberlich geglätteten Vollbart in lindgrünem Umhang nebst Zylinder tanzte. Sie kam dabei auf wenige Meter an Barbara und Julius heran. Dann sah Julius noch Madame Faucon, die mit Monsieur Castello, dem Quidditchveteranen und ehrenamtlichen Schiedsrichter tanzte. Virginie hatte sich mit einem in smaragdgrün gekleideten Jungzauberer zusammengetan, der wohl an ihrem Tisch saß. Ansonsten tanzten die Julius bekannten Ehepaare. Madame Matine hatte sich von jenem Zauberer in schwarzem Samt auf die Tanzfläche führen lassen und bewegte sich ebenfalls nur ein Dutzend Meter von Julius entfernt. Dann sah er noch die Rossignol-Brüder, die in himmelblaue Festumhänge gehüllt waren, wie sie mit den in seegrün gekleideten Montferre-Schwestern tanzten. Julius meinte zwar, daß sich die feuerroten Mähnen der beiden junghexen etwas heftig von dieser Farbe absetzten, doch zu deren Augen mochte sie passen. Er wunderte sich, daß er sich um Sachen sorgte, die eher Frauensache waren. Was interessierte es ihn, ob wer den Umhang zu Haaren oder Augen passend aussuchte? Dann hätte er ja einen blauen Umhang haben müssen, oder einen goldgelben, der mit seinem Haar zusammenpaßte.
Der Tanz klang aus, und Barbara bedankte sich bei Julius.
"Ich würde dich jederzeit meinem Bruder vorziehen, was das Tanzen angeht. Es ist auf jeden Fall schön, daß junge Zauberer doch noch was vernünftiges lernen."
"Beim Tanzen kommt es immer auf beide Partner an. Ich glaube, Seraphine hätte auch lieber wen anderen aufgefordert."
"Sehr richtig", sagte Seraphine Lagrange, die allein über die Tanzfläche lief. "Sag deiner Mutter einen schönen Gruß, sie möchte es demnächst so einrichten, daß Jacques einem männlichen Tischsprecher zugeteilt wird! Ja?"
"Damit der überhaupt nicht aufsteht? Nix da, Seraphine. Aber keine Sorge ... Wo ist denn der jetzt hin?"
"Er hat gesagt, ihm ging es nicht gut. Der Walzer hat ihn schwindelig gemacht. Irgendwie hatte ich den Eindruck, der fällt mir noch um", sagte Seraphine.
"Der wird doch nicht wieder diesen Drehwurmtrank genommen haben. Dabei haben wir den seit heute Morgen ständig beaufsichtigt", wunderte sich Barbara und suchte ihren Bruder. Julius stand mit Seraphine allein auf der Tanzfläche. Weil alle an ihre Tische zurückgekehrt waren.
"Zu einer Rumba werden nun tanzwillige Damen gebeten, sich unter den Herren Partner zu suchen!" Verkündete der Dirigent. Seraphine legte Julius sofort den Arm um die Schulter und meinte:
"Ersparen wir uns die Höflichkeiten. Möchtest du?"
"Öhm, gut", sagte Julius schnell, weil bereits tanzwillige Damen auf die Tanzfläche stürmten, um sich Herren zu angeln. Claire sah Seraphine und Julius, drehte sich um und ging auf Gérard zu, dessen Freundin oder Schulkameradin gerade nicht aufpaßte. Somit war sie also bedient, fand Julius und begann, mit Seraphine zu tanzen.
"Handel dir bloß kein schlechtes Gewissen ein, weil ich dich vor Claire erwischt habe!" Säuselte die Jahresbeste von Beauxbatons. "Barbaras Mutter hat sich schon was dabei gedacht, euch nicht zusammen an einen Tisch zu setzen."
"Klar, sie möchte mit ihrem Mann die Trophäe haben", versetzte Julius.
"Das wäre Machtmißbrauch", ging Seraphine darauf ein. Dann lachte sie. "Dieser Abend ist dazu da, daß sich Bewohner und Gäste einander kennenlernen können. Eingeschliffene Paare sind zwar unvermeidlich, aber nicht unbedingt für den ganzen Abend bestimmt. Aber ich denke, daß du Claire heute oft genug auf die Tanzfläche führen darfst."
Diese Gelegenheit ergab sich bereits beim nächsten Tanz, einem Foxtrott. Die Herren durften auffordern, und Julius forderte Claire Dusoleil auf, die ihn anstrahlte. Doch als sie auf der Tanzfläche standen sagte sie:
"Das war unfair, was Seraphine da mit dir angestellt hat. Wir müssen nach den Tänzen an die Tische zurück, damit diejenigen, die auffordern dürfen, nicht wild durch die Gegend rennen müssen. Aber ich werde es mal verzeihen, daß du keinem gutaussehenden Mädchen nein sagen kannst. Immerhin kommst du ja jetzt in das interessante Alter."
"Das war jetzt geschickt", dachte Julius. "Wenn ich ihre Aufforderungen ablehne, behauptet sie nachher, ich würde sie für häßlich halten." Laut sagte er: "Seraphine mußte sich beweisen, daß es nicht bei ihr geklemmt hat, daß der Eröffnungstanz nicht so lief, wie sie wollte. Barbara hätte ihren Bruder auch gleich auffordern können. Aber die kennt den ja gut genug."
"Richtig. Ich war froh, wen zu finden, der nicht so bockig ist. Aber schön, daß du ein schlechtes Gewissen hattest."
"Wie bitte?!" Wunderte sich Julius.
"Ich habe es genau gesehen, wie verdutzt und verunsichert du dreingeschaut hast, als Seraphine dich sofort beschlagnahmt hat. Aber sicher, du möchtest ja auch mit einer zu dir passenden Partnerin tanzen."
"Hmm, der Versuch läuft ja noch. Vielleicht finde ich ja noch eine bessere."
"Du weißt, daß eine wütende Hexe schlimmer als die Hölle werden kann, Julius? Leg dich nicht mit mir an. Du mußt noch einige Wochen mit mir auskommen."
"Och, ich könnte ja Madame Faucon fragen, ob ihr Angebot vom letzten Jahr noch gilt und sie mich zu sich holt", konterte Julius ungerührt.
"Das hättest du haben können, als du dich auf dieses Wahnsinnsexperiment eingelassen hast. Dann hätte sie dich den ganzen Tag und vielleicht dein restliches neues Leben lang umsorgen und herumkommandieren können."
"Ou, das sitzt wohl noch, wie?" Flötete Julius, der genau wußte, wie es Claire erschreckt hatte, als er sich von Madame Faucon zur Vorführung eines schweren Körperveränderungsfluches unter den Infanticorpore-Fluch hatte nehmen lassen.
"Du weißt ja jetzt, was dir entgangen ist oder erspart blieb", erinnerte Claire ihn noch mal an das Gespräch von gestern, über Säuglingspflege und dazu nützliche Zauber.
"Kein Kommentar", sagte der Hogwarts-Schüler. Er gestand Claire damit zwar den Sieg in diesem Wortgefecht zu, wollte aber nicht weiter auf dieses Thema eingehen.
Nach dem Tanz kehrten Claire und Julius an ihre Tische zurück. Frederic war wütend.
"Was habe ich an mir, daß Belisama nichts mehr von mir wissen will?" Fragte er wohl nur sich als alle anderen. Julius schloß daraus, daß Belisama das Mädchen im weizengelben Umhang war. Als ein Wiener Walzer rechts herum angekündigt wurde, ging Julius davon aus, Claire würde ihn auffordern, denn es war wieder Damenwahl angesagt. Doch als Claire sich gerade erhoben hatte, zielgenau Julius anblickend, kam Professeur Bellart mit weit ausgreifenden Schritten herüber und warf Claire einen kurzen Blick zu. Diese verzog zwar das Gesicht, ließ sich aber wieder auf ihren Stuhl sinken. Julius schwante schon, warum die Zauberkunstlehrerin herüberkam.
"Monsieur Andrews, darf ich bitten?"
Julius überlegte, ob er diese Aufforderung zurückweisen durfte. Sicher, er konnte sie ablehnen. Aber wie kam das bei einer befehlsgewohnten Lehrerin an?
"Sie möchten mit mir tanzen, Professeur Bellart? Wenn Sie meinen, ich sei Ihrer würdig, nehme ich dieses Angebot an."
Julius stand auf und schritt mit der Zauberkunstlehrerin aus Beauxbatons, die etwas kleiner als er war auf die Tanzfläche. Er roch das frische, wie eine Blumenwiese duftende Parfüm in Haaren und auf der Haut der Hexe, die er wohl auf die fünfzig bis sechzig Jahre schätzte. Der Walzer wurde eröffnet, und Julius führte, wie er es gelernt hatte.
"Ich habe mich nach dieser extravaganten Begrüßung durch den illusionären Drachen noch mal kundig gemacht. Ich erfuhr, daß Sie wirklich diese Zauberlaterne gebaut und künstlerisch gestaltet haben. Ich erfuhr auch, daß Ihre Unterrichtsleistungen nicht darunter zu leiden hatten. Ist Zauberkunst Ihr Lieblingsfach in Hogwarts?"
"Irgendwo nach Zaubertränke, Kräuterkunde und Astronomie", gab Julius ehrlich Auskunft.
"Könnte es sein, daß dies die drei Fächer sind, wo Sie nicht zaubern müssen? - Ich hatte bei meiner Erkundigung ein Schreiben Ihres Zauberkunst- und Hauslehrers erhalten, der mir mitteilte, daß Sie über ein nicht unbeträchtlich überdurchschnittlich hohes Grundpotential an Zauberkraft verfügen. Das habe Sie im Vorletzten Schuljahr arg beunruhigt. Aber nun, so Professeur Flitwick, hätten Sie damit Ihren Frieden geschlossen."
"Ich will nicht abstreiten, daß ich mich mittlerweile sehr gerne mit Zauberei befasse. Das haben auch die letzten Sommerfeerien bewirkt, die ich hier in Millemerveilles war. Aber wenn Professor Flitwick Sie über mich informiert hat, dann hat er wohl auch angeführt, wieso ich mit meinen Zaubergaben am Anfang nicht so ganz glücklich war."
"In der Tat, dies hat er. Ich muß wieder einmal feststellen, daß wir in Beauxbatons doch wesentlich konsequenter sind als die Kollegen in Hogwarts. Man Hat Sie ja im ersten Schuljahr mit Zusatzaufgaben Ihrer Eltern belasten lassen, ohne daß diese Aufgaben für Ihre absehbare Zukunft in unserer Welt irgendeinen Sinn gemacht hätten. Sowas wird bei uns entschieden abgelehnt. Aber das hat meine Kollegin Blanche Faucon Ihnen im letzten Sommer sicherlich verdeutlicht."
"Sie hatte vor kurzem Gelegenheit, sich mit meiner Mutter zu unterhalten. Ich denke mal, meine Mutter sieht ein, daß ich in Hogwarts besser das lerne, was dort im Unterricht drankommt und nichts anderes mehr."
"Auf jeden Fall imponiert mir diese Zauberlaterne. Ich hätte Ihnen auch fünfzig Punkte dafür gegeben. Immerhin bewiesen Sie, daß Sie nicht rein technisch und wissenschaftlich ansprechbar sind. Als leiterin unserer Zaubermalereigruppe und dem magischen Bildhauerkurs ist es für mich sehr wichtig, daß junge Hexen und Zauberer sich nicht nur mit Formeln und Rezepten abplackern, sondern auch ihre Kreativität erkennen und pflegen."
"Ich sehe im Moment eher einen interessanten Ausgleich darin, als mich intensiv damit zu beschäftigen. Ich wollte nur die Mühe entlohnen, die sich Claire Dusoleil mit ihrem Kalender gemacht hat."
"Ich weiß. Sie haben ihn zum Weihnachtsgeschenk erhalten. Sie ist froh jemanden zu kennen, dem sie ihre Arbeit widmen kann. Ich habe zuviele Junghexen im Kurs, die von ihren Müttern gedrängt wurden, mitzumachen. Viele von denen sehen ihre Tätigkeit als Belastung an."
"Ich denke schon, daß es nicht gerade einfach ist, sich mit etwas zu beschäftigen, das einem nicht sofort Anerkennung oder Wohlstand einbringt. Wenn ich meinem Vater, der in einer hohen Position arbeitet, sagen würde, ich hätte für jemanden eine Bilderlaterne gebaut, würde der mich fragen, ob ich sonst nichts zu tun hätte und daß ich als Sohn eines Wissenschaftlers doch meine Erbanlagen besser ausschöpfen solle."
"Das tun Sie doch. Sie fügen unterschiedliche Komponenten zusammen, stimmen sie aufeinander ab und vollziehen eine technische Fortentwicklung auf der Grundlage gemachter Erfahrungen und angelesener Grundlagen. Das ist doch wissenschaftlich. Wenn Sie dann noch das ganze öffentlich machen, ist das Ziel des Wissenschaftlers doch erreicht, einen Beitrag zur weiteren Erkenntnis zu leisten. Ob Sie dabei einer jungen Dame ein schönes Geschenk machen wollen oder nur irgendwelche Techniken ausprobieren wollen, ist dabei unerheblich. Aber für mich zählt die Kunst. Ich gehe davon aus, daß mir die jüngere Mademoiselle Dusoleil Ihr Präsent einmal genauer vorführen wird."
"Das kann ich nicht bestimmen", erwiderte Julius darauf. Professeur Bellart nickte und sagte:
"In jedem Fall haben Sie eine hervorragende Tanzausbildung genossen. Giselle würde sich sehr freuen, Sie in ihrem Fortgeschrittenenkurs willkommen zu heißen."
"Hmm, noch sehe ich keine Notwendigkeit, die Schule zu wechseln", sagte Julius schnell. Warum waren alle, die er von Beauxbatons kannte, Lehrer oder Schüler, so scharf darauf, ihn unbedingt dorthin wechseln zu lassen? Bei den Dusoleils konnte er sich das denken. Sie mochten ihn irgendwie. Die Mädchen Virginie und Barbara fanden es toll, wie gut er Quidditch spielte und die Jungen hatten ihn anerkannt. Das hatte ihm zwar heftig viel Körperkraft gekostet, aber sie akzeptierten ihn als Spieler. Madame Faucon wollte wohl sicherstellen, daß er auch wirklich ein Zauberer blieb und nicht von seinen Muggeleltern umgedreht werden würde. Aber irgendwie war ihm die Kälte der Schule noch zu deutlich, daß niemand richtig laut sprach oder stillschweigend herumlief und vor den Lehrern strammstand.
Julius sah sich beim Walzertanzen um und stellte fest, daß Madame Faucon mit Monsieur Bellart in seiner Nähe tanzte, die Dusoleils und Delamontagnes auch in seiner Nähe waren, wie auch Virginie und ihr Freund Aron. Dann sah er Fleur Delacour, die in vollendeter Anmut mit einem Jungen tanzte, der wie sie aus dem violetten Saal stammte. Unvorbereitet geriet Julius in den von ihr ausgehenden Charme ihres Veela-Zaubers und schien förmlich in Trance abzugleiten. Professeur Bellart stellte dies wohl fest und zog ihn etwas stärker als nötig in die nächste Umdrehung. Julius bekrabbelte sich wieder und sah seine Tanzpartnerin an.
"Ich dachte, ich hätte das unter Kontrolle", flüsterte er. Sie nickte ihm aufmunternd zu und sagte:
"Wenn sie will, liegen ihr alle Jungen und Männer zu Füßen, Monsieur. Sie müssen sich dafür nicht schämen, daß Sie für ihren Zauber empfänglich sind. Andererseits haben Sie ja doch etwas Übung darin, ihre Gegenwart auszuhalten."
"Eben deshalb", sagte Julius verärgert. "Weil ich sie im ganzen letzten Jahr ständig gesehen habe, dachte ich, es würde mich nicht mehr so erwischen."
"Wie gesagt, Monsieur Andrews: Wenn sie will, liegen ihr Jungen und Männer zu Füßen. Meine männlichen Kollegen müssen sich auch sehr zusammennehmen, wenn sie sie anlächelt. Aber Blanche teilte mir vorhin mit, daß Sie über eine erstaunlich hohe Selbstbeherrschung verfügen und sich emotionalen Einflüssen bewußt entziehen können, wenn Sie müssen. Sie sprach davon, daß Sie sehr aufmerksam ihrem Ferienunterricht folgen."
"Er ist für mich auch sehr interessant und wichtig, wie ich heute morgen erst erkennen mußte. Deshalb mache ich auch mit."
"Ich denke, Sie hätten keine andere Wahl gehabt. Blanche kann sehr überzeugend sein, wenn sie befindet, was für einen ihr zur Fürsorge anempfohlenen Jugendlichen notwendig ist oder nicht. Halten Sie sich auch weiterhin so aufmerksam an ihre Vorgaben!"
"Werde ich wohl hinbekommen", erwiderte der Hogwarts-Schüler leicht ungehalten. Dann war der Walzer vorüber.
Die nächsten zwei Tänze bestritt Julius mit Claire, bevor er mit ihr an das Buffet ging, um etwas zu trinken, bevor ihm noch Madame Faucon ein volles Glas nachtragen würde, wie im letzten Jahr. Dann tanzten Claire und Julius noch drei Tänze, bis Madame Clavier herantrat und Julius zum langsamen Tanz aufforderte. Barbara holte sich ihren Bruder auf die Tanzfläche, der nun wieder gut zu Fuß war, wie Julius erkennen konnte.
"Roseanne erzählte mir, daß du bei Eleonores Ostersoirèe mit drei Damen gleichzeitig getanzt hast. Dann werden zwei für dich doch keine Last sein", flüsterte sie Julius zu. Dieser nickte und ging mit der Nichte Madame Matines auf die Tanzfläche. Vorsichtig führte er die werdende Mutter zu den Klängen von Flügel und Streichern und unterhielt sich mit ihr über die Musik und die Dekoration.
Nach der nächsten Herrenwahl, wo Frederic endlich mit dem Mädchen seiner Träume hatte tanzen können und Julius wieder mit Claire getanzt hatte, trat Jeanne zu ihnen und sagte einfach:
"Schwesterchen, du gestattest, daß ich mit unserem Hausgast auch noch einen Tanz bestreite? - Danke!"
Während eines Paso Doble fragte ihn Jeanne:
"Und, wie war der Tanz mit Professeur Bellart?"
"Sie wollte wohl nur mit mir tanzen, um mir zu sagen, daß sie meine Zauberlaterne tollfindet und ich jederzeit bei ihr in die Kunstgruppe gehen könne."
"Das ist doch schon was", sagte Jeanne. Dann warf sie sich mit Julius in den temperamentvollen Tanz. Anschließend sagte sie:
"Barbara ist wütend auf Jacques. Der hat einen Trank eingeworfen, der ihm schwindelig werden ließ. Madame Matine hat ihn schnell kuriert. Immerhin ist sie ja trotz der Vergnügungen hier auch als Heilmagierin da. Oh, da kommt San Montferre. Was will die bloß?"
"Hallo, Julius! Weil unsere beiden Stammpartner sich wieder mal mit César auf eine Sauferei eingelassen haben, fehlt Sabine und mir für den angemeldeten Foxtrott ein Partner. Deine Gastschwester Claire hat uns erlaubt, dich aufzufordern, wenn du dich entscheiden kannst, mit wem du tanzen magst."
"Hups, das wird aber eine schwere Aufgabe für mich. Ich möchte nicht unbedingt als Lückenbüßer herhalten. Andererseits weiß ich, daß ihr beiden gut tanzen könnt. Machen wir's so, daß ihr euch während des Tanzes abwechselt."
"Geht klar, Julius", sagte Sandra Montferre und zog sich lächelnd zurück.
"Du kommst an bei den jungen Hexen", trällerte Jeanne und schloß Julius in eine flüchtige Umarmung. Dann sagte sie:
"Ist schon peinlich, daß César immer wieder wen zum mittrinken sucht und findet. Aber wenn die beiden Schwestern ihre Süßen demnächst auf ihre Besen holen ist Schluß mit dem Wein. Dann gibt's nur noch Weib und Gesang."
"Ich weiß nicht, was ich an mir habe, daß selbst die älteren Mädels mich unbedingt zum Tanz auffordern wollen", seufzte Julius.
"Eben die Tatsache, daß du nicht nur rhytmisch herumtrippelst, sondern tanzen kannst. Sonst hätte ich dich beim Weihnachtsball in Hogwarts bestimmt nicht so vehement behüten müssen. Außerdem bist du es ja gewohnt, als Ausgleich für Tanzmuffel mit Zwillingsschwestern zu tanzen, oder?"
"Du meinst die Patils? Yep!" Erwiderte Julius.
So tanzte er den nächsten Foxtrott zunächst mit Sandra und dann mit Sabine Montferre. Sie schafften es, möglichst unauffällig zu wechseln, für den Fall, daß ein Punktrichter auf die Idee kam, Julius zu disqualifizieren, weil er während eines Tanzes die Partnerin tauschte. Zwar wußte niemand, wo die unter Tarnumhängen verborgenen Hexen und Zauberer saßen, aber sie wähnten sich sicher, daß Julius weiterhin Punkte sammeln konnte. Sabine sagte nach dem anstrengenden Tanz:
"Du sitzt auch auf der Westseite? Dann gehen wir in der Pause zusammen zum Buffet. Mit dir ist das ja richtig anstrengend, körperlich gesehen."
"Hmm, sag sowas nicht. Jemand könnte das falsch auslegen", sagte Julius.
"Irgendwann bestimmt auch mal zurecht", griff Sabine gehässig grinsend die Zweideutigkeit auf, die Julius sich erlaubt hatte.
In der ersten großen Pause aß Julius von den Baguettes mit Räucherwurst und trank mehrere Fruchtsaftcocktails. Hauselfen bedienten die Gäste. Sabine unterhielt sich mit Julius und Claire übers Tanzen und fragte Julius, ob seine Mutter oder sein Vater ihn darauf gebracht hatte. Er sagte, daß seine Mutter es durchgesetzt habe und nun froh sei, daß er damit was anfangen konnte. Claire fragte Sabine:
"Wo schlaft ihr denn diese Nacht?"
"Im Chapeau", erwiderte Sabine Montferre. Sandra kam mit Barbara und Jacques.
"Na, Julius! Haben dir die Montis schon einen Heiratsantrag gemacht, weil sie dich anstelle von Serge und Marc zum rumhüpfen holen durften?" Begrüßte Jacques Julius.
"Hmm, Jacques. Geht's dir wieder besser. Ich hörte, Seraphines Charme hätte dich schwindelig gemacht."
"Haha, Klugschwätzer. Ich habe Maman gesagt, daß sie mich dieses Jahr nicht herschleppen soll, weil mir das einfach nicht liegt. Aber nein, meine Schwester mußte ja darauf bestehen, daß ich diesen dekadenten Zirkus mitmache."
"Dekadent? Sagtest du gerade "dekadent"?" Erkundigte sich Barbara.
"Dekadent und spießig. Die Chermot hat recht, wenn sie zwischen den Zeilen schreibt, daß die ganze Kiste doch nur eine Verkaufsveranstaltung für unverheiratete Jungen und Mädchen ist", begehrte Jacques gegen seine Schwester auf. Diese sah ihn nur an und meinte:
"Wie du willst. Dann werden wir beide die restlichen Tänze bestreiten, weil Geschwisterehen seit 1788 ja nicht mehr gestiftet werden. Und du wirst dich gut anstellen, Bürschchen, oder du kriegst einen Höllenärger mit mir."
"Wer hier wohl mehr Angst hat?" Flötete Jacques. Barbara sagte zu Julius:
"Nach der Pause gehst du an Seraphines Tisch. Ich klär das mit Maman ab. Schade um den Rock'n Roll, aber der Knabe muß lernen, sich zu benehmen."
"Das ist nicht meine Kiste", sagte Julius. Er sah Jacques an und sagte nur:
"Auch wenn diese Schreiberhexe meint, die Meinung aller Leser machen zu können, bin ich bis heute nicht verlobt oder verheiratet, nur weil ich letztes Jahr hier war. Aber in euren Streit hänge ich mich nicht rein."
"Du bist ja auch nur Gast hier. Du mußt ja nicht mehr mit diesen geltungssüchtigen Schnäpfen klarkommen, wenn du hier rausbist. Da würde ich mich auch schön kleinhalten und mich rumführen lassen."
Julius überhörte das und strahlte alle an, die um ihn herumstanden. Nach einer Minute kam Madame Lumière und zog Jacques mit sich.
"Die hätte den zu Hause lassen sollen", fauchte Claire. "Aber daß du an meinen Tisch kommst, finde ich schön", schnurrte sie dann wie eine zufriedene Katze.
"Entschuldigung, ist Monsieur Andrews hier?" Fragte eine Mädchenstimme von hinten. Julius wandte sich um und nickte. Er sah Belle Grandchapeau, die zusammen mit Fleur Delacour an das Buffet herangetreten war.
"Sie versprachen uns auf der Rückreise von Hogwarts indirekt, auch mit uns einmal zu tanzen, Monsieur Andrews", sagte Belle. Fleur strahlte Julius so heftig an, daß er sich sehr stark zusammennehmen mußte, um nicht förmlich dahinzuschmelzen. Claire fragte:
"Ist er nicht doch noch ein wenig zu jung für euch?"
"Zum Tanzen bestimmt nicht, Mademoiselle Dusoleil", lachte Belle.
So gönnte Julius die beiden nächsten ruhigen Tänze der Tochter von Zaubereiminister Grandchapeau und Fleur Delacour, bei der er sich sehr anstrengte, nicht in diese wohlige aber wehrlose Trance abzugleiten. Sie merkte das natürlich und sagte:
"Belle hat nicht übertrieben. Du bist wirklich ein sehr guter Tänzer. Ich sah dir zu, wie du mit der jungen Mademoiselle Dusoleil getanzt hast. Ihr wohnt derzeit zusammen, richtig?"
"Hmm, ja", sagte Julius, obwohl er nicht wußte, wieso Fleur das interessierte. Dann sagte das Veela-Mädchen:
"Auf jeden Fall kommst du mit den ganzen Hexen hier zurecht. Belles Maman ist ja auch hier. Ich denke schon, daß sie sich das sehr genau ansieht, was ein Muggelstämmiger für Manieren zeigt."
"Es ist für mich nicht so einfach, da eine Antwort drauf zu geben, die nicht platt oder dumm rüberkommt", gestand Julius. "Außer meiner Mutter, die vor einigen Tagen mit mir gesprochen hat, will keiner aus meiner Familie haben, daß ich mich mit Hexen und Zauberern abgebe. Da ich aber selbst ein Zauberer bin, sehe ich das nicht ein, warum ich mich an solche Anweisungen halten sollte. Belles Maman kennt die ganze Kiste. Ich roll die hier nicht noch mal auf. Ich hoffe nur, daß ich nicht nur ein interessantes Studienobjekt bin, wie eine buntkarierte Küchenschabe in einem Laufrad bei Blinklicht."
"Interessanter Vergleich. Auf jeden Fall bereue ich es nicht, auch mal einen Zauberer aus einer Muggelfamilie zu treffen, der sich nichts auf seine Abstammung einbildet oder unter Minderwertigkeitskomplexen leidet. Bestelle deiner Maman bitte schöne Grüße, wenn du ihr wieder schreibst. Es hat mir gut gefallen in Hogwarts, auch wenn dort nicht alles so fein ist, wie in Beauxbatons. Aber vielleicht treffen wir uns ja in Hogwarts wieder."
"Stimmt, du bist ja schon mit der siebten Klasse fertig. Vielleicht sehen wir uns ja doch irgendwann dort in Hogwarts."
Julius fragte sich, wieso die Viertelvila sich für ihn interessierte. War es vielleicht der Umstand, daß sowohl er als auch sie besondere Anlagen von den Eltern mitbekommen hatte? Immerhin war er ja nur ein so starker Zauberer, weil in den Ahnenlinien über Jahrhunderte schlummernde Erbanlagen aus zwei Zaubererfamilien enthalten waren. Sie hatte eine Veela, eine magische Kreatur, die wie eine Menschenfrau aussah, wenn sie wollte, zur Großmutter und von ihr diese überragende Schönheit und Anmut, deren Ausstrahlung sie steuern konnte. Warum sollte sie sich nicht für ihn interessieren? Immerhin hatte er einmal auf dem Schulhof aus dem Handgelenk heraus Verwandlungszauber vorgeführt, und sie hatte ja am Ravenclaw-Tisch gesessen und mitbekommen, daß er überdurchschnittlich gut zaubern konnte. Wenn sie dann noch hörte, daß seine Muggeleltern damit nicht klarkamen, war das schon was besonderes, nicht einfach nur ein kleiner Junge wie jeder andere.
Nach dem Tanz bedankte sich Julius artig bei Fleur mit Handkuß und Verbeugung. Dann kehrte er an den Tisch zurück, an dem Seraphine saß. Sie winkte ihm zu.
"Barbara hat mich zu deiner neuen Tischsprecherin gemacht. Es ist schon ziemlich heftig, daß Jacques aus lauter Langeweile meint, alles und jeden hier schlecht reden zu müssen. Wie dem auch sei, ich habe mir das angesehen, wie du mit Belle und Fleur getanzt hast. Du hast kein Problem mit älteren Hexen, mal von Fleurs Ausstrahlung abgesehen."
"Mademoiselle Delacour haart, Julius", flüsterte Claire und zupfte eine etwa zehn Zentimeter lange silberblonde Haarsträne aus Julius' Umhangkragen. Der Hogwarts-Schüler errötete leicht. Doch als Seraphine sagte, daß das wohl beim Handkuß oder der leichten Drehung beim Tanz passiert sein mußte, lachte er nur. Jacques saß neben Barbara am anderen Tisch und legte sich mit Frederic an. Dieser sah den jüngeren Schüler sehr strafend an, ballte die rechte Faust und drohte damit.
"Wenn Barbara mit ihrem Bruder auf der Tanzfläche ist, ist erst einmal Ruhe", flüsterte Seraphine. Dann krachte es. Frederic hatte genug gehört und dem vorlauten, ja ihn bepöbelnden Jungen mit der Faust eins auf die Nase gegeben. Barbara ging sofort dazwischen. Julius bewunderte, wie gründlich sie die entbrannte Keilerei innerhalb einer Sekunde beendete. Dann zog sie Jacques, dessen Nase rot und blau anschwoll und dessen Oberlippe blutete mit sich fort. Madame Matine stand fast wie appariert vor ihnen und holte ihren Zauberstab. Julius kannte diese schnellheilenden Zauber ja schon. Frederic war derweilen tomatenrot angelaufen und duckte sich unter den Tisch. Offenbar war ihm dieser Ausrutscher total peinlich. Jacques' Verletzungen verschwanden unter dem Zauber von Madame Matine. Diese sah Barbara an und sagte wohl was zu ihr. Dann zog Barbara Jacques weiter hinter sich her.
"Der hat zwar was abgekriegt, aber das Ziel erreicht", kommentierte Julius. Claire fragte ihn, was er meine.
"Der wollte nicht bei dieser Party mitmachen, hat Streit gesucht und gefunden. An mir ist ja alles abgeprallt. Aber Frederic hat er richtig rammdösig gequatscht. Mission erfolgreich beendet.
Der Vorfall sprach sich schneller als ein Lauffeuer von Tisch zu Tisch herum. Die meisten hatten den Zwischenfall aus der Ferne sehen können oder saßen neben Festgästen, die es gesehen hatten.
"Komm, Julius, es ist wieder Damenwahl", flüsterte Claire ohne Einhaltung der üblichen Ansprechregeln. Julius nickte. Er war nicht scharf darauf, sich weiter über Jacques auszulassen. Deshalb tanzte er den Tango eine Spur temperamentvoller, als es sein Anstand wohl geboten hätte. Claire ging jedoch gut darauf ein, und so kamen sie sich immer wieder im wilden Rhythmus nahe genug, sodaß sie fast mit den Gesichtern aneinanderstießen. Als der Tanz vorüber war, kam Madame Dusoleil und umarmte Julius.
"Meine Güte hast du ein Temperament! Von wem hast du das?"
"Meine Trainingseinheiten, Madame. Das wird es wohl gewesen sein", sagte Julius. Claire pflückte ihren Tanzpartner aus den Armen ihrer Mutter und sagte:
"Jetzt weiß ich, was Barbara an dir findet. Hoffentlich explodierst du nicht noch, wenn du die Energie nicht richtig freimachen kannst."
"Das ist genau das, wovor die Lehrer in Hogwarts meine Eltern gewarnt haben, falls sie mich nicht weiter dort lernen lassen würden", grinste Julius.
Da Jacques von seiner Mutter augenblicklich nach Hause und zu Bett geschickt worden war, vielleicht sogar zum Hausarrest verdonnert wurde, hatte Barbara zwar einen Jungen weniger an ihrem Tisch, aber dafür die Gelegenheit, mit Julius doch noch einen Rock'n Roll zu tanzen. Frederic sah ihm dabei zu und probierte es mit Belisama aus, die sichtlich vergnügt war. Julius konnte seine Tanzpartnerin zwar nicht herumkugeln, sie ihn dafür aber ein und zweimal. Frederic sprach nach dem Tanz mit Julius, ob das ein moderner Muggeltanz sei, weil er den in Beauxbatons nie gelernt hatte. Julius sagte:
"Rock'n Roll ist uralt. Den gab's in den Fünfzigern, Frederic."
"Auf jeden Fall kann man sich dabei supergut austoben", befand Frederic.
Virginie Delamontagne kam einmal herüber und forderte Julius zu einem langsamen Tanz auf. Während dieses Tanzes fragte sie Julius vergnügt:
"Und, was meinst du, was Maman und ich uns für diesen Ball kleidungsmäßig gedacht haben?"
"Hmm, so, wie deine Mutter aussieht und du angezogen bist, habt ihr wohl das Motto Wald und Wiese für diesen Ball festgelegt", vermutete Julius. Virginie strahlte über das ganze Gesicht.
"Ganz richtig. Maman wollte wieder ausprobieren, ob unser Auftreten auffällt. Hat offenbar funktioniert."
Nach dem Tanz bedankte sich Julius höflich bei Virginie und kehrte zu seinem Tisch zurück.
Bei der nächsten Gelegenheit, wo ein schneller, freier Tanz angesetzt war, zeigte Julius Claire noch mal, wie der Rock'n Roll ging und hob sie einige Male in die Luft. Danach war wieder was langsames dran, eine Rumba.
Als ein Wiener Walzer links herum angekündigt wurde, für den sich Damen unter den Herren einen Partner suchen konnten, trat Madame Matine an Julius heran und fragte:
"Darf ich bitten, Monsieur Andrews?" Julius ging auf die Aufforderung ein und tanzte mit der Heilhexe den bei vielen Romantikern beliebten Tanz im Dreivierteltakt.
"Blanche hat mir eben noch mal gesagt, daß du ohne zusätzliche Disziplinierungsmaßnahmen mehr Anstand und Beherrschung hättest, als mancher Beauxbatons-Schüler. Halt dich so, und du wirst mit der alten Hera Matine nur im Unterricht zu tun bekommen!"
"Ihre Nichte hat ja auch schon mit mir getanzt", erzählte Julius.
"Ja, hat sie. Ich habe ihr empfohlen, nur langsame Tänze zu tanzen. So einen leidenschaftlichen Tango oder diesen Muggeltanz, den du mit Barbara und Claire getanzt hast, würde ich ihr in ihrem Zustand verbieten. Aber nett, daß wir uns auf gesellschaftlicher Ebene so gut bewegen können", sagte die Heilhexe.
"Also ich würde mich hüten, mit jemandem wie Frederic Streit anzufangen, selbst wenn ich gelernt habe, mich körperlich zu wehren", kam Julius doch noch mal auf den Vorfall mit Jacques.
"Roseanne tut mir furchtbar leid. Als Hebamme lernst du die Hexen im gebärfähigen Alter gut kennen, sage ich dir. Da bekommst du schon mit, wie die Familienverhältnisse liegen. Jacques möchte nur im Labor sitzen und Zaubertränke brauen. Den würde ich im Moment nicht zu einem Erste-Hilfe-Kurs einladen, wenn er nicht lernt, daß es auch andere Dinge gibt."
"Hmm, Zaubertränke ist ja auch sehr interessant. Wenn er nicht so drauf wäre, und wenn ich ihn nicht nur beim Sommerball sehen würde, könnte ich mich mit ihm gut unterhalten. Der weiß bestimmt was mehr, als ich, wenn das sein Lieblingsfach ist."
"Bestimmt nicht, Julius. Der interessiert sich nicht für die Heiltränke, sondern für die Verwirrungs-, Geschwür- oder Sinnesverändernden Tränke. Ich denke, der legt es auf einen Beruf als Erfinder von Scherzartikeln an."
"Hmm, verdient man damit viel?" Fragte Julius.
"Mehr Ärger als Geld, junger Mann", antwortete Madame Matine.
"Dann bleibe ich doch besser bei der heilkundlichen Alchemie und der Zauberkunst", sagte der Hogwarts-Schüler.
Nach dem Walzer tanzten die jugendlichen Gäste eine Viertelstunde lang Gruppentänze und schnelle Partnerwechsel, wobei Julius sich mit Barbara, den Montferre-Schwestern, Jeanne, Claire, Frederic, den Rossignol-Brüdern und Bruno zu einer Gruppe zusammentat und danach ziemlich geschlaucht ans Buffet ging, um sich einen Vitamincocktail und ein Baguette mit Seelachshäppchen zu genehmigen. Dort traf er auch Caro, die glücklicher aussah, als er sie jemals erlebt hatte.
"Hallo, Julius. Du amüsierst dich sehr gut, wie ich mitbekomme. Ich auch. Hui das war genial mit Rico, Miro und Titus. Ich fühle mich hier richtig toll."
"Schön", sagte Julius ehrlich. "mich haben vier große Mädchen wie einen Quaffel einander zugeworfen. Das war ja fast beängstigend."
"Ach, dann möchtest du lieber nur mit kleinen Mädchen zu tun haben?" Fragte Caro.
"Die kann ich besser werfen", brachte Julius dazu nur heraus.
"Mademoiselle Renard, an diesem Fest nehmen keine Mädchen teil, sondern Damen", sprach Madame Faucon, die unbemerkt von hinten aufgetaucht war. Sie sah Julius an und fragte ihn:
"geht es dir gut? Die drei Athtletinnen haben es ja sehr bunt mit dir getrieben."
"War mal was anderes, Madame Faucon", erwiderte Julius lässig.
"Gut, ich bin ja außerhalb der Ferienstunden nicht für dich verantwortlich, und Camille fand deinen wilden Tanz offenbar sehr amüsant. Ich hoffe, du amüsierst dich wenigstens. Ich hörte das mit Jacques. Peinlich. Madame Grandchapeau fragte doch glatt, was Frederic derartig in Rage versetzt hat."
"Ohne jetzt zu frech zu klingen sage ich mal, daß es wohl was mit einem Mädchen zu tun gehabt hat, Madame."
"Du meinst mit einer jungen Dame", sagte Caro schnippisch. Madame Faucon räusperte sich und bestätigte dann:
"Ja, mit einer jungen Dame. Achso, Madame Lagranges Nichte. Das hat dieser Lümmel genau gewußt. Es wird wohl zukünftig wieder nötig sein, daß Familienangehörige der Kommiteemitglieder extra gefragt werden müssen, ob sie mitfeiern wollen. Roseanne meint immer noch, alle in ihre Interessen einbeziehen zu können. Da ja Hera den Walzer mit dir getanzt hat, werde ich heute einmal davon Abstand nehmen, dich aufzufordern. Ich freue mich zumindest, daß ich mit dir einen kultivierten Jungzauberer in diese Gesellschaft habe einführen können. Vergnüge dich noch angenehm, aber nicht auf anderer Leute Kosten!"
Madame Faucon ging wieder. Kaum war sie einige Tische weiter, kamen Seraphine und das Mädchen mit dem honigfarbenen Haarschopf herüber. Seraphine lächelte vergnügt, das Mädchen neben ihr sah etwas verlegen drein.
"Hallo, Julius! Meine Cousine Belisama hast du ja schon aus der Ferne gesehen. Sie fragte mich, ob du mit ihr den nächsten Musettewalzer tanzen möchtest."
"Häh?!" Machte Julius, während Caro dümmlich kicherte.
"Hallo, Julius. Ich habe dir zugesehen, wie gut du tanzen kannst. Offenbar hat Claire dich wieder für die Trophäe verplant. Deshalb habe ich mich nicht getraut, dich aufzufordern und ...", sprach Belisama mit einer glockenhellen Stimme, die für Julius nicht so wie die Stimme einer mindestens sechzehnjährigen klang.
"Also es sind ja noch zehn Tänze angesetzt. Ich denke, Claire wird nichts dagegen haben, wenn ich mit dir tanze. Ich frage mich allerdings, ob ich irgendwas von einer männlichen Veela an mir habe, daß mich ein mir unbekanntes, sechzehnjähriges Mädchen auffordern möchte."
Julius meinte, seine Trommelfelle müßten unter dem schallenden lauten Lachen zerplatzen. Caro, Seraphine und Belisama lachten so laut, schrill und erheitert, daß der Hogwarts-Schüler nicht wußte, was er für einen tollen Witz erzählt hatte.
"Das ist das schönste Kompliment, daß mir ein Junge gemacht hat", kicherte Belisama. Dann sagte sie:
"Ich bin mit Claire in der Kräuterkundestunde. Ich bin doch erst dreizehn, wie du auch."
"Huch! Welchen Bock habe ich denn da geschossen?" Fragte Julius verdutzt. Dann meinte er schnell:
"So wie du aussiehst gehst du aber für sechzehn durch. Ich denke, viele Jungen meinen, du müßtest mindestens in der fünften Klasse sein."
"Erbanlagen, Julius. Tante Marianne sieht aus, wie die große Göttermutter im Geschichtsmuseum, die viele Hexen als Stammutter verehren", sagte Seraphine. Ihre Cousine trat ihr mal soeben auf den Fuß, was der Freundin Jeannes für wenige Sekunden einen schmerzerfüllten Gesichtsausdruck bescherte.
"Möchtest du also nicht mit mir tanzen, weil ich eben auch nur so alt bin wie Claire oder du?" Fragte Belisama, die offenbar ihre Schüchternheit verloren hatte. Julius sagte:
"Auch auf die Gefahr hin, von eifersüchtigen Jungen verprügelt zu werden nehme ich deine Aufforderung gerne an, Belisama."
"Huhu, das mit den Jungs ist wohl nicht so heftig, wie das, was dir von Claire droht", flötete Caro. Seraphine machte nur eine drohende Handbewegung gegen Caro und sah zu, wie Julius und ihre Cousine Belisama auf die Tanzfläche gingen.
Die nächsten Minuten drehten sich die beiden zum flotten Rhythmus eines Musettewalzers, wie ihn Frankreichtouristen als Inbegriff französischer Musik zu verstehen pflegten. Dabei unterhielten sich die beiden über Hogwarts und Beauxbatons. Das Mädchen mit dem honigfarbenen Haar fragte:
"... und du kannst dir nicht vorstellen, zu uns zu wechseln? Der eine Nachmittag war vielleicht zu heftig für dich, weil du aufgeregt und unsicher warst, was da passieren sollte."
"Wie was? Sicher war ich aufgeregt, weil ich ja mit der Reisekutsche mitfliegen durfte. Ich habe Freunde in Hogwarts, die sind neidisch und ärgern sich, weil ich ihnen nichts davon schreiben darf, was ich dabei erlebt habe. Aber mir kam Beauxbatons trotz der eleganten Einrichtung so vor, wie eine Kaserne, das ist ein Haus, wo Muggelsoldaten untergebracht sind. Die müssen jeden Tag marschieren, sich Befehle zubrüllen lassen und immer strammstehen, wenn ihre Vorgesetzten zu ihnen sprechen."
"Ja und Leute umbringen oder sich beim Versuch, dies zu tun, selbst umbringen zu lassen. Sei froh, daß du aus diesem Unsinn herausgekommen bist", versetzte Belisama. Dann sagte sie:
"Wir müssen nicht immer angespannt stehen oder sitzen. Gut, im Unterricht wird auf Haltung und Ordnung geachtet. Aber wenn du letztes Jahr bei Professeur Faucon gewohnt hast, kennst du das doch auch und hast es offenbar überlebt. Nicht nur das, du bist ihr wie ein lieber Enkelsohn, so wie sie dich umsorgt. Ich habe es genau gesehen, wie besorgt sie dich angesehen hat, als Jeanne und die beiden roten Furien mit dir Quaffel gespielt haben. Es ist auf jeden Fall schön in Beauxbatons. Gut, es gibt wohl härtere Regeln als in Hogwarts und für Freizeitaktivitäten ist auch mehr gesorgt als da, wenn ich Gustavs Bericht richtig mitbekommen habe. Aber deshalb sind wir doch noch Jungen und Mädchen, keine Golems oder Zombies. Es wäre auf jeden Fall schön, wenn du mal für ein Austauschjahr zu uns kämst. Du kannst tanzen, bist wohl auch einigermaßen gut in der Schule und hast Phantasie, wie mir Seraphine erzählt hat. Was ist denn dein Lieblingsfach?"
"Kräuterkunde und Zaubertränke", sagte Julius. Ein Lächeln überflog das Gesicht des wie erwachsen aussehenden Mädchens.
"Kräuterkunde ist auch mein Lieblingsfach. Professeur Trifolio ist zwar sehr ehrgeizig, wenn er merkt, daß jemand sich für sein Fach interessiert, aber ich komme damit klar, ohne wie eine Streberin dazustehen. Claire muß ja gut sein, weil's ihre Maman so will."
"Sagt Claire das? Ihre Mutter sagt das nicht. Sie meint, daß Claire und Jeanne das tun sollen, was ihnen am besten liegt und ihnen Spaß macht."
"Wahrscheinlich meint Professeur Trifolio das, weil er deine Gastmutter eben kennt und meint, ihr beweisen zu müssen, wie gut er unterrichtet."
"Das kommt jetzt aber völlig anders rüber, als wenn Claire meint, sich voll reinhängen zu müssen, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun", bemerkte Julius. Belisama lächelte wieder, und dieses Lächeln, daß von den rosigen Lippen bis hinauf zu den bergquellklaren Augen reichte, jagte Julius einen jener merkwürdig wohligen heißkalten Schauer über den Körper. Das Mädchen bemerkte das wohl an den Veränderungen in Julius' Gesicht und Körperhaltung und lächelte noch eindrucksvoller. Dann sagte sie:
"Wie gesagt. Die großen Mädchen mögen dich zum Tanz ausführen, mit den Jungs kannst du wohl gut Quidditch spielen. Wenn du mit niemandem Streit suchst, wie Jacques, wirst du es bei uns besser haben als in Hogwarts, wo diese Idioten wohnen, die meinen, sich mit ihm, dem Unnennbaren einlassen zu müssen."
"Gibt es die bei euch etwa nicht?" Fragte Julius direkt heraus.
"Zumindest nicht in Beauxbatons. Wer meint, mit ihm gut auskommen zu können, kommt nach der Schule auf diese Ideen."
"Ich habe gelernt, die Slytherins weniger ernst zu nehmen, als die sich selbst, solange ich nicht damit rechnen muß, daß mir einer von denen eine runterhaut oder einen Fluch aufbrennen wird. Insofern fühle ich mich in Hogwarts immer noch gut."
"Ach ja, du hast ja deine Freundinnen da", kam es ansatzlos von Belisama. Julius schluckte. Was sollte das denn jetzt werden?
"Freundinnen im Sinne von "Ich komme sehr gut mit dir klar und mache vieles mit dir zusammen mit und helfe dir, und du hilfst mir", Belisama. Was richtig festes, also eine geschlechtliche Beziehung, das habe ich noch nicht so drauf angelegt."
"Du vielleicht nicht."
"Für Mädels, die auf sowas ausgehen, bin ich vielleicht noch zu jung", warf Julius ein, obwohl er sich nach Pinas Zank mit Claire an seinem Geburtstag nicht so sicher war.
"Die Ravenclaws sollen ziemlich besonnene Leute sein. Du gehörst ja auch dazu. Die werden sich Zeit lassen, aber die werden sie nutzen."
"Da gebe ich dir mal recht", sagte Julius schnell, um dieses leidige Thema zu beenden. Offenbar mußte er sich doch Gedanken über sein Verhältnis zu Mädchen und jungen Frauen machen, wenn Belisama ihn fast wie Fleur durch ein Lächeln aus dem Tritt bringen konnte. Claire konnte das ja auch, wie auch Pina. Irgendwas mußte er ausstrahlen, was signalisierte, daß er nun bereit war, neue Wege zu gehen, wenn ihn jemand dazu aufforderte.
"Wie gesagt, ich denke, du kämst bei uns gut unter. Seraphine meint, die Grünen wollten dich vereinnahmen. Vielleicht stimmt es ja, daß du bei denen gut hinpaßt. In meinem Haus wohnen außer Seraphine, Gustav und Mir hauptsächlich Perfektionsleute, die ihre Projekte vorantreiben und sehen wollen und sich nicht für andere Sachen interessieren."
"Vielleicht käme ich ja auch zu den Blauen", sagte Julius.
"Vielleicht für diese Antwort. Aber sonst niemals", lachte Belisama. Dann verklang der letzte Ton des Walzers, und die tanzenden Paare standen ruhig, bis sie sich wieder zu den Tischen begaben. Belisama hakte sich keck bei Julius unter und ließ sich von ihm zur Westseite führen. Dort sahen Claire und Frederic sie beide an. Claire sah mißtrauisch drein, Frederic total unbeholfen, als wüßte er nicht, was er noch tun sollte, bevor die Welt unterging. Julius fand, daß er den in jeder Hinsicht größeren Jungen beruhigen mußte, damit der nicht noch eifersüchtig wurde. Aber dazu mußte Belisama erst einmal verschwunden sein, was ihr nicht einfiel. Sie sah Claire an und sagte ruhig:
"Du hast ein Glück mit dem Jungen, Claire. Ärgere ihn nicht! Ich wünsche euch beiden, daß ihr wieder die goldenen Schuhe kriegt." Sie hatte das so ehrlich und mit gutmütigem Gesicht gesagt, daß sowohl Julius als auch Claire ihr das abnahmen. Dann ging sie zu ihrem Tisch zurück. Seraphine kam herüber und fragte:
"Na, war es langweilig, sich mit einem sechzehnjährigen Mädchen zu unterhalten?"
"Oja, totlangweilig, Seraphine. Die redete nur davon, wie toll Ariel Rapid fliegen könne, daß sie sich vor kurzem ein sensationelles Schminkset besorgt hat und Kuno Rebeldo von den Funkenfegern zum Anbeißen findet."
"Die Funkenfeger? Die steht auf diese Radauzauberer?" Fragte Frederic, bevor ihm klar wurde, daß Julius Seraphine verladen hatte. Dann lachte er. Dann sagte er:
"Du hast was an dir, Julius. Wahrscheinlich war irgendwo in deiner Ahnenreihe eine Veela, oder was männliches in der Art. Die Ruhe, die du weg hast."
"Frederic, ich habe mitbekommen, daß du für Belisama schwärmst. Deshalb finde ich, dir sagen zu müssen, daß zwischen uns nichts im Gange ist."
"Die will auch nichts von mir, Julius. Die findet mich zu groß. Die will Jungen, die ihr in die Augen sehen können, ohne von oben herabzugucken. Außerdem kann ich um Längen nicht so gut tanzen wie du. Offenbar zieht das doch mehr, als ich ursprünglich geglaubt habe."
"Aber ihr lernt das in Beauxbatons. Ich habe nur einen zweijährigen Kurs besucht, den mein Vater nicht einmal bezahlen wollte."
"Wenn der wüßte, welche Chancen du dadurch hast, würde er vor Neid platzen", sagte der bohnenlange Junge. Julius bedachte diese Aussage mit einem verächtlichen Lächeln in eine Richtung, wo niemand es auf sich münzen könnte. Sein Vater würde alles umschmeißen, wenn er so einen Zeitumkehrer hätte, wie ihn ihm Monsieur Dusoleil unter dem Siegel der Verschwiegenheit gezeigt hatte. Julius als Magnet für junge Hexen! Das war bestimmt seines Vaters schlimmster Alptraum.
Mit Claire tanzte er die nächsten sieben Tänze. Dann forderte ihn Madame Grandchapeau auf, mit ihr einen Cha-cha-cha zu tanzen. Sie lobte seine wunderbaren Bewegungen und erzählte ihm noch, daß sie einen Brief an seine Mutter geschrieben habe, in dem sie sich für ihre hervorragende Mitarbeit und Rücsichtnahme bedankte. Dann war der Tanz vorbei. Die letzten beiden Tänze gehörten Claire. Dann war das Tanzprogramm gelaufen.
Noch mal setzten sich alle Festgäste an ihre Tische und bekamen etwas zu trinken. Gespannte Erwartung breitete sich wie ein hauchzartes Leinentuch über die vielen Tische aus. Nach und nach erschinen Hexen und Zauberer, die unter Tarnumhängen verborgen gewesen waren. Die Bühne erstrahlte in weißem Zauberlicht und Madame Lumière bedankte sich bei allen Gästen für diesen gelungenen Abend. Nun war es so weit. Die drei erfolgreichsten Paare des Abends sollten verkündet und prämiert werden.
"Sehr geehrte Festgäste! Zwar dient dieser traditionelle Ballabend nicht ausschließlich dazu, einen Wettbewerb zu veranstalten. Jedoch sehen wir es seit über hundert Jahren so, daß große Leistungen auch im festlichen Rahmen gewürdigt werden sollen. Sicherlich haben alle, die heute abend bei Tanz und Speisen miteinander ins Gespräch fanden, beeindruckendes erlebt, interessantes und schönes, lustiges und anregendes erfahren. Dennoch halten wir uns an die Tradition, auch das Können zu werten und auszuzeichnen", begann Madame Lumière. Dann ließ sie sich die Endwertungen der Punktrichter geben und las. Julius fand es faszinierend, wie gleichbleibend ihr freundliches Lächeln blieb, fast wie eine unstarre aber unveränderliche Maske. Nichts verriet, ob die Ergebnisse sie aufwühlten, überraschten, erfreuten oder enttäuschten. Dann verlas sie die Namen der Tänzer, die zusammen die bronzenen Tanzschuhe gewonnen hatten.
Unter einem leisen Trommelwirbel hob Madame Lumière den rechten Arm und hielt den Ergebniszettel wie eine Trophäe in die Luft. Dann sprach sie aus:"Mademoiselle Jeanne Dusoleil und Monsieur Bruno Chevallier, bitte kommen Sie auf die Bühne!"
Beifall begleitete die beiden Beauxbatons-Schüler, die glücklich das Publikum anstrahlten und winkten. Dann verlas Madame Lumière die Einzelwertungen, denen nach Jeanne und Bruno im gemeinsamen Erscheinungsbild 90 Punkte, im Bereich technisches Können 140 und in partnerschaftlicher Harmonie 190 Punkte errungen hatten, was zusammengezählt 420 Punkte ergab. Dann hängte sie dem Paar je einen säuglingsfußgroßen bronzenen Tanzschuh an rotem Band um den Hals. Sie ließ Schweigen im Publikum einkehren. Wieder rührte der Trommler leise sein Instrument. Dann las Madame Lumière:
"Mademoiselle Fleur Delacour und Monsieur Elmo Platini, bitte kommen Sie auf die Bühne!"
Julius fand sofort, daß dieses Paar die silbernen Tanzschuhe verdient hatte, wenn nicht sogar die goldenen. Denn Fleur wirkte perfekt zu dem großen, athletischen Jungzauberer in seinem taubenblauen Festumhang und dem hellblonden Haar, das ihn wie einen Superhelden im Comic wirken ließ. Julius dachte an Scorpio Taurus, den Retter des neuen Universums oder an seine Vorbilder Heman oder Flash Gordon, wie Elmo Platini mit Fleur am rechten Arm untergehakt zur Bühne hinaufstieg. Madame Lumière verlas die Punkte:
Das gemeinsame Erscheinungsbild bestach durch Haltung und Kleidung und brachte dem Paar 200 Punkte ein. Das technische Können wurde mit 120 Punkten bewertet. Die partnerschaftliche Harmonie schlug wegen der erstmaligen gemeinsamen Tanzdarbietungen mit 300 Punkten zu Buche. Damit haben sie 620 Gesamtpunkte erreicht!"
Julius dachte, daß er dieses Jahr nicht den goldenen Tanzschuh bekommen würde. Denn so toll, wie die beiden da auf der Bühne, sahen er und Claire oder er und ein anderes Mädchen zusammen nicht aus. Er ging davon aus, daß Madame und Monsieur Dusoleil die Trophäen gewinnen würden, weil sie bestimmt häufiger miteinander getanzt hatten und somit mehr Punkte sammeln konnten. Er hatte ja den goldenen Zaubererhut im Schach gewonnen. Zuviel war bestimmt nicht gut für ihn, dachte er.
"Sehr geehrte Festgäste", setzte Madame Lumière nach einer Minute kribbelnder Spannung und erwartungsvollem Schweigen an, während der Trommler wieder sein Instrument mit wirbelnden Stöcken bearbeitete und immer lauter, immer eindringlicher trommelte, "Es war diesmal eine knappe entscheidung, aber es war schlußendlich noch ein eindeutiger Vorsprung der Gewinner der goldenen Tanzschuhe zu erkennen. So boten Sie im Bereich gemeinsames Erscheinungsbild eine wohlgewählte Abstimmung der Farben und des Schnittes und Flusses der Umhänge. Das schlug für sie mit 192 Punkten zu Buche.
Im Bereich technisches Können zeigten sie, daß Tänze niemals starre Bewegungsvorgaben sein müssen, sondern auf das Paar, das sie tanzt wohl und erfolgreich abgestimmt werden können, zumal hier über 80 Prozent aller Tänze von diesem Paar bestritten wurden. Dies konnte sich in 300 Punkten niederschlagen. Obwohl dieses Paar schon einmal diesen Ball besuchte und seit dem mehrfach in unserer Gemeinde auftrat, wodurch es keine Bonuspunkte bekommen konnte, erreichte es dennoch im Bereich partnerschaftliche Harmonie 138 Punkte. Somit erzielte es insgesamt - 630 Punkte! Das sind genau 10 mehr, als die Gewinner der silbernen Tanzschuhe verbuchen konnten. Dieses Paar möge nun auf die Bühne kommen! Mademoiselle Claire Dusoleil und Monsieur Julius ..."
Julius meinte, unmittelbar in einer Woge aus Glück, heftiger Überraschung und Verlegenheit gleichzeitig zu ertrinken, noch bevor sein Name vollständig verkündet war. Tosender Beifall brandete auf. Unvermittelt hing Claire ihm um den Hals und schmatzte ihn mit einer nie gekannten Leidenschaft einen Kuß auf die rechte Wange. Julius war froh, daß sie ihm nicht gleich auf den Mund küßte. Das wäre ihm dann doch zu peinlich gewesen. In einer freudetrunkenen, innigen Umarmung hielt Claire ihren Gastbruder umschlungen und heulte Freudentränen auf ihn, die heiß und naß seine Wange hinunterliefen und in den Kragen des Umhangs rannen. Dann meinte Julius:
"Du, ich fürchte, die lassen uns hier nicht weg, bevor wir nicht auf der Bühne waren."
"Ja, wir müssen", gab Claire unter Freudenschluchzern zur Antwort, drückte Julius noch mal an sich und zog ihn hoch. Der Hogwarts-Schüler sah Claire an. Sie küßte noch mal seine rechte und seine linke Wange. Zusammen gingen sie auf die Bühne, wo Jeanne und Bruno sie herzlich umarmten. Fleur strich Julius kurz über die Wange und hauchte ihm zu:
"Daran beweist sich erneut, daß Können und Aussehen zusammen die wahre Qualität ausmachen, können sogar noch mehr als das äußere Erscheinungsbild. Herzlichen Glückwunsch, Julius!"
Madame Lumière überreichte Claire einen kleinen Strauß Blumen und umarmte Julius. auch sie küßte ihm auf die Wange, rechts und links. Dann hängte sie den beiden Gewinnern den goldenen Tanzschuh am gelben Bande um. Julius las seinen Namen unter einer Flut von Freudentränen. Der Logiker war dem Romantiker zur Beute gefallen und nun dessen Gefangener. Er hörte noch, wie Madame Lumière mit magisch verstärkter Stimme sagte:
"Seit dem Paar Catherine Faucon und Louis Dumont, sowie dem Ehepaar Camille und Florymont Dusoleil hat es nun ein weiteres Paar geschaft, nach sovielen Jahrhunderten des Sommerballs, zweimal hintereinander die goldenen Tanzschuhe zu erringen. Das geht in die Geschichte Millemerveilles' ein, Messieurdames und Mesdemoiselles!"
"Schade, daß Maman und Papa nicht hier oben stehen können", fand Jeanne. "Das wäre ein komplettes Bild geworden. Aber ihr beiden habt natürlich eure silbernen Tanzschuhe verdient, Fleur."
"Camille und Florymont haben nur fünf Punkte weniger als ihr, Jeanne", sagte Madame Lumière, nachdem sie ihre Stimme wieder normalisiert hatte.
"Dieses Mal suchst du dir die Polonese aus, Julius. Du kennst genug unserer Lieder", bestimmte Claire. Julius nickte. Unvermittelt blitzten Fotoapparate los, von rotem Qualm gefolgt. Julius war es gleich, ob es nur die üblichen Erinnerungsfotos waren oder Presseleute, die die Story des Monats am Haken hatten. Schließlich trat einer der Akordeonspieler auf Claire zu, die ihn wortlos an Julius weiterreichte. Madame Lumière verkündete, daß nun die Abschlußpolonese über den Tanzplatz beginnen solle. Julius sagte dem Musiker, der erwartungsvoll vor ihm stand:
"Spielen sie den Liebesflug der Lady Livia!" Der Musiker nickte sofort. Das Lied aus einem Buch, daß Julius von Madame Faucon bekommen hatte, war ihm also vertraut. So legte er auch gleich mit trillernden Tönen und einem beschwingten Rhythmus aus auf- und absteigenden Akorden los. Dann marschierte er voran, dann Claire, dann Julius, dann Fleur, dann Elmo, schließlich Jeanne, gefolgt von Bruno, hinter dem sich Madame Lumière einreihte. Sie gingen von der Bühne runter und marschierten die Tische direkt davor entlang. Nach und nach reihten sich die Festgäste in die Polonese ein. Zwischendurch trat noch ein Musiker aus dem Orchester mit in die Schlange. Die Hörner und Trompeten bliesen den flotten Rhythmus mit, Flöten ahmten Vogelstimmen nach, Geigen den Flugwind beim Besenflug. Zarte Töne aus dem Flügel und von einem Metallophon gaben dem Stück eine erhellende, kristallgleiche Atmosphäre. So wuchs die Polonese immer weiter an. Niemand blieb auf den Stühlen zurück. Dreimal hin und her über den Tanzplatz ging es, bis sich die Vorderen Glieder der langen Reihe mit den mittleren und den hinteren trafen. Julius hörte immer wieder seinen Namen von den Jungen aus der Quidditchmannschaft. Aber auch Mädchen riefen seinen Namen, wie den eines Popstars. Irgendwann war der musikalische, menschliche und innere Glückstaumel vorbei. Madame Lumière verabschiedete die Festgemeinde und bedankte sich noch mal für den gelungenen Abend. Dann ging es zu den Besenabstellplätzen. Madame Dusoleil sagte zu Julius:
"Traust du dir zu, mit Claire heimzufliegen, oder bist du im Moment so überwältigt, daß es nicht sicher ist, ob du das schaffst?"
"Ich denke, es geht", sagte Julius glücklich. Er wußte nicht warum es ihn so freute, wieder diesen Tanzwettbewerb gewonnen zu haben. Aber das Denken war bei ihm im Moment abgemeldet.
Seraphine und Belisama, Elisa und Caro, Dorian und César, der einen verdächtig weindunsthaltigen Atem besaß, beglückwünschten die ersten drei Paare. Unvermittelt hoben Barbara und die Montferre-Schwestern Claire und Julius auf ihre Schultern. Fleur, die sich zu wehren versuchte, scheiterte an einigen Jungen und Mädchen aus ihrer Klasse und wurde ebenfalls hochgehoben. Jeanne und Bruno wurden von übrigen Quidditchkameradinnen und -kameraden auf die Schultern gehoben und über den Vorplatz des Tanzplatzes getragen, bis sie bei den Besengestellen ankamen. Dann ließ Sabine Montferre Julius von ihren breiten Schultern gleiten.
"Mann, Mädel, ich dachte, du brichst unter mir zusammen", sagte Julius, als er wieder auf seinen Füßen stand.
"Was meinst du, was ich nicht alles hochheben kann, Julius. Meine Schwester und ich stemmen uns jeden Tag mindestens einmal. Komm gut nach Hause und schlaf morgen besser aus!"
"Ich fürchte, da hat wer was gegen", seufzte Julius und spähte schnell umher. Doch Madame Faucon stand in gebührendem Abstand von ihm fort. Erst als die Gäste ihre Besen bestiegen hatten trat sie auf Claire und Julius zu und umarmte sie kurz.
"Wir lassen es morgen etwas ruhiger angehen. Ich führe euch ein paar kleinere Bann- und Meldezauber vor, um ein Haus zu sichern. Schlaft gut!"
Julius wußte nicht mehr, wie er den Besen mit sich und Claire so schnell und sicher zum Anwesen der Dusoleils gebracht hatte. Wie im Alkoholrausch war ihm schwindelig und alles um ihn wie in Nebel gehüllt, als er den Besen sicher auf der Wiese aufsetzte. Er wartete, bis Claire abgestiegen war und griff nach dem Stiel. Dabei fühlte er etwas leicht klebriges feuchtes. Er schrak zurück. Dann hob er den Besen mit der Hand hoch, mit der er ihn zum Absteigen gestützt hatte. Madame Dusoleil kam heran und besah sich, was passiert war.
"Oh, das kommt vor, wenn Stress oder etwas besonders aufregendes den Körper durcheinanderbringen. Mach ihr bitte keinen Vorwurf. Ich kriege deinen Besen schon wieder blitzblank", sagte sie und zog ihn Julius aus der Hand. Claire trat heran und sah Julius leicht irritierten Blick. Er besah sich seine Finger, an deren Spitzen es leicht rötlich klebte. Dann sagte er:
"Das ist nicht deine Schuld. Außerdem muß ich das nicht wissen, Claire."
Sie sagte:
"Ach, ist es ein wenig früher losgegangen. Tut mir leid. Aber du weißt ja, das die Natur der Hexen der der Muggelfrauen gleicht. Das kriegt Maman wieder klar."
Julius wunderte sich, daß Claire weder errötete noch irgendwas rief oder sagte, um Julius davon abzubringen, was dazu zu bemerken, das ihr körperlicher Rhythmus sie etwas früher ereilt hatte, als sie eigentlich angenommen hatte.
Jeanne wunderte sich, warum die beiden ohne Besen herumstanden. Dann besah sie sich Claire und Julius' abgespreizte Finger. Sie zog ein nach Zitronensaft und Lavendel duftendes Erfrischungstuch aus ihrem Umhang und gab es Julius.
"Mit dem weißen Reinigungstuch kriegst du das nicht von den Fingern. Blut, vor allem das einer jungfräulichen Hexe, ist an sich magisch und daher nicht so einfach wegzuwaschen. Mach dir mit dem Tuch die Finger sauber und wasch sie dir dann im Haus noch mal richtig!" Wies sie Julius an, der folgsam tat, was die Beauxbatons-Schülerin ihm empfahl. Er unterdrückte das Schamgefühl, in Claires intime Angelegenheiten hineingezogen worden zu sein und rief sich ins Gedächtnis, daß natürliche Sachen nichts an sich schmutziges oder böses waren, solange man sie nicht zu bösen und schmutzigen Zwecken ausbeutete.
Als Julius eine Viertelstunde später im Bett lag, dachte er nur noch an den Sommerball, sah die Gesichter der Hexen und Zauberer vor sich, mit denen er gesprochen hatte, hörte, was sie sagten. Dann schlief er ein.